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III

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Die junge Dame zog die blechern und kränklich schrillende Klingel im zweiten Stock des Hauses hinter der Haltestelle der Elektrischen in der Gertraudtenstrasse, da, wo Alt-Berlin am ältesten war und drüben der Mühlendamm vom Fischmarkt zum Molkenmarkt das schmutzige Wasser der Spree im Novemberdämmern überspannte. Sie stand in einem fliederfarbenen Cape aus dem Warenhaus und einem sehr fussfreien Rock über den Lackstiefelchen und wartete. Ihr Federhütchen brachte ein schwaches Bunt in das graue Grämeln des Zwielichts über der staubigen Stiege und dem wurmstichigen Flurabsatz. Sie sagte zu dem öffnenden Bureaugehilfen:

„Mahlzeit! Herr Rechtsanwalt Dr. Gotthold Bartuschke erwartet mich! Ich soll mich vorstellen. Fräulein Alwine Zwicknagel.“

In dem grossen finsteren Warteraum brütete Essensgeruch, das Zeichen, dass sich Gotthold Bartuschkes Junggesellenwohnung in seinem Bureau befand. Auf Holzbänken dösten schweigsam Menschen vor sich hin. Alwine Zwicknagel setzte sich und betrachtete misstrauisch von der Seite ihre Nachbarn. Ob die ganze Blase schon kriminell war? Reif für den grünen Wagen?

„Was sind denn das für Leute, die da sitzen?“ fragte sie leise den jungen Mann, der sich in ihrer Nähe zu schaffen machte. Haben die schon gesessen? Klauen sie?“

„Bilden Sie sich man keine Schwachheiten ein, Fräulein! Was glauben Sie, wer zu dem Herrn Doktor kommt?“

„Kann ich mir ungefähr vorstellen!“

„Können Sie nicht! Was denken Sie, in wieviel jemeinnützigen Gesellschaften Herr Doktor Mitglied ist! Was der sich allein für den Verein für entlassene Strafgefangene die Beine ausreisst . . . Und in der Fürsorge-Erziehung . . . mit die Lausebengels, und im reuigen Magdalenenwesen. Da sitzt gleich drüben ein Pastor von der inneren Mission. Und da ein Hausvater — und dort zwei wohltätige Damen.“

„Weiss ich doch nich! Ich dachte in meiner Unschuld, dass sie hier bloss die ollen Strafsachen . . .“

„Wir übernehmen nur janz saubere Fälle! Und auch die nich! Wo sich der Doktor doch nu so mächtig in die Politik jekniet hat! Der wird’s als Staatsmann noch weit bringen! Ihnen jesagt!“

„Hab’ ich mir längst hinter die Ohren geschrieben! Ist er denn schon da?“

„Kuriert jerade nebenan ’n Fall!“

In dem Sprechzimmer strich sich Dr. Gotthold Bartuschke mit nervösen Fingern durch den rotblonden Vollbart und heftete unter dem schiefhängenden Zwicker seine leidenden, hellblauen Augen teilnehmend auf eine kleine, ältliche Frauensperson mit einem scheuen Spitzmausgesicht, die ihm weinerlich schnupfend gegenübersass. Er sagte mitleidig:

„Sie haben nun ’mal die sechs alten Sèvrestassen heimlich aus der Kunsthandlung mitgehen heissen . . .?“

„Ich konnt’ sie doch nicht zahlen! Was sollt’ ich denn machen?“

„. . . Und dazu noch eine fünfzig Zentimeter hohe Bronze-Venus unter den Röcken . . .“

„Ich bin doch so kunstsinnig! Es heisst doch: Schmücke dein Heim!“

„Aber nicht mit fremden Federn! Also gestehen Sie alles glatt vor dem Untersuchungsrichter ein! Darauf bestehe ich!“

„Gewiss doch! Ich will ja in Gottesnamen meine Strafe ’runtermachen!“

Dr. Bartuschke schüttelte träumerisch den Kopf. Er war schmalschulterig und kleiner als sein Bruder August. Er hielt sich beim Sitzen gebeugt. Er warf gereizt den rötlichen Haarschopf aus der gefurchten Stirn.

„Wenn Sie bestraft sein wollen — warum kommen Sie dann eigentlich zu mir? Zum Glück sind Sie zum drittenmal rückfällig . . .“

„Ja, leider! Hätte ich mich nur ein einziges Mal hinreissen lassen . . .“

„Dann stände die Sache schief! Aber die Wiederholung der Delikte bezeugt bei Ihnen den krankhaften unwiderstehlichen Trieb. Es handelt sich jetzt vor allem um ein ärztliches Attest!“

Aber ich bin doch bei ganz klarem Verstand!“

„Glaubt Ihnen Professor Oxenius so wenig wie ich. Die Psychopathiker bilden sich immer ein, sie seien gesund, liebe Frau!“

„Ich will aber nicht in die Gummizelle!“

„Dafür sind Sie auch lange nicht reif. Sie bewegen sich auf dem interessanten Grenzgebiet des Unterbewusstseins! Durch erbliche Belastung sind die normalen Hemmungen bei Ihnen ausgeschaltet. Sie konnten eben nicht anders!“

„Nein.“ Die Frau mit dem Spitzmausgesicht fing an zu weinen.

„Sie mussten eben — sagen wir schon: stehlen, obwohl Sie nicht wollten!“

Das war stärker als ich! . . . hu . . . hu . . .“

„Wahrscheinlich gingen bei Ihnen Schleierzustände dem Erlöschen der Willenskraft im Sensorium voraus. Hatten Sie nicht ein Dämmerungsgefühl, bevor Sie auf Ihre Beutezüge ausgingen?“

„Ja — nun dämmert’s mir . . .“

„Na — sehen Sie! Krank! Nicht schuldig! Auf das Gutachten von Oxenius sprechen die Gerichte glatt frei!“

„Herr Doktor — wie soll ich Ihnen danken?“ Drüben liefen jetzt die Tränen.

„Danken Sie nicht mir, sondern der Wissenschaft!“ Gotthold Bartuschke legte der Kleptomanin schonend die Hand auf die Schulter.

„Hu . . . Hu . . . Herr Doktor? . .Und . . . und . . . das Honorar?“

„Mein Honorar ist, dass ich Sie vor dem Gefängnis bewahre, in dem Ihre reizbare Psyche nur weiter geschwächt wird!“

„Aber Herr Rechtsanwalt können doch nicht umsonst . . .“

„Früher musste ich in solchen Fällen Geld für meine Bemühungen nehmen, weil ich darauf angewiesen war“, sagte Dr. Bartuschke. „Die Verhältnisse meiner Familie haben sich im Krieg zum Günstigen geändert.“

„Das weiss jeder in Berlin, was die Herren Bartusche heutzutage verdienen!“

„Seitdem kühle ich mich verpflichtet, meinen Mitmenschen um der guten Sache willen zu dienen! Nun flott zu Oxenius! Hier seine Adresse! Adieu!“

Gotthold Bartuschke blickte versonnen der Diebin nach. Dann auf die Uhr. Ein Klingeldruck. Er wurde geschäftsmässig. Er wandte den blassen, nervös lebhaften Kopf nach dem eintretenden Bureaugehilfen.

„Ich lasse die Herrschaften vom Wahlausschuss bitten!“

„Na — bei Ihnen hier wird auch feste geschoben!“ sagte Fräulein Zwicknagel draussen entrüstet und vertraulich zu dem bleichen Jüngling.

„Jeschoben? Als wie bei uns? Das ist ’ne optische Täuschung, Fräulein: Da müssen Sie ’ne Hausnummer weiterjehen — zum Bruder — zum Herrn August! Der hat schon manche. Kiste uffgemacht . . . Aber der Doktor da drinnen — der ist ja ’n Mensch wie ’n Kind! . . . Der läuft mit ’ner weissen Weste durch die Welt!“

„Doch wird geschoben!“ beharrte Alwine. „Wir sitzen uns hier die Beine klamm, und inzwischen haben Sie hintenrum einen ganzen Verein Wanderlust zu dem Herrn Doktor reingelassen . . .“

„Pscht! Reden Sie sich man bloss nicht die Schwindsucht an ’n Hals! Det sind jrosse Tiere . . . Vom Parteiausschuss. Der Doktor kommt doch auf die Kandidatenliste für die Nationalversammlung!“ Ganz vornhin! Der kann sich dreist als jewählt betrachten!“

Alwine Zwicknagel nickte achtungsvoll und gähnte durch das Näschen.

„Komm’ ich nun bald ’ran? . . . Nee! . . . Da strömt schon wieder einer ’rein!“

Durch die auffliegende Flurtür schritt ein grosser, breitschulteriger junger Mann selbstbewusst gleich auf das Allerheiligste zu — blond, blühend, rosig, die Zigarre schief im Mund, den Hut ungezwungen auf dem Kopf. Er nickte Fräulein Zwicknagel kordial zu.

„’Tag, Püppchen! Was machen Sie hier für Geschäfte?“

„Vorläufig schlag’ ich hier Wurzeln, Herr Bartuschke!“

,,Na — ich leg’ drinnen bei meinem Bruder ’n Wörtchen für Sie ein!“

In seinem Sprechzimmer sass Dr. Gotthold Bartuschke jetzt allein, rauchend, das Strohfeuer der Nervosität im Flug der Stimmungen erloschen, und träumte in das nasskalte Novembergrau hinaus, in dem der frühe Winterabend über der trüben Strasse dämmerte. August, der Gemütliche — August, der immer Aufgeräumte, mit sich und der Welt glatt zufriedene — sein Bruder August ermunterte ihn mit einem Handklatsch auf die Schulter. Er brachte in seinem feuchten, modischen, zimtbraunen Schiebermantel einen Hauch von Frische und Kälte und Wind von draussen mit. Er feixte fidel unter seinem flott aufgezwirbelten blonden Schnurrbart.

„Gotthold . . . haste wieder ’nen Klaps? . . . Olle Leiche auf Urlaub! . . .“

„Ach, lass mich! Das kommt bei mir und geht! Platze Nützlichkeitsmenschen wie du . . .“

„War immer meine Rede!“ August Bartuschke setzte sich im Mantel, den Hut schief im Genick, den Stock vor sich, rittlings auf einen Stuhl. „Der Gotthold . . . Respekt . . . Erstklassige Kraft! Leistet bloss nischt! Da steckt der Schönheitsfehler!“

„Na — weisst du: Eure Leistungen . . .“

„Unser dusseliger Sanitätsrat hat mir noch vorige Woche gesagt: Ihr Bruder Gotthold . . . Typ des hochbegabten Neurasthenikers . . . Neurastheniter . . . Was Feines! Für die besseren Stände!“

„Quatsch’ doch nicht so!“

„,Auf und ab wie ’n Wasserfall!’ hat das Doktorchen gesagt. „. . .,So recht ein Kind unserer zerrissenen Zeit!’ . . . Zerrissene Zeit ist übrigens gut! . . . Du, hör’ mal, übrigens . . .“

August Bartuschke wurde eifrig und kramte zwischen den Tausendmarkbündeln in seiner Rocktasche einen Pack Papiere hervor.

„Kiek mal als Familienjurist in den Zimt da! Offerte freibleibend bis morgen mittag um zwölf! An sich kleine Chose! Lausige paar Millionen! Nur mit Vorsicht! Ich will nicht wegen dem Dreck etwa Scherereien mit dem kleenen. Beamten mit dem schwarzen Barett kriegen!“

Gotthold Bartuschkes leidende blaue Augen prüften misstrauisch die Papiere. Der Bruder wurde unruhig.

„Doch mulmig? . . . Hätt’ ich nich gedacht!“

„Gutgläubig können Papa und du das Geschäft schliesslich riskieren!“ sagte Gotthold Bartuschke langsam und schwermütig. „Aber um Gottes willen bona fides!“

„Gutgläubig bis auf die Knochen! Ich wasch mir hinterher die Hände mit Bimsstein! Ich bin ’n propperer Mensch! du . . . Nu noch eine Neuigkeit wie Zucker: Das Geschäft mit Wasser-Bärschwitz ist richtig! Nächste Woche wird verbrieft! Das ganze Rittergut, wie’s geht und steht! Platz für alle. Vatern in die Mitte. Ich den rechten Flügel. Du den linken. Stilvoll möbliert. Zweitausend Morgen Grund. Schöne Jagd! August der Ajrarier! . . . Graf Bartuschke von und zu Wasser-Bärschwitz! . . .“

„Wem gehört denn das Gut?“ fragte Gotthold geistesabwesend.

„Einem Herrn von Nemerow. Alleinstehender junger Mann. Eben aus dem Krieg zurück.“

„Und der verkauft?“

„Muss er ooch! Das Objekt gehört in starke Hände. Überschuldet bis in die Puppen. Eigentlich schon Konkurs eröffnet — seit einem halben Jahr — seit dem Tod des Alten!

Vom Gläubigerauschuss verwaltet!“ August hob drohend den Stock. „Du — wenn wir das Ding jetzt frisch auflackieren — dass du da nicht etwa gleich in deinem Teil ’ne Epileptikerkolonie gründest oder ein Asyl für arbeitslose Magdalenen mit vierzig reuigen Betten! . . . Säh’ dir so ähnlich!“

,,Spotte nicht über das Unglück der Menschen!“ sagte Dr. Bartuschte. „Wir stammen selbst aus dem Volk.“

„Kleiner Schäfer! Deswegen steigst du ja auch so jern zu den Töchtern des Volks hernieder.“

„Das steht auf einem anderen Blatt!“

„Oller Schwiemel . . . Dir kenn ick doch!“

„Ich bin ein Mensch!“ Gotthold Bartuschke stützte trübe den Kopf in die Hand. „Leider — und den Sünden des Bluts unterworfen.“ Plötzlich fuhr er wütend im Sessel herum und schnaubte den Bruder an: „. . . und ausserdem kümmert’s dich den Kuckuck . . .“

„. . . wo du deine Liebschaften hast — hier in C und O mit Ick und Det . . . Nee — danke! War mal! Ich bin jetzt für WW. Für das Feinere — verstehste?“

„Es ist immer viel Mitleid in meiner Liebe“, sagte Gotthold Bartuschke halblaut. ,,Deswegen bleib’ ich hier draussen . . . wo die letzten Häuser sind . . .“

„Also viel Verjnüjen! Mahlzeit! — Jeh nur zu ihr . . .“

„Zu wem?“

„Irgend ’ne Seelenfreundin wirst du doch auf Lager haben! Haste doch immer!“

„Augenblicklich keine!“ Gotthold Bartuschke sass am Tisch und starrte gedrückt vor sich hin. „Ich habe wieder zu trübe Erfahrungen gemacht . . .“

August lachte fast bis zu Tränen.

„Klassischer Kerl! Na . . . ich krieg nu talte Füsse . . . Du, übrigens: Draussen sitzt deine neue Dame . . . hab’ ich dir verschafft . . . rein per Zufall . . . Gottvolle Kröte! Klein, aber oho! Die musst du an deinem Busen grossziehen! In der steckt was! Die wird was!

Dr. Bartuschke, sass, als der Bruder gegangen, noch eine Weile still in Gedanken. Das immer tiefere Dämmern um ihn beruhigte seine Nerven. Er gähnte gereizt. Er schlürfte durch das Zimmer. Er stand vornübergebeugt, die Hände in den Taschen, vor seinem grossen Bücherschrank. Da drinnen wimmelte die Welt der Ausgestossenen — der geisteskranken Verbrecher, der Epileptiker und Degenerierten, der Minderwertigen, der Willenshörigen, der Anormalen und bedingt Zurechnungsfähigen. Er sah seine Lieblinge an. Befann sich. Seufzte. Knipste Licht. Schlug träumerisch ein paar Töne auf dem Klavier . . . Parsifal . . . durch Mitleid wissend, der reine Tor . . .

„Nu klopft er drinnen noch die Kreuzpolka“, sagte im Vorraum Fräulein Zwicknagel entrüstet zu dem jungen Mann. „Und wir kriegen hier bei die Kälte die Eisbeine jratis! Sie haben sich wohl mit dem Vize jezankt, dass der Susemihl nicht mehr heizt? Organisiert euch doch gegen die Hauspaschas — die Blutsaujer . . .“ Aber da klappte innen der Klavierdeckel. Der bleiche Schreiberjüngling öffnete die Tür: „Herr Doktor lässt bitten.“

Alwine Zwicknagel trat bescheiden lächelnd unter dem wippenden Federhut, fliederfarben wie der Frühling, ganz schwach veilchenduftend von dem Sträusschen an ihrer Brust, mit einer anmutigen Köpschenneigung über die Schwelle. Draussen, vom Norden her, knatterten unausgesetzt Schüsse. Die Fensterscheiben, vor denen die Nacht stockfinster dunkelte, klirrten leise. Dr. Bartuschte kam aufgeregt auf die junge Dame zu.

„Ich mache mir die grössten Vorwürfe!“ sagte er. „Ich halte Sie hier fest. Inzwischen geht das widerwärtige, sinnlose, blöde Geknalle wieder los! Sie müssen doch nach Hause!“

„Ich find’ schon durch, Herr Doktor!“

„Das Schiessen kommt wahrhaftig näher!“ Dr. Bartuschke lauschte nervös. „Wenn sie nur nicht wieder drüben am Polizeipräsidium . . .“

„Ich bin mit Spreewasser jetauft, Herr Doktor! Ich fürchte mich nich!“

„So? Na — mir sind Schüsse grässlich! Weniger die Gefahr als der Lärm! Namentlich diese albernen Handgranaten!. Der Krach geht mir jedesmal durch Mark und Bein!“ Gotthold Bartuschke winkte matt und blass mit der Hand. „Setzen Sie sich, Fräulein Zwicknagel!“

Alwine nahm zierlich Platz, kreuzte neckisch die kleinen Füsse in den netten Lackschuhen und schaute Dr. Bartuschke gewinnend an. Der sass nicht, sondern lief unbehaglich durch das Zimmer. Draussen, in der Novembernacht, wurde es plötzlich ganz still. Die Kleine, die sittig nur auf dem Lederrand des mächtigen Klubsessels sass, tröstete ihn.

„Sehen Sie, da verpusten sich die Brüder schon! Is alles nich so schlimm, Herr Doktor!“

Gotthold Bartuschke blieb aufgeregt vor ihr stehen. Er fragte unvermittelt — gedämpft und warnend:

„Also Sie wollen zu mir?“

„Ich möchte was Besonderes, Herr Doktor!“ Alwine Zwicknagel legte die elegant behandschuhten Finger ineinander und hob das Kindergesicht mit sanftem Augenaufschlag zu ihm empor. „Immer nur tippen: . . . ,Und überlassen Ihnen fünfzig Fass loco Magdeburg und dienen Ihnen tieferstehend mit Nota’ — da liegt keine Musitze drin! Da lernt man nichts zu. Bei Ihnen aber . . .“

„Bei mir . . .?“ Dr. Bartuschke fixierte sie wild und warf dann einen erbitterten Blick in den Wandspiegel, als sähe er da in seinem Ebenbild einen persönlichen Feind. „Wissen Sie, dass ich ein ganz nervöser Mensch bin?“

„Ich passe mich schon an, Herr Doktor! Das ist jerade meine Forsche!“

„. . . dass ich . . . dass ich manchmal, wenn’s mich so kribbelt, die Wände hinaufgehe!“

„Jeh ich mit, Herr Doktor!“ beruhigte die Kleine.

Gotthold Bartuschke lachte plötzlich belustigt. Die trübe Stimmung verflog.

„Mein Bruder sagt, Sie feien mit allen Hunden gehetzt, Fräulein!“

„Sehr schmeichelhaft, Herr Doktor! Is wirklich alles da: Sehr rasche Auffassungsjabe . . . Selbständige Kraft . . . Wie ich da sitze, deichsel’ ich zur Not den Betrieb allein! Wenn ich erst Herr Doktors Wünsche näher begriffen habe, dann is Herr Doktor aus allem Ärger mit der Korrespondenz heraus. Nehm’ ich Ihnen alles ab!“

„Aus dem Ärger ’raus — ach — das wär’ ein Segen!“ Dr. Bartuschke lief wieder jäh verstört durch das Zimmer. „Augenblicklich bin ich zum Beispiel ohne jede Hilfe!“

„Irässlich!“

„Was hab’ ich mit Ihrer Vorgängerin für Tänze gehabt!“ Bartuschke schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. „Das war keine Sekretärin! Das war eine Natter!“

„Jotte doch!“

„Ich verlange lebendige Teilnahme!“ schrie Dr. Bartuschke. „Mitgehen mit meinen Ideen! Feuer! Wärme! Verständnis!“ . . .

„Inniges Verständnis! . . . Finden Sie bei mir, Herr Doktor!“

„Dieses Fräulein Kandel . . . häh . . . der war ja alles piepe! Verbockt! Verbiestert!“

„In so ’ner Stellung. . .“

„Erschöpft hat sie mich mit ihrem passiven Widerstand! Ich bin mal so und mal so! Glauben Sie, die hätte meine Stimmungen sich zu eigen gemacht — feinfühlig die Note des Augenblicks in sich aufgenommen? Wie eine Kuh hat sie dagesessen und gegähnt, wenn beim Diktieren alles in mir stürmte — wie eine Kuh. . .“

„Die hatte wohl Nebenluft!“ sagte die kleine Berlinerin empört.

„Und beim Stenographieren infam still vor sich hingelächelt und mich ganz aus dem Konzept gebracht . . . Lieber ein Kübel kaltes Wasser über den Kopf als dieser ironische Gedankenmord bei einem nervösen Menschen wie mir!“

„Ich will nichts gegen Ihre verflossene Kraft sagen.“ Das hübsche Fräulein Zwicknagel schüttelte ergriffen den ondulierten braunen Kopf. ,,Aber es jibt Menschen — das sind manchmal zu komische Leute!“

„Ich bin Idealist! Ich verlange Idealismus!“

„Hab’ ich. Für drei, Herr Doktor — und ’s bleibt noch ’n Rest!“

„Sinn für die Not und Grösse der Zeit! Ein warmes Herz! Liebe zu den Menschen! Wer das nicht hat, der soll es bei mir lernen!“

„Da soll man doch froh sein,“ sagte Fräulein Zwicknagel andächtig und mit braun glänzenden Augen, „dass man bei einem so edelgesinnten Mann wie Herrn Doktor mal was anderes hört wie die ollen Schiebungen!“

,,Nicht wahr? Wir müssen ’raus aus dem Sumpf!“

„Unsereins weiss das ja nicht so! Das sagt einem ja niemand!“ Das Gesichtchen der hübschen kleinen Berlinerin leuchtete in heiligem Eifer. „Rings um einen reden sie nur vom Jeschäft. Immer nur, dass einer den anderen neppt. Und dann erzählen sie die neuesten Witze von der Börse, und dann poussieren sie! Bildung — die kann man da lange suchen! Es wird einem oft ganz weh zumut. Man möchte doch mal höher hinauf!“

„Empor!“ sagte Gotthold Bartuschke. Er stand ernst mit gekreuzten Armen und sprach zu Fräulein Zwicknagel vertrauensvoll wie zu einem alten Freund. „Das steckt in jedem Menschen! Das muss man erwecken! Jetzt ist es wach! Will nur geführt sein! Den rechten Weg!“

„Wird Herr Doktor schon machen!“

„Wenn es nur glückt, Kind . . . wenn es nur glückt!“

„Herrn Doktor schon! Herr Doktor sind ja so angesehen . . . so berühmt . . .“

„Wirklich?“ fragte Gotthold Bartuschke lebhaft und freudig überrascht. „Bei wem denn so ungefähr? . . . Können Sie mir das sagen?“

„Überall wo man so hinkommt! Von dem Herrn Doktor spricht jeder mit unjekünstelter Hochachtung!“

„Das freut mich, zu hören!“

„Ich habe doch Herrn Doktor gleich jekannt, wie ich nur den Namen hörte! Unjelogen! Das kann Ihr Herr Bruder bezeugen!“

„Freilich! Freilich! Und das ist ja der schönste Lohn . . .“ Gotthold Bartuschke ging bewegt durch das Zimmer. Draussen hämmerten wieder fern die Schüsse.

„Überall ist Unrecht!“ murmelte er, auf und ab schreitend, halb zu sich, halb zu Fräulein Zwicknagel, die mäuschenstill, in gespannter Aufmerksamkeit, dasass. „Die Menschen von heute sind krank . . . durch gegenseitige Lieblosigkeit . . . Die Welt entsteht aus Liebe . . . Die Welt besteht durch Liebe . . . Sie erhält sich nur durch Liebe . . . Was kripeln Sie denn da heimlich?“ herrschte er erbittert das Fräulein im Sessel an. „Was machen Sie denn da für eine seelenlose Nebenbeschäftigung, während ich . . .? Fangen Sie auch schon an wie das Fräulein Kandel?“

Die Kleine hob diensteifrig den Kopf.

„Ich hab’ mir nur mitstenographiert, was Herr Doktor eben so schön und edel von der Liebe und der Lieblosigkeit sagten. Solche Worte dürfen doch nicht verlorenjehn! Das wäre Sünd’ und Schande!“

„Meinen Sie, Fräulein Zwicknagel?“

„Herr Doktor sehen mich janz erjriffen!“

„So . . . so . . .“, sprach Gotthold Bartuschke verwirrt.

„Nee — war das schön!“ Fräulein Zwicknagel richtete die kecken Berliner Augen seelenvoll zur Decke und fügte als praktisches Kind vom grünen Strand der Spree hinzu: „Wenn Herr Doktor so mit’s Gefühl anfangen, dann kriegen Sie bei der Wahl alle Frauenstimmen jlatt wie Öl. Uns muss man doch am Jefühlszipfel packen — nich? Können Sie jrossartig, Herr Bartuschke!“

Dr. Bartuschke ging erheitert und erfrischt durch das Zimmer. Ihm war siegessicher zumut. Er rieb sich laut lachend die Hände und nickte vor sich hin.

„Sie können recht haben!“ sagte er befriedigt. „Improvisationen sind oft das Beste!“

„Bei Herrn Doktor — das is wie in der Kirche! Herr Doktor spricht so wunderbar aus, was wir anderen uns so ungeschickt denken!“

„Endlich mal ein vernünftiger Mensch . . . den ich da in Ihnen kriege . . .“ Gotthold Bartuschke sah geschmeichelt in das bildhübsche, eifrige Mädchengesicht. „Ich bin meinem Bruder August wirklich dankbar, dass er Sie mir . . . Die Gehaltsverhältnisse regeln wir noch . . .“

„Bin ich unbesorgt, Herr Doktor!“

„Sie stehen sich jedenfalls bei mir bedeutend besser als jetzt. Aber Sie müssen bald kommen, Fräulein Zwicknagel — sobald wie nur irgend möglich . . .“

„Wann befehlen Herr Doktor, dass ich morgen früh antreten soll? Um neun oder zehn?“

„Ja, können Sie denn so mir nichts, dir nichts aus Ihrer bisherigen Stellung . . .?“

„Wo doch der Sarg mit Troddeln schon vor der Tür steht? Ich lasse die Hydrag glatt schwimmen! Man muss nicht zu gemütvoll sein!“

„Nun . . . Wenn Sie meinen . . .“

„Mein Dezernatschef dort . . . na . . . Tinnef. Der faule Kopp kann mir überhaupt was husten! Nein — bei dem Betrieb, das ist die wahre Liebe nicht! Hier, bei Herrn Doktor, werde ich erst zeigen, was ich kann. Selbsttätig. Pünktlich. Zuverlässig. Und treu wie Jold!“

Alwine Zwicknagel stand nett und flott in ihrer neckisch lächelnden Weiblichkeit vor Dr. Bartuschke und reichte ihm zutraulich die kleine Hand zum Abschied.

„Nu will ich Herrn Doktor aber nicht weiter stören! Also denn auf morgen . . .“

„. . . Um neun — wenn ich bitten darf, Fräulein Zwicknagel! Schon um neun! Ich hoffe, wir werden noch recht gute Freunde werden . . .“

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