Читать книгу Der du von dem Himmel bist - Rudolf Stratz - Страница 5

II

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Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, gingen Demut von Behla und die kleine Trautvetter sofort zehn Schritte voraus. Das taten sie aus Diskretion, ohne sich erst miteinander darüber zu verständigen. Sie wollten die beiden anderen allein lassen und gaben ihnen nur die Wegrichtung an: nach rechts, am nahen Neckar entlang. Dort war es schöner und stiller als in der noch vom nächtlichen Studentenleben erfüllten Hauptstrasse.

Am Uferstaden war kein Mensch. Der Mond schien hell. Silbern schimmerten in seinem Licht die kleinen Zitterwellen des Flusses. Darüber glänzte auf der andern Seite undeutlich weiss die lange Reihe der in steilen Gärten eingebetteten Landhäuser und schloss der Heiligenberg als ein riesiger, vor dem Sternenhimmel stehender Schattenriss die Fernsicht ab.

Hedwig und ihr Gefährte gingen langsam — absichtlich langsam. Es war, als scheuten sie sich beide vor dem ersten Wort aus dem Mund des andern.

Endlich sagte Herman Riedinger geflissentlich etwas Alltägliches. Er sah auf die Uhr und meinte: „Eigentlich müsst’ ich mich mehr eilen! Sonst komm’ ich wieder erst Gott weiss wann ins Bett!“

Diese ewige Unruhe kannte Hedwig an ihm. Er äusserte oft selbst, er stände schon morgens um halb sieben mit einer Viertelstunde Verspätung auf und hole sie den ganzen Tag nicht wieder ein. Das war eine Folge seiner übergrossen Praxis. Er war überlaufen von Hilfesuchenden — namentlich auch aus der Umgegend. Die Pfälzer hatten zu ihm, der ihr Landsmann war, der ihre Sprache redete und selbst von kleinen Leuten stammte, ein besonderes Zutrauen.

Stumm gingen Riedinger und Hedwig weiter den Neckar entlang, liessen sich den feuchten Westwind von der Rheinebene her ins Gesicht wehen und sahen die Sterne über ihren Häuptern funkeln. Endlich hub er wieder an: „Na — nun hast du’s ja also erreicht!“

Das war herzlicher als sonst seine Art war, gesprochen. Es lag eine unwillkürliche Anerkennung darin. Aber sie schüttelte den Kopf: „Was hab’ ich denn eigentlich erreicht?“

„Na — dass du Doktor bist! Glücklich von fünf Professoren mit vereinten Kräften promoviert! Nun brauchst du bloss noch fünfhundert Mark für den Druck deiner Dissertation zu spendieren — dann kriegst du die Anerkennung deiner Gelehrsamkeit schwarz auf weiss ins Haus geschickt.“

Sie ging auf seinen scherzenden Ton nicht ein. „Was ist nun eigentlich weiter für ein Unterschied zwischen gestern und heute?“ frug sie. „Wenn ich morgen aufwach’, bin ich genau derselbe Mensch, der ich war. Ich werd’ nicht mehr in die Vorlesungen und Seminare gehen — was ich in letzter Zeit auch schon nicht mehr getan habe — und werd’ die Bücher, in denen ich bis jetzt fünf, sechs Stunden täglich repetiert hab’, in den Schrank zurückstellen. Das ist alles! Auch äusserlich! Denn dass ich nun nicht die Geschmacklosigkeit haben werde, mich überall „Fräulein Doktor“ nennen zu lassen, das wirst du mir ja wohl zutrauen. Das ist eine Privatangelegenheit zwischen mir und der Fakultät gewesen. Im gewöhnlichen Leben mache ich davon keinen Gebrauch.“

„Nun ja — äusserlich, wie du selbst sagst! Aber innerlich! Zum Kuckuck, Hedwig — du wirst doch das Gefühl des Sieges in dir haben! So leicht macht doch heutzutage, trotz allem, ein Frauenzimmer seinen Doktor in Deutschland immer noch nicht! Es gehört doch noch ein ordentlicher Haufen Energie dazu!“

