Читать книгу Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz - Страница 6
III.
ОглавлениеOben in ihrem Salon sass Lonny Lotheisen und telephonierte mit heller, lauter Stimme an eine Freundin: „. . . also lasse tüchtig Wasser in die Badewanne laufen und schau, dass du Kerzen im Haus hast! . . . Man weiss nicht, wie’s morgen ausschaut! Woher ich diese Weisheit hab’? Dr. Grimm ist eben noch rasch mal zu mir gekommen! . . . Die Frieda und die Else sitzen auch noch von Mittag her da! Die Else übernachtet bei der Frieda — zwei Häuser von hier! Grimm bringt sie gleich jetzt nach Hause. Wie? Ob ich mich fürchte? Nee . . . Und ihr? Ihr habt so Angst wegen des Schiebers, der unter euch wohnt? Ja, lieber Gott, da könnt ihr doch nichts dafür . . . Es heisst, zu uns wollten sie heute nacht auch kommen und mal die Speisekammern am Kurfürstendamm revidieren! Na — bei mir werden sie staunen . . . So was an Leere . . .“
„Da unten vor dem Hause steht schon solch eine Bassermannsche Gestalt“, sagte, während Lonny abhängte, ängstlich am Fenster die hustende Kriegerwitwe aus dem Schwarzen Kabinett zu der kleinen Frontkämpferfrau mit den kaputten Nerven.
„Ein Bewaffneter?“
„Nein. Ein Gewehr hat er nicht. Es scheint ein Russe zu sein, mit Pelzmütze und blondem Schopf und hohen Stiefeln. Der unheimliche Mensch schaut immer gerade zu uns herauf.“
„Leise! Die Lonny ist schon wieder an der Strippe . . . der lassen ihre Freundinnen heute keine Ruh’!“
„Herrgott — mir geht’s gerad’ so, Bertal“ rief Lonny ungeduldig in das Hörrohr. „Ich kann auch keinen Tausendmarkschein gewechselt kriegen! Wie? Ob man uns nun alle umbringt? Ach — ich hoffe doch nicht! Wir hier beurtei en die Lage optimistischer! Wer denn — wir? Dr. Grimm natürlich! Er ist eben da! Was? So? — Na! — Ja — wenn dein Mann klüger als Dr. Grimm sein will . . . Werner Grimm sagt, seit heute sei erst der Weg zu Wilson frei, und alles würde jetzt gut! Adieu! Grüsse deinen Mann! Nein — grüsse ihn nicht! Jch ärgere mich zu sehr über ihn. Er soll sich erst zu Wilson bekehren! Schluss!“
Lonny Lotheisen sprang von dem Apparat auf. Sie warf einen Blick zur Decke, als wollte sie den lieben Gott um Nachsicht mit allen geistig Armen bitten, lief durch das Zimmer, schlug, sich setzend, ein Bein über das andere, dass sich unter dem kurzen Rock die zarte, schmächtige Wadenlinie fast bis zum Knie abzeichnete, verschränkte die weissen Hände über dem Knie und hob die langen, dunkelblonden Wimpern andächtig zu Werner Grimm empor, der, Abschied nehmend, vor ihr stand und ihr so gleichmütig bestätigte, als spräche er vom Wetter: „Unsere Feinde wären ja verrückt, wenn sie uns niedertrampelten, statt uns auf die Beine zu helfen und tüchtig für die in ganz Europa zerschlagenen Fensterscheiben zahlen zu lassen! Vom Waffenstillstand darf man nichts erwarten. Der nimmt das Schlimmste vorweg. Da rasselt noch der blinde Säbel. Aber wenn sich dann die geistig intakt gebliebenen Europäer unter Wilsons Leitung mit dem Rechenbleistift zusammensetzen . . .“
„Wie wild der Russe auf der Strasse zu uns heraufglotzt“, raunte am Fenster die Kriegerwitwe. „Immer gerade zu uns.“
„Der Kerl ärgert sich, dass wir hier oben stehen! Gott sei dank, dass Dr. Grimm uns die paar Häuser weit bringt.“
Lonnys grosse, kluge Augen, von unbestimmter Farbe, leuchteten still bewundernd zu Werner Grimm empor.
„Sie imponieren mir wirklich, lieber Freund! Wie kriegen Sie es nur fertig, so gelassen zu sein — in dieser Stunde?“
„Wozu sich aufregen? Es kommt alles, wie es kommen musste.“
Er zündete sich seelenruhig eine Zigarette an.
„. . . und wie ich es seit vielen Monaten in der Schweiz voraussah.“
Lonny Lotheisen hatte die willenlose Gewohnheit, alles, was er sagte, in angespannter Aufmerksamkeit, durch ein kurzes, eindringliches Nicken des glattgescheitelten Blondkopfs zu bejahen. Aber sie hob jetzt doch mit einem tiefen Aufseufzen die gefalteten Hände zur Brust.
„Mir ist so feierlich und furchtbar zumute“, sagte sie. „Mir schwindelt! Wohin gehen wir nur?“
„Jedenfalls nicht zugrunde.“ Werner Grimm versenkte sorgfältig seinen Zigarettenrest in den Wassergrund des Aschbechers. „Die Welt ist noch nie untergegangen.“
Er warf aus seinen dunklen verräterischen Augen einen raschen Blick nach den beiden Damen am Fenster. Die kehrten dem Zimmer den Rücken zu und beobachteten besorgt durch die Scheiben die unheimliche russische Schildwache vor dem Tor. Da beugte er sich über Lonny, nahm ihre kühle, weisse Rechte vom Knie, zog sie an seinen dunklen Schnurrbart, küsste sie lange, nicht auf den Handrücken, sondern auf das dünne Handgelenk, legte sie behutsam, wie ein Kleinod, wieder an ihren Platz. „Du bist so schön“, flüsterte er dabei mit erstickter Stimme. „So schön!“ Ein Rot huschte über Lonny Lotheisens schmale Wangen. Sie bat hastig, leise: „Bleib’ doch noch ein bisschen! Lass mich nicht allein!“
Das weiche Murmeln einer heiss verliebten Männerstimme über ihr. Zwei abgrundtiefe, verständnisinnige Augen von oben.
„Was hast du für wunderschönes Haar . . . dein Scheitel leuchtet wie Gold . . . und duftet . . .“
Sie lächelte ihn hingegeben mit halbgeschlossenen Lidern an. Ihre roten Lippen schürzten sich weich, sehnsüchtig, in Erwartung seines Kusses. Da schrillte wieder der Fernsprecher. Lonny Lotheisen kam zu sich, schnellte auf und riss in heller Ungeduld die Muschel ans Ohr.
„Wie? . . . Na — vorläufig leben wir hier noch! . . . Was: Butter? Ich verstehe immer Butter! . . . Ich soll dir Butter borgen? Sag’ mal, Klärchen, du bist wohl ganz toll? . . . Was? Die Türken endgültig kaputt? Österreich löst sich in Wohlgefallen auf? Alle deutschen Bundesfürsten werden abgesetzt? Ja — schrecklich! Aber Butter kann ich dir nicht geben . . .“
Die beiden Freundinnen kamen vom Fenster.
„Lonny . . . wir müssen jetzt fort.“
„Ein Glück, dass uns Dr. Grimm an dem Menschen da unten vorbeigeleitet.“
„Er hat gerade deine Wohnung auf der Pike, Lonny! Es ist sicher ein entsprungener Russe! . . . Na — wir machen uns jetzt draussen fertig.“
Vielsagendes Augenspiel der Damen, während sie, unter sich, auf der Diele Boas und Mäntel anlegten. Ein stilles Lächeln.
„Lange trägt die Lonny nicht mehr Trauer.“
„Sind die beiden eigentlich schon richtig verlobt?“
„Seit acht Tagen!“
„Aber nicht öffentlich?“
„Na — da hätte doch der Oberbefehlshaber in den Marken in seiner Weise dazu gratuliert! Grimm ist doch heimlich in Berlin.“
Die nervöse kleine Frontkämpferfrau lachte still in sich hinein.
„Aber verliebt ist er . . . toll . . . toll . . .“
„Die Lonny erst recht! Die brennt lichterloh!
„Na ja! Die Hat’s jetzt einmal tüchtig gepackt! Aber Werner Grimm — Herrgott ja . . . Ich gönn’s ihm, dass er endlich mal an die Rechte gekommen ist.“
„Er hat wohl in dem Punkt schon viel hinter sich?“
Die kleine Dame nahm die Hutnadel aus dem Mund und knotete sich die Schleierzipfel:
„Der schöne Werner — na — ich danke! Ich hab ihn doch noch als Mädchen gekannt! Wer zählt die Völker — nennt die Namen? . . . Ein paarmal war’s direkt brenzlicht . . . Einfach Damen der guten Gesellschaft unter seinen Schlachtopfern — mir nichts — dir nichts . . . Aber nun rächt die Lonny uns alle an ihm! Nun ist er gefangen! Verschossen bis über die Ohren!“
„Das war er doch wohl schon oft.“
„So noch niemals! Bisher war es bei ihm immer nur grausames Spiel. Nun ist’s Ernst. Nun ist Schluss. Die Lonny ist seine erste und also auch seine letzte Liebe! Na — sie passen ja auch gut zusammen. Geld haben sie beide. Es wird ein schönes Paar.“
Unter dem Kronleuchter im Salon standen Werner Grimm und Lonny. Er hielt den Arm um ihre weiche, biegsame, miederfreie Taille geschlungen. Sie hatte den Kopf zurückgelegt. Die Augen geschlossen. Liess sich von ihm küssen. Hielt ganz still. Sanft wie ein Kind. Mit einem leisen Glück auf den Zügen, einer mädchenhaften Weichheit in den gelösten Linien ihrer schlanken Gestalt. Nur ihr Busen wogte schweratmend auf und nieder. Ein Flüstern zwischen den Küssen.
„Du . . . du . . .“
„Dein Vater will, dass du zu ihm nach Köln gehst, Lonny.“
Ein lächelndes Kopfschütteln, mit gesenkten, langen, seidenen Wimpern.
