Читать книгу Der du von dem Himmel bist - Rudolf Stratz - Страница 6
III
ОглавлениеDer nächste Morgen war feucht und trübe — richtiger Heidelberger Winter — Nebelgrau und Nässe über den niederen Dächern der Stadt, Wolkenfetzen oben um die Berge, und dazwischen auf den Höhen des Königstuhls und Heiligenbergs das allerletzte, spärliche Weiss des Schnees.
Aber trotz des grämlichen Himmels war es, als schiene in Hedwig Solitanders Zimmer die Sonne. Sie hatte ihr Haar noch lose um die Schultern hängen, während sie am Fenster stand und in das Februardämmern hinausschaute, und von diesen rotgoldenen, leuchtenden Wellen ging ein Glanz durch das ganze Gemach und erhellte sie selbst und ihr feines, weisses, müdes Gesicht mit den grossen grauen Augen und umkleidete alles, was da war, mit einem Schimmer lebender Wärme und schwand allmählich, während sie die Flechten strählte, und schrumpfte zu einer feurigen Krone um ihr blasses Haupt zusammen.
Es war noch früh. Wie jeden Tag war auch heute um sechs Uhr Morgens der Fuhrknecht, der in einer Schlafstelle gegenüber wohnte, nach dem Hofe seines Brotherrn gegangen, wo die Pferde und der Wagen standen, und hatte unterwegs, betäubend mit der Peitsche um sich knallend, die Schlummernden geweckt. So trieb er es seit Jahren. Niemand fand etwas daran. Ja, es war Hedwig in letzter Zeit sogar lieb gewesen, auf diese Weise zum Frühaufstehen und zur Arbeitspflicht gemahnt zu werden. Aber das war nun vorbei. Wohl lagen noch die Repetitionswerke und Kollegienhefte in Haufen auf ihrem Schreibtisch — nur der Blick, der darauf ruhte, war ein anderer geworden — gleichgültig. Die hatten jetzt ihren Dienst getan. Man brauchte sie nicht mehr. Sie waren einem nach so viel Mühe und Nöten innerlich beinahe verhasst. Hedwig klappte die Bände zusammen, stäubte sie ab und sortierte sie — links die geliehenen aus der Universitätsbibliothek, die dieser Tage zurück mussten, rechts die eigenen Bücher und die schwarzen, innen in der fliegenden Hast des Nachschreibens mit beinahe unverständlichen Schriftzügen vollgekritzelten Lederhefte der Vorlesungen. Das tat sie nun alles zusammen in den Schrank. Da mochte es ruhen.
Sie musste darüber lächeln, wie wichtig ihr gestern um diese Zeit noch diese Folianten erschienen waren. In jedem stak ja die Weisheit darin — gerade der Satz, die Tatsache, die Schulmeinung, die man sie Abends im Examen fragen würde. Es handelte sich nur darum, eben diese entscheidenden Dinge im Sieb des Gedächtnisses zurückzubehalten, und sie hatte immer wieder überlegt und gemutmasst: „das wird es sein — nein — vielleicht doch jenes!“ — und sass noch die letzten Stunden, ehe es losging, und paukte sich, den Kopf auf die Hände gestützt, mit leise murmelnden Lippen irgend etwas Vergessenes, Unumgängliches ein und musste doch, während neben ihr der schwarze Kaffee rauchte und das schwarze Examenskleid, aus dem sie sorgfältig alle Flecken herausgerieben, bereit lag, wieder an tausend krause Sachen denken: — wenn sie nun zu spät kam und die Professoren waren schon da? — dann fing die Geschichte gleich gut an — oder wenn sie eine Frage nach der andern nicht beantworten konnte und in wachsende Verzweiflung geriet und es schliesslich so machte wie jene Studentin vor ein paar Semestern, die plötzlich mitten in der Prüfung in einen Weinkrampf ausgebrochen war und gerufen hatte: „Um Gottes willen — Sie werden mich doch nicht durchfallen lassen?“ — und dann lächelte sie wieder verächtlich. So was kam bei ihr nicht vor. Sie war überhaupt ganz ruhig. Und dabei pochte ihr doch das Herz. ... Von sechs Uhr Abends ab bis zum Beginn der Entscheidung hatte es förmlich Sturm geschlagen. ...