Hedwig Solitander wandte ihm im Gehen ihr Antlitz zu. Das war noch blasser geworden, sein ursprüngliches feines Weiss unter den goldroten Haaren vom Mondlicht noch verstärkt und um den Mund und in den grauen Augen der müde Zug. „Nein — dies Gefühl der vollbrachten Tat hab’ ich eben nicht, Hermann!“ sagte sie. „Ich sah’s kommen — schon lange — schon seit einem Jahr mindestens bin ich mir dessen bewusst geworden. Je näher das Doktorexamen gerückt ist und je mehr ich mich darauf vorbereitet hab’, desto gleichgültiger ist es mir innerlich geworden. Und in letzter Zeit so gleichgültig, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie! Ich hab’ mir nichts anmerken lassen! Das sag’ ich niemandem als dir. Natürlich — man macht sein Examen — man führt doch durch, was man sich einmal vorgenommen hat. Man wird sich doch nicht blamieren, seinen Vater enttäuschen, seine Lehrer blossstellen, also — wie gesagt — selbstverständlich hab’ ich alles daran gesetzt, um mit Anstand durchzukommen, und das ist ja nun heute auch so weit gelungen ...“

Sie brach ab und verstummte und Hermann Riedinger sagte nach einer Weile langsam: „Das wäre alles eher begreiflich, wenn du grosse Schwierigkeiten in deiner Laufbahn zu überwinden gehabt hättest, Hedwig! Da kommt nachher am Ziel der Rückschlag, die nachträgliche Verbitterung, das kenn’ ich! Aber bei dir: Es hat sich dir doch alles immer geebnet. Du stammst aus einer alten Gelehrtenfamilie — dein Vater ist ein Sonderling, der immer das Gegenteil von dem tut, was die andern meinen, also war es ganz natürlich, dass er dich zu den Jungens in das Gymnasium gesteckt hat. Du hast in deiner Vaterstadt dein Abiturium bestanden, hast in deiner Vaterstadt deine sechs Jahre studiert und jetzt ebenda deinen Doktor gemacht — das ist alles wie von selbst gegangen, als ob es so sein müsste — niemand hat sich darüber gewundert. Die Zeit ist doch längst vorbei, wo man eine Studentin für ein Fabelwesen gehalten hat — namentlich hier in Heidelberg — also nun sei doch froh und danke dem Schicksal, dass es mit dir so weit ist und du die Wissenschaft verbrieft und versiegelt in der Tasche hast!“

„Und was tu’ ich nun mit der Wissenschaft?“

„Das ist nun wirklich eine ganz verrückte Frage!“ versetzte Hermann Riedinger. „Was tut man mit der Wissenschaft? Nimm mir’s nicht übel, wenn ich dir da mit Gemeinplätzen komme: die Wissenschaft im höheren Sinne, in unserem Sinne ist natürlich Selbstzweck! Das weisst du so gut wie ich! Man muss in ihr aufgehen und das in ihr schaffen, wozu man bestimmt ist.“

„Nun könnt’ ich dir ja antworten,“ sagte Hedwig Solitander, „dass es mit dem Schaffen bei uns Frauen immer noch so eine Sache ist — wenigstens in den nicht praktischen Berufen. Bei euch in der Medizin mag das ja anders sein — oder in der Chemie und derlei. Aber im rein Geistigen — da kommt es mir immer noch vor, als würfen wir alle vorläufig bloss Schatten von einem Licht, das wir uns anderswo, auf der Universität, von den Männern geborgt haben, und doch einmal zurückgeben müssen. Und wie’s dann wird — ob wir aus uns selbst einmal was Neues werden? Aber davon will ich gar nicht sprechen — von der Allgemeinheit — sondern nur ganz im einzelnen von mir und meinem Standpunkt ...“

„Ja, aber wieso stehst du denn anders zur Wissenschaft als andere?“ frug Hermann Riedinger erstaunt. „Wie kriegt man denn das überhaupt fertig? Das begreif’ ich gar nicht, dass es da zwei verschiedene Standpunkte geben soll?“

Sie nickte. „Das ist’s ja eben! Das was ich gelernt hab’ — das steht neben mir — ausser mir — ganz fremd. Es ist absolut gar kein Teil von mir selbst geworden, so wie du eben gemeint hast, man müsse ganz von seiner Wissenschaft durchdrungen sein! Wie ich angefangen hab’ zu studieren, da hab’ ich davon eine Ahnung gehabt. Aber dann ist das mehr und mehr geschwunden. Da war ich und das hatt’ ich zu lernen. Dazwischen gab’s in letzter Zeit kaum mehr ein Bindeglied als den Ehrgeiz und das Pflichtgefühl. Und darum, wenn du dich wunderst, weil ich sage: meine Persönlichkeit ist von meinem heutigen Examen und was drum und dran ist, ganz unberührt geblieben und wird es auch in Zukunft sein — ja, das kommt eben daher, dass meine Studien in den letzten Jahren mehr und mehr ausserhalb von mir waren — und ich hab’ für mich gelebt.“

„Dann hast du auch nicht an das geglaubt, was du gelernt hast!“ sagte Hermann Riedinger ruhig.