„Papa ist verdreht!“
„Du bleibst hier — bei mir?“ —
„Ich mach’ alles so, wie du willst!“
„Bist du wirklich so brav?“
„Ach, Werner: Ich hab’ ja nie gewusst, was das Gehorchen für ein Glück ist!“
Lonny Lotheisen schlug die Lider von den hellen, glänzenden Augen empor und sah ihn innig, mit einem Leuchten des Herzens aus tiefster Seele, von unten auf an. Von der Diele her drangen die Stimmen der nahenden Damen in das Zimmer. In dessen Kühle zog Lonny Lotheisen fröstelnd die schmalen Schultern hoch, löste sich leise von Werner Grimm und trat, als wollte sie noch einen Bruchteil einer Sekunde Alleinsein mehr mit ihm gewinnen, nach dem Fenster. Er folgte ihr. Er sah den Hauch ihres warmen Mundes in der kalten Luft, als glühe der noch von seinen Küssen. Er konnte hier, an der grossen Scheibe, wo man sie von der Strasse aus sah, ihren Mund nicht mehr suchen. Aber er zog ihre schlanken, kalten Finger zu seinem Antlitz empor und wärmte sie mit seinen Lippen. „Du . . . du . . .“ murmelte er verklärt dazwischen. Schmeichelnde Töne der Liebe. Sie hielt glückselig still. Dann spürte er ein Zucken ihrer Hand.
„Gott: sieh, mal: der Mann . . . da unten . . . im Schatten, seitlings von der Laterne . . . wie er zu uns heraufschaut! . . .“
„Ich möchte wissen, was wir den grossen Unbekannten angehen.“
„Er steht schon gut eine halbe Stunde vor deiner Wohnung, Lonny“, warnte eintretend die Hauptmannswitwe: „Also — Heri Dr. Grimm: Wir sind bereit! . . . Gute Nacht, Lo . .! Mein Gott, da telephoniert sie schon wieder . . .“
„Wer? Ich versteh nicht! Ach — Sie sind’s, Herr Kommerzienrat!“ Und rasch vom Apparat zu den anderen gewandt, erläuterte Lonny Lotheisen „Aus Papas Industriekonzern in Köln!“ Dann lachte sie hell in den Schalltrichter. „Wie? Sie sind in Berlin — ja? Und Papa hat Sie telegraphisch beschworen, mich morgen früh nach Köln mitzunehmen? Gottvoll! . . . Warum denn? Weil später der Zugverkehr aufhört? Na — da bleib’ ich eben in Berlin! Wie? . . . Ach wo! . . . Mich stiehlt hier keiner! Sagen Sie das nur den Eltern!“
Sie horchte in das Höhrrohr und schüttelte, feindselig, spöttisch lächelnd den Kopf.
„Um sieben Uhr soll ich morgen früh auf dem Charlottenburger Bahnhof Sie treffen? So einfach wie möglich angezogen? — Keine Reiher — kein Pelz — um das Volk nicht zu reizen? Schlimmstenfalls Sachen von meiner Jungfer? Sie müssen sich schon ohne mich behelfen, Herr Kommerzienrat! Grüssen Sie Köln und entschuldigen Sie mich jetzt, bitte! Ich muss mich von meinen Gästen hier verabschieden.“
Küsse mit den Damen. Ein herzhafter Händedruck, leuchtenden Auges, mit Werner Grimm. „Auf morgen, lieber Freund!“ Ein Lachen noch über das Treppengeländer hinunter: „Gebt acht, dass euch der schwarze Mann draussen nichts tut!“ Und dann, von einem Ausblick aus dem Fenster zurück, noch einmal, mit einem besorgten Beben in der Stimme: „Er hat euch die Treppe herunterkommen sehen! Eben marschiert er direkt auf das Haustor zu!“
Lonnys Mädchen hatte ihren Gästen das Tor aufgesperrt. Im selben Augenblick schob sich von aussen ein hoher Transtiefel durch den Spalt. Eine wirrmähnige Gestalt in Fellmütze, Schafpelz, rotem Schal zwängte sich hinterher, trat, an den entsetzt zurückgeprallten Damen vorbei, hart vor Werner Grimm hin, keuchte zwischen den zusammengebissenen Zähnen, aus dem blonden Gewucher des Vollbarts heraus, ihn an: „Wer sind Sie?“
„Um Gottes willen — nehmen Sie sich in acht!“ schrie die Hauptmannswitwe. Und die andere: „Er tut Ihnen ein Leid an!“
Werner Grimm blieb äusserst kühl. Er musterte fragend sein Gegenüber.
„Wer sind Sie, Verehrtester?“
„Ihren Namen will ich wissen!“
„Ich fürchte,“ sagte Werner Grimm gleichmütig, „Sie teilen den bei uns weit verbreiteten Irrtum, dass schlechte Manieren ein Zeichen des Fortschrittes sind! . . . Warum interessiert es Sie eigentlich, meine Bekanntschaft zu machen, oder . . .“ Er hielt inne und fuhr langsamer, mit einem zögernden, forschenden Blick auf den anderen fort: „. . . oder, scheint mir jetzt . . . oder zu erneuern . . . Es kommt mir plötzlich so vor, als hätten wir uns schon mal irgendwo gesehen . . .“
„Das weiss ich schon seit heute mittag . . .“ sprach der ihm gegenüber dumpf, mit verstörten, grossen blauen Augen, „dass wir uns irgendwo gesehen haben . . .“
,,Vielleicht im Feld?“ schlug Werner Grimm mit gleichmässiger Höflichkeit vor. Eine jähe Bewegung des Schreckens drüben. Eine Hand, wie zur Abwehr erhoben. Ein Stammeln.
„Trugen Sie nicht Ulanenuniform?“
„Gewiss . . .“
„. . . und führten eine Infanterie-Kompagnie — im ersten Kriegsjahr . . .“
„Stimmt!“
„. . . und machten bei Punkt 507 in den Argonnen einen Gegenstoss — spät abends — im August . .?“
„Herrgott ja: Der Infanterie-Hauptmann ganz da vorn im Wurstkessel — abgeschnitten — mit dem Rest seiner Leute . . . Aber damals waren Sie glattrasiert . . .“
„Ich war es doch“, sagte Bruno Lotheisen langsam, halb geistesabwesend. „Es war eine aufopfernde Leistung von Ihnen . . . Sie haben mir und was von meinen Leuten noch lebte, das Leben gerettet . . .“
,,Na — mindestens die Freiheit! . . . Übrigens: Meine letzte kriegerische Leistung. Acht Tage darauf machte eine Franzosenkugel bei mir endgültig Schluss.“
Werner Grimm schlug sich leicht mit der Rechten an das steife Hüftgelenk und streckte sie dann weltmännisch, kameradschaftlich dem anderen hin.
„Na — daraufhin können wir uns ja vertragen und einander vorstellen! Damals riss uns ja das Kriegsgetümmel gleich wieder auseinander.“
Aber zu seinem Erstaunen trat der andere taumelnd ein paar Schritte zurück. Starrte ihn aus entgeisterten Augen an. Wollte etwas sagen. Konnte es nicht, sondern wandte sich ab, schüttelte den buschigen Kopf, ballte die
Fäuste, stieg mühsam, schwer die Stiege des Treppenhauses empor.
„Vielleicht verschüttet gewesen oder sowas“, sprach Werner Grimm halblaut zu den Damen. Er horchte. Nickte. Nun waren die Tritte schon im zweiten Stock. Im dritten. Verhallten. „Ich wollte bloss sicher sein, dass er nicht etwa Frau Lona heimsucht“, sagte er, auf die Strasse hinaustretend, zu den beiden Damen. „Aber er hat offenbar Bekannte weiter oben im Haus.“
Lonnys Mädchen schloss das Tor hinter den Dreien und schoss verängstigt die Treppenstufen empor. Es war ihr mit Todesschrecken eingefallen, dass sie die Flurtür angelehnt gelassen hatte. Atemlos kam sie auf dem Stiegenabsatz an, eben noch zurecht, um die Tür sich bewegen zu sehen, als sei gerade jemand eingetreten. Sie stürzte hinterher in die Diele. Stand dem aus dem oberen Stockwerk wieder herabgestiegenen Mann aus dem Osten gegenüber. Die Angst verschlug ihr den Atem. Sie konnte kaum, mit offenem Mund, stammeln: „Was . . . was wollen Sie denn hier?“
Der Fremde machte ihr ruhig mit der Hand eine Bewegung, zu schweigen. Durch die Salontür hörte er die helle, laute Stimme seiner Frau. Sie telephonierte gerade wieder mit einer Freundin.
„Dein Mann ist eben aus Mazedonien zurück? Du Glückliche! . . . Wie sieht’s denn auf dem Balkan aus? Grässlich? . . . Ach du lieber Gott! . . . Nein: Der Karl ist Gott sei Dank nicht in Palästina — dort geht ja auch alles koppheister — er ist in Tiflis . . .“
Bruno Lotheisen legte finster Mantel und Mütze ab. Hing sie nach alter Gewohnheit, wie vor Jahren, an den Kleiderhaken. Das Mädchen beobachtete verstört den Fremden, der so tat, als sei er hier zu Hause. Innen telephonierte Lonny: „Kurt? . . . Kurt hat zuletzt vor vier Wochen aus Kiew Tee geschickt! Seitdem keine Silbe mehr. Sein Bruder ist auf einem Torpedoboot mit seinen sächsischen Reitern über die Ostsee mitten durchs Treibeis nach Finnland. Es soll eine tolle Schunkelei gewesen sein . . .“
„Melden Sie mich der gnädigen Frau!“
„Ja, wen denn?“
Aus dem Salon klang Lonnys klare, lebhafte Stimme:
„Ja, nicht wahr? . . . Nein — den Adalbert kriegten sie nicht! Er hat sich immer wieder mit seinem U-Boot in seinem Versteck am Ufer von Kreta verkrümelt und sich dazwischen an der marokkanischen Küste Benzin geholt. Nachher ist er ganz da hinauf . . . ins Nördliche Eismeer . . . Du . . . Rede um Gottes willen nicht vom heutigen Tag und von Politik. Alle Gespräche werden überwacht.“
„Sagen Sie der gnädigen Frau, ihr Mann stände draussen!“
„Wer“
„Ihr Mann!“
Innen Lonny schnell, heiter: „Der Max? Na — den Vorsichtsrat kennst du ja! Der gedieh in der Etappe in der Lombardei.“ Dann plötzlich mit tieferer Stimme, erschrocken: „Der dritte jetzt auch als Fahnenjunker in Flandern gefallen? Die armen Eltern! Alle Söhne tot!“
Noch einmal entrollte sich, in den hellen Worten einer jungen Frau da nebenan, das riesenhafte Bild des erlöschenden Weltbrands. Über Bruno Lotheisen lief ein Schauer von Ehrfurcht vor den in der Geschichte aller Zeiten unerhörten Leistungen eines Volks, seines deutschen Volks. In ihm wallte noch einmal stürmisch das Kriegerblut. Verebbte. Lonnys letztes Wort klang in seinem Ohr, klar und laut: ,Tot’. Er wandte sich zu dem Mädchen: „Sagen Sie der gnädigen Frau, hier aussen stände ein toter Mann!“
Das Mädchen sah ihn verdutzt und ängstlich an. Sie ging in das Zimmer. Lonny hatte dort eben den Hörer angehängt.
