Читать книгу Kinder der Zeit - Rudolf Stratz - Страница 5

II

Оглавление

Regentriefen über nassglitzernden Berliner Dächern . . . vereinzelte Schneeflocken im Wind . . . Klack! Durch den Nachmittagsnebel die Kugel eines Dachschützen, das Auffpritzen einer Pfütze. Ein paar Frauen wie gescheuchte Hühner um die Ecke: „Rasch, Schlögl! Da schiessen die Brüder schon wieder!“ Der Matsch auf dem menschenleeren Asphalt schleuderte Schlammgüsse hinter den Gummirädern einer nagelneuen Limousine. Der Herr innen trommelte mit dem Stock an die Vorderscheibe:

„Stopp, Mensch! Da ist ja Nummer siebzehn!“

Klack! Wieder irgendwo ziemlich weite Unsichtbar. Der grosse, breitschulterige junge Mann kletterte aufgeräumt aus dem Luxusauto, stand behäbig, in flatterndem Mantel, die Zigarre im Mund, das Blondbärtchen in dem blühenden, rosigen, runden Gesicht unternehmend aufgedreht. Er schüttelte missbilligend den Kopf mit dem schrägsitzenden, modischen Filzhut.

„Hier schmeissen sie wieder mit harten Gegenständen! Schlögl: Warum machen Sie so missvergnügte Naslöcher?“

„Ich hab’ von der Front noch die Näse voll von dat Jeknalle!“ murrte der Chauffeur. „Ick fahr’ nach Hause!“

„I wo! Hiergeblieben, alter Kronensohn . . .“

„Und in ’ner Stunde Jeneralstreik!“

„Jeht Sie doch nischt an! Stechen Sie sich man das Kraut da in die Visage!“ Der Herr bot seinem Chauffeur kameradschaftlich die Zigarrentasche. „So! . . . Nanu . . .?“

Klack! . . . In der Nähe.

„Der Betrieb ist gut!“ sagte der junge Mann gemütsruhig. Ein offenes Lastauto sauste heran. Stahlhelmgewimmel. Ein Stachel-Igel von Gewehrläufen. Wie Bullenbeisser vorn die M.G. Nuf von der Ecke: Wohin? Handbewegung: Strassenkampf im Norden! — Na — und wir hier? — Keine Bange! Ein halbes Dutzend Soldaten war vom Auto gesprungen und spähte schussbereit von den Bürgersteigen nach den Mansardenfenstern. Mäuschenstille plötzlich dort oben überall . . .

„Die sind vom Freikorps Windeck!“ sagte der Chauffeur verdrossen. Der grosse junge Herr lachte wohlgelaunt. Er rieb sich die nasskalten Hände. Er hatte an dem Haus geklingelt. Er summte im Warten: „Berlin — du bist ein Juwel!“ Er trat fröstelnd von einem Bein aufs andere. Drückte ungeduldig wieder auf den Knopf: „Na, endlich!“ Er trat ein. „Fräulein, Ihre Zeit möchť ich haben.“

Eine braune Cléofrisur unten am Boden, aus dem Fensterchen der Portierwohnung. Ein hübsches, berlinisch helles Mädchengesicht mit intelligenten braunen Augen. Eine scharfe Berliner Stimme:

„Wohin — der Herr?“

,,Wäsche auf’m Boden stehlen!“ sagte der Herr stehenbleibend und aufrichtig. „Tu ich immer in fremden Häusern! Vereidigter Flatterfahrer! Auf mich sind sie scharf in Moabit . . .“

Er kitzelte freundlich mit dem Stock nach unten in das Portierfenster.

„Kille! Kille! . . . Nur nicht gleich tückisch, Fräulein! Nu denkt sie nämlich: ,Oller Stiesel!’ Ja? Na — sehn Sie! Ich kenn’ die Menschen und die Mächens!“ Er musterte, breitbeinig dastehend, leutselig die hübsche Berliner Pflanze zu seinen Füssen: Onduliert, manikürt. Die Bluse noch Friedensseide. „Sagen Sie mal, Fräulein; Haben Sie denn nischt Besseres zu tun, als dazusitzen und die Strippe zu ziehn?“

„Ich vertrete bloss mal Muttern!“ sagte die junge Dame fühl von unten und zugleich sehr von oben herab. „Im übrigen haben wir jetzt den Freistaat — haben Sie vielleicht auch schon in der Zeitung gelesen? — Nich? Arbeit ist jetzt ’ne Ehre!“

„Dabei denkt sie sich nämlich: Schieber!“ Der grosse, junge Mann lachte herzlich. Er trug einen streng modernen, zimtbraunen Riegelulster. Im grünen Schlips einen unwahrscheinlichen Diamanten.

Die junge Dame hob nüchtern prüfend den braunen Scheitel zu seiner Länge über ihr.

„Na — aus’m Irafenschloss sind Sie wohl nicht entsprungen!“

„Nee! Budikersohn aus Berlin C! Aber kesser Junge! Gemütsmensch dabei, Fräulein!“

„Lassen Sie doch das dämliche Kille-Kille mit Ihrem Stock!“ sagte die kleine Berlinerin unten. Ich bin nicht kitzlich!“

„Und was machen Sie, wenn Sie nicht die Strippe ziehen?“

„Mich nützlich!“

„Wo denn?“

„Bei der Hydrag!“

„Wat? Bei den faulen Köppen? Wenn ich man bloss von den Brüdern höre! Das glaub ich, dass Sie sich da gesund gemacht haben, Fräulein Die Bande lag immer richtig! Da wurden Sachen gedreht — na — das wissen Sie ja besser als ich!“

„Was wünschen Sie hier im Hause, mein Herr?“

„Die Hydrag! Na — ich will nischt gesagt haben, aber ich möchte kein silberner Löffel sein, wenn einer von der Blase ins Zimmer kommt! Unkollejial, Fräulein!“ Der grosse, junge Herr beugte sich, auf den Stock gestützt, vorwurfsvoll zu dem hübschen Mädchenkopf unten. „Die feinsten Nummern haben sie einem aus Futterneid verkorxt! Ich war um ein Haar mal drauf und dran, mir die Angströhre aufzuklemmen und zum Staatsanwalt zu gehen!“

„Aber dann haben Sie’s doch lieber jelassen!“ sagte die junge Dame unten spitz, mit einem eigentümlichen Zug um den Mund.

Ein Achselzucken oben: „Gott — man ist ein guter Kerl! Ich hab’ schliesslich Mitleid mit so kleinen Leuten! Mögen sie bei der Hydrag in Gottes Namen ihre Iroschens zusammenkratzen! Bei mir geht’s um harte Daler . . .“

„Wo denn?“ fragte das Cléo-Fräulein unten neugierig.

„Na — raten Sie mal! Nenn mir deinen Namen, und ich sage dir, wie du heisst! Mit ,B‘ fängt’s an . . . Nu weiter? ,A‘ wie Affe . . . ,R‘ wie Rhinozeros . . . ,T‘ wie Trottel . . . ,U‘ wie Unfug . . . was? Jawoll, mein Kind, da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich: Als wie icke! Zeigen Sie mal, was Sie können! Buchstabieren Sie mal zu Ende: ,Bartu . . .‘“

Die kleine Berlinerin unten stiess das Fenster weit auf und schaute mit achtungsvoll aufgerissenen, glänzenden Augen zu dem fremden jungen Mann empor.