„Doch — ich hab’s schon geglaubt — oder vielmehr: ob es wahr war oder nicht, das war mir gleich. Ich hab’ es mir eben eingeprägt, weil es die Professoren im Examen hören wollten. Aber es war nicht das, was ich hören wollte ...“

„Und was ist das?“

„Ja — wenn ich das wüsste!“ sagte Hedwig Solitander und schaute, ehe sie das Neckarufer verliessen und in die Weststadt einbogen, noch einmal über den bläulichen Flussspiegel hinaus ins Weite.

„Aber es muss doch etwas da sein!“

„Es ist nichts da. Nur eine Leere. Und unter dieser Leere leid’ ich! Und das ist mein Leben!“

Er warf einen scharfen, beinahe erschrockenen Seitenblick auf sie und schwieg eine Weile, verdutzt durch ihr plötzliches, unvermittelt ihrer sonstigen kühlen Ruhe entsprungenes Geständnis. Und sie setzte gepresst, in unsicherem Stimmklang hinzu: „Natürlich, Ahnungen hat man so manchmal — dunkle Vorstellungen, wie etwas sein könnte — oder sein müsste im Leben. Aber man kann sie nicht festhalten. Sie sind gleich wieder weg. Und dann ist die grosse Leere und daneben steht die Wissenschaft. Und die beweist mir gar nichts. Wenn die was ansieht, dann zerfällt jedes Ding gleich in drei Teile und sieben Paragraphen und das mag ja wahr sein — aber mir hilft das wenig. Das ist nicht das, was ich brauche, um über mich selbst hinweg zu kommen und über diese Stimmung, dass man so ganz allein in der Weite steht — und überhaupt alles ...“

„Und glaubst du denn, dass diese Stimmung etwas Gesundes ist?“

„Nein — sie ist krankhaft — natürlich — ich leide ja daran — schon lange — ich sag’s dir ja ...“

„Und hast du denn eine Ahnung, woher die eigentlich ihren Ursprung genommen hat?“

„Gewiss! das weiss ich jetzt ganz genau.“

„Also — was ist denn schuld daran?“

„Du!“

„Ich?“ sagte er gedehnt, ungläubig staunend.

„Ja — du! Nur du! Aber das soll kein Vorwurf sein, Hermann! Du bist eben wie du bist! Und ebenso wirkst du natürlich auch auf andere!“

Er überlegte eine kurze Zeit ihre Worte. Dann versetzte er rasch und bestimmt: „Hör ’mal, das versteh’ ich noch nicht! Das geht vorläufig noch über meinen Horizont. Das musst du mir näher erklären!“

Sie nickte. „Gerne. Gerade heute! Das ist der Tag dazu — wo ich alles hinter mir hab’, was ich seit vielen Jahren erreichen wollte — und vor mir ist, vorläufig, nichts. Rein gar nichts. Das ist ein Gefühl, als schwebte man im leeren Raum. Man möchte sich irgendwo festhalten — die Füsse irgendwohin stellen — und es ist nichts da ... Und das ist eben durch dich gekommen!“

„Na — erzähl ’mal!“ meinte er aufmunternd. Er war äusserlich so gelassen wie immer geblieben.

„Ja, sieh,“ sagte Hedwig Solitander. „Ich bin Zeit meines Lebens ein ziemlich einsames Menschenkind gewesen. Damit fängt die Sache an. Ich hab’ nie Bruder oder Schwester gehabt und meine Mutter ist gestorben, wie ich kaum fünf Jahre war. Nun — das weisst du ja alles — und auch, dass Papa ein Sonderling ist und sich nie viel um mich gekümmert hat und sein Einfluss mich auch nur hätte sonderbar machen können. Ein bisschen bin ich’s ja auch vielleicht. Aber eine grosse Wirkung hat er nie auf mich ausgeübt. Die ist von dir ausgegangen — eigentlich mein ganzes Leben hindurch. Wir sind ja doch zusammen aufgewachsen und du warst der Ältere und der Klügere, und ursprünglich erschien es mir ganz selbstverständlich, dass du alles wusstest und ich nichts. Es gab eine Zeit, als du Student im fünften, sechsten Semester warst, da hab’ ich dich einfach bewundert ... o Gott ja — wie sehr — förmlich mit andächtiger Scheu — so wie du alle Dinge in ihre Bestandteile auflösen — alles leugnen, was man nicht sah und mit Händen griff — für alles im Himmel und auf Erden eine kurze wissenschaftliche Formel finden — das schien mir geradezu die Verkörperung menschlicher Weisheit — und die warst du! Jetzt denke ich ja kühler darüber — ohne dass ich dich unterschätze — aber die Eindrücke von damals bleiben — die sind jetzt noch da — das werde ich mein Leben lang nicht los, dass ich mich nie hab’ neben dir recht entwickeln können. ...“