„Gnädige Frau: Draussen steht ein Mann. Oder ein Herr. „Ich hab’s in der Aufregung vergessen zu melden: Er war schon heute nachmittag einmal da! Er sagt, er wäre tot.“
,,Was?“
„Aber ich glaube, er ist von der neuen Rejierung!“
„Heulen Sie nicht, Minna, das ist kindisch!“
„Ick habe unsern halben Topf Gänseschmalz schon verstecket! Und die zwei Eier auch! Sonst haben wir doch nischt!“
„Na eben! Ich hungere heute schon den ganzen Tag wieder einmal fürs Vaterland! Also der Mann draussen . .“
„Gnädige Frau: Er spricht, er wär’ Ihr Mann!“
„Wie?“
„Ihr Mann!“
,,Minna, Sie sind wohl unklug!“ Lonny Lotheisen warf unwillkürlich einen Blick auf die schwarzumrahmte Photographie ihres Gatten auf dem Mitteltisch. Das Bild zeigte ihn in Feldgrau mit dem leinwandüberzogenen Helm auf dem Haupt, das frische, freimütige Künstlerantlitz glatt rasiert, so dass der Ausdruck heiterer Lebens- und Schaffensfreude um den feinen, weichen Mund sonnig hervortrat. Am Nasenflügel die kleine Narbe des Schmisses aus der Studentenzeit. Die junge Frau schüttelte, plötzlich blass geworden, den Kopf. Wurde wieder ruhig.
„Ein Mann wird er natürlich gesagt haben, Minna! . . . Nun: Ich geh’ in Gottesnamen zu ihm ’raus.“
Das Mädchen war im Zimmer geblieben. Sie sprang plötzlich zur Tür. Sie fing ihre zurücktaumelnde Herrin auf. Die schwankte in den Knien, streckte beide Arme weit aus — man sah nicht, ob zur Abwehr, ob zum Empfang — hatte die Augen weit, ungläubig aufgerissen. Stammelte: „Nein . . . nein . . .“
Der fremde, dichte, blonde Vollbart . . . der dicke Schal um den Hals, die hohen Stiefel . . . der russische Mantel . . . Aber die Augen . . . die herzlichen, blauen, spiegelklaren Augen . . . und da . . . und da: die kleine Narbe an der Nase . . .
„Bruno . . .“
„Ich bin’s!“
„Bruno . . . Bruno . . .“
Das Mädchen stand mit offenem Mund. Sie sah: Die gnädige Frau sank an die Brust des fremden Mannes. Legte ihr Antlitz an sein Schulter. Wäre in sich zusammengesunken, wie um vor ihm niederzuknien, wenn sein Arm um ihre Taille sie nicht gehalten hätte. Sprach kein Wort. Ihr ganzer Körper zitterte und zuckte in fliegenden Atemstössen.
Auf dem Gesicht des fremden Mannes veränderte sich nichts. Er stand stumm. Schaute tiefernst vor sich hin in das Leere. Über den mädchenhaften, goldblonden Scheitel an seiner Brust hinweg. Stützte die niedergebrochene Frau so, wie ein Mensch dem Nächsten hilft.
Das Mädchen fand, dass sie hier zuviel sei. Sie ging leise in den Salon zurück. Ganz betäubt nach hinten. Es wirrte ihr durch das Hirn: Ja, du himmlische Güte: die gnädige Frau ist doch schon seit acht Tagen verlobt! . . . Was wird denn das nun?
In der Diele war es still. Bruno Lotheisen rührte sich nicht. An seiner Brust ruhte die warme, atmende Last. Sie war schwer. Er brauchte die Kraft seiner Arme, um sie zu halten. Ein feiner, süsser Duft, den er kannte, der tausend Erinnerungen weckte, stieg aus ihrem Haar. Er fühlte ihre wilden Herzschläge an seiner rechten Brust. Er fühlte von links das stürmische, schnelle Pochen seines Herzens dagegen, als läuteten zwei Feuerglocken ineinander.
Und stand still.
Und wie ein Messerschnitt ins Herz ging es durch seine Seele: Dreissig Monate hindurch, Hunderte und aber Hunderte von Tagen und Nächten hast du von diesem Augenblick geträumt. Unzählige Male hast du zu Gott gebetet, dir nur einmal diese Minute unsäglichen Glückes zu gönnen und dein Weib, dein geliebtes Weib, das Licht deines Lebens, dein Alles, in deine Arme zu schliessen; . . . und dann in Gottesnamen zu sterben, mit ihrem Kuss auf deinen Lippen . . .
Nun hältst du sie umfangen. Die Gnadenstunde ist da. Und du stehst traurig und stumm. Du hast noch nicht ihr Gesicht gesehen, das sich scheu an deine Brust presst, als wollte es sich verbergen. Du hast noch nicht ihren edelgeformten, schmalen, jungen Kopf in deine Hände genommen und deine Lippen auf die ihren gedrückt, zu einem langen, langen, atemlosen Kuss. Du kannst es nicht. Wenn du sie loslässt, sinkt sie hilflos zu Boden. Du hältst eine bange, lebende Last . . .
Und jetzt sah er: Ihre Arme umfingen ihn nicht. Sie hingen schlaff, wie bei einer Ohnmächtigen, zur Erde. Es war, als wage sie nicht, ihn zu berühren. Habe sich ihm nur so entgegengeworfen, wie es sein musste . . . in der Selbstverständlichkeit, mit der eine Frau den aus dem Felde heimkehrenden Gatten empfängt . . .
Sie war nicht ohnmächtig. Er hörte sie, unter sich, an seiner Brust murmeln: „Bruno . . . Bruno . . . bist du’s wirklich . . .?“
Er sah von ihrem Kopf nur ein schmales Stückchen totenbleicher Wange. Das rosige kleine Ohr mit dem matten Schimmer einer Perle im Läppchen, halb verdeckt durch die darübergestraffte goldene, feinsträhnige Seidenflut ihres Haares. Er sagte und merkte dabei selbst, wie ungewollt rauh seine Stimme klang: „Ich bin von den Toten auferstanden. Ich bin aus der Kriegsgefangenschaft in Russland zurück. Ich konnte nicht schreiben. Es gab keine Verbindung nach Europa. Ich bin seit diesem Frühjahr unterwegs von Sibirien bis hierher . . .“
Und eine höhnende Stimme in seinem Innern ergänzte: Ich bin ein lebender Leichnam. Ihr hier habt mich, scheint es, alle schon lange begraben. Du, meine Frau, die da wie eine geängstigte Taube an meiner Brust zittert, hast die ersten Schollen auf meinen Sarg geworfen.
Er rang die erstickende, in ihm aufsteigende Bitterkeit nieder. Er dachte sich: Wir können nicht für immer hier, meine Frau und ich, auf dem Vorplatz stehen bleiben. Er umfing sie fester. Geleitete sie langsam nach dem Salon. Sie liess sich willenlos, mit geschlossenen Augen, wie eine Nachtwandlerin, von ihm führen.
Nun warf das Licht des Kronleuchters seinen auf ein paar Kerzen gedämpften Schein auf sie beide. Sie standen sich gegenüber. Er erschrak vor ihrer Blässe. Er dachte sich: Ihre schönen graublauen Augen schauen mich noch immer an wie ein Gespenst. Er sagte laut und hart: „Ich lebe, Lonny. Ich lebe!“
Und wiederholte zornig, fast drohend, so, als hätten tausend unsichtbare Stimmen im Zimmer widersprochen: „Ich lebe!“
Wieder warf sie sich ihm, mit einer wehrlosen, in sich zusammenfallenden Bewegung, an die Brust. Diesmal suchten ihre schlanken Hände seine Schultern. Krampften sich in dem groben, feldbraunen Tuch des einstigen russischen Soldatenrocks fest. Diesmal schaute ihr Gesicht mit grossen Augen, offenen, wild zuckenden Lippen zu ihm empor. Er sprach ihr langsam, laut und deutlich ins Gesicht: „Ich wurde für tot von den Russen aufgelesen. Am Rand des Massengrabs gab ich Lebenszeichen. Ein baltischer Arzt nahm sich meiner an. Ich kam ins Lazarett und, nachdem Gott mir Leben und Gesundheit wiedergegeben, nach Sibirien.“
Jetzt plötzlich erwachte in Lonny Lotheisen das Bewusstsein. Ein Schrecken vor sich. Eine Hast. Ein Drang, sich zu rechtfertigen. Ein Keuchen. Ein Stammeln: „Sie haben dich alle für tot gehalten! . . . Deine eigenen Kameraden . . . deine Vorgesetzten . . . dein Oberst hat mir einen langen Brief geschrieben und mir deinen Tod mitgeteilt . . . da . . . da . . .“
Sie machte sich los. Sie lief zu dem kleinen Damenschreibtisch. Stiess ein Fach auf. Riss mit bebenden Fingern Papiere hervor: „Da . . . um Gottes willen, Bruno: Richte mich nicht! Verdamme mich nicht! . . . Da lies . . .“
Er warf nur einen flüchtigen Blick auf das Schreiben: „Mitte März 1916 . . . Im Urwald von Moscheiki . . . Beim Rückzug der Feldwachen vom Totensumpf . . . Unmöglich, beim Abmarsch auf Buzilischki, die Gefallenen mit zurückzutragen . . . Das Tauwasser schon kniehoch über dem bei jedem Schritt nachgebenden Eisspiegel der Waldseen, durch die wir wateten . . . Ihr Herr Gemahl, nach einstimmiger Aussage seiner Leute, schon seit dem frühen Morgen mit einem Schuss ins Herz kalt und tot.“
„Die Kugel lief mir unter der Haut rund um die Rippen. Ich war bewusstlos vom Blutverlust und von der Kälte erstarrt.“
Bruno Lotheisen las: „Gott möge Sie trösten, gnädige Frau. Ich küsse Ihnen die Hand und nenne mich Ihren gehorsamsten . . .“ Seine Frau schüttete fiebernd, atemlos, ihren guten Glauben zu beweisen, einen Haufen Blätter vor ihn hin: „Da, die Berichte deiner Leute, Bruno . . . Ich habe jedem selbst geschrieben . . . Ich bin in meiner Trauer und Verzweiflung in Deutschland von Garnison zu Garnison gefahren, in die Lazarette . . . überall hin — und habe jeden, den ich auffinden konnte, selbst gefragt. Übereinstimmend haben sie alle das gleiche erzählt! Da der Feldwebel Adam . . . dein treuer Bursche, der Musketier Spitz, der Kriegsfreiwillige und Offizier-Stellvertreter Klingenstein, der Spielmann Knoblauch . . . alle, Bruno . . . alle . . .“
Die wohlvertrauten Namen schlugen an sein Ohr. Die feldgrauen Gestalten traten aus dem Nebel der Erinnerung in seinen Gesichtskreis. Kampf, Frost, Hoffnung, Hunger, Sieg, Blut wurden noch einmal wach. Wie lange war das her . . . wie lange . . . Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin da“, sagte er und dachte sich dabei: Jetzt müssten wir doch lachen und weinen in einem Atem, Lonny und ich . . . Uns an den Händen fassen und um den Tisch tanzen wie die Kinder . . . versinken in einen Rausch von Küssen . . . die donnernd zusammenstürzende Welt draussen vergessen in dieser stillen Nacht . . . Wir beide allein auf der Welt . . . Du und ich . . .