„Herr Bartuschke? . . .“

„In Lebensjrösse!“

„Wirklich Herr Bartuschke . . . Einer von der jrossen Familie?“

„Da sehen Sie, Kindchen, was aus ’nem armen Mann alles werden kann!“ sagte der fremde Herr wohlgefällig. „Aus ’nem armen Mädchen ooch! Halten Sie man die Ohren steif!“

„Tu ich doch! Muss ich ooch! Herr Bartuschke . . . verzeihen Sie nur ’nen Momang! Ich komm’ flugs zu Ihnen ’rauf!“

Gleich darauf stand die Portiertochter vor ihm auf dem Flur. Atemlos von drei Sturmsätzen über die Kellertreppe. Das hübsche, gerissene Berliner Mädelgesicht erhitzt unter der sittig-kindlich über die Ohren gewellten Cléo-Unschuldsfrisur. Eine falsche Perlenkette. Kurzer Rock. Florstrümpfe an den dünnen Beinen. Ganz neue Stiefelchen . . . Niedlicher Käfer . . . Der fremde, junge Mann nahm freundlich die Zigarre aus dem Mund . . . nervös ineinander spielende, sehr weisse, spitze Fingerchen drüben . . . ein seelenvoller Augenaufschlag . . . na — du kannst so bleiben! — Die Berliner Stimme jetzt nicht mehr scharf, sondern weich bittend:

„Herr Bartuschke!“

Einer von den drei Bartuschke! Papa und zwei ausjewachsene Söhne!“

„Gott — wer kennt Sie nicht? Die Bartuschkes! Die jewaltigen Geschäftsleute von Berlin! Herr Bartuschke . . . Sie können doch alles! Sie machen doch alles! Sie verdienen Millionen! Nu seien Sie doch mal nett!“

Der junge Mann kniff vergnüglich das linke Auge zu.

„Na . . . Mieze?“

„Herr Bartuschke: die Hydrag — da, wo ich bin — jeht doch in Liquidation!“

„Hat allen Grund, sich in Wohlgefallen aufzulösen!“

„Nu muss ich mich doch verändern! Vorteilhaft — versteht sich — Herr Bartuschke — Sie schickt mir doch der liebe Gott: Nehmen Sie mich doch in Ihren Betrieb hinüber! Bitte! Bitte!“

Das Cléo-Fräulein stand flehend wie ein Kind, mit vor der Brust gefalteten Händen. Ihre kecken, braunen Augen schmeichelten.

„Sie denken wohl, Fräulein — das geht bei uns so aus dem Wuppdich? Bilden Sie sich man keine Schwachheiten ein! Bei uns ist es wie auf dem ,Amt Steinplatz’! Da heisst es immer: ,Besetzt!’“

„Ach — wenn Sie nur wollen . . .“

Aber er liess sie zappeln.

„Überkomplett! Ich hab’ so schon mehr Damens, als mir lieb ist!“

,,Dann schmeissen Sie eine raus und jeben Sie mir die Stelle!“

„Jemütsmensch!“

„Was kann denn die! Päh! Nehmen Sie da doch nur keine Rücksicht, Herr Bartuschke!“

„Ich sag’s ja. Es geht nicht über ein goldenes Herz!“

,,Denken Sie lieber an mich! Ich leiste doch im kleinen Finger mehr wie die! Ich hab’ ja manchmal ein bissken ’ne Berliner Schnauze . . .“

„Kriegen Sie eins druff!“

„Na eben! Macht nicht! Aber ich arbeit’ wie ein Jaul! Ich bin verschwiegen wie’s Irab! Ich bin pünktlich wie ’ne Ilashütter Uhr!“

„Helles Köppchen . . .“

„Sagt man alljemein, Herr Bartuschke!“

„Vielleicht zu helle — wat?“

„Für die Firma kann man jar nicht helle genug sind! Für die Firma jeh’ ich durchs Feuer! Bange machen is nicht! Ich komm morgens zum Dienst, und wenn die Dachschützen rechts und links knallen. Jede Kugel trifft ja nicht. Das wissen die Herren ja . . .“

„Dabei lacht sie innerlich wie ’n Maikäfer und denkt sich: Im Krieg waren die Bartuschke Schulter an Schulter reklamiert! Na ja . . . war dringend nötig . . .! Auch im Dienst fürs Vaterland!“

„Ich weiss doch, Herr Bartuschke!“ sagte die Kleine ehrerbietig und strich sich erwartungsvoll den Rock glatt. Kurze Fragen zwischen Zähnen und Zigarre.

„Was tippen Sie?“

„Remington.“

„Stenographie?“

„Gabelsberger.“

„Wieviel Silben?“

,,170 spielend!“

„Doppelte Buchführung?“

„Deutsche und italienische, bilanzsicher, Herr Bartuschke!“

„Sprachen?“

„Ja Gotte doch . . . Ich bin doch man bloss ’ne Portiertochter. Volksschule . . .“

„Ich bin auch nur bei Pfeiffern in die Abendschule gegangen. Stört heutzutage die Liebe nicht, Fräulein!“

„Aber ’n bisschen Französisch und Englisch hab’ ich mir schon eingepaukt. Ich lerne rasch. Nu heisst’s ja, Spanisch fluscht besser. Ich lern auch Spanisch, wenn Herr Bartuschke es wünschen. Ich will bloss vorwärts!“

„Wie alt, Püppchen?“

„Zweiundzwanzig! Jesund wie ’n Fisch! Jar nicht bleichsüchtig von der ollen Kriegsernährung. Mutter is vom Lande. Wir konnten immer feste hamstern, Herr Bartuschke. Nun müssen Sie aber auch Ihr Versprechen halten!“

„Mein Versprechen? . . .“

„Mich zu engagieren.“

„Nanu?“

„Wann soll ich morgen antreten?“

„Ja — und die Hydrag?“

„Kann mir gewogen bleiben! Ich lass den Monatsjehalt schiessen. Ich hab’ es dem Chef schon schonend mitjeteilt: Wenn ich was Besseres krieg’, schnapp ich ab! Sieht er auch ein — der Olle — wo er doch sowieso im Verduften is!“

„Und keine Träne des Abschieds von der Hydrag?“

„Päh — was ich mir davor koofe!“

„Und wenn den Bartuschkes nun mal was Menschliches passiert und wir werden schliesslich auch aufgelöst . . .?“

„Tun Sie sich doch am nächsten Morgen als stille G. m. b. H. im Handelsregister wieder auf! Die Leute von der Branche können ja nichts gegen euch machen. Die müssen mit. Ihr kennt ja durch die Kriegswirtschaft alle ihre Jeschäftsjeheimnisse. Da wird im Frieden noch grob verdient werden, Herr Bartuschke.“

„Woher haben Sie denn all das Verstehstemir, Schnuteken?“

„Gott: man hört doch so ’rum . . .“

„’n Köppchen . . . ’n Köppchen . . . Kind: Sie bringen’s noch weit!“

„Hoff’ ich doch! Nu ist doch mal die Zeit für unsereinen! Was hab’ ich mich als kleine Bolle in der Volksschule über die höheren Töchter im Privatinstitut nebenan jeärgert! Nu können die anderen Damen mal die Mangel drehn und Kohlen tragen. Herr Bartuschke — Sie sind doch so’n jrosser Mann . . .“

„Nicht wahr?“ sagte der junge Mann geschmeichelt.