Sie schaute vor sich hin in die Nacht und fuhr leidenschaftlicher als bisher fort: „Wenn ich dir ein Gedicht gezeigt hab’, das mir aus der Seele gesprochen war, dann hast du gelächelt und gefragt: „Schön! Und was ist damit bewiesen?“ Und wenn ein Regenbogen über dem Neckartal stand, dann konnte ich doch sicher sein, dass du mitten in meine Träumereien hinein sagtest: „Ja — die Brechung des Spektrums im Wassertropfen ist ganz nett!“ Oder es brummten an einem stillen Sonntagvormittag all die Kirchenglocken über der Stadt und man kam in eine Stimmung — ich will es gar nicht Frömmigkeit nennen — aber so ein Gefühl ... einmal über die Dinge hinaus ... zu den Wolken ... von den Höhen aus die Welt ansehen ... dann hast du dich doch ganz gewiss zu mir gesetzt und mir bewiesen, dass es gar keinen persönlichen Gott gibt oder geben kann. Und ich wusste nie recht etwas zu erwidern ... du bist ja viel gescheiter als ich! Das sind ja auch alles nur Einzelheiten ... Beispiele, die ich da erwähne ... Fälle, wo mir dein Einfluss auf mich einmal ganz klar geworden ist. Im grossen ganzen aber war er viel mehr unbewusst. Ich hab’ im Lauf der vielen Jahre Stück um Stück von mir an dich verloren. Alles, was seine Zeit hatte und werden wollte, ist wieder erstorben an deinem überlegenen, schonungslosen Verstand, und das hab’ ich jetzt erst gemerkt, wie arm ich so allmählich geworden bin. Und, siehst du, das ist nun eben der grosse Unterschied zwischen uns: du reisst nicht nur nieder — alles, was du nicht glaubst — du baust dir auch deine neue Welt wieder auf. Du stehst als Arzt mitten im Leben. Du bist ein starker schaffender Mann. Aber ich bin nicht produktiv. Bei mir ist’s bei der Zerstörung geblieben — so wie Papa vorhin sagte: als wäre Scheidewasser über alle Dinge ausgegossen ...“

Er blieb stumm. So hub sie wieder an. „Wir stehen uns doch weiss Gott nahe ... so nahe ... in so einem seltsamen Wechselverhältnis von Jugendgemeinsamkeit und von Freundschaft und von ... ich glaube, es gibt gar kein rechtes Wort in der deutschen Sprache, um das alles zusammen zu bezeichnen. Aber gerade, dass ich mich so durch dich bedingt fühle, dass ich so abhängig von dir bin und nicht von dir freikommen kann, das macht dich mir wieder fremd. Es ist immer noch ein Rest in mir — der wehrt sich gegen dich und deine Weltanschauung. Aber mehr als sich wehren kann er nicht. Selbständig schafft er nichts zu Tage. Dazu bin ich zu blutleer durch dich geworden. Bisher hatte ich noch immer, seit meiner Kindheit, seit ich ins Gymnasium gegangen bin, meinen fest geregelten Lebenslauf. Die Vorlesungen, die Seminararbeiten, die Vorbereitung zum Doktor, das hat mich gestützt und aufrecht gehalten, so dass ich wohl nach aussen hin nie bekümmert erschienen bin. Aber von heute ab ist das alles mit einem Schlage weg. Ich steh’ zum ersten Male ganz frei in der Welt und allein und weiss nicht, was ich mit mir anfangen soll, und hab’ an dir keinen Halt, sondern fürchte mich davor. Ich kann dir nicht folgen in deine Welt und selber hab’ ich keine! Ich bin einfach obdachlos und das ist meine Aussicht in die Zukunft. Du kennst mich: ich bin doch gewiss ein sehr kühler und ruhiger Mensch — aber glaub’ mir — am liebsten möcht’ ich mich heute abend noch hinsetzen und weinen, wenn ich denk’, wie leer das nun vor mir ist — und wie verschieden wir beide doch voneinander sind ... und es immer bleiben werden — trotz alledem. ...“

Nun entschloss er sich doch, zu reden — halblaut und mehr, um nicht in seiner unverkennbaren, auf seinem Gesicht sich spiegelnden Betroffenheit durch Schweigen teilnahmslos zu erscheinen, als weil er schon seine Stellung zu ihrer plötzlichen Lebensbeichte genommen hatte. So sprach er nur das nächstliegende: „Aber du musst dir doch irgend ein Bild gemacht haben, was nun kommen soll, Hedwig!“

„Nein!“ sagte sie hart. „Äusserlich natürlich wird sich schon eine Stellung und Tätigkeit für mich finden. Umsonst will ich mich auch nicht abgerackert haben. Aber innerlich ... ich weiss nicht ... ich hab’ nur so ein Gefühl, als müsse alles ganz anders sein —. Und es kommt vielleicht auch einmal anders ... unvermutet ... ehe man es denkt ...“

Sie schaute ihn dabei nicht an. Sie sah geflissentlich zur Seite und in die Höhe. Dort funkelten die Sterne an dem jetzt ganz klaren Nachtfirmament. Und es war, als suche sie da oben mit ihren kühlen grauen Augen die Lösung des grossen Rätsels, das Unbekannte ... das Tröstende ... ein Wunder vom Himmel her ...

Vor ihnen klangen helle jugendliche Stimmen, unterdrücktes Gelächter und halblaute Rufe, und Hermann Riedinger sagte, in den gewöhnlichen Gesprächston zurückfallend: „Komm — wir müssen rascher gehen! Da vorn sind Studenten! ... Dass uns nicht die beiden Damen allein dazwischen kommen!“

Die Strasse vor ihnen lag eine Strecke weit finster. Die jungen Leute hatten, an den Pfählen hochkletternd, das Gas ausgedreht und mit ihren Stöcken die Scheiben eingestossen. Jetzt kamen sie, möglichst geräuschlos auf den Fussspitzen laufend, in einem Trupp heran, zerhauene Kindergesichter unter bunten Mützen, halb verlegen, halb selig über ihre Heldentat und atemlos. Denn irgendwo aus dem Dunkel heraus drohte bereits in Pfälzer Brülltönen die Stimme des Polizeidieners: „Ich kumm’ Ihne! Warte Sie norr! Ich kumm’ Ihne!“ Immerhin hätten sie noch Zeit gefunden, mit den beiden einsam ihnen begegnenden Damen anzubändeln — aber kaum erkannten sie das schwarze Kleid der Krankenschwester, so wichen sie mit einer plötzlichen Scheu der guten Erziehung, die auch die Bierdünste im Hirn nicht zu erschüttern vermochten, zur Seite, und Demut von Behla und Suse Trautvetter, die ihre Kommilitonen übrigens höchst unbefangen und mit freundlichem Interesse ansah, konnten ungehindert passieren.

Gleich darauf holten auch Riedinger und Hedwig sie ein. So lange der Weg finster war, gingen sie alle vier zusammen. Dann gewann das vordere Paar wieder einen kleinen Vorsprung. Der erste Schein einer Gaslaterne hatte ihnen in den düsteren Gesichtern der beiden anderen gezeigt, dass man die besser sich selbst überliess.

Und kaum waren sie halbwegs ausser Hörweite, so sagte der Arzt: „Das sind merkwürdige Dinge, die du mir da erzählst, Hedwig! Ich steh’ auf einmal da wie ein Verbrecher ... und man kann wahrhaftig gar nicht ahnungsloser gewesen sein als ich bis zu diesem Augenblick war. ...“

Sie unterbrach ihn, ganz ruhig, beinahe wieder heiter, nachdem diese Aussprache nun einmal hinter ihr lag. „Du hast gar keine Schuld — ich wiederhole es dir! Und hast niemals den Versuch gemacht, mich mit Absicht in deinen Wesenskreis zu ziehen. Das ist ganz von selber gekommen dadurch, dass wir nebeneinander gewohnt haben und zusammen aufgewachsen sind. Und ändern kannst du dich auch nicht. Du bist aus einem Stück Holz geschnitzt — man muss sich mit dir abfinden — so oder so. So tu du nichts dazu. Sonst wirds nur noch schlimmer. Weisst du: die Macht, die ein Mensch unbewusst über einen ausübt, die erträgt sich immer noch leichter, als wenn er auf einmal befehlen will. Und da ist deine Klinik. Nun geh hinein! Wir warten hier.“

Er bot ihr die Hand zum Abschied, obgleich er doch wusste, dass er sie in wenigen Minuten wiedersehen würde. Aber das war wie ein Zeichen des Dankes, dass sie sich überwunden und ihm so viel von sich gesagt, — ein Zeichen der Freundschaft ... oder auch des Trostes ... der Ermutigung ... und er versetzte: „Hedwig — über das alles müssen wir uns noch ganz ausführlich und in Ruhe aussprechen, in den nächsten Tagen. Ich mach’ mich schon ein paar Stunden irgendwie frei und komm’ zu dir heran. Ich hab’ dir ja auch von mir aus viel zu sagen — sehr viel ... ich hab’ auch damit gewartet bis zu dem Tag heute, wo du einen neuen Lebensabschnitt anfängst.“

Jetzt war gar nichts von Ironie und Schärfe in seinen Zügen — nur tiefer Ernst und eine stumme Frage in seinen Augen — ein Suchen in den ihren, als wolle er ihre letzten, ihm noch versiegelten Gedanken lesen — dann nickte er ihr noch einmal zu und stieg rasch die Treppe hinauf und die Schwester Demut folgte ihm.

Hedwig blieb mit Suse Trautvetter draussen zurück, die viel lieber mit hineingeschlüpft wäre, wie sonst wohl, wenn sie sich mit Riedingers Erlaubnis irgend einen kritischen Fall im Krankensaal dritter Klasse auf den Fussspitzen und mit angehaltenem Atem auf drei Schritte Entfernung ansehen durfte. Für alles, was mit Leiden und Gebresten zusammenhing, hatte sie das unheimliche Interesse ihres künftigen Berufes und war im stande, bei Tisch in ihrem Kompotteller löffelnd die greulichsten Sachen aus dem Seziersaal zu erzählen, ohne dass eine Fiber auf ihrem rotwangigen, ahnungslosen Kindergesichtchen zuckte. Sie war nie mit sich und der Welt zufriedener, als wenn sie recht viele Kranke gesehen hatte, und es verstimmte sie, dass man ihr heute diesen Genuss entzog. Sie langweilte sich auch. Denn Hedwig gab ihr auf alle ihre Fragen nur kurze, halb verlorene und verträumte Antworten. Und so war sie froh, als Riedinger nach kurzem wieder herauskam, mit seinem eigentümlichen, halb ironischen, halb gutmütigen Blick über den Zwicker hinweg, den er meist für seine Mitmenschen übrig hatte, im Dunkel nach den beiden Mädchen suchte und sich zu ihnen gesellte.

Gemeinsam gingen sie nach der Stadt zurück und Suse Trautvetter fing gleich wieder an von einem höchst merkwürdigen Fall aus der Universitätsklinik zu berichten — eine Frau aus der Memeler Gegend — Gott weiss, wie hierher an den Neckar verschlagen — man hoffte bereits, dass das die wirkliche, hier sonst nicht vorkommende Lepra sei. Und diese Möglichkeit, den leibhaftigen Aussatz einmal mit eigenen Augen beobachten zu dürfen, begeisterte die Kleine völlig. Sie betrachtete das wie ein gütiges Geschenk des Schicksals, eine nachträgliche Weihnachtsgabe für fleissige Studentinnen.

Aber die beiden hörten kaum auf sie und so verstummte sie endlich. Natürlich kam sie sich überflüssig vor neben dem Paar. Dass es zwischen Riedinger und Hedwig vorhin etwas gegeben, das merkte sie wohl an deren Wortkargheit und ernsten Gesichtern. So gähnte sie verstohlen und summte im Gehen eine Melodie. Und die beiden andern sahen sich wohl zuweilen an, aber auch sie schwiegen. Sie fühlten alle zwei: es war noch viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, viel zu viel, als dass man jetzt auf der kurzen Strecke Wegs und in Gegenwart der Dritten damit hätte anfangen können. Das musste auf morgen oder noch später verbleiben, wenn ihm sein Beruf einmal eine Stunde Zeit zu einer ungestörten Unterhaltung liess. Und als sie nun vor dem Solitanderschen Hause standen und Abschied nahmen, waren ihrer beider Züge sehr ernst. Sie reichten sich stumm die Hand. Dann lüftete er den Hut und ging rasch davon, in die Nacht hinein. ...

Der du von dem Himmel bist

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