Er hob scheu, heiss die Augen zu seiner jungen Frau. Sie schien ihm verändert. Ihr schönes Gesicht war gegen früher durchgeistigt. Die Ruhe eines mündigen Menschen lag darauf. Die schmalen Züge waren noch weiblich weich und zart, aber ernster, wissender geworden.
Das Blumenhafte von früher, das Rosigträumende, das gläubige Anschmiegsame ihrer Ehe fehlten. Sie stand vor ihm auf eigenen Füssen. Sie schwieg. Wurde rot und blass. Ihr Busen hob und senkte sich rasch. In ihm wallte es blindlings, sich auf sie zu stürzen, sie an sich zu reissen, ihr Gesicht und Hände und Nacken zu küssen, sie sein zu nennen . . . sein Weib . . . Und dann wusste er plötzlich wieder: Da, wo sie jetzt steht, an eben der Stelle, stand sie heute mittag und legte ihren Arm vertraulich in den Arm eines fremden Mannes. Und mit demselben Mann stand sie vorhin dort am Fenster, und er küsste ihre Hände, und ihre Augen suchten sich . . .
Es würgte ihm in der Kehle: Sie kann ja nichts dafür! Sie hielt dich ja für tot! Sie hat Mann und Kind dem Krieg dahingegeben. Der Kugel und dem Hunger. Nun denkt sie wieder an ihr eigenes Glück. Es ist ihr Recht. Du hast es selbst gewollt beim letzten Abschied damals. Und doch . . . und doch . . .
Und doch die unsägliche Bitterkeit. Er sagte sich: Ich galt für gestorben. In dieser Stunde sterbe ich erst wirklich, an dem fremden Mann. Der hat mir vor vier Jahren mein Leben gerettet. Der hat mir heute mein Leben genommen . . . Sein Blick ruhte immer noch auf Lonnys schlanker, hoher Gestalt in dem backfischkurzen Kleid mit den Schaftstiefelchen und dem Weiss des freien Halses über dem düster schwarzen Rock, ein rasch atmender, menschgewordener, schöner Widerspruch zwischen Totentrauer und Leben, Vergangenheit und Zukunft. Es ging ihm durch den Kopf: Sie kann nicht wissen, warum ich so verändert bin. Und sie fühlt doch, dass ich etwas weiss. Ihr weiblicher Instinkt gibt es ihr ein. Ihr schlechtes Gewissen raunt es ihr zu. Nein! Sie hat kein schlechtes Gewissen! Sie hat gedacht: Lasst die Toten die Toten begraben . . . Ich darf nicht ungerecht sein . . .
Aber sie ahnt etwas. Es kämpft etwas in ihr. Sonst wäre sie nicht so scheu. Sonst stünde sie nicht so unschlüssig da und wartete, was ich tun werde, und schweigt . . .
Nur nicht dies Schweigen zwischen uns! Dies furchtbare Schweigen! In dem Schweigen wächst etwas zwischen uns aus dem Perserteppich des Parketts . . . eine Schattengestalt . . . Sie verdichtet sich zu der Gestalt des fremden Mannes . . . des neuen Herrn in meinen Räumen und im Herzen meiner Frau.
Lonny Lotheisen ging leise, leichtfüssig auf ihn zu. Sein Herz zitterte. Ihre Bewegungen waren weich. Ihre Stimme sanst, voll eines tiefen, traurigen Mitleids, wie ihn dünkte. Er spürte den Druck ihrer warmen Hand.
„O Gott . . . wie siehst du aus, Bruno . . .“ sagte sie bang. „Komm . . . komm nach hinten! Dort ist ja alles für dich bereit.“
Sie führte ihn den Flur entlang. Ihn packte die Erinnerung an die Lazarette, wenn er, von einer seiner Verwundungen wieder einmal genesen, sich auf den Arm einer Krankenschwester stützte. Im Ankleidezimmer öffnete Lonny hastig die Schränke. Er merkte, wie sie durch unruhige Geschäftigkeit die Spannung zwischen ihnen zu bannen, das Unausgesprochene zu scheuchen suchte. In den Schränken hingen säuberlich in Reih und Glied an Riegeln und Hosenstreckern seine Zivilkleider, gebürstet und vor Mottenfrass bewahrt. Lonny war immer so ordnungsliebend gewesen. Ein klarer praktischer Kopf. Er sah ganz vorn einen lichtgrauen Sommeranzug. Im August vor vier Jahren hatte er ihn abgelegt und die feldgraue Reserveoffiziers-Uniform angezogen. Hier eben in diesem Zimmer. Was war inzwischen geschehen? Die Welt war nicht mehr wahr. Hatte sich zur Fratze verzerrt. War gestorben.
Seine Frau wählte, mit einer hausmütterlichen Bewegung, einen blauen Winteranzug. Legte ihn ihm heraus. Sie beherrschte sich, ruhig zu erscheinen. Aber er sah, wie ihre Finger zitterten. Neben diesem Rock hing im Dunkel des Schranks. etwas von ihr. Ein dünner, weissleinener Schwesternanzug, mit den kleinen, roten Genfer Kreuzchen. Er staunte über die Ungeduld, mit der sie das Schwesternkleid herausriss und, ohne hinzuschauen, wie ein wertloses Bündel in den Wäschekorb warf.
„Aber Lonny . . . dein Ehrenkleid . . .“
„Ehrenkleid? . . . Wieso? . . .“
„Du hast doch redlich deine Pflicht getan . . .“
„Ach Pflicht . . .“
„Du hast doch, während ich im Felde war, draussen gepflegt . . . im Osten und Westen . . . und bis nach Serbien hinunter . . .“
„Ja . . . Ich hab’ ja auch zwei Klassen von der Rotekreuz-Medaille und das Verdienstkreuz . . . und all das so . . .“
„Nun eben! Du hast auch tapfer als Frau für unser Vaterland gekämpft . . .“
„Solange du da warst. Ich hab’ im Geist neben dir gekämpft. Wie du dann auf einmal nicht mehr da warst, habe ich es gelassen.“
„Warum?“
Nun sah er zum ersten Male etwas von Trotz in ihren klugen grossen Augen etwas von Widerspruch um ihren roten Mund. Sie sagte fast heftig: „Du da vorn vor dem Feind . . . Ihr habt immer nur die Grösse des Krieges gesehen. Das hat euch betäubt. Berauscht. Wir hinter der Front, in den Lazaretten, wir haben immer nur die Schrecken und Leiden des Krieges gesehen. Wie du nicht mehr da warst, hielt ich es nicht mehr aus . . .“
„Wo es um Deutschland ging, Lonny!“
„Ich konnte mich, in der Verzweiflung um dich, der Zeit nicht mehr anpassen. Ich fragte mich immer: Warum? Meine Nerven gingen kaputt! Da hab’ ich’s aufgegeben . . .“
Es klang hart. Gleich darauf war sie wieder liebevoll und gut. Sie zitterte dabei am ganzen Körper. Sie beherrschte sich.
„Komm! Zieh dich um“, sagte sie bittend und weich. „Ich sorge inzwischen, dass du etwas zu essen bekommst. Ein klein bisschen hab’ ich Gott sei Dank da.“
Sie schlüpfte hinaus. Ihm schien es, als sei sie froh, von ihm wegzukommen. Er wusch sich. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Da drinnen stand nur noch ein einziges Bett. Da hatte sich Lonny als Witwe eingerichtet. Ihre hundert kleinen Dinge lagen umher . . . Brennschere . . . ein Spitzenpäckchen . . . Frisierbürsten . . . eine Puderquaste . . . der feine, süsse Duft eines Wohlgeruchs füllte den winterkühlen Raum. Etwas vom warmen Hauch ihres Haars . . . ihres Leibes . . . Er presste die Hände ineinander . . . eine heisse Leidenschaft wallte in ihm auf . . . eine tiefe Trauer stritt dagegen . . . senkte sich lähmend nieder . . . Plötzlich fasste ihn eine wilde, wahnsinnige Wut gegen den Dritten, der da vorn im Salon gestanden, gegen seinen Lebensretter und Nebenbuhler, den fremden Mann.
Vom Flur her hörte er Lonnys helle geschäftige Stimme: „Minna . . . sieden Sie unsere zwei Eier für meinen Mann . . . pflaumweich . . . Möchten sie doch nur frisch sein!“
Er dachte sich, mit heissem Wasser in den Augen: Sie ist noch schöner geworden, seitdem ich sie zuletzt gesehen hab’! Viel schöner! Durch Leiden und Nachdenken und Erleben gereift . . .
Schöner und fremder . . . Sie ist nicht mehr die Frau, die sie war. Meine Frau. Zweieinhalb Jahre Weltuntergang haben sie verändert . . .