„Sie sind doch ein Sohn des Volks! Sie helfen jewitz einem armen Kind aus dem Volk wie mir.“

Das blutrote Schleifchen der Zeit an der Spitzenbluse hob und senkte sich unter erwartungsvollen Atemzügen. Bartuschke holte bedächtig seine Visitenkarte heraus.

„Haben Sie englische Tischzeit — ja? Dann stellen Sie sich morgen nachmittag — so um Uhre fünfe — bei meinem Bruder im Kontor vor. Ich sag’ ihm heut noch Bescheid. Nee — nee — nicht bei mir! Nee, Sie sind mir zu helle!“

„Aber Herr Bartuschke . . . Ich mach’ doch alles mit! Ich bin doch ’n anständiger Mensch!“

„Das heisst natürlich: Unser Betrieb in allen Ehren! Uns kann keiner an die Wimpern klimpern! Wir blühn wie junger Flieder! Unschuldig wie die Waisenknaben . . . Aber sehen Sie: Was mein Bruder ist — der Jotthold — der is doch ’in jebildeter Mensch. Auf dem seine Erziehung hat Papa mehr spendiert — ich war ja immer mehr ’n bissken leichtes Tuch. Stadtreisender in Sodawasser und so . . .“

„Weiss ich doch, dass der andere Herr Bartuschke Rechtsanwalt ist . . . Ich les’ doch auch die Strafprozesse in Moabit.“

„Der hat dort schon die schwersten Jungens losjeeist! Dabei ein Mensch wie ’n Kind — der Jotthold! Von dem Jerichtssaal — da hat er nun so den Sprechanismus. Dadurch ist er jetzt in die Politik gekommen. Jetzt haben wir noch die Rätewirtschaft. Aber wenn’s erst ans Wählen geht — der Jotthold kommt ins Parlament. Der Mann wird jross aufgenommen. Der steigt wie ’ne Aktie. Der wird noch Minister. Also halten Sie sich ran, Fräulein! Klettern Sie mit! Wie heissen Sie denn eigentlich?“

„Zwicknagel!“

„Au! Das piekst einen förmlich! Und der Vorname?“

„Alwine.“

„Bong! Also Fräulein Alwine . . . Alwinchen . . . Cousinchen . . .“

„Herr Bartuschke, eins muss ich vorher sagen: Ich heisse Fräulein Zwicknagel! Ich bin ein durchaus solides Mädchen!“

„Weiss ich doch! Weiss ich doch! I wo werd’ ich denn . . .“

„Na — Sie plinkern so mit dem linken Ohr . . .“

„Rein äusserlich! Ich tipp’ Ihnen mit dem Zeigefinger auf die Schulter und sage Ihnen, dass Sie keine von denjenigen, wo, sind . . .“

„Streng reelle Irundsätze, Herr Bartuschke!“

„Warum? Weil Sie viel zu schlau sind, sich zu verplempern. Sie sagen sich: Immer kaltes Blut und warm anjezogen. Ich bin ’n Menschenkenner: Sie wollen hoch hinaus!“

„Noch höher!“

„Also proste Mahlzeit! Morgen bei meinem Bruder Jotthold!“

Ein letztes Misstrauen in den hellen Augen der kleinen Berlinerin:

„Ist das kein Theater, Herr Bartuschke?“

„Spass!“ Bartuschke nahm die Frage nicht krumm. Er deutete vertraulich, die Zigarre schief im Mund, auf die Visitenkarte: „Sehen Sie, wenn ich da oben links ’nen kleinen Bleistiftpunkt gemacht hätte, dann hiesse das: ,Falle! Schick’ sie wieder weg!’ Nee — eingekniffen hab’ ich die Karte! Das bedeutet: ,Seriöse Sache!’ Ich bin ’n Mensch, treu wie Gold! Sieht man mir an, Fräulein — nicht? Was mir meine Ehrlichkeit schon im Leben geschadet hat! . . . Ja — lachen Sie nur! Ich bin immer zu gewissenhaft. Ich könnte jetzt zum Beispiel doch einen Kuss von Ihnen verlangen . . .“

„Unterstehen Sie sich man . . .“

„Dabei holt sie schon mit der flachen Hand aus!“ sagte Bartuschke. „Au Backe! Das will ich gar nicht erst probieren. Ich mag gar keinen Kuss — dafür bin ich viel zu solide. Ich heisse im Freundeskreis nur der stille August. Jetzt denkt sie sich nämlich: ,So siehst du aus, sagt der Berliner!’ Also nu wenigstens die Patschhand darauf! Sol Abgemacht!“

„Tausend Dank, Herr Bartuschke!“

„Jern jeschehen.“ Bartuschke wurde geschäftsmässig. Er blätterte in seiner Brieftasche. „Im zweiten Stock wohnt doch hier Exzellenz von . . . von . . . wat die Leute für Namen haben — von Oderwolff? Stimmt? Feine Familie — wat?“

Ein geringschätziges Achselzucken drüben.

„Na ja, was man früher so fein nannte . . .“

„Pinkepinke?“

„Gott, Herr Bartuschke . . . So ’n alter Jeneral — heutzutage mit Frau und drei lebensjrossen Töchtern.“

„Also Armut und Edelsinn. Dacht’ ich mir!“

„Herr Bartuschke: benehmen Sie sich! Seien Sie recht jebilvet da oben! Der General ist doch so ein berühmter alter Herr! Er hat doch so viele Schlachten jewonnen! Er grüsst mich immer zuerst, wenn er mir auf der Treppe begegnet. Jawoll — das tut er!“

„Beiss’ ick denn, Fräulein Zwicknagel? Ich hab’ doch nur ’n Jeschäft mit dem Mann!“

„Im Krieg, wenn er auf Urlaub in seinem feldgrauen Auto vorjefahren ist — da hat der Hauswirt ’ne Jirlande am Tor anbringen lassen: Hoch der Sieger von . . . Das war so ’n polnischer Name — zum Niesen — und ich hab’ jeknickst und einen Blumenstrauss überreicht, und die Leute auf der Strasse haben Hurra jeschrien! Und jetzt . . . Soll ich Sie rauffahren, Herr Bartuschke?“

„Immer ruff ins Vergnügen!“

Alwine Zwicknagel öffnete dienstwillig die Lifttür. Der Aufzug surrte durch den Schacht. Oben fühlte sie eine Banknote in der Hand.

„Kaufen Sie sich ’n Rittergut, Fräulein!“

„Herr Bartuschke: ich nehm’ doch kein Trinkgeld!“

„Bekieken Sie sich erst mal die Liebesjabe!“

„Aber das sind ja . . .!“ Die Kleine wurde sprachlos. August Bartuschke belehrte freundlich:

„So braune Lappen machen sie jetzt in der Reichsdruckerei aus dem Handgelenk — jeden Morgen ’n paar Milliarden — soviel Deutschland will!“

„Aber wofür krieg’ ich denn . . .?“

„Ja — sehn Sie: so bin ich! Das ist bei mir nicht wie bei armen Leuten!“ Der junge Mann schlug nachlässig den aufgeknöpften Ulster und Sakko zurück. In dessen Innentaschen steckten lose die Tausendmarkscheine in dicken Bündeln übereinander.

„Unter ’nem Milliönchen im Rockfutter trau’ ich mich heutzutage nicht auf die Strasse. Dazu bin ich zu nervös. Na . . . Mahlzeit?“

Auf der Messingplatte am Eingang stand „von Oderwolff“. August Bartuschke klingelte. Lächelte schwerenöterhaft in Hoffnung auf ein niedliches, öffnendes Hausmädel. Aber auf der Schwelle stand eine hochgewachsene junge Dame. Nahm aus kühlen, grossen, blauen Augen sein Gardemass von dem zeisiggrünen Selbstbinder mit dem bohnengrossen Solitär bis zu den taubengrauen Gamaschen. Ihr schönes, etwas strenges Gesicht war frostig fragend. Er tat vor Bewunderung die Zigarre aus dem Mund.

„Morgen! Bin ich hier recht bei Oderwolffs?“

„Asta!“ rief es von hinten. „Wer ist denn da?“

Die junge Dame wandte den Kopf.

„Ein Herr, Mama! Ich weiss nicht, was er will . . .“

„Ich wäre Freier . . .“, sagte August Bartuschke.

Sie trat schweigend einen Schritt zurück.

„. . . Freier auf die Biedermeier-Möbel, die Sie im Blättchen zum Verkauf angezeigt haben. Aber uralt antik müssen sie sein. Wir kaufen nämlich ein Schloss — Bartuschke ist mein Name . . .“

Fräulein von Oderwolff erwiderte nichts.

„Zu dritt! Papa, mein Bruder und ich. Da möchte ich meinen Flügel mit allen Schikanen der Neuzeit ausstaffieren. Nee — weil Sie mir so nach dem Ringfinger schauen: Verheiratet bin ich leider Gott sei Dank noch nicht. Aber warum soll sich’s ein armer Junggeselle . . .“

„Bitte! Hier!“

Asta von Oderwolff öffnete mit der seelenlosen Miene einer Schlosskastellanin, die Besucher umherführt, eine Tür und blieb stehen — mit einem vernichtenden Blick:

„Wollen Sie nicht vorher Ihre Zigarre weglegen?“

„Gern! Wird gemacht!“ Er verstaute den Havannastummel in der Visitenkartenschale. Innen umschrieb Fräulein von Oderwolffs weisse Hand einen Bogen um Glasvitrinen, Rundtisch, Lyra, Stühle aus schwarz eingelegtem, rötlichem Kirschholz.

„Es sind direkt fabelhafte Stücke“, sprach sie knapp. ,,Alter Familienbesitz! Wir würden uns natürlich gar nicht davon trennen, wir haben es nicht nötig . . .“

„Glaub’ ich! Die hohen Herren Generale, die haben ja tüchtige Gehälter im Feld bezogen . . .“

„Waren Sie im Westen oder im Osten?“ Die Frage klang scharf.

„Im Westen! Im Berliner Westen. Im alten Westen. Ja. Unabkömmlich!“

„So? Hm! Wie gesagt — wir würden nicht verkaufen, aber wir kriegen in nächster Zeit einen Zwangsmieter. Für den ist das zu schade. Ausserdem will Papa aus Berlin weg, wo doch nichts mehr los ist.“

„Nichts mehr los, is jut!“ sagte Bartuschke und vertiefte sich träumerisch immer mehr in den Anblick des schönen Mädchens. Schöne Mädchen — Gott — die wuchsen an der Spree wild. Hatte man die Auswahl. Aber das Vornehme war es — das Damenhafte — selbstverständlich Eisgekühlte — ungesucht Grossartige — Damen — wirkliche Damen — adlige Damen waren August Bartuschke auf seinem jähen Aufstieg noch nie über den Weg gekommen.

„Papa will sich irgendwo ein Landgut kaufen und in der Stille leben.“

Durch die Tür des anstossenden Berliner Zimmers klangen erregte Stimmen älterer Herren.

„Hätte die zweite Armee am achten September . . .“

„Aber bester Mahrenholz — setzen Sie sich doch mal in Bülows Lage!“

„Kluck hätte an der Bruchstelle ein Armeekorps . . .“

„Hatte gerade genug mit sich selber zu tun!“

„Das Grosse Hauptquartier hinten in Luxemburg!“

„Gott soll mich bewahren! Die wollen doch nicht etwa wieder anfangen?“ fragte drinnen August Bartuschke entsetzt. Fräulein von Oderwolff zuckte die schmalen Schultern.

„Papa bespricht nur die erste Marneschlacht.“

Drinnen vergrollte der Wortwechsel der alten Generale. Noch einmal der Name „Hentsch“ . . . Stille . . . Bartuschke stützte vornübergebeugt die Hände auf die Knie und beguckte neugierig die Möbel.

„Ungelogen: Garantiert echt?“

Hu: die zürnenden, strengen Augen drüben! Wo die das herbezog? Das Mächen hatte ’nen Pli an sich . . . Fabelhaft . . .

„Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt!“ versetzte Fräulein von Oderwolff mit schneidender Kälte.

„Seien Sie doch nicht so ungemütlich! Ich hab’ doch keinen Dunst. Lackieren lässt sich ein einfacher Mann wie ich nicht gern. Also: alles tiptop! Auch das putzige Spinde da?“

Fräulein von Oderwolff zuckte zusammen.

„Das allein ist nachträglich angeschafft!“

„Na — sehen Sie woll!“

„Aber woran merken Sie denn das — wenn Sie nichts davon verstehen?“

„Hat der Mensch so im Gefühl!“ Er nickte treuherzig. „Wie ich fünf Jahre alt war, da hat mich mal ein Steppke im Vogtland beim Murmelspiel besch . . . — Pardong, reingelegt! Seitdem — nee — kann ich mich nicht erinnern . . .“

„Mit Ausnahme des Schränkchens sind es aber alles Museumsstücke. Noch aus dem Besitz meiner Urgrossmutter, einer Gräfin Heidewilxen.“

„Was soll denn der ganze Zimt kosten?“

„Fünfzig Mille!“

„Was? Ich hör’ ein bisschen schlecht auf dem rechten Auge . . .“

„Fest! Nur wegen des Zwangsmieters, der uns bevorsteht . . .“

,,August — haste Luft?“

„Rein geschenkt!“ Die junge Dame schaute, geringschätzig die Achsel zuckend und etwas gelangweilt, durch das Fenster. Er benutzte die Gelegenheit und versenkte sich liebevoll in ihr klassisches Profil.

„Na — weil Sie’s sind: fünfunddreissig! Wer kauft denn noch so’n Zeug aus dem siebzehnten Jahrhundert?“

„Die Sachen sind taxiert! Fünfzig!“

„Sie brauchen doch Geld . . .“

Das Fräulein musterte ihn mit einem unergründlichen Blick. Von oben, obwohl sie einen halben Kopf kleiner war. Wie sie das zustande brachte . . .? Es imponierte ihm.

„Woher wissen Sie denn das?“ fragte sie etsig.

August Bartuschke lächelte und schwieg.

„Und wenn es wahr wäre — hielten Sie es denn für richtig, einen zu übervorteilen?“

„Na — das ist doch gerade wat Schönes!“ sagte er unbefangen. „Aber neppt mich hier in Gottes Namen: Vierzig!“

„Liebe Jo . . . nachher . . .“

Ein junges Mädchen fegte begeistert herein. Ihr Lockenkopf war blonder als das Braunhaar ihrer zwei Jahre älteren Schwester. Ihr hübsches, sonniges Gesicht runder und zarter. Ebenso wie ihre ebenmässige Gestalt. Die Augen auch gross und sprechend, aber nicht tiefblau und kühl, sondern hellbraun, fast bernsteinfarbig, seelenvoll. Schwärmersch, wie sie jetzt die langen Wimpern aufschlug und die Hände ans Herz presste.

„Himmlisch war’s!“

„Haben sie dich wirklich schon auf die Menschheit losgelassen?“

„Nee — so rasch . . . Aber dicht dabeistehen hab’ ich dürfen! . . . Einmal bin ich direkt vor ’ne Jupiterlampe geraten! Wie ein Backofen! Wundervoll! . . . Und Das Gehämmer ringsherum . . . und die vielen Gesichter . . . Hundert Leute im Kostüm . . . schreien möchte man vor Entzücken!“

„Die wird! Die wird!“ rief aus dem Flur ein schmächtiger junger Mann. Ein eiförmiger, von Kultur überalterter, bartloser Rassekopf mit kleinen, schrägstehenden Augen lugte über Jos Schulter.

„Probiert muss der Aufstieg werden!“ bestätigte aus dem Hintergrund eine warme, wohlklingende Schauspielerstimme. „I hab’ ’nen Flair für die jungen Talente.“

„Sie haben’s gerade nötig, Herr Fortunaty, die Jo noch verdrehter zu machen!“

„Setz’ dich jetzt gleich mal in die Küche, Jo, und rupf die Saatkrähen . . . Die Herren sollen dir nur helfen!“ Asta wandte sich noch halb lachend August Bartuschke zu. Es verschönte ihr strenges, junges Gesicht. „Das war nämlich meine Schwester . . .“

„Filmt sie?“

„Möchte . . .“

„Und der reizende junge Herr dahinter? . . .“

„’n Vetter! Auch ein Oderwolff. Er will Tänzer werden.“

,,Also das jibt’s? Und was machen Sie?“

„Ich passe zu so brotlosen Künsten wie der Esel zum Lautespielen! Ich bin leider ganz vom alten Schlag. Also, bitte, Herr Barthel . . .“

„Bartuschke.“

„Herr Bartuschke! . . . Ich hab’ alle Hände voll zu tun! Ich sehe doch, Sie brennen . . .“

„Ich brenne? . . .“ wiederholte August Bartuschke verblüfft, mit einem Blick auf das schöne Mädchen.

„Sie brennen ja auf die Möbel und wollen sie kaufen und ziehen die Sache bloss absichtlich in die Länge! . . . Warum denn?“

Bartuschke wurde rot. Das war ihm seit seiner Klippschülerzeit nicht passiert. Er fragte:

„Sie sind wohl Gedankenleserin? . . .“

„Ich habe gar keine Talente. Sind wir einig? Fünfzig Mille! Ohne Skonto!“

„Und Sie wollen keine Talente haben?“ August Bartuschke faltete bewundernd die Hände auf dem Schieberriegel des rostbraunen Ulsters. Er fing immer mehr Feuer. „Mächtige Geschäftstalente haben Sie!“

Er nestelte mit dicken weissen Fingern in der Million, die er in Tausendmarknoten in der Brusttasche bei sich trug. Er langte ein Bündel heraus, leckte die Fingerspitzen und zählte. Die junge Hofdame sah mit gelindem Abscheu zu.

„Bong! Aber verraten Sie’s nicht im Potsdamer Waisenhaus, damit mich die Waisenknaben dort nicht auslachen: Fünfundvierzig braune Lappen . . . Für Sie, mein Fräulein, noch eine hübsche Handtasche als Einstand. Ich hab’ gerade ’nen Zufallsposten, ff. russische Ware. Kostet nischt.“

„Wir sind hier nicht auf dem Mühlendamm!“ sprach Fräulein von Oderwolff herbe.

„Und gerade aus der Gegend stamm’ ich. In der Gertraudtenstrasse stand meine Wiege. Im Vertrauen, eigentlich ’n oder Reisekorb! Aber sagen Sie’s nicht weiter! . . .“

„Sie haben sich verzählt. Es fehlen fünftausend.“

„Sie denken wohl, Sie setzen Ihren Kopf durch?“

„Immer!“

„Bei mir nicht!“

„Bei Ihnen gerade!“

„Na — denn proste Mahlzeit!“

Bartuschke sagte es, aber er machte keine Miene, sich zur Tür zu verziehen. Durch die rannte die jüngste der drei Schwestern herein. Kaum sechzehn. Aber schon fast so lang wie Asta. Dünn wie ein Hering. Schwipp wie eine Gerte. Auf beängstigend schmalen Schultern ein unschuldiges, vildhübsches Kinderköpschen, in dem nur die Augen schon verräterisch liefen. Sie blieb beim Anblick des fremden Herrn mit einer eckigen, verlegenen Anmut der Bewegung stehen. Nickte ihm dann hochmütig zu und hielt der Schwester lakonisch die flache Hand hin.

„Geld! . . .“

„Nachher, Effi! Ich hab’ die grossen Scheine bei mir eingeschlossen!“

Ein niederträchtig gemütlicher Blick Bartuschkes: Deine grossen Scheine — die möcht’ ich mal bekieken! Sie ärgerte sich.

„Wozu brauchst du denn Geld? . . . Hintenrum zum Einholen beim Grünkramfritzen? Gerade jetzt?“

„Generalstreik!“ meldete die Kleine erfreut. ,,Ich hab’ gerade gesessen und an meinem deutschen Aufsatz: ,Der Geist der Befreiungskriege‘ gekliert — da hat der Vizewirt rumgeschickt und sagen lassen: In ’ner Viertelstunde gibt’s kein Wasser mehr! Kein Licht! Kein Gas! Die Elektrische streikt. Die Untergrund. Die Bäcker. Die Totengräber. Alles!“

„Ich komm gleich! Geh nur! Herr Bartuschke: ich habe wirklich keine Zeit mehr! Ich sehe, Sie wollen die Möbel nicht haben . . .“

„Haben Sie sie denn allein zu verkaufen? Fragen Sie doch erst Ihre Eltern, ob die nicht heilsfroh die fünfundvierzig Mille . . .“

„Hier im Hause geschieht, was ich will! Und wenn ich was will, kriegen mich keine zehn Pferde davon ab!“

„Die Jasbeleuchtung ist mir auch schon aufjejangen!“ sprach August Bartuschke und schaute sie mit stiller Bewunderung an. Sie hielt seinen Blick ruhig aus. Sie wurde nur ein bisschen blass, als merkte sie etwas. Dann ungeduldig. Sie machte eine zögernde, ungnädige Kopfbewegung einer grossen Dame, als wollte sie einen Bittsteller verabschieden. Er lächelte gutmütig und liess sie nicht aus dem Auge.“

„Also Spass beiseite! Ich nehme den ganzen Schwamm! Da: eins — zwei — drei — vier — fünf Bräunlinge als Restjeid! Stimmt’s, mein Fräulein?“

,,Danke!“ Asta Oberwolff sah den Haufen Tausendmarkscheine kaum an. Der Käufer knöpfte sich behaglich den Mantel zu.

„Glück haben Sie, dass Sie an ’nen Potsdamer wie mich geraten sind! Ich schlidder immer herein! Ich bin, wo’s ans Geleimtwerden geht, der sichere Mann! Guter Kerl — aber dumm . . . dumm . . . Na — die Hand können wir uns auf das Geschäft schon geben!“

Er schüttelte heftig und herzlich, sich in ihren frostigen, blauen Augen verlierend, ihre kühle, glatte Rechte, bis sie sie ihm mit einem entschiedenen Ruck entzog.

„Wann lassen Sie die Sachen holen? . . .“

„Möcht ich noch ein paar Tage hier stehenlassen! Jeht das?“

„Bitte!“ sprach Asta geschäftsmässig.

„Ich komm dann noch mal selber ’ran . . . dann berede ich das Nähere! An Ihnen ist ’n junger Mann fürs Geschäft verlorengegangen!“

Asta Oderwolff machte eine geringschätzige Bewegung. Dann wollte sie doch zum Abschied höflich sein.

„Wollen Sie einen Regenschirm?“ fragte sie. „Es giesst draussen in Kübeln, und die Strassenbahn geht nicht mehr!“

„Danke! Meine Limousine wartet unten! Müssen Sie sich das nächste Mal anschauen! . . . Zwanzigpferdige Mercedes . . . elektrischer Anlasser . . . Rothschild-Sitze . . . Läuft leise wie ’ne Maus . . . Feine Nummer . . . Na . . . Mahlzeit . . . Auf Wiedersehen!“

„Guten Abend!“

August Bartuschke stieg die Treppe hinunter. Er begann mit ganz wohltönender Stimme vor sich hinzufingen. Dann merkte er plötzlich, dass er verliebt war. Eigentlich spürte er es schon die ganze Zeit. Er war merkwürdig zufrieden mit diesem Zustand. Er kam sich gehoben vor. Er nahm langsam eine Stufe nach der anderen, um sich nur allmählich von Asta Oberwolff zu entfernen, und summte gefühlvoll und verklärt vor sich hin: „Berlin — du bist ein Juwel! Du hast die Schönste der Frauen“ . . .

„Töte mich!“ gellte oben eine helle Mädchenstimme durch die Oderwolffsche Wohnung. Asta nahm von der Sterbebereitschaft ihrer Schwester nebenan keine Notiz. Sie glättete die Tausendmarkscheine auf dem Tisch zu einem Päckchen und seufzte erlöst auf. Uff! Nun war das Familienschifflein wieder für eine Weile flott. Höchste Zeit . . .

Asta Oderwolff trat in das Nebenzimmer. „Töte mich!“ schrillte ihr Jo aus zitternder Kehle entgegen. Sie lag lang auf dem Kanapee, mit weit offenem Mund, kalte Augen in dem verzerrten, weichen Gesicht, und bemühte sich mit der lebendigen Jugend ihres blühenden Mädchenkörpers Sterbezuckungen der Arme und Beine glaubhaft zu machen. Der Vetter Simprecht, der angehende Tänzer, hatte sie eben mit einem Papiermesser umgebracht. Es war, als ob eine Frau die andere erstäche. Die Bewegungen seiner grossen Hände waren zart, die Biegung der Taille, der Schultern ganz weiblich. Wie er jetzt das Mordinstrument sinken liess und gesenkten Hauptes, erschüttert, vor der stürmisch atmenden Leiche seiner Geliebten stand, umspielte eine müde Anmut sein Wesen. Man sah nicht mehr, dass er eigentlich hässlich war — mit abnormen Ohren, grosser Nase, spitzem Kinn, geschlitzten Augen. Er verstand es, sein Äusseres mit einem eigenen herbstlichen Reiz der Entartung zu durchgeistigen.

„Dös war an Schmarr’n von ’nem Tod!“ sagte in tiefem Bass der Schauspieler Raoul Fortunaty, der bei der Film-Dilettiererei die Regie führte. Er hatte einen schwammigen, jugendlichen Wiener Faunkopf, bei dem zu dem krausgelockten Haar nur die Spitzohren und Bockshörner fehlten. Asta trat näher . . .

„Es ist Generalstreik!“ sagte sie.

„Simprecht bringt mich aus der Stimmung!“ schrie Jo klagend, ohne auf sie zu achten, und richtete sich auf. „Der Schuft hat, wie er mich erdolchte: ,Kicks — du süsse Maus!’ gemurmelt!“

„Wir brauchen Wasser — Licht — Lebensmittel!“

Der Vetter Simprecht lächelte nur diabolisch, verächtlich zu Astas Alltäglichkeiten. Sein kurzes Jäckchen spreizte sich, eng in die Taille geschnitten, über den schlanken Hüften und liess sie weiblich breit erscheinen. Unter den zu kurzen, engen Hosenröhren schimmerten gezwickelte Florstrümpfe und Halbschuhe mit Schnallen wie bei einer Frau. Neckisch flatterte ein winziges, Pfirsichblütenfarbenes Krawattenschleischen schiefsitzend aus dem vatermörderhohen Stehumlegkragen.

„Es wird bald Nacht! . . .“ beharrte Asta. „Wir müssen doch vorsorgen . . .“

„Also noch mal!“ Herr Fortunaty klatschte, die Zigarette schief zwischen den Panslippen, in die Hände.

„Töte mich!“

Asta ging. In dem grossen Berliner Zimmer umbraute Zigarrenrauch den eisgrau-spitzbärtigen, gefurchten Charakterkopf ihres Vaters. Der verwitterte Feldherr in schlichtem dunklen Bürgerrock hielt eine kurzstielige Lupe vor die weitsichtigen Augen.

„Papa . . .“

Die drei Generale fochten noch an der Marne. Der kleine, dicke General Krebs schlug mit der geballten Faust auf die französische Generalstabskarte: Révision en 1911, édition provisoire 1915, reproduction rapide.

„Die erste Armee hat das Menschenmögliche getan . . .“

„Der zweiten Armee verdanken wir die ganze Pastete . . .“

„Wie kam Hentsch dazu, in Mareuil . . .?“

„Papa! . . . Es gibt Generalstreik!“

Die Feldherrnaugen, gross und klar, gewohnt, Länder und Heere zu übersehen, hoben sich abwehrend zu der Tochter.

„Bitte, verschone mich, Kind! . . . Meine Herren, ich frage Sie: Wann und wo in der Weltgeschichte ist es erhört, dass ein Oberstleutnant die Entscheidungsschlacht eines Jahrhunderts in Europa leitete?“

Asta ging auf den Fussspitzen, um den Kriegsrat nicht zu stören, und steckte den Kopf in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Exzellenz von Oderwolff lass da mit ihrer Freundin, Frau von Schnickel, und erzählte:

„Nein, meine Liebste: wir wollen ein Landhaus nur auf kurze Zeit mieten . . . So bei Naumburg etwa — in hübscher Gegend — mit nettem Verkehr. Wenn alles wieder in der alten Ordnung ist, kann man dann immer wieder nach Berlin zurück.“

„Ja. So wie jetzt kann es ja nicht bleiben!“ pflichtete Exzellenz von Schnickel bei. Asta Oberwolff schloss den Türspalt. Im offenen Kämmerchen nebenan übermurmelte die Jüngste des Hauses, das zernagte Ende des Federhalters zwischen den kleinen, weissen Zähnen, ihren Aufsatz über den Geist der Befreiungskriege.

„Eine tiefe sittliche Erneuerung ging durch das daniedergeworfene Volk. Alle Stände wetteiferten in Entsagung und Vaterlandsliebe. Heldentugenden wurden wieder wach.“

„Schön so, Effi!“

„Nicht wahr? Das geht dem Kruse ein wie Sirup!“

„Dem Klassenlehrer?“

„Ja. Der ist einfach süss. Den freut so was diebisch. Da schaut er einen dann so herzlich übers Heft hin an. So treu, so deutsch. Er ist restlos einzig . . . Also: ,Entsagung war das Gebot der Zeit. Auf alle Eitelkeit des Lebens hiess es verzichten.’ Du, Asta — es ist doch eigentlich gemein, dass man erst mit achtzehn in den Kintopp darf! Wenn nun die Jo da plötzlich das Flimmern kriegt — und ich steh’ draussen . . .“

„Effi — mit dem Geist der Befreiungskriege ist unsere eigene Zeit gemeint!“

„Die Thilde — in der Klasse — sagt: ,Da lachen ja die Hühner! Die Alten, die haben alles gehabt, und nun sollen wir die Dummen sein und nichts vom Leben haben!’ — sagt die Thilde! . . . Du — wenn man den Kruse fest ansieht, wird er rot . . .“

„Ihr könnt einen verrückt machen — alle zusammen!“ Herrgott, ja . . . Es wurde schon dunkel. Für sechs Menschen zugleich denken! Keiner half. Das Geld in den Schub! Kerze auf den Vorplatz! Hahn in der Backewanne auf! Aber Trinkwasser? „Minna — holen Sie ’mal Wasser — drüben am Brunnen, wo früher der Droschkenhalteplatz war!“

„In der Dusterkeit? Nee!“

„Ich komm’ mit!“ Beide, Fräulein und Mädchen, stiefelten, jede in einer Hand einen Krug, auf die Strasse . . . „Minna! Stellen Sie sich bloss nicht so etepetete an! Dann pump’ ich schon lieber höchsteigenhändig!“ Die Hofdame a. D. schwang rüstig den Schwengel. Schleppte die Wasserlast mit ins Haus zurück. Alwine Zwicknagel, die Portierstochter, stand rein zufällig unter dem Tor und lächelte maliziös.

„Guten Abend, Fräulein von Oberwolff!“

„’n Abend, liebes Fräulein!“ sagte Asta frisch und atemlos und lachte heiter. Nur um Gottes willen nicht so tun, als sei Wassertragen etwas Besonderes. „Was ist denn mit dem Lift los?“

„Geht nicht! Vater streikt!“

„Na — denn die Treppe ’rauf! Was geschafft werden muss, wird geschafft! Amüsiert Sie das so furchtbar, Fräulein Zwicknagel? Scheuen Sie sich denn vor einer ehrlichen Arbeit? Hab’ ich noch nicht bemerkt! Sie sind doch immer auf den Beinen!“

„Wird’ ich Ihnen jleich beweisen!“ sagte die Kleine, in plötzlicher Berliner Entschlossenheit und fasste mit Asta zusammen den Henkel der Kanne. Kameradschaftlich, ein paarmal verpustend, stiegen sie nach oben, das maulende Mädchen hinterher. „Danke schön, liebes Fräulein Zwicknagel!“ Portiers- und Generalstochter schüttelten sich lachend die nassen Hände. Im Flur schlug sich Asta mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Der Herd ist ja auch kalt. Kein Tee. Nichts da. Minna, ich hol’ noch rasch ’ne Büchse norwegischen Fischpudding aus dem Schuhladen! Neulich hab’ ich doch irgendwo ’mal Wein gesehen . . . richtig . . . in dem Seifengeschäft . . . wo die billigen Klubsessel standen . . .“

Sie tappte, zurückkehrend, durch den nun stockfinsteren Vorraum, tastete mit der Hand nach dem Kleiderhaken. Leer. Die Besucher weg. Aber ein neu dahingehängter Offizierssäbel schaukelte und klirrte. Ach so! Na ja. Das war nicht für sie, das galt Jo . . .

In dem kalten, riesigen Berliner Zimmer zitterte der Lichtpunkt eines Kerzenstümpfchens. Um das Glühwürmchen herum sass die Familie Oderwolff, eingewickelt und eingemummt, wie eine Gesellschaft von Nordpolfahrern in Winternacht. Frau von Oderwolff spann ein Garn aus alten Zeiten: „Die gute Zwickel — die hättet ihr damals sehen sollen . . . Wann war das nur? . . . Noch ehe die dreizehnten Husaren von Frankfurt nach Diedenhofen kamen. Da stand ich mit ihr in Magdeburg zusammen. Die Regimentsquadrille nach dem Kaisermanöver . . . Sechzehn Paare . . . In friderizianischer Uniform . . . Wir Damen gepudert und im Dreispitz . . .“

„Guten Tag, Herr von Nemerow!“ sagte Asta dazwischen. Die Töchter hörten kaum noch zu, wenn Mama ihre Garnisonerinnerungen aus der Steinzeit auskramte. Sie reichte einem jungen, sich erhebenden feldgrauen Hauptmann die Hand, über die er ritterlich seinen schnurrbärtigen energischen Soldatenkopf zum Kuss neigte. Das Stearinlicht überflackerte in seinem sich straff und elastisch aufrichtenden Umriss ein Bild der alten Armee. Er knipste seine Taschenlaterne an, um Jo nach hinten zu geleiten und ihr beim Heranholen des Tischgeschirrs zu leuchten.

„Ein schönes Paar . . .“, sprach die Exzellenz, wohlgefällig hinterher, in mütterlichen Gedanken. Ihre Jüngste stützte den Kopf in die Kinderhand und den Ellbogen auf die Tischplatte.

„Soviel Geld gibt’s gar nicht, wie er nicht hat“, verkündete sie. „Und die Jo ’nen Groschen weniger!“

„Effi — wo schnappst du denn diese entsetzlichen Redensarten auf?“

„Fliegen ’rum wie die Motten, Mama!“

„Und lümmle dich nicht so hin! Manieren wie ein Strassenjunge! Papa . . . Die Kinder verwildern in einer Art . . .“

Der General hörte nicht zu. Er strich sich mit der Hand über die in Gramfurchen gealterte Stirn und musterte seine Aelteste:

,,Wein, Asta? . . . Was soll denn das Liebesmahl?“

„Unser Biedermeier ist fort mit Schaden, Papa!“

„Mit Schaden? Ich hab’ doch strengstens befohlen: Nicht unter zehntausend! Anständig wollen wir in Geschäften sein. Aber —“

„Na — dann war ich unanständig!“ Asta half Jo den Tisch decken. „Wieviel? Sag’ ich nicht! Morgen auf die Bank!“

„Ich habe gestern auch verkauft!“ versetzte plötzlich Joachim von Nemerow. Eine allgemeine Bewegung.

„Wasser-Bärschwitz?“

Der junge Hauptmann nickte.

„Oder eigentlich: der Gläubigerausschuss hat’s verkauft. Es gehörte ja kein Ziegel auf dem Dach mehr mir! Ich muss es nur der Form wegen nächste Woche übergeben.“

„Wer sind die Käufer?“

„. . . Schieber! Vater und zwei Söhne. Ja — zweihundert Jahre haben wir die olle Klitsche gehabt!“

„Da hätt’ ich aber doch um jeden Preis, lieber Nemerow . . .“

„Ich hab’s schon oft gesagt, Exzellenz: Mein Vater war ein eminent guter Landwirt und konnt’ es nicht mehr schaffen! Wie er dies Frühjahr — nachdem mein dritter Bruder gefallen war, den Schlaganfall bekam, da trat schon einen Tag nach seinem Begräbnis die Zwangsverwaltung zusammen. Denn es war einfach nischt mehr da . . . Und ich draussen im Feld. Ich bin Soldat. Ich hab’ die Landwirtschaft nicht gelernt! Eh’ ich über Jahr und Tag ’ne Rübe von ’ner Kartoffel unterscheiden kann, geht in Wasser-Bärschwitz alles vor die Hunde. Solange warten die Leute auch gar nicht!“

Joachim von Nemerows regelmässiges, in festen Linien geschnittenes Gesicht war sehr ruhig in dem darüber spielenden Flackerschein der Kerze.

„Ich bleibe Soldat! Ich bin jetzt im Freikorps Windeck. Ich krieg’ bestimmt nachher eine Anstellung in einer regelmässigen Formation. Ja — die schönen, alten Regimenter werden es nicht sein!“ Er wandte sich an die Generalin, die bekümmert und missbilligend das Haupt schüttelte. „Darauf kommt’s jetzt auch nicht an, sondern dass wir den Kopf oben behalten und unsere verfluchte Pflicht und Schuldigkeit tun! Dann müsst’ es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir Deutschland nicht wieder hochbrächten! Vergnüglich wird die Zeit nicht. Wir werden gehörig die Zähne zusammenbeissen und auf viele Dinge im Leben verzichten müssen!“

„Dabei gähnt die Jo . . .“

„Sie will nur filmen!“ schrie Effi rachsüchtig. „Und ich darf erst mit achtzehn . . .“

„Liebe Viola . . .“ Der Hauptmann von Nemerow war der einzige im Kreis, der Jo Oderwolff bei ihrem rechten Namen nannte. Er bewahrte eine vielsagende, hoffnungsstille Zurückhaltung. Nur in der Stimme schwang tief und gedämpft ein inniger Unterton. „Wir haben uns ja schon oft darüber unterhalten . . .“

„Gott . . . ja . . .“, sprach die schöne Jo müde und dehnte die Arme. „Das ist ja alles wahnsinnig langweilig! Was hat man dann schliesslich vom Leben?“

Draussen rauschte der Regen auf die stockdunklen Strassen. Keine Laterne. Alle Häuser tot, mit schwarzen Fensterhöhlen. Kein Tritt eines Menschen auf dem triefenden Pflaster. Pechfinstere Nacht über Berlin. Hundekälte im Zimmer. Noch ein Zoll Kerze. In einer Stunde — um halb neun — musste alles in die Klappe — der Reihe nach, mit dem letzten Stück Licht. Die anderen sassen inzwischen im Dunkeln und holten es sich dann wieder ab.

„Natürlich, bei den Kriegsgewinnlern drüben sind die Fenster hell!“ Effi presste die Nase an die Scheibe des Vorzimmers. „Die haben Petroleum . . .“

„Bei dem Käseschieber . . .?“

„Ach wo! Der hat viel zu viel Angst um seine Speisekammer . . . ’n Märchen soll die sein . . . sagen sie unten im Grünkram! Nein, das junge Ehepaar darüber! Er war doch in der Etappe in Rumänien. Sie trinkt Aether . . . Ach Gott . . . ach Gott . . . ach Gott — da schaut doch . . . Da drüben tanzen sie! Hurra!“

Undeutlich hüpften und huschten die Schatten hinter den hellen Vierecken der Vorhänge im Schwarz der Nacht.

„. . . und in den Hinterzimmern spielen sie!“ ergänzte Jo. Die Kleine fasste sie begeistert an Hand und Schulter. Sie waren angesteckt von dem Spiegelbild der Lebenslust über der Strasse. Sie schoben sich wiegend im Tanz über das Parkett des dunklen Salons — vor- . . . und rückwärts . . . stiessen an die Möbel . . . Die Kleine summte den Takt. Die Ältere mit. Aus dem Berliner Zimmer kam die mütterliche Verwarnung:

„Gleich hört ihr auf! Was ist denn das für ein neumodischer Tanz? . . . Und diese Melodie?“

„Nichts für dich, Mama!“ rief der Backfisch und bemühte sich, die dünnen Beine auf seltsame Weise zu verrenken. Jo blieb stehen und sang ausser Atem:

„Wenn ein Mädel einen Herrn hat,

Der sie liebt und den sie gern hat . . .“

„Es ist ja empörend! Wo habt ihr denn das wieder her?“

„Gott, Mama — davon stirbt man nicht! . . . Tu mir den einzigen Gefallen und komm nur nicht wieder mit der ernsten, grossen Zeit!“ Die weiche, sanfte Jo wurde plötzlich böse. „Achtzehn war ich, wie’s losging — jetzt bin ich zweiundzwanzig und hab’ mir die schönsten Jahre ans Bein gebunden . . . für nichts und wieder nichts . . . Die Asta ist vierundzwanzig und hat ihre Jugend verplempert. Nichts haben wir von der besten Zeit unseres Lebens gehabt . . .“

„Still jetzt!“

„Wenn’s wenigstens was geholfen hätte! Aber da sitzen wir jetzt! Und du hältst grosse Reden, Mama, wie herrlich es zu deiner Zeit war und wie elend es jetzt für uns kommen wird. Danke schön! Sehr nett von euch! Aber wir sind auch noch auf der Welt!“

„Schämst du dich denn nicht vor deinen Schwestern?“

„Vor der Effi? . . . Schau doch mal der ihre fidele Visage! Und die Asta? Das ist ein stilles Wasser!“

„Geht jetzt lieber schlafen! Ich mag euch gar nicht mehr sehen!“

Die Mädchen hatten das Licht mitgenommen. Sie sass mit ihrem Mann im Dunkeln, Hand in Hand.

„Du, Leopold: Armeen kannst du kommandieren. Aber drei Mädel, die der Hafer sticht, nicht mehr! Du musst jetzt einmal Ordnung schaffen! Ich verlange das als Mutter!“

„Ordnung, Mama?“ sagte die Stimme ihres Mannes neben ihr in der Finsternis. „Es ist genug befohlen worden. Es wird nicht mehr gehorcht. Der äussere Gehorsam ist gebrochen. Der innere fehlt.“

„Manchmal redest du doch rein chinesisch . . .“

„Die Führung ist nicht mehr herzustellen. Von uns aus, aus unserer zerbrochenen Welt, nicht. Erkenntnis — Lebensgang — Glück — Unglück — alles muss der jungen Welt aus ihrem eigenen Inneren kommen . . .“

„Dann können wir uns also begraben lassen . . .“

„Wir sind alt, Mutter! Wir wissen nicht, was die Jungen gelitten haben — vier lange Jahre — draussen und drinnen. Nun fordern unsere Kinder ihr Recht.“

Gespenstig verbogen und schoben sich, ruckten und zuckten hinter den matt erleuchteten Vorhängen drüben die Schatten der jungen Männer und Frauen im Takt des Tanzes, als führten sie eine feierliche Grabzeremonie auf. Rings um die halbhellen Rahmen ihrer stumm verschlungenen Gestalten rauschte die regenströmende Winternacht.

Kinder der Zeit

Подняться наверх