Das war nun alles vorüber und schon so lange her ... es schien ihr so unwahrscheinlich, dass sie gestern um diese Zeit noch nicht gewusst, ob sie als Doktor der Philosophie oder als durchgefallene Kandidatin zu Bett gehen würde. Zwischen gestern und heute lag schon eine Welt. Ihr vorläufiges Lebensziel war erreicht. Und bedeutete ihr jetzt, in der Erschöpfung nach dem Sieg, doch so wenig. ...
Diese innere Leere war ihr nie so zum Bewusstsein gekommen wie an diesem trüben Februarmorgen, der so gar nichts von Triumphstimmung atmete. Nun war sie frei — das heisst: der Halt war weg ... der Zwang vor sich und den Menschen ... der kategorische Imperativ: Du musst! Nun konnte sie sich sagen: „Ich will!“ ... Aber sie sagte sich nur, verloren ins Weite starrend: Ja — wenn ich wüsste, was ich will ...
In einer wunderlichen Traum- und Nebelstimmung schaute sie über die regenfeuchten alten Dächer und Schornsteine, den gelbschäumenden Fluss, von dem man gerade nur noch einen Streifen unter einem Bogen der alten Brücke erkennen konnte, und hinüber nach dem steilen Heiligenberg und hinaus in die weite Ebene und zu den Wolken empor, die eilig über sie zogen und in grauem Gewimmel herantrieben. Es regnete ein wenig. Der lauwarme Südwest blies feucht und frisch durch das offene Fenster und umwehte Hedwig mit einem stäubenden Hauch wie von einem Wasserfall. Das tat ihr wohl. Und dabei wuchs immer mehr die Schwermut in ihr.
Jetzt läutete es drüben von der Jesuitenkirche und zugleich schlug da unten die Haustüre und der alte fromme Hauptmann a. D. Evangelist von Thiengen ging zur Frühmesse — klein und mager, in seinem verschossenen schwarzen Mäntelchen wie eine Krähe gegen den Wind antrippelnd — ein stiller Christ und Frühaufsteher im Sommer wie im Winter — und klappte den Kragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und wanderte zitterig seines Weges ... zum lieben Gott ...
Sie schaute ihm gedankenlos nach und blieb so stehen und träumte — lange Zeit. Und der Morgen rückte allmählich vor. Schon waren die Kinder schreiend und mit ihren in den Händen geschwungenen Holzklappern rasselnd zur Schule gegangen, die kleinen Läden hatten sich aufgetan, der Althändler Natan Löwenhaar stand, sich die Hände reibend, vor seiner mit Arbeiterhosen, Werktagshemden und paarweise baumelnden Schifferstiefeln behangenen Türe und wechselte ein paar Worte mit dem Friseur Göckler, der auch noch keine Kunden hatte, vom Hof her klang das helle, durchdringende „Ping — ping!“ des Klempners Boos und das Kreischen einer Tischlersäge, und dazwischen das Gebell eines halben Dutzends Köter, die Jean Butterweck, Käthchens Bruder, ein hagerer, stets unterwürfig und verschmitzt lächelnder Studentengünstling und Hundehändler, ins Freie liess. Und auf den Strassen rumpelten die Lastwägen und tönte hüh! und Peitschenknall — die ganze Stadt war lebendig.
Hedwig wollte die Fenster schliessen. Da hörte sie von unten einen Wortwechsel und schaute noch einmal auf die Gasse. Dort stand der Buchbinder Butterweck und vor ihm der Geheimrat von Helmstorff. Das war kein seltenes Bild in letzter Zeit, weil Käthchen Butterweck ihm oft noch Diktat stenographierte oder auf der Maschine schrieb und er daher ihrem Vater die Neuanschaffungen seiner Bibliothek zum Einbinden überliess. Das rundliche, schläfrige und unsaubere Männchen, der nach Art dieser kleinen Heidelberger Handwerker alles vertrödelte und für das Drängen der Kundschaft nur ein gutmütiges und mitleidiges Lächeln übrig hatte, machte es ihm nie zum Dank. Aber der Professor war ihm gegenüber weit weniger nervös und ungeduldig, als es sonst seine Art war.