„Minna . . .“
„Gnädige Frau?“
„Nehmen Sie unser Gänseschmalz! . . . Und die Kartoffeln von heute mittag . . . und alles, was noch für mich an Kriegsbrot da ist . . .“
„Aber dann hat gnädige Frau morgen nichts zum Frühstück.“
„Dann hab’ ich eben nichts! . . . Nur rasch! Rasch! Der Herr wird Hunger haben!“
Lonny Lotheisen kam aufgeregt wieder in das Zimmer. Sie zwang sich zum Lachen. Es klang künstlich. Dann erschrak sie.
„Du hast dich ja gar nicht umgezogen!“
Er machte eine müde Handbewegung.
„Ach — lass das doch“, sagte er geistesabwesend und wiederholte nach einer Weile langsam, an ihr vorbei ins Leere schauend: „Lass das doch . . .“
Sie wurde blass und schwieg. Dann nahm sie sanft seinen Arm, um mit ihm nach vorn zu gehen. Er entzog sich heftig dem weichen. Frauenarm, an dem von heute mittag her die Berührung eines anderen haftete. Lonny Lotheisen zuckte zusammen. Presste die Lippen aufeinander, wurde auf einmal totenblass. Stumm, einer neben dem andern, schritten sie zu dem Speisezimmer und setzten sich an den grossen, weissgedeckten kahlen Tisch.
Lonny Lotheisen goss besorgt ihrem Mann Tee ein.
„Du musst vorlieb nehmen“, sagte sie. „Es ist deutscher Tee, aus Erdbeerblättern! Anderen gibt’s nicht mehr! . . . Tu dir nur tüchtig Zucker hinein! Ich hab’ gerade noch die fünf Stückchen seit langem aufgespart.“
Er schlürfte und starrte vor sich hin.
„Seife hab’ ich, gottlob, noch auf Jahre! . . . Fasten und frieren . . . meinetwegen . . . aber ohne Seife hielte ich das Leben nicht aus.“
Er nickte. Sie konnte nicht erkennen, ob er ihr überhaupt zuhörte. Ihr warmer Atem ballte sich leise in der Luft. Sie hatte sich ein Pelzcape um die schmalen Schultern gelegt.
„Frierst du nicht? Unsere Warmwasserheizung ist natürlich für die Katze! Wir haben so gut wie keine Kohlen im Haus. Soll ich dir nicht einen Mantel von hinten holen?“
Er antwortete nicht. Nach einiger Zeit fragte er dumpf:
„Was hast du denn nun gemacht, seitdem du nicht mehr gepflegt hast?“
„Ich habe mich mit mir beschäftigt, Bruno. Ich habe mich geistig gebildet. Ich musste es. Ich stand ja ganz allein dem Leben gegenüber.“
„Wie hast du denn das angefangen?“
„Ich hab’ mich auf Rat von Papa mit dem Nötigsten im Bankwesen befasst und einen Kursus in Buchführung durchgemacht. Dann habe ich mir die Verwaltung unseres Vermögens von dem alten, langweiligen Justizrat übergeben lassen und selbst in die Hand genommen. Es war höchste Zeit. Aber ich hab’ es geschafft. Ich habe mich von vernünftigen Leuten beraten lassen, hiesigen Geschäftsfreunden von Papa aus der Hochfinanz. Du wirst dich wundern!“
„Lonny . . .“
„Ich hab’ die Kriegsanleihe verpfändet und hab’ Diamanten und Teppiche gekauft. Von der anderen Hälfte von unserem Geld hab’ ich den grössten Teil schon glücklich in kommender Friedensindustrie angelegt. Ich bin stolz! Auf der Bank machen sie mir auch immer Komplimente, wenn ich komme, und sagen, ich machte das wie ein Alter . . .“
Ihr Mann sah sie traurig aus seinen kinderreinen, hellblauen Augen an. Dann fragte er: „Und weiter?“
„Dann habe ich mich sehr viel mit Politik beschäftigt . . .“
„Du?“
„. . . Ich bin doch nicht so dumm, Bruno . . .“
„Nein. Gewiss nicht. Du bist eine sehr gescheite Frau . . .“
„. . . und habe viele ernsthafte Bücher über die Gegenwart gelesen und einen Überblick über unsere Zeit gewonnen. Ich habe sogar im letzten Jahr selbst ein paar Vorträge gehalten . . . in Frauenvereinen . . .“
„So . . . so . . .“
„Aber hauptsächlich habe ich Vorträge gehört! Es tut ja so bitter not, dass man seinen Gesichtskreis erweitert . . .“
„Vorträge — über was denn?“
„Über all das, was man uns Frauen künstlich vorenthielt: Über Politik und Staatslehre und Volkswirtschaft und soziale Probleme! Und dann sind auf einma alle Männer, auf die wir uns im Leben verliessen, fort im Krieg, und wir stehen ratlos vor der Zeit und der Wirklichkeit! Aber ich hab’ das Meine getan. Du darfst es mir glauben!“
Ihre Wangen hatten sich im Eifer der Rede rosig getönt, ihr Mienenspiel sich belebt, ihre Augen glänzten. Bruno Lotheisen hatte kaum mehr zugehört. Er war in Gedanken verloren. Er machte eine kurze, ungeduldige Handbewegung durch die Luft. als scheuchte er leere Worte von seinem Ohr. Er schob Teller und Tasse von sich. Er erhob sich brüsk. Er trat zur Türe. Dort liess er seiner Frau den Vortritt. Sie ging rasch und flüchtig vor ihm in das Vorderzimmer. Der kurze Rock wippte im elastischen Schreiten zwei Hand hoch über ihren schlanken Knöcheln. Sie trug den Kopf im Nacken, über dessen warmem Weiss das Blondhaar flimmerte. Ein zarter Veilchenhauch wehte hinter ihr her. Hinter sich vernahm sie seine dumpfen Tritte. Sie klangen schwer und müde. Er folgte ihr. Er sah die leuchtende, lebende Jugend, die da vor ihm ging, und dachte, sich mit einer plötzlichen, unsäglichen Bitterkeit: Dich hat das Leben und der Krieg nicht gebrochen . . . dich! Du brauchst mich nicht mehr. Du findest auch ohne mich deinen Weg. Aber ich . . . aber ich . . .
Sie waren wieder im Salon. Unten auf der Strasse brüllte die Hupe eines Kraftwagens. Ein Maschinengewehr Auto raste vorbei. Dunkel gedrängte Gruppen, Filzhüte, Gewehrläufe auf seinem Verdeck. Geflacker von Pechfackeln. Zwei weisse, blendende Azetylenaugen.
„Gott sei Dank!“ sagte Lonny.
„Warum?“
„Die Minna hat eben erzählt: Das Auto fährt die ganze Nacht zu unserem Schutz hin und her. Immer von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche bis hinaus nach Roseneck und wieder zurück.“
Sie stand am Fenster, an eben der Stelle, wo er sie vom Kurfürstendamm aus gesehen. Die Ecke ihr gegenüber war leer. Aber er sah im Geist den anderen dort stehen . . . den Dritten. Er liess sich schwer auf einen Sessel in der Mitte des Zimmers nieder.
„Komm! Setz’ dich auch, Lonny!“
Sie folgte fügsam seinem Wort. Sie sass ihm gegenüber, straff aufgerichtet, die Hände im Schoss zusammengefaltet. Sie schien ganz gesammelt und gefasst. Aber er merkte, welche Mühe sie sich gab, um ihre Aufregung zu beherrschen und ihren unruhigen Atem zu unterdrücken. Irgend etwas kroch heran. Irgend etwas richtete sich zwischen ihnen auf. Irgend etwas Notwendiges, Unentrinnbares legte sich langsam über sie beide, statt des Spiels der Worte.
Er stützte den Kopf in die Hand, schloss die Lider, öffnete sie wieder, warf einen gramvollen Blick auf das elegante, modische Halbtrauergewand seiner Frau. Er sagte dumpf:
„Also das hast du im letzten Jahr getan?“
„Ja. Ich hab’ meine Zeit nicht verloren, Bruno.“
Er strich sich mit der Hand über die Stirne.
„Warum gerade im letzten Jahr?“
Sie merkte, wie sein müdes Auge gramvoll über das Schwarz und Weiss ihrer Halbtrauer hinglitt, angstvoll, forschend, von ihrem blonden Scheitel bis zu der zitternd auf und nieder wippenden Spitze ihres hohen Chevreaustiefelchens.
„Warum gerade in diesem Jahr, Lonny?“
„Weil ich da ganz allein war.“
Es war ein jammervoller, schneidender, heller Ton aus ihrem Munde. Sie schrie es auf. Sie sprang auf. Sie stand vor ihm. Plötzlich schossen ihr zwei seit Minuten aufgestaute. Tränenbäche über das schöne, blasse Gesicht. Sie beugte sich zu ihm vor. Sie legte ihm, der sitzengeblieben war, die Hände auf die Schultern. Ihr lebenswarmer Atem wehte um seine bärtigen Wangen. Ihr Busen flog. Sie stiess abgebrochene, stammelnde, weinende Worte heraus.
„Bruno . . . ich konnte es dir nicht sagen . . . die ganze Zeit kämpfe ich mit mir . . . Ich bringe es nicht übers Herz . . . Ich muss es dir sagen! Bruno! Wir haben kein Kind mehr! Unser Evchen ist tot!“
Sie brach schluchzend in dem Sessel zusammen. Weinkrämpfe erschütterten ihren Körper. Ihr Haupt fiel nach vorn auf die Knie. Er fing sie in seinen Armen auf. Sie gab ihm erschöpft die leichte Last ihres Leibes hin. Wie sie in da sassen, sie, eine Stütze suchend, er, sie haltend, da waren sie Mann und Frau, nicht in Liebe, sondern in Trauer.
Auch seine Augen feuchteten sich in bitterem Nass. Er sagte leise: „Ich weiss es schon, Lonny. Ich weiss es seit heute mittag!“
Sie blieb in wildem Weinen. Sie berichtete abgerissen, verzweifelt in seinen Armen, an seiner Brust.
„Unser Mädele ist fort von uns. Unser Mädele ist im Himmel. Die Engländer haben unser Mädele gemordet. Ich hab’ im Laden keine Milch mehr für sie gekriegt. Ich hab’ keine gekriegt. Und wenn ich sie gekriegt hab’, war sie blau und übergegangen . . .“
„Lonny! Warum . . .?“
„Ich habe auf der Brotkommission getobt. Einen Schlüssel für die Milch haben die Esel da gehabt, nur die Milch selber hatten sie nicht. So war es ja mit allem! . . . Der Obermensch da zuckte die Achseln: Ja, gnädige Frau, Sie sind nicht die einzige Mutter, die hier jammert. In den Hinterhäusern und Kellern sterben uns die Kinder wie die Fliegen, durch die Hungerblockade!“
„Lonny! Warum bist du nicht mit Evchen weg aus Berlin . . . an einen Ort, wo es besser damit war?“
„Das hätte ich ja auch tun sollen! Ich mache mir ja so grässliche Vorwürfel. Ich hab’ es nicht so ernst genommen . . . Verzeih’ mir! Verzeih’! Verzeih’! . . . Unser alter Hausarzt hat mich darin bestärkt! Der war selbst schon vertrottelt durch Unter-Ernährung, ohne es zu merken. Er hat gesagt: ,Das Kind ist zart, aber ganz gesund! Bleiben Sie ruhig hier! Denken Sie auch an sich!“
Sie weinte hell auf, fassungslos. Wie sie von ihrem toten Kinde sprach, war ihre Stimme selbst wie die eines klagenden, bangen Kindes.
„Ich habe zuviel an meine geistige Ausbildung gedacht, hier in Berlin. Es ist mir gegangen wie so vielen daheim. Der Krieg zitterte mir in den Nerven. Ich konnte den Stumpfsinn irgendeines Krähwinkels draussen nicht ertragen. Ich musste den Krieg hier in Berlin in mir erleben, mit gleichgesinnten Menschen um mich . . . Lieber in Berlin hungern und frieren . . . Nur Menschen um einen . . . Menschen, die einen verstanden . . . Nur nicht allein! Ich war ja schon so allein ohne dich!“
Lonny Lotheisen schluchzte in sich hinein.
„Das Evchen war ja auch ganz munter, wenn auch anfällig. Gott, es war so herzig geworden, Bruno! Du hättest deine helle Freude an ihr gehabt. Du glaubst nicht, wie es gewachsen war! Und so fabelhaft gescheit! Es konnte schon so niedlich an den Opfertagen unten auf der Strasse mit seinem kleinen Büchschen sammeln. Jeden Abend hat es für dich und für den Kaiser und alle seine Soldaten gebetet und dann noch einmal extra für alle Flieger und U-Boot-Leute! Da kam die Grippe! Es hatte keine Widerstandskraft. In drei Tagen war es vorbei.“
Die junge Frau biss weinend in ihr Taschentuch und straffte es zwischen den schmalen Fingern. Sie sprach nicht mehr. Sie lag erschöpft in seinem Arm. Suchte mit der freien Linken die seine. Sie sassen stumm Hand in Hand. Die Uhr an der Wand tickte. Langsam verging die Zeit. Bruno Lotheisen fühlte sein Weib an seiner Brust. Eine Wärme wehen Glücks durchströmte ihn: Da halte ich dich in noch einmal! Noch einmal legt unser totes Kind unsere Hände ineinander. Noch einmal bist du mein, in dieser fliegenden, vergänglichen Spanne Zeit . . .
Und langsam beschlich ihn eine berauschende, ungläubige Seligkeit. Zorn und Hoffnung. Kraftgefühl des feldgrauen Kriegers: Gegen die Männer der ganzen Welt habe ich draussen gekämpft. Warum nicht gegen einen einzelnen Mann daheim? Vielleicht ist es noch nicht zu spät! Gott im Himmel, steh’ mir bei! Vielleicht bin ich immer noch stärker als mein Nebenbuhler. Verdränge, ihn aus ihrem Herzen! Nicht mit Strenge — nicht mit Vorwürfen! Nein — nur mit Liebe! . . . mit Liebe . . . mit Liebe . . .
Leise, liebevoll, mit pochendem Herzen, so wie man einen scheuen Vogel fängt, ergriff er nun auch ihre andere Hand. Legte sie zwischen die seinen. Drückte sie, erst behutsam, dann mit aller Kraft seiner suchenden Seele. Sie rührte sich nicht. Sie liess es willenlos geschehen. Sie erwiderte den Druck nicht. Ihre Hand war glatt und kühl. Ein Zucken der Enttäuschung stach durch sein Herz. Er näherte sein Haupt dem ihren. Ganz dicht. Er hoffte, dass sie sprechen würde. Ihm ins Ohr. Wie in einer Beichte dieser letzten Wochen. Bor wenigen Wochen konnte sie jenen ja erst kennengelernt haben. Er wartete auf ihre Worte. Sie kamen nicht. Er entschloss sich. Er murmelte: „Lonny! Hast du mir nichts zu sagen?“
Und da er keine Antwort erhielt als ein Schluchzen, noch einmal:
„Lonny . . . Ich weiss es . . . Ich bin darauf gesfasst . . . Sprich dich aus . . . Es ist deine Pflicht gegen mich . . . Erleichtere dein Herz.“
Ihm schien es, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört und begriffen. Ihre Seele war noch bei ihrem toten Töchterchen. Mit einer hastigen Bewegung machte sie sich aus seiner Umschlingung frei. Sprang auf. Hob das Haupt — Mutter — Witwe — nicht liebende Frau. Hob die schlanken Arme. Hob die nassen, glühenden Augen zum Himmel.
„Seit unser Evchen tot ist — seitdem hasse ich den Krieg! . . . Seitdem hasste ich ihn aus tiefster Seele, der dich mir genommen hatte und mein Kind und mich ganz einsam und elend gemacht. Seitdem bin ich ein anderer Mensch geworden, Bruno . . . Sehe die Welt mit anderen Augen an . . . Nur kein Krieg mehr . . . Kein Krieg . . . Es ist Wahnsinn . . . Kommt heim! Kommt alle heim, die ihr noch lebt . . . denkt an die Frauen . . . an die Kinder . . . Tötet nicht länger . . . Es heisst: Du sollst nicht töten!“
Bruno Lotheisen sass und sah stumm und bang auf die fremde junge Frau vor ihm. Wie eine Rachegöttin, wie eine zürnende, blonde Furie des Friedens stand sie da, in wilder Schönheit, mit geballten Fäusten, finster flammenden Augen, stürmender Brust. Sie keuchte es leidenschaftlich irgendwohin in die Nacht und Ferne hinaus, nach Europa, nach der ganzen blutenden Welt: „Macht ein Ende! Macht ein Ende!“
Er stand auf.
„Lonny: Also weil die Engländer unser Kind umbrachten . . .“
„Unser Engel wird davon nicht wieder lebendig, dass sich noch mehr Menschen töten! . . . Die Menschen sollen sich vertragen. Die Menschen sollen Brüder sein.“
Er schwieg. Dann begann er wieder: „Lonny, du klagst das Schicksal an. Aber das Schicksal gibt dir ja die Hälste dessen, was du verloren hast, wieder zurück. Ich bin wieder da.“
Lonny Lotheisen sah ihn an. Es war etwas Scheues in ihrem Blick. Aber sie legte ihre nasse, blasse Wange ohne Widerstreben an die seine, als er ihre Leise bebende Gestalt an sich zog. Wieder fühlte er den Rausch ihrer Nähe. Noch einmal glimmte die Hoffnung auf. Ein heisses Verlangen: Ein Kuss auf ihren Mund. Sie hätte ihm ohne Widerstreben ihre Lippen geboten. Er fühlte ihre Wehrlosigkeit. Aber in ihm war eine Angst: Wenn ich sie küsse, sind ihre Lippen kalt. Kalt wie die einer Toten . . .
Plötzlich kam ihm der Wille zum Entschluss, allen Zweifeln und aller Ungewissheit ein Ende zu machen. Er liess seine Frau los. Er trat einen Schritt zurück, so dass sie frei vor ihm stand. Er sagte ruhig und fest: „Lonny, sieh mir in die Augen!“
Sie tat es.
„Lonny, kannst du mir in die Augen sehen?“
„Ja!“
Ihre Augensterne unter den langen, weichen Wimpern waren von unbestimmter Farbe. Um so bestimmter, fester war ihr Augenaufschlag zu ihm. Da war reine Ruhe. Ein leichtes Erröten wie bei einem jungen Mädchen lief über ihre Wangen. Dann wurde sie wieder blass. Noch einmal stand sein Herz vor halber Hoffnung still: Sie verschliesst sich in sich. Da hat sie noch ein Heiligtum. Da ist ein seit meinem Tode noch von keinem betretenes Land . . .
Und der Schmerz hinterher: Aber sie stand Doch mit dem anderen Arm in Arm. Sie schaute ihm in die Augen, wie nur eine Frau schaut, die mit dem Blick sich selbst und ihre Seele gibt . . .
„Lonny, kannst du wirklich mein Auge aushalten?“
Ihr schmales Antlitz wurde fühl und stolz Sie hob in einer hochmütigen Abwehr die Schultern. Sie sagte kurz, schroff, in Verachtung der Frage: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Mein Ruf ist tadellos. Wenn du es nicht glaubst — bitte: frage meine Eltern. Oder wen du sonst willst.“
„So meine ich es nicht, Lonny . . .“
Sie wurde unwillkürlich heftig. Gereizt. Sie stampfte leicht mit dem Fuss.
„Ich gehöre nicht zu einer gewissen Sorte Kriegerwitwen. Und ebensowenig zu gewissen Frauen, die es nicht wert sind, dass ihre Männer draussen kämpfen. Es wimmeln genug von der Sorte hier umher und geben Ärgernis. Aber ich nicht.“
„Ich wollte dich nicht kränken.“
„Ich bin dafür ein viel zu ernster Mensch . . .“
Sie spielte mit entrüstet bebenden Fingern mit dem kleinen Medaillon an ihrem blossen Hals. In dem lag unter Glas ein Löckchen ihres toten Töchterchens. Es hatte dieselbe zarte Haarfarbe von gesponnenem Gold wie sie.
„Selbst wenn mir je die Versuchung gekommen wäre, Bruno — sie ist nicht gekommen — ich hätte nur an mein Kind zu denken brauchen. Die Wunde brennt. Die wird sich nie schliessen. Die heiligt mich.“
„Du hast mich nicht verstanden, Lonn. Ich sprach von deiner Seele.“
Sie stand mit dem Rücken gegen die Glasvitrine an der Wand, die ihre kleine, kostbare. Porzellansammlung barg. Das war im Frieden ihr Stolz gewesen. Sie hatte eifrig daran umhergeordnet, die Tassen und Teller mit ihrem roten Mund angehaucht, die Figürchen mit spitzen Fingern poliert. Besuchern eifrig ihren Schatz gezeigt. Er dachte sich: Solch ein kleines Kunstwerk, ein zerbrechlicher, farbiger Luxus des Friedens warst du selbst in meiner Hand und wolltest nichts anderes sein. Was bist du jetzt? Wozu hat dich der Krieg gemacht?
„Meine Seele . . .“, sagte Lonny Lotheisen langsam, „. . . meine Seele . . .“
„Sprich mir von ihr! Ich bitte dich.“
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Schüttelte den Kopf.
„Ich weiss kaum, wie ich es machen soll. Ich bin seit Jahr und Tag wie betäubt.“
„Wovon?“
„Vom Ich. Dass ich mich erlebt hab’. Hab’ erleben müssen. Früher war mein Ich in dir. Auf einmal war ich allein. Stand da, in einer riesigen, brennenden Welt, in der alle Menschen miteinander auf Tod und Leben rangen und jeder sich nur um sich selber kümmerte.“
,,Und da . . .?“
„. . . Da musste ich, in meiner Verlassenheit, ohne Mann und Kind, mich mit mir selber abfinden und trösten. Dazu musste ich den Menschen kennenlernen, den ich auf der ganzen Welt am wenigsten kannte: mich selbst. Da fand ich mit Staunen, das da viel mehr war, als ich dachte. Vieles, was geschlafen hatte . . .“
„Sprich weiter!“
„Da wachte ich auf. Da schaute ich um mich ins Leben. Da war der Krieg der furchtbare Führer und Erzieher. Er brachte euch Männern den Tod, Bruno, und uns Frauen das Leben.“
Rausch der Zeit. Zorn der Zeit. Weltuntergang und Morgenrot. Es zuckte durch seine Seele: Sie ist an mir vorbeigegangen, ihren Weg, schon seit Jahren. Ich focht draussen für sie und verlor sie daheim . . .
„Ich bin mir auch heute noch lange nicht über mich klar, Bruno. Ich ringe immer noch. Es sind Jahrhunderte frei geworden, Frauen-Jahrhunderte. Es stürmt noch alles in mir wie unten im Volk. In mir und den Millionen von Frauen, die der Krieg mündig gemacht hat . . . Wir trennen uns von den Gänsen von gestern . . . Wir tappen im Dunkel. Wir suchen . . . ich weiss nicht, was . . .“
Unten dröhnte wieder, in butig-lohendem Pechgeflacker, das schützende Maschinengewehr-Auto vorbei. Verdonnerte gen Westen. Man konnte in dem kurzen Lärm nicht reden. In Bruno Lotheisen graute die Erkenntnis: Ich hab’ meine Frau nicht erst an den Fremden verloren. Sie verlor sich an die Zeit. Diese Zeit, von der ich durch Jahre in Sibirien getrennt war, diese Zeit, die ich nicht erlebte und nicht kenne, diese Zeit, die seit heute mittag als ein furchtbares Rätsel vor mir steht . . .
„Ich bin dir Rechenschaft schuldig“, sagte Lonny sanft und weich. „Ich erzählte dir, wie mir die Welt ein Spiegel wurde und mir mein Bild zurückwarf. Glaube mir, es war nicht leicht, zu sich selber durchzudringen. All das unsäglich Jämmerliche und Kleinliche der Zeit schob sich dazwischen und zog einen nieder. Die Kohlrüben. Die Brotkarte. Die Butter hinten ’rum . . . Das ewige Frieren . . . das Bad gesperrt . . . kein Gas . . . brrr, die Kriegsmarmelade. Die Jagd nach jungen Saatkrähen und Miesmuscheln . . Die Taschen voll Warschauer Bonbons und ungarischer Schokolade. Das grässlichste, dass es keinen Kaffee mehr gab . . .“
Er dachte sich: Das redet sie nun alles so in einem hin, das Alltägliche jetzt wie vorhin das Grösste. Beides für sie einander gleich. Was ist in Deutschland vorgegangen, was ist aus der deutschen Seele geworden, seit ich sie in Sibirien nicht mehr sah . . .?
„Du musst denken,“ sagte Lonny, „dass hinter allem, was wir hier sind und sagen und denken und tun, seit Jahren der Hunger steht. Hunger in jedem Sinn. Im Geistigen wie im Körperlichen. Und draussen der endlose Krieg. Der Magen war leer, das Herz tot und dafür der Kopf voll . . . übervoll. Er konnte gar nicht mehr alles fassen. Er fieberte. Wenigstens bei denkenden Menschen wie mir. Sollte ich es machen, wie viele meiner Freundinnen? Diese jungen Frauen trieben, was sie wollten. Hatten ihren Hausstand aufgelöst, lebten in Pensionen oder bei ihren Eltern, die Möbel beim Spediteur, verfügten über ihr Geld, tanzten heimlich, reisten ziellos hin und her, genossen blind ihre Freiheit. Hätte ich das tun sollen? Wäre dir das recht gewesen? Nein. Ich ging bei mir selber in die Lehre. Ich stieg empor . . .“
Und wieder dachte er: Ja. Du bist über mich hinausgewachsen . . . weit . . . weit . . . über mich armen Kriegsgefangenen in ewigem Schnee und Eis . . . mich Totgeglaubten . . . mich längst von den Menschen Vergessenen . . .
Er trat dicht vor sie hin. Er faltete die Hände. Er stammelte leise: „Und ich? . . . Und ich?“
Lonny Lotheisen deutete schmerzlich lächelnd auf den Mitteltisch: „Sieh da steht dein Bild. Es stand immer da.“
Ein Bild in breitem, schwarzem Trauerrahmen. Ein Sträusschen Immortellen, in liebevollem Gedenken, davor. Das Bild eines Toten. Bruno Lotheisen sah schmerzhaft klar, in einem fahlen Licht von oben, die Wirklichkeit: Sie denkt weich und gut an mich, den Vater ihres toten Kindes, dankbar für Liebe und in Erinnerung an schöne Stunden, aber wie in Erinnerung an einen verstorbenen Freund, an dem man doch in der Entwicklung des Lebens vorbeigeschritten wäre . . . Sonnige Tage . . . ein wehmütiges Glück . . Es hat so kommen sollen. Vielleicht war es ganz gut, in ihrem Empfinden, dass es so kam. Gut und rein. Nun hat sie es hinter sich . . .
Er wandte sich ab, warf sich auf einen Sessel, bedeckte sein bärtiges Gesicht mit den wetterbraunen, winterroten Händen. Stöhnte in bitterem Schmerz seiner Gedanken: Der Riss, der durch die Welt geht, das flammende Schwert des Krieges hat uns getrennt. Wir waren schon getrennt, ehe jener kam. Sie war schon frei. Sie hat auf ihr Schicksal gewartet . . .
Als ob sie seine Gedanken erriete, sagte Lonny leise: „Ich dachte doch, du seiest tot.“
Er murmelte: „Hast du das steif und fest geglaubt?“
Sie wiederholte immer im gleichen Tonfall: „Ich dachte, du seiest tot . . . Alle Welt hat es mir ja seit Jahren gesagt . . . Ich war allein, mutterseelenallein auf der Welt.“
Bruno Lotheisen sprang auf.
„Und dann . . . kam er?“
„Dann kam es über mich, Bruno . . .“
„Und an mich . . . hast du nicht gedacht . . .?“
Und immer wieder dasselbe: „Ich dachte, du seiest tot . . . Da habe ich dem, was über mich kam, nicht widerstanden. Nicht widerstehen wollen. Ich habe mich gläubig dem neuen Glück hingegeben. Du selbst hast das ja bei unserem letzten Abschied gewollt.“
Ein Schweigen, ein Stöhnen: „Wann hast du ihn kennengelernt, Lonny?“
„Vor drei Wochen.“
„Wann habt ihr euch gesagt, dass . . . ihr euch liebt?“
„Vor acht Tagen.“
„Es ging schnell.“
„Ich hielt dich für tot. Ich bin jung. Einsam. Ich wartete auf ein zweites Leben.“
„Du liebst ihn?“
Lonny Lotheisen stand unbewegt, mit herabhängenden Armen, den Blick am Boden. Sie sagte ganz leise: „Ja.“
„Du liebst ihn sehr?“
Ihr „Ja“ war nur ein Hauch.
„Du kannst nicht zurück“
Es kam keine Antwort.
„Lonny, sprich!“
Es war ein Flüstern, wie aus weiter, geheimnisvoller Ferne, von ihren Lippen: „Ich hielt dich für tot. Es ist überstark in mir geworden. Ich kann nicht zurück.“
Der Architekt Bruno Lotheisen ging drei-, viermal mit schweren Schritten, ohne seine Frau anzusehen, durch das dumpfe Schweigen des Gemachs. Er machte halt. Sein Antlitz war verfallen. Seine Stimme war heiser.
„Und mich . . . mich liebst du gar nicht mehr?“
„Doch.“
Er lachte wild.
„Lonny! Du hast vorhin gesagt, du seist eine ehrbare Frau . . . Das glaube ich dir. Das weiss ich.“
„Bei Gott im Himmel, Bruno: Ja. Das bin ich geblieben.“
„Wie kannst du also sagen, dass du zwei Männer liebst?“
,,Ich liebe dich, Bruno, wie man einen Toten liebt . . .“ und ihn, wie man einen Lebenden liebt . . .“
Lange fiel in dem Zimmer kein Wort mehr.
Bruno Lotheisen sah vor sich den tiefgesenkten blonden Scheitel seiner Frau. Sie stand vor ihm in einer seltsamen, ruhigen, schicksalsschweren Ergebung. Sie rührte sich nicht in ihrer schweigenden Haltung. Sie atmete kaum. Sie bot ihm förmlich den weissen Nacken zum Streich. Es ging ihm durch den Kopf: In meinem Schreibtisch nebenan muss noch mein einer Parabellum liegen. Wenn ich die Waffe herausreisse und auf sie abdrücke — ich glaube, sie lässt es ohne Widerstand geschehen . . .
