Читать книгу Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz - Страница 5

II.

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Holzbraun und rostgrau gescheckt stand, ein starrer Koloss des Krieges, der Eiserne Hindenburg in der fahlen De Novemberluft. Niemand stieg mehr die Lauftreppen hinauf und nagelte. Es gab in der Sieges-Allee mehr grellweiss leuchtende Hohenzollern aus Marmor als dunkelgekleidete Menschen auf dem Sand vor ihren Sockeln. Nur von fern, vom Reichstag her, dämmerten schwarze Meere von Köpfen, grollte ein ungeheures Brausen.

Bruno Lotheisen achtete nicht darauf. Er lief durch den Tiergarten, gesenkten Hauptes, den Blick auf den modernden Blättern am Boden, in der Richtung nach dem Brandenburger Tor. Ihn füllte ein jammervolles Staunen: Meine Frau . . . meine Frau . . .

Wie war das möglich? Sie war doch nicht nur klug — viel klüger mit ihrem schnellen, hellen Verstand als andere Frauen —, sie war doch auch gut! Sie hat mich liebgehabt. Unsere Ehe war rein und klar. Wie konnte meine Frau, während ich in nächtiger Eiswelt für Deutschland litt, wie konnte meine Frau mich vergessen und verraten?

Deine Frau? Nein: Deine Witwe!

Es war kein Mensch in seiner Nähe. Und doch ging irgend jemand unsichtbar neben ihm und raunte ihm ins Ohr: Deine Frau? Nein! Deine Witwe!

Er blieb stehen. Griff sich an den Kopf: Ich bin ja tot! Ich bin vielleicht amtlich längst für tot erklärt. Das Leben ging über mich hinweg. Ich bin für meine Frau nur noch eine Erinnerung. Eine Wehmut. Sie ist jung . . .

Du, klein Evchen, mein Goldschnuck, mein Töchterle — du bist nicht vor einem Jahr gestorben, sondern erst heute. Bis dahin hast du gelebt. Für mich hast du gelebt. Aber ich, dein Vater, habe bis heute geglaubt zu leben, und bin doch schon lange vor dir, schon vor zweieinhalb Jahren, gestorben. Für deine Mutter und alle Menschen gestorben.

Bruno Lotheisen ging weiter. Der Wind trug vom Reichstag her ein gedämpftes vieltausendfaches Hurra an sein Ohr. Er hörte es nicht. Radfahrer rasten an ihm vorbei, Männer in Arbeitskleidern mit roter Armbinde und i umgehängtem Gewehr. Sie schwenkten ihre Kappen und riefen ihm etwas zu, mit atemlosen, jubelnden Slimmen. Er schaute nicht hin. Er hatte derlei zu oft in Russland gesehen, als dass es ihm aufgefallen wäre. Er blickte hoffnungslos vor sich ins Leere. Er sagte sich: Was will ich denn noch? Ich bin ja tot. Ich kann mich nicht unter den Lebenden zeigen. Es ist ja für beide Teile peinlich. Was habe ich denn eigentlich jetzt vor? Wohin laufe ich? Ich muss doch irgendein Ziel haben, seit einer Stunde. Richtig: Ich muss irgendwo jemand fragen, ob mich wirklich alle Welt für tot hält? Dann — ja dann ist Lonny entschuldigt. Dann ist sie gerechtfertigt, wenn sie nach zweieinhalb Jahren Witwenschmerz wieder ans Heiraten denkt! Ich habe es ihr selbst, damals, beim letzten Abschied, voll Todesahnungen gesagt: Lonny — du Liebste — du Beste — ich danke dir! Du warst mein alles und mein ganzes Glück im Leben. Wenn ich fallen sollte und du findest noch einmal dein Glück im Leben — ich will nur, dass du glück ich bist — dann denke nicht an mich . . .

Wen kann ich denn fragen, wie das mit mir ist? Ich wusste es doch, wen ich fragen wollte. Deswegen eile ich ja hier nach der Friedrichstadt. Richtig: Der Justizrat in der Mohrenstrasse, der alte Sachwalter meines Hauses. Ihm habe ich ja die Verwaltung aller meiner Angelegenheiten übergeben. Von ihm werde ich erfahren, ob ich gestorben bin . . .

Und wieder der graue Wurm in der Seele: Wahrscheinlich bin ich schon längst in Russland gestorben und bilde mir nur ein, dass ich noch lebe. Oder ich liege irgendwo drüben im unendlichen Russland krank und träume nur im Fieber, ich sei daheim in Berlin . . .

Ja — ja! Ich träume! Das da vor mir — das ist freilich das Brandenburger Tor, und oben das Viergespann der Siegesgöttin. Aber solch ein Lastkraftwagen, wie er da unter ihm donnernd vorbeirollt — den sieht man nur in Moskau und Petersburg — diesen Wagen, vollbepackt voll lachender, stehender Soldaten und Zivilisten mit Gewehren in der Hand, voll von lachenden Frauen und Mädchen mit flatternden roten Bändern im Haar, vorn vielläufig glotzend das Maschinengewehr mit dem quellenden Eingeweide seines Ladestreifens. Sie haben glühende Gesichter, trunkene Augen, durch das Gerassel schreiende Lippen: „Es lebe die internationale Revolution!“ Sie rufen es, auf Deutsch. Ich träume. Ich träume. Neue Lastwagen rasen mit rotflatternder Fahne vorbei. Die Leute entblössen das Haupt. Ich nicht. Ich stehe und staune. Gleich werden sie mir jetzt den Hut vom Kopf schlagen und mich verhaftet wegschleppen. Nein. Die Menschen sind alle duldsam, merkwürdig sanft, ihre Züge halb ungläubig, mit weit offenen Augen, als ob ihnen vor ihrem eigenen Tun schwindelte. Ich träume. Ich träume.

Sonst könnte ich doch jetzt nicht mitten durch das Brandenburger Tor gehen, da, wo sonst nur der Kaiser und die Feuerwehr fuhr. Kein Schutzmann wehrt. Nirgends mehr ein Schutzmann. Keine Wache mehr, kein Posten da rechts am Seitenbau.

Und sonst könnte mir doch nicht da der alte zerlumpte Mann entgegenkommen, der zärtlich lallend auf ein Bündel abgebrochener Gewehrkolben wie auf einen Säugling in seinen Armen niederblickt. Und da die Linden! Rotflatternd auf der russischen Botschaft die Sowjet-Fahne. Die breite Riesenfläche der Siegerstrasse fast ohne Fuhrwerk. Nur Menschen überall auf den Bürgersteigen, Fahrdämmen, Neitwegen. Ein schütteres schwarzes Ameisengekribbel.

Gar nicht sehr viele. Weniger als sonst an einem Sonntagnachmittag.

Man kann bequem die Linden hinaufgehen. Im Traum. Im Traum. Bis zum Kastanienwäldchen. Da steht noch die ganze Wache stramm unter Gewehr. Schmucke junge Jäger. In weitem Halbkreis ein Rund von Hunderten von schweigenden, gespannten Menschen. Auf dem freien Raum davor einige Herren in Zivil. Sie reden leise, eindringlich mit dem Wachthabenden. Auf einmal macht die Wache, stramm wie auf dem Exerzierplatz, auf dem linken Fuss kehrt. Die Gewehre rasseln in die Stützen. Bleiben herrenlos stehen. Gleich darauf marschiert die Wache in Sektionen rechts nach Hause. Ein schwaches Hurra umher. Der Wachthabende führt sie, noch den blanken Säbel in der Hand, am Arm die rote Binde . . .

Hammerschläge, dumpf und laut in der gepressten Stille, in dem Palais gegenüber. Nein: Handgranaten! Die Menge tritt respektvoll zurück. Das Tor geht nicht auf. Ein junger Bursche Klettert auf einer Leiter vorn auf den Balkon. Der Alte Fritz sieht es von seinem ehernen Ross mit seinen Königsaugen. Als grauer Hintergrund drüben das Hohenzollernschloss, von dickgeballten, schwarzen Wetterschwaden von Menschen umlagert. Eine Bewegung wie Windstoss über den Wellen. Eine lange rote Schlange rollt vom Balkon des Schlosses hernieder. Hängt still in der Luft — blutfarben leuchtend.

Dabei die Läden offen. Drüben rollt die Stadtbahn. Das Leben geht seinen Gang. Nirgends Zank. Nirgends Streit. Alles so schattenhaft selbstverständlich. So huschendwesenlos, schnell und leicht. Ein merkwürdiger Traum, in dessen watteweiche, geheimnisvolle Stille nur die Lastautos keuchen, mit ihrem jauchzenden Massenruf durch Das Gerassel: Es lebe die Internationale! Es lebe die Revolution!

An Kranzlers Ecke hält ein solches Auto. Es hält überall, wo Feldgraue auf dem Bürgersteig kommen. Die Feldgrauen werden entwaffnet. Entwaffnen sich selbst. Fort mit den Achselklappen! Koppeln und Seitengewehre fliegen in weitem Bogen über die Köpfe der Menschen auf das Auto, häufen sich dort zu Stössen. Überall auf der Welt die Waffen nieder! Ein altes Mütterchen, barhaupt, in verschossenem Kaschmirschal, weint vor Glück: „Nu ist der olle Krieg zu Ende! Nu schmeissen alle ihr Mordzeug in den Dreck!“

Und Ordnung überall . . . merkwürdige Ordnung . . . Ruhe . . . Freundlichkeit. Wie aus der Erde gewachsen, statt der Schutzleute, alle hundert Schritt längs der Friedrichstrasse, ein bewaffneter Arbeitsmann mit rotem Ärmelabzeichen. Die Leute sitzen in den Kaffeehäusern wie sonst, kaufen sich Zigarren, mustern die Schaufenster. Bruno Lotheisen fuhr sich über die Augen. Wenn das ein Traum ist, dann ist das nicht Moskau, sondern Berlin. Unzweifelhaft Berlin. Ich bin in Berlin. Im Traum erlebe ich hier das alles, dass da in einer Stunde Jahrhunderte zu Staub werden . . .

Ein feldgrauer, mächtiger, achtzigpferdiger Kraftwagen einer hohen Heeresstelle fegte sausend um die Ecke. Zwei Matrosen auf dem Rücksitz hingelehnt, die freie Brust dem Wind entgegen. Die Bänder ihrer Mützen flogen. Es war der Schnittpunkt der Mohrenmit der Friedrichstrasse. Der Justizrat . . . der wohnte da . . . Bruno Lotheisen kam langsam zu sich. Ging schleppend zu einem der nächsten Häuser der Querstrasse. Er wusste immer noch nicht recht, was geschah . . .

Eine Gruppe Leute stand vor dem Haus. Hier sah er zum erstenmal finstere, drohende Gesichter. Sie richteten sich nicht auf ihn, sondern in den offenen Hausflur. In dem lehnte ein bleicher junger Mensch in Feldgrau. Er biss die Zähne zusammen. Er schüttelte den Kopf. Er hielt die Hand am Seitengewehr: „Nein. Ich gebe meine Waffe nicht her!“ Ein bärtiger, älterer Mann redete ihm gut zu.

„Nu mach’ keine Zicken, Kamerad — ’s hilft doch nischt!“ Und einer seiner Begleiter begütigte: „Wenn’s doch alle tun . . . Jetzt gehn alle nach Hause — wir und die Feinde drüben . . . Mensch . . . sei vernünftig . . .“

Aber von draussen, von der Strasse, klangen Rufe der Ungeduld. Entwaffnung! Entwaffnung! „Nu, wird’s? Na also: da schnallt er ja sein Koppel ab! . . . Los! Weiter!“

Bruno Lotheisen stieg die Treppe zum Büro des Geheimen Justizrats hinauf. Alle Türen standen offen. Das Personal war ausgeflogen. Er ging durch die aktengefüllten Vorderräume. Hinten, in seinem Arbeitskabinett, sass der alte Herr am Tisch. Ein feiner Kopf. Glatze. Hakennase unter der goldenen Brille. Langer, grauer Schnurrbart. Die rosig-runzelige Haut eines hohen Sechzigers. Im altväterisch hoch zugeknöpften, schwarzen Gehrock das vergilbte schwarzweisse Bändchen von 1870. Der alte Herr hielt den Kopf zwischen den Händen, starrte geistesabwesend vor sich hin, dann auf den Eintretenden.

„Herr Geheimrat . . . Kennen Sie mich?“

„Herr Lotheisen! . . . Nehmen Sie Platz . . .“

„Wundert es Sie denn nicht, mich zu sehen? Ich gelte doch für tot.“

„Wir alle sind tot“, sagte der alte Preusse. „Wir alle sind gestorben!“

„Ich lebe. Ich bin aus Russland zurück!“

„. . . und kommen hier gerade zurecht zum Jüngsten Tag . . . Nein . . . Ich staune nicht, dass Sie da sind! Mir ist das Staunen seit ein paar Stunden vergangen.“

Der Geheime Justizrat krampfte die Hände ineinander. Er beugte sich über den Tisch vor. Er flüsterte: „Wissen Sie, was eben geschieht: Ein halbes Jahrtausend wird zu Staub und Asche! Alles geht dahin! Alles, woran man geglaubt hat, wofür man gelebt hat, worauf man stolz war, was einem so selbstverständlich erschien wie das Sonnenlicht . . . Alles umgeweht wie ein Kartenhaus!“

Und dann dumpf: „Sie kommen aus Russland, Herr Lotheisen! Sie haben das dort wohl schon alles gesehen. Sie sind abgebrüht. Auf Sie macht es keinen Eindruck. Aber mir altem Mann ist es neu. Mir ist es zuviel!“

Der Justizrat schnellte verzweifelt von seinem Sitz empor. Er war trotz seines Alters straff, hager, sehnig. Er fasste den anderen. Schüttelte ihn krampfhaft.

„Wissen Sie denn, was geschieht? Der Weltbrand aussen und der Weltbrand innen! Achtzehnhundert Millionen Menschen gibt es auf der Welt. Fünfzehnhundert Millionen sind unsere Feinde. Sie kommen! Sie kommen! Unsere Mauern stürzen vor ihren ein . . .“

Bruno Lotheisen strich sich über die Stirne. Jetzt auf einmal war er erst völlig wach. Sein Augen wurden schrecklich klar: Er sah den flammenden Erdkreis und, von ihm umschlossen, eine mächtige Burg, aus der von innen, verderbenspeiend, helle Feuerzungen schlugen. Deutschland in Brand . . .

„Niemals, Herr Lotheisen, hatte noch ein Volk fast die ganze Menschheit wider sich und zündete dabei noch das eigene Haus an. Niemals noch stürzte sich ein Volk in solch fürchterliche Gefahr . . .“

Dem Kirchenbauer Lotheisen krampfte sich das Herz zusammen. Sein Atem stockte. Er wurde auf einmal unheimlich hellsichtig. Er schaute über das ganze weite deutsche Vaterland hin. Schattenhafte, riesige Gespenster wuchsen rings in dessen Grenzen zum wetterblitzenden Himmel empor. Sie beugten sich todartig über das innen lohende deutsche Land. Knochenhände krallten sich nach den Schloten und Schiffsmasten, Hungerpeitschen sausten auf Frauen und Kinder, Skorpionengeisseln schwirrten über den Bergwerken und Wäldern, Negerfratzen grinsten über den Rebhügeln des Rheins. Säbel kreuzten sich gebieterisch über den Kirchtürmen der Städte — hunderttausendfach klang von ferne der Wehruf deutscher Kriegsgefangener. Kalter Angstschweiss trat ihm auf die Stirne.

„Dies irae, Herr Lotheisen, . . wir zanken uns im brennenden Haus! Wir schlagen alles selbst in Stücke, und aussen schlägt schon die Donnerfaust ans Tor. Nein — die Tore springen schon von selber auf! Sie kommen — die apokalyptischen Reiter — sie kommen . . .“

Jäh, mit einem Schlag, fühlte sich Bruno Lotheisen um vier Jahre jünger. Er war wieder im August 1914. Seine blauen Augen leuchteten. Begeisterung durchströmte seine Adern. Übervoll das Herz. Das Jauchzen Winkelrieds. Theodor Körners Opferblut. Empor über alles! Empor! Empor! Weib, Kind und Leben hinter mir! . . . Herr, hilf! Was liegt an uns! Nur hilf, Herr Zebaoth! Hilf unserer guten Sache . . .

Er umballte mit wildem Druck die Hände des Alten. Sein Atem keuchte. Seine Worte überstürzten sich.

„Noch leben wir! Solange wir leben, ist noch nichts verloren! . . . Kommen Sie! Kommen Sie!“

„Wohin?“

„Unter die Menschen draussen! Aufrufen! Predigen! Sammeln alle, die unseres Geistes sind! Mitreissen die anderen! Beschwören einen jeden, jetzt nur an das da draussen zu denken . . . an die gemeinsame Not! Not bricht Eisen! Aber Eisen bricht auch die Not! Vorwärts! Vorwärts! Ich bin bereit zu sterben! Sicher mit mir noch viele! — Damit müssen wir noch alles retten! . . . Heldenmut wird nicht zuschanden . . . Nur Mut . . . Nur Mut . .“

Aber der alte Kämpfer von 1870 schüttelte den Kahlkopf. Setzte sich schwer nieder. Seufzte hoffnungslos aus tiefster Brust.

„Es ist zu spät!“

„Kopf hoch, Herr Geheimrat!“

„Es ist zu spät! Es war ein Heldenmut durch diese vier Jahre, draussen bei uns und drinnen, wie ihn noch kein Volk gezeigt hat, seitdem die Welt steht. Es ist heute noch ein Heldenmut draussen, noch in dieser Stunde, noch jetzt, in dieser Minute, dessen ganze Grösse erst die kommenden Geschlechter begreifen und vor dem sie in Ehrfurcht stehen werden. Aber es hilft nichts mehr. Wir können nicht mehr . . .“

Und nach einer Pause, mit gesenktem Haupt: „Wir können nicht mehr . . . Wir können nicht mehr . . . Machen Sie mir nicht das Herz noch schwerer, Herr Lotheisen! Sie kommen von ausserhalb. Sie wissen nicht, wie es bei uns steht und wie es in uns steht! Wir sind am Ende!“

Dann schaute der Geheime Justizrat auf und forschte müde, trocken, geschäftsmässig: „Und was führt Sie zu mir, Herr Lotheisen?“

Bruno Lotheisen hatte sich, immer noch schweratmend, im Sessel gegenüber niedergelassen. Er forschte unvermittelt, rauh, mit trockener Kehle:

„Bin ich eigentlich schon amtlich für tot erklärt?“

„Für tot erklärt . . .?“ Der alte Rechtsberater sammelte mühsam, immer noch halb geistesabwesend, seine Gedanken: „Warten Sie einmal: . . . Nein!“

„Meine Frau hat auch noch keinerlei Schritte dazu getan?“

,,Ihre Gattin? . . . Dass ich nicht wüsste . . . Nur — wie ist mir denn? . . . Ja . . . Der Generaldirektor Lütjens.“

„Mein Schwiegervater . . .“

„Der hat mich in Ihren Angelegenheiten aufgesucht! Wie lange kann es denn her sein? Vielleicht acht Wochen. Ich weiss nicht genau. Jeder Tag ist ja jetzt ein Jahr.“

„Was wollte er?“

„Der Herr Generaldirektor kam von Köln herüber. Er sah damals schon sehr schwarz in die Zukunft, wie wahrscheinlich auch die anderen rheinischen Grossindustriellen alle. Er meinte, lange ginge es nicht mehr. Und gleich nach Friedensschluss müsse in Gottes Namen Ihre Verschollenheitserklärung betrieben werden! Er sei das seiner Tochter schuldig. Sie könne nicht ewig in der ungewissen Stellung bleiben, dass sie verheiratet sei und dabei doch Witwe.“

„Seitdem ist noch nichts erfolgt?“

„Nichts mehr!“

„Also ich lebe vorläufig noch?“

„Sie leben, Herr Lotheisen!“

Durch die erschöpfte Stimme des Justizrats klang ein hoffnungsloses: Es ist ja ganz gleichgültig, ob du noch lebst . . . oder ich . . . An der Wand über ihm hing das Bild des alten Kaisers Wilhelm, um diesen das Kleeblatt seiner Paladine: Bismarck, Moltke, Roon. Gegenüber, über dem Kronprinzen Fritz, zwei Gegenstücke: Die Kaiserproklamation von Versailles und der Einzug in Paris. Bruno Lotheisen stand leise auf, wie um einen Kranken nicht zu stören. Er reichte dem Rechtsanwalt stumm die Hand. Er ging zur Tür. Dort blickte er noch einmal zurück. Der fahle Graukopf drüben lag auf der Tischplatte. Der alte Preusse glaubte sich im Zimmer allein. Er schluchzte bitterlich. Er stöhnte vor sich hin: „Mein Preussen! . . . Mein Preussen!“ Er weinte nicht um das noch nicht fünfzigjährige Reich, das er selbst mit hatte gründen helfen. Er weinte um das halbe Jahrtausend des Staats der Hohenzollern, um den Grossen Kurfürsten und den Soldatenkönig und den Alten Fritz und den alten Wilhelm . . .

Jetzt erst trat Bruno Lotheisen draussen vor dem Haus in die Wirklichkeit der Dinge hinaus. Jetzt erst erfüllte ihn das Bewusstsein des ungeheuren Geschehens des heutigen Tags. Ein Lastauto donnerte vorbei. Ein Massenruf: „Es lebe die Internationale!“ Ein gläubiges Jauchzen. Eine strahlende, ehrliche Begeisterung. Eine aus dem tiefsten Innern kommende deutsche Zuversicht auf das, was in der ganzen Welt gut und recht war und gut und recht bleiben musste, auf das Beste und Mildeste im Menschen.

Eine junge, blonde Strassenbahn-Schaffnerin winkte fröh ich hinterher. Sie hatte eine Schere und trennte gerade einem Soldaten die Achselklappen ab. Sie hatte diesen Liebesdienst schon vielen erwiesen und die Achselklappen in ihrer umgehängten Geldtasche gesammelt. Sie schlug harmlos mit der Hand auf die Tasche, öffnete sie und zeigte den Inhalt den Umstehenden: „Da hab’ ick schon die halbe Armee beisammen!“

Auch Bruno Lotheisen sah die grauen Achselklappen übereinander, die Nummern und die Namenszüge — jedes ein tuchenes Stück preussische Geschichte: Die Trompeten von Fehrbellin, die Attackensignale von Rossbach, der Choral von Leuthen, Lützows wilde, verwegene Jagd, der Piefkemarsch von Düppel, die Garde bei Chlum, der Todesritt von Marsla-Tour, bis zu der stummen, grauen, riesigen, jedes Mass der Vergangenheit überragenden Grösse der letzten Jahre — das alles wehte ein Sturm der Zeit dahin. Die Achselklappen flatterten, blätterten sich wie Herbstlaub in der abgenutzten Ledertasche einer jungen Schaffnersfrau.

Der Kirchenbauer Lotheisen ging die Friedrichstrasse entlang. In deren Gewimmel tauchten jetzt schon die ersten freigewordenen, feindlichen Kriegsgefangenen auf. Russen. Sie schlenderten noch halb verlegen dahin. Grinsten ihn vertraulich an. Hielten ihn, in der schwarzen Lammfellmütze und den hohen Transtiefeln, für ihren Landsmann.

Die Leipziger Strasse hinab kam ein langer Zug. Der Berliner Osten kam. Der Norden. Die Welt der Fabrikhöfe, der Hinterhäuser, der Laubenkolonien. Männer, Frauen, Mädchen in Arbeitskleidung, je viere nebeneinander. Sie schritten langsam. Sie schritten stumm. Sie sahen feierlich vor sich hin. Rote Fahren nickten, grell in der grauen Luft, über den stillen Köpfen. Diese Köpfe wollten nicht enden. Weit hinauf, bis zum Spittelmarkt, sah man noch die wandernden Wellen von Filzhüten und Umschlagtüchern, und der dicke kleine Herr mit goldenem Zwicker und Biberpelz, der das vorderste rote Banner trug, war schon am Potsdamer Platz.

Auf dem Platz standen die lachenden, aufgeregten Menschen in Massen. Weisse Taubenschwärme umflatterten die vorbeikeuchenden, mit Feldgrau, Matrosenblau, Schwarz der Bürgerröcke gespickten, flintenstarrenden Kraftwagen. Es waren die in Stössen von oben unter die Menge gestreuten Aufrufe der neuen Machthaber. Harte, hallende Hufschläge. Reitende Garde-Feldartilleristen mit abgeschirrten Strängen in gestrecktem Galopp über den Asphalt. Eine aus dem Sattel Hochgeschwungene, wehende rote Fahne. Ein wi des, kriegerisches Bild, wie man es draussen im Felde nie gesehen.

Und darüber der stille, graue Novemberhimmel. Die stummen, kahlen Bäume des Tiergartens. Bruno Lotheisen schritt an dessen Rand entlang. Es dämmerte schon stark. Schattenhaft, eilig, durch die trockenen Nebel des neunten Novembertags, nahte über Deutschland, die Nacht. Die Strasse der Reichen, die Tiergartenstrasse, hätte heute durch Pompejis. Todesschweigen führen können. Keine lebende Seele war zu sehen. Wie ausgestorben lagen die prunkvollen Villen mit geschlossenen Gittertoren, herabgelassenen Rolläden. Hinter wenigen der hohen Fensterscheiben glomm ein ängstlicher Lichtpunkt. Dumpfer, unheimlicher Trommelschlag ratterte im Takt durch die Stille. Aus der Viktoriastrasse, vom Oberbefehlshaber in den Marken her, marschierte ein langsamer Schattenzug im Zwielicht. Der düstere Umriss eines bewaffneten Autos rollte hochragend, wie eine Guillotine auf Rädern, zwischen den verschwimmenden Gruppen der Männer und Frauen.

Der eintönige, gespenstige Trommelwirbel hallte Bruno Lotheisen noch lange im Ohr. Zwischen den Bäumen neben der Strasse pirschten sich ein blonder Sanitäter und seine junge Frau vorsichtig dahin. Sie schienen Angst zu haben. Der Architekt Lotheisen fragte sich: Wovor? Die beiden waren die einzigen Menschen, denen er in diesem plötzlich zum Schattenreich gewordenen Goldenen Viertel des Berliner Westens auf dem weiten Weg bis zum Kurfürstendamm begegnete. Da endlich waren wieder Leute. Da standen auf einmal wieder an den Strassenkreuzungen, schon beinahe selbstverständlich, an Stelle der Schutzmänner die Ordnung haltenden Arbeiter mit umgehängtem Gewehr. Die Laternen leuchteten. Es war Nacht.

Ein alter Herr kaufte sich schmunzelnd eine grosse geräucherte Flunder und knöpfte sie, sich schuldbewusst umschauend, unter den Mantel. Dieses Fischlädchen war offen. Sonst dunkelte es hinter den Schaufenstern der meisten Geschäfte. Wenige Menschen, hasteten an den Häusern hin, hatten es eilig, heimzukommen. Es war eine lähmende Stille nach dem Sturm. Berlin hielt den Atem an. Wartete, was weiter werden sollte . . .

Und in dem Heute wandelt schon das Morgen . . . Es ist geschehen. Was bringt der nächste Tag? Das nächste Jahr? Das nächste Jahrzehnt? Alle Geister sind gerufen? Wer ist ihr Meister? Wer beschwört mit gebieterischer Hand die zwiefach über Deutschland lohende Feuersbrunst: den heute entfachten Flammensturm im Innern, den wütend seit Monaten nahenden Weltbrand vor den Toren? Schicksal, rette Deutschland! Aber wie noch? Wie?

Bruno Lotheisen konnte nicht weiter denken. Er war betäubt. Er schritt in dumpfer Ruhe den Kurfürstendamm entlang. Er wurde sich langsam wieder seiner selbst bewusst. Sein Ich, ausgelöscht durch die letzten Stunden, kehrte ihm wieder. Er sagte sich . . . Ich? . . . Was ist jetzt ein Mensch? . . . Aber ich bin doch da . . . Ich atme . . . ich lebe . . . ich leide . . . Ich muss meinen Leidensweg zu Ende gehen.

Er war vor seinem Hause angelangt. Im ersten Stockwerk, in seiner Wohnung, war Licht. Er stand. Er sah empor. Er dachte: Lonny ist daheim. Natürlich. Wo sollte sie sonst an diesem Abend sein. Ich muss jetzt stark sein. Ich muss hinaufgehen. Ich muss vor sie treten, ob sie auch vor meinem Geist erschrickt. Ich muss das Rätsel meiner Ehe lösen.

Und wenn die Welt voll Teufel wär

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