Hedwig konnte zuerst von oben nur seinen breitkrämpigen grauen Künstlerhut und ein Stück des langen blonden Barts erkennen. Dann, als er einmal im Gespräch mit dem Meister zerstreut zum Himmel aufschaute, wie um zu prüfen, ob es immer noch regne, und dabei sein Blick auch über ihr Fenster glitt und eine Sekunde absichtslos da verweilte, — bei dieser Gelegenheit sah sie auch sein Antlitz — die ausdrucksvollen, aber für sie immer etwas zu weichlichen Züge eines Mannes, der wusste, dass er schön war. Die lebhaften Augen, vor denen er, im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Kollegen, nie eine Brille oder einen Zwicker trug — die an sich ebenmässige, aber schon leise durch einen beginnenden, kaum merklichen Fettansatz der Vierzigerjahre beeinträchtigte Gestalt.
„Sie missbrauchen wirklich meine Nachsicht!“ sagte er auffallend gelassen mit seiner hellen, aber angenehm klingenden Stimme zu dem Handwerker. „Jeden dritten Tag muss ich zu Ihnen kommen und mahnen. Und dann ist’s noch falsch!“ Er hielt jenem dabei den Lederrücken eines Bandes hin, und der kleine schlampige Meister meinte bedächtig und ohne Überraschung: „Guck emol — do is der Titel verkehrt — dees hot der Gesell wieder geschafft in seiner Tappigkeit ... do hot er schief gelade g’hot — der Schote ...“
„Ja — warum arbeiten Sie denn nicht selber?“
„Ha — geschtern war doch Montag!“
„Nun ja — da tut man doch was!“
„I net, lieber Herr!“ Philipp Butterweck schüttelte freundlich den Kopf. „Dees ist bei mir net Brauch! Aber morge mach’ ich mich jetzt dapfer dahinner ... Sie kriege Ihr’ Sach’, Herr Professor — do könne Sie sich druff verlasse!“
„Na — schön!“ Der Geheimrat von Helmstorff grüsste und ging. Und noch einmal streifte dabei sein Blick die Solitanderschen Fenster oben, in deren Schatten er Hedwigs rotgoldenen Kopf gar nicht erkennen konnte. Und sie selbst stieg die Treppe hinunter zum Frühstück mit ihrem Vater.
Sie traf ihn noch in seinem Studierzimmer, einem grossen, dreifenstrigen Eckraum, in dem schon viele Generationen der Solitander seit zwei Jahrhunderten gehaust hatten, Professoren an der Universität, Magister an der einst hochberühmten, nach fünfhundertjährigem Bestehen erst um 1800 erloschenen „Neckarschul“, kurfürstliche Räte und Amtmänner und namentlich viel Theologen. Einige ihrer Bilder in Allongeperrücke und Halskrause schauten noch, nachgedunkelt und verblasst, von den Wänden herab, — dann ein Porträt des Pfalzgrafen Karl Theodor, der fünfzig Jahre lang auf seine Art das Land beherrscht, Schattenrisse und Kleingemälde bekannter Heidelberger Humanisten und Kunstfreunde wie von Johann Heinrich Voss und Boisserée und von dem Grafen von Graimberg — ein paar eingerahmte Bleistiftzeilen Lenaus aus einem Heidelberger Aufenthalt — alles Widmungen der Zeitgenossen an die damals lebenden Solitander. Auch viele Erinnerungen aus der Zeit der Burschenschaft nach 1815 waren da, der Hedwigs Grossvater mit Leib und Seele angehört — ein Bild des Wartburgfestes und eine Nummer der „Isis“ unter Glas, dann die schwarzgeränderte Ansicht einer Burgruine mit der Unterschrift: Hambach 1830 und ein Männerkopf, der nach den verwaschenen Lettern darunter den Doktor Siebenpfeiffer vorstellte und, früher als Heiligtum des Hauses betrachtet, in einem Kästchen ein Stück Holz von Sands Schaffot in Mannheim und eine Bleistiftzeichnung des aus dessen Bohlen gezimmerten, jetzt noch über dem Heidelberger Kirchhofsweg stehenden Weinberghäuschens.