Aber darf ich denn das? Habe ich denn irgendein Recht dazu? Sie ist ein ehrlicher, anständiger Mensch. Sie hat mir alles gesagt. Sie ist ohne Schuld. Sie hat nur das getan, was ich selbst, aus Liebe zu ihr, wollte . . .
Er durchmass noch einmal den Salon, blieb stehen, gähnte plötzlich und sagte ruhig mit müder, trockener Stimme: „Die Reise hat mich mitgenommen. Ich will mich jetzt nebenan im Arbeitszimmer auf den Diwan schlafen legen.“
Noch rührte sie sich nicht.
„Gute Nacht.“
Es klang hart. Da wandte sie sich leise schluchzend ab und ging nach hinten und zu gleicher Zeit er nach der anderen Seite in sein Gemach. Dort hörte er noch von fern, leise, zwei Türen sich schliessen. Er war allein . . .
Bruno Lotheisen schob die Rolltüre zwischen dem Salon und dem Arbeitszimmer zu. Zog den Fenstervorhang vor dem Schreibtisch zurück. Schwaches Licht fiel von draussen, von den spärlichen Laternen des Kurfürstendamms her, in das Dämmern seiner vier Wände. Atemlos, wie ein Schäferhund die Häuser der Reichen bewachend, mit grellweiss den Asphalt erhellenden Riesenaugen, raste unten wieder das Lastauto mit Fackeln und Bewaffneten vorbei.
Er sah es leer und geistesabwesend. Er drehte sich vom Fenster um und öffnete die eine Schublade seines Schreibtisches. Er wollte nachschauen, ob darin wirklich noch der Parabellum lag, an den er vorhin gedacht. Ja. Da rundete sich im Zwielicht der lange, mattgebräunte Lauf. Er nahm die Waffe heraus. Fühlte mit der Hand. Sie war gesichert. Also richtig noch geladen. Er hatte bei seiner letzten Abreise vergessen gehabt, die Pistole wegzuschliessen und sich Vorwürfe gemacht und Lonny noch eigens geschrieben, sie möge irgendeinen ihr bekannten Offizier in Berlin bitten, den Schiessprügel zu entladen. Natürlich hatte sie’s verschwitzt.
Zweieinhalb Jahre. Ob das Ding nach so langer Zeit noch losging? Wahrscheinlich. Ziemlich sicher sogar. Es hatte ja da ganz trocken und staubfrei gelegen. Man brauchte nur die Mündung etwas hinter die Schläfe zu richten. Dann würde man ja sehen. Ein Knall, und alles war vorbei. Ein Griff nach der Waffe. Die Augen zu . . .
Nein . . . nein . . .
Er dachte an seine Frau. Mit einem plötzlichen, bangen, verlangenden, stürmischen Herzklopfen, das jäh über ihn kam, das er nicht vor sich wahr haben wollte, das er, beide Hände an die Brust gepresst, in sich zu dämpfen suchte, in dem er doch seinen innersten Menschen erkannte: Schwachheit . . . dein Name ist Mann . . . Ich liebe dich doch immer noch, Lonny . . . so heiss wie je zuvor . . . ich liebe dich . . . Ich . . . liebe deinen Leib und deine Seele . . . Was machst du jetzt da hinten? Weinst du? Betest du? Fluchst du mir? . . . Bist du froh? Oder liegst du stöhnend auf den Knien, um deine mattglänzenden blossen Schultern in goldenen Wellen dein gelöstes schönes Haar, und bebst und keuchst in Todesangst vor demselben Nachtgedanken, der sich hier um mein Herz krallt, zitterst mit schreckensweiten Augen und offenem Mund vor dem fernen, dumpfen, unheilverkündenden Pistolenkrach hier aus meinem Zimmer, der dir meldet, dass du zum zweiten Male Witwe bist, und diesmal für immer?
Er lachte bitter: Nun — und was ändert sich für dich? Ich war für dich tot. Ich werde es wieder. Nur ein paar Stunden trat ich als ein Gast aus einer anderen Welt, ein verwilderter Wiedergänger aus Granattrichtern und zerfetztem Stacheldraht, in dein warmblütiges Leben und schwinde wieder in Nacht und Nichts. Du atmest auf und liebst mich weiter wie einen Toten. Deine roten Lippen haben selbst mein Urteil gesprochen: Wie einen Toten . . .
Horch! . . . Er warf den Kopf zurück und stand lauernd stille . .
Horch! . . . Ein süsser Schrecken, der den Atem nahm . . . Ein ungläubiges Glück . . . jäh aufgedeckt bebten und sangen die letzten, ihm unbewussten Saiten seiner Seele . . .
Horch . . . Ein zitterndes Entzücken: Sind da nicht leise, ganz leise Schritte nebenan? . . . Kommt es nicht auf leichten Sohlen näher . . . zaghaft . . . bittend? Er krampfte die Hände über dem Herzen zusammen. Schlich in trunkener Erwartung zur Türe. Legte das Ohr an das Holz . .
Gleich wird es pochen . . . leise . . . ganz leise . . . Gleich wird ein weicher, weher Hauch von aussen flüstern: Bruno, mach mir auf! . . .
Alles still. Er wartete. Alles still. Er blickte verstört auf. Alles still. Er öffnete die Tür . . .
Schaute in den Salon. Der lag leer im Dämmerlicht. Die Tür nach hinten war geschlossen. Niemand hatte sie geöffnet. Niemand war dagewesen. Niemand. Es war eine Sinnestäuschung seines hämmernden Bluts . . .
Also gut. Tür zu. Er lachte wild auf. Zornig griff er nach der Pistole. Umspannte eine Zentnerlast. So bleischwer wuchtete die Waffe in seiner Hand, zog seinen Arm zu Boden, als hätte ein unsichtbarer Freund ihn ergriffen, um den Schuss abzulenken
Und er sagte sich: Der Freund bist du, mein Gott, an den ich glaube. Deine Vaterhand hält mich zurück.
Herr, dein Wille geschehe. Bruno Lotheisen legte den Parabellum wieder hin. Er sprach laut vor sich hin ins Leere: „Nein!“
„Nein. Ich lebe. Ich will leben.“ Plötzlich standen im Geist Kirchen vor ihm, Kirchen da und dort in deutschen Landen, die er gebaut. In seinem Ohr schwang Glockenklang, Orgelwucht, der Gesang der Gemeinde. In langer Reihe harrten Männer und Frauen vor dem Altar des Leibes des Herrn. Er sagte sich entschlossen: Nein! Ich bin ein Christ. Mit Winkelmass und Kelle habe ich in fernen. seligen Friedenszeiten als ein frommer deutscher Baumeister Gott gedient. Ich legte meinen Glauben in mein Werk, so wie es jeder ehrlich Schaffende soll, uns liess die toten Steine reden zu Gottes Ehre. Ich glaube an Gott, jetzt gerade, nachdem ich durch die Hölle des Kriegs gegangen bin und die Vorsehung mich beschirmt und lebend durch tausend Gefahren geleitet hat. Ich trenne mich nicht von Gott . . .
Er schöpfte aus tiefer Brust Atem. Er entlud die Pistole. Er legte sie in das Schubfach. Er stiess es zu und schloss es ab. So!
Da war auf einmal die Müdigkeit. Eine Erschöpfung bis zu Tode nach den körperlichen Anstrengungen der Reise, den seelischen Erschütterungen des Untergangs der grossen und kleinen Welt an diesem Tag. Er warf sich auf den Diwan, zog die Plüschdecke über sich. Blut, Tränen, Jubel, geballte Fäuste, geschwungene Fahnen, Massenschrei und flatternde Aufrufe, Menschenmeere, flammende Reden — die Welt des neunten November versank. Eine verhallende, weiche Frauenstimme über dem Chaos: Ich liebe dich wie einen Toten . . . dann sah und hörte Bruno Lotheisen nichts mehr. Er schlief. Schlief einen Schlaf, der fast eine Ohnmacht war.
Bei hellem Tag fuhr er aus der bleiernen Lähmung auf. Er trat ans Fenster. Sonntäglich still und friedlich, beinahe menschenleer, dehnte sich unten der breite Kurfürstendamm, so, als sei gar nichts geschehen. Nur eine rote Fahne leuchtete gegenüber durch das kahle Geäst der Bäume aus dem ersten Stockwerk eines Hauses. Ein Doppelposten mit roten Armbinden stand davor und bewachte eine über Nacht dort eingerichtete Machtstelle der neuen Gewalt.
Vereinzelte Kraftwagen sausten in wilder Jagd über den Fahrdamm hin gen Osten. In dem einen sassen dichtgedrängt hohe Offiziere, schweigend, in dicken Pelzen. Dann Zivilisten. Ganze Familien. Koffer zwischen den Beinen. Koffer hinten aufgeschnallt. Schmucktäschchen auf den Knien. Wertkassetten vorn neben dem Chauffeur. Nur fort! Fort! . . .
„Zweitausend Emmchen zahlen se seit heute früh, de Schieber, dass se aus Berlin wegkommen,“ verkündete unten laut die dicke, über und über mit roten Schleifchen gespickte Portierfrau ihrer Nachbarin. Bruno Lotheisen hörte es geistesabwesend. Er trat in den Salon. Seltsam: Da stand die Tür zum Berliner Zimmer und zum rückwärtigen Flur weit offen. Dort hinten rührte sich nichts. Er schritt bis an die Schwelle zu den Hofräumen. Er hörte keinen Laut. Auch nicht aus der Küche. Die grosse Herrschaftswohnung lag wie ausgestorben.
Er kehrte in den Salon zurück. Nun erst bemerkte er auf dem Mitteltisch einen Briefumschlag. Er riss ihn auf. Er entfaltete einen Bogen duftiges, blassblaues Damenschreibpapier. Auf ihm, in grossen, hastigen, bebenden Federzügen die Handschrift seiner Frau: „Du hast dich gestern abend von mir geschieden. Du hast dich und mich getrennt und unsere Wohnung zwischen uns gelegt. Getrennt können wir nicht nebeneinander in unserer Wohnung leben. Es war dein Wille, Bruno. Ich muss mich ihm fügen und aus ihm meinen Entschluss ziehen. Ich bin mit blutendem Herzen heute früh mit einem Geschäftsfreund Papas zu meinen Eltern nach Köln. Wir wollen von dort einander schreiben und uns über die Zukunft klar zu werden suchen. In tiefstem Schmerz und Kummer und Unglück, Lonny.“