Die Schatten der Vergangenheit lagen über all den Dingen — viel verlorenes Hoffen — vergessenes Sehnen — verwehtes Mühen — dem jungen Geschlecht, im Glanz des neuen Reiches schon ganz unverständlich und fern. Denn all diese Gedenkzeichen reichten nur bis zum Jahr achtundvierzig. An dessen Schwelle machten sie halt. Nichts erinnerte an Gryphius Solitanders eigene Sturm- und Drang- und Turm- und Strangzeit, wie er es wohl als alter Mann jetzt nannte. Im Zellengefängnis in Bruchsal hatte er keine Musse gehabt, Reliquien zu sammeln, und als er viele Jahre später aus Amerika zurückkehrte, da war die Welt anders geworden und die Buben auf den Strassen sangen nicht mehr: „Wenn die Fürsten fragen, was macht Hecker doch?“ sondern sie jubelten die Wacht am Rhein, und es hatte einen heissen Sommerabend gegeben — da stand er, der Achtundvierziger, in dunkler Nacht auf den Anlagen von Heidelberg — die Menschen Kopf an Kopf um ihn wie eine Mauer unter den Platanen — und zwischendurch bewegte sich ein langer, endlos langer Zug stumm schwankender Bahren — weisse, stille, unbewegte Gestalten darauf — die Verwundeten von Weissenburg — ein paar Frauen schluchzten krampfhaft — sonst war alles totenstill und doch lag ein Ahnen in der Luft, ein Wehen: das Reich ist kommen! — und ihm, dem alten Freischärler, rannen die Tränen übers Gesicht und er verstand die Welt nicht mehr ...
Das einzige, was unter den Erbstücken der Vergangenheit in seinem Hause sein eigenes war, auf ihn persönlich hinwies, das waren die grossen Glaskästen mit Schmetterlingen und Käfern, die jeden freien Platz füllten. Darin war er Fachmann, auch in Gelehrtenkreisen anerkannt, und bastelte, als Hedwig eintrat, eben an einer Anzahl sauber aufgespiesster Nachtmotten seiner Sammlung herum. Die fing er sich selbst um Mitternacht mit einem Licht auf einem Kreuzweg in den Bergen. Da sass er in seinem grauen Kapuzinermantel — uralt — aber steif aufgerichtet und regungslos wie ein Magus des Nordens — und jetzt noch erzählten Kerle, die sich mit verstohlenem Hasenschlingenlegen befasst hatten: oben, am „hohlen Käschtebaum“ geistere es wüst! Da hätt’ ein Gespenst gehockt! Da seien sie aber gesprungen ...
Er nickte Hedwig freundlich zu, gab ihr über die Kästen, die er auf seinen hochgezogenen langen Beinen hielt, hinblinzelnd die Hand und sagte nur: „Ich komme gleich! Drinnen liegt ein Brief für dich! Der erste! Von heute nachmittag ab wird’s erst losgehen — mit den Glückwünschen und Telegrammen ...“
Hedwig nahm im Nebenraum das Schreiben vom Frühstückstisch. Es war eine weibliche Handschrift. Sie öffnete es und las:
„Sehr verehrtes Fräulein Solitander!
Schrecklich leid hat es mir getan, Sie gestern gerade zur ungelegensten Zeit aufgesucht zu haben. Ich glaubte, nach einer beiläufigen Bemerkung meines Mannes, dass Ihr Examen schon vorgestern stattgefunden habe. Zu dessen so schönem Erfolg, von dem er mir gleich beim Nachhausekommen berichtete, bitte ich Sie, meine aufrichtigen Glückwünsche entgegennehmen zu wollen. Wenn Sie gestatten, wiederhole ich morgen, Dienstag, zwischen zehn und elf Uhr Vormittags meinen Besuch bei Ihnen. Ich hoffe, dass ich Sie da nicht so störe, wie heute Nachmittag, und bin inzwischen mit besten Empfehlungen Ihre ergebenste
Alwine von Helmstorff.“
„Komisch!“ sagte Hedwig zu ihrem Vater, der ihr inzwischen gefolgt war. „Frau von Helmstorff will heute schon wieder zu mir kommen.“
„Weswegen denn?“
„Ich hab’ keine Ahnung! Sie ist sonst gar nicht so zutunlich! Vielleicht ist’s wegen dem nächsten Luisenbazar, dass ich da mitwirken soll.“
Die Angelegenheit der Frau von Helmstorff interessierte sie nicht weiter. Das würde sich ja finden. Sie zerriss achtlos den Brief und warf ihn zur Seite. Ihr Vater nickte und sah sie an. Sie war heute sehr blass. Das eigentümlich Müde, Leere bei ihr merkte jetzt sogar er, der sich eigentlich stets mehr um Käfer und Schmetterlinge als um die eigene Tochter gekümmert hatte. Der hatte er erlaubt, ihren eigenen Weg zu gehen. Dafür musste sie ihm dankbar sein. Aber das war auch alles. Näher kam man dem alten Sonderling selten, und doch fühlte Hedwig unbestimmt, dass gerade das, was auch in ihr ein wenig seltsam war — was sie von den anderen abschied und innerlich so einsam machte — dass es ein Erbteil seines Blutes bedeutete.
Und jedesmal, wenn sie daran dachte, hatte sie eine Sehnsucht — ein Heimweh nach der kaum gekannten Mutter, der früh Verstorbenen, deren Bild — ein feines, blasses junges Antlitz unter goldrot schimmerndem Haar — dort drüben an der Wand hing. Und darunter blühten und dufteten die Veilchen, die der Alte gestern hingestellt ...
„Du schaust so traurig aus, heute — Hedwig!“ sprach er endlich zweifelnden Tons.
Sie verneinte: „Ach ... traurig bin ich nicht ... eher matt ... oder eigentlich ... ich weiss nicht ... so aschgrau ist mir zu Mut ...“
„Und wie viele werden dich heute beneiden!“
„Nun, mögen sie! Wenn sie glauben, dass in so einem überstandenen Examen das Glück liegt ... und überhaupt: was heisst schliesslich Glück? ...“
Der Blick des Vaters, der auf ihr ruhte, war wärmer als sonst. Es war etwas von Wehmut darin — hatte sie doch erreicht, was ihm, dem Privatgelehrten, nie vergönnt gewesen — und von nachträglicher Rührung. Ihr Dasein war nicht so verpfuscht wie das seine.
Er legte ihr die Hand auf den Kopf, von dessen überreicher, rotgoldener Haarlast es immer nicht nur wie Sonnenglanz, sondern auch wie Wärme über sie und ihre Umgebung ausströmte, und sagte bedächtig: „Ja ... Glück — mein Kind ... man muss eben danach suchen — das heisst leben ... ich bin nun sehr alt und war nie in meinem Leben glücklich ... oder immer nur ganz kurze Zeit und hab’ dann immer wieder lange dafür büssen müssen — für das schwarz-rotgoldene Band, das ich als junger Bursche getragen hab’ und dafür, dass mir damals die Tränen in die Augen gekommen sind, wenn ich nur an Deutschlands Einheit gedacht hab’ — na — dafür hab’ ich ja dann in Bruchsal Wolle gesponnen. Und drüben überm Ozean, wie ich als freier Mann dagestanden bin und die Arme ausgereckt hab’ — da ist mit der Freiheit die Not und die Sorge gekommen — und wie ich schliesslich als Dorfschulmeister in Pennsylvanien wenigstens das tägliche Brot hatte — da kam das Heimweh und hat mir keine Ruhe gelassen. Und daheim wieder im Vaterland, nach zwei Jahrzehnten — ein Mann von über vierzig — da dacht’ ich: nun hab’ ich das Glück, da hatt’ ich deine Mutter ... nun du weisst ja — wir gehen ja oft genug zusammen hinaus nach der Rohrbacher Strasse — draussen auf dem Friedhof liegt sie — sieben Jahre hab’ ich sie gehabt — nicht länger — der Rest ist Schweigen — sagt, glaub’ ich, Hamlet. — Sieh’ — so läuft das Leben von der Wiege bis zur Bahre. — Alles, was ich je angefangen hab’, ist mir unter den Händen verbröckelt und zu Staub geworden — so geht’s jetzt sogar noch mit meinen Käfersammlungen — und die sind doch meine letzte Freude. Aber doch bereu’ ich mein Leben nicht. Ich hab’ immer redlich nach meinem Glück gestrebt und mehr gibt’s vielleicht überhaupt nicht. Denn wenn wir das Glück haben, dann wissen wir’s gewöhnlich nicht — und wenn wir’s wissen, ist’s meist zu spät — ... so muss man das anschauen, Hedwig — mein Kind — dann trägt sich alles viel leichter ...“
Gryphius Solitander hatte nachdrücklicher als gewöhnlich geredet, wo er in allem, was nicht seine geliebten Kerfe betraf, eine rasche, zerstreute, halb geistesabwesende Art an sich hatte. Diesmal war es ihm ernst, einmal der Tochter den Freund und Vater zu zeigen. Es war Güte in seinen Worten. Aber Hedwig hörte nur die Mahnung heraus, sich zu bescheiden — zu entsagen — das Glück in Vergangenheit oder Zukunft zu suchen. So sprach die Weisheit des Alters. Die Jugend in ihr antwortete dagegen: Nein! — Alles oder nichts! Aber sie schwieg. Sie nickte ihrem Vater nur zu. Die Tränen kamen ihr in die Augen und sie ging rasch aus dem Zimmer.
Und Gryphius Solitander schaute ihr trübselig nach — in ferne Zeiten verloren — von jenem Tag des Jahres Neunundvierzig ab, wo er bei Waghäusel hoch aufgerichtet, den Burschenhut auf dem Kopf, mit seinen langen Beinen unerschrocken in den Kugelregen hinein ausgreifend, das schwarzrotgoldene Reichsbanner den Freischärlern voraus gegen die Preussen getragen, deren schwarzweisse Fahne drüben über den Pickelhauben wehte, bis zu jenem stillen Sommerabend, an dem er draussen im Friedhof am Walde von dem frischen Grab seiner Frau Abschied genommen. Dazwischen lag sein Leben. Hinterher kam eigentlich nichts mehr. Er seufzte tief und hörte noch, wie Hedwig draussen sagte: „Baas — wenn die Frau von Helmstorff kommt — ich bin in der Bibliothek!“ Dann nahm er Schlapphut und Mantel und trat seinen gewohnten einsamen Spazierlauf nach dem Königstuhl an.
Die „Bibliothek“, die Hedwig betrat, wurde seit altersgrauer Zeit ein Eckraum des Solitanderschen Hauses genannt — ursprünglich wohl das Gemach, wo die gelehrten und geistlichen Herren der Familie über ihren schweinsledernen weltlichen und kirchlichen Folianten sannen, die jetzt noch die alten Nussbaumschränke mit ihrer Mystik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts füllten, und in hartem Kampf mit dem Teufel ihre Predigten aufschrieben. Einer von ihnen schaute jetzt noch von der Wand herunter. Sein lebensgrosses Ölbildnis beherrschte den ganzen Raum — ein tonnenstarker, zornmütiger Herr, den Knebelbart halb in einer mächtigen weissen Halskrause vergraben, mit einer dicken roten Nase und flammenden Augen. Das war der hochwürdige Dominus Markus Solitander — um 1720 Prediger des reformierten Glaubens — ein Mann, dessen Wort wie das grimme Brüllen eines Stiers von der Kanzel scholl und der nachher ebenso beim Wein und derben Spässen wacker aushielt. Dem war es nicht darauf angekommen, dem Kurfürsten Karl Philipp selbst die Wahrheit zu sagen. Wie hatte er gewettert „wider den bäpstlichen Hauffen“, als man die Scheidemauer der Heiliggeistkirche niederriss und die Reformierten aus dem Schiff vertrieb — und wie siegesbewusst war er ein Jahr darauf wieder mit seinen Brüdern im Geiste in das Gotteshaus eingezogen, wo sie eine neue noch dickere Wand von den Römlingen im Chor trennte ... Und diese Wand stand noch jetzt ...
Hedwig warf sonst gewöhnlich, wenn sie in das Zimmer kam, einen wohlwollenden Blick zu dem alten Vorfahren und Bibelkämpen hinauf, für dessen vollblütige Menschlichkeit sie immer etwas übrig gehabt hatte. Aber heute war ihr nicht darum zu tun. Sie stellte sich an das eine Gassenfenster und wartete, wann Frau von Helmstorff käme.
Mit leeren Augen schaute sie da- und dorthin, zuletzt nach dem Hof hinaus, wo der alte dürre Weihnachtsbaum frei aufgehängt im Wind sich drehte, mit Speckschwarten behängt, an denen zierliche Blaumeisen und Schwarzblättchen, aber nicht das plumpere Räubervolk der Spatzen im Fluge haften und sich gütlich tun konnten. Und kraus und wirr, wie das Schwirren dieser Wintervögel, war auch das Spiel ihrer Gedanken ...
Da klang draussen die Glocke. Sie hörte eine Damenstimme. Das war Frau von Helmstorff. Und gleich darauf erschien diese, von der Baas, die sich wieder zurückzog, hereingeleitet, im Zimmer, eine sehr elegante, schlanke Blondine — eigentlich hübsch, mit klaren Augen und angenehmen offenen Zügen, kaum älter als Hedwig — gegen Mitte der dreissig. Eher hätte man ihr noch weniger Jahre gegeben. Es war noch etwas Jugendliches an ihr. Man mochte kaum glauben, dass sie schon eine halberwachsene Tochter besass — einen stämmigen rotwangigen Backfisch auf dem Mädchengymnasium in Karlsruhe — und einen Sohn, der bald in die Untersekunda des Heidelberger Gymnasiums aufrücken sollte.
Damals als sie mit kaum siebzehn Jahren in einer kleinen norddeutschen Universität den Privatdozenten Doktor Ludwig Helmstorff geheiratet, hatten sie zwar schon Geld in Menge gehabt, dank seinem Vater, dem Begründer und Hauptaktionär der jetzt peinlich als Familiengeheimnis verschwiegenen bayrischen Bierbrauerei, aber sonst im Anfang zurückgezogen gelebt. Das änderte sich dann rasch mit den steigenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen und politischen Erfolgen ihres Mannes und sie, die Professorentochter aus einer Kleinstadt, war an seiner Seite ganz in die Rolle einer Weltdame hineingewachsen, deren völlige Sicherheit und Formgewandtheit in dem unruhigen Getriebe des stets von Besuchern und Gästen wimmelnden Helmstorffschen Hauses auf Hedwig, gerade weil sie sich dort immer gedrückt und unbehaglich fühlte, einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Umsomehr erstaunte es sie heute, dass Frau von Helmstorff offensichtlich unruhig war und das nicht ganz zu beherrschen vermochte. Sie schaute auch blasser aus als sonst, wo ihre gesunden Farben den Eindruck ihrer Jugendlichkeit noch erhöhten.
Hedwig gab ihr die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Die beiden Damen setzten sich und lächelten sich einen Augenblick an — etwas unschlüssig — auf Frau von Helmstorffs Seite beinahe befangen, wie es der anderen wieder schien. Sie war doch neugierig, was ihre Besucherin eigentlich hergeführt. Da hub jene an, rasch und liebenswürdig — nur mit einem kaum merklichen Schwanken in der Stimme: „Also vor allem meine herzlichsten Glückwünsche, Fräulein Doktor! Das ahnte ich ja natürlich nicht — gestern, wie ich hier war — dass Sie da gerade mitten in der Entscheidung standen ... es war zu ungeschickt von mir ...“
„Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!“ Hedwig lachte. „Sie hatten ja sogar noch Recht! Eigentlich war ja schon vorgestern der grosse Tag!“
„Ja gewiss ... ich hätte nur der Sicherheit halber lieber meinen Mann vorher noch einmal fragen sollen. Ich hatte nur eben so viel im Kopf ...“
Sie brach ab und starrte vor sich hin, an Hedwig vorbei, und auf ihren kühlen glatten Zügen lag ein auffallend ernster Ausdruck. Ihre fein behandschuhte Rechte spielte nervös mit dem Schirm. Und Hedwig dachte: Am Ende ist’s doch nur das Wohltätigkeitsfest und sie will ’was ganz Besonderes von mir und druckst und bringt es nicht über die Lippen —! Und laut sagte sie: „Da sind Sie vielleicht schon in den Vorbereitungen zum Luisenbazar, gnädige Frau?“
„Ach — ist dieses Jahr einer?“ Frau von Helmstorff frug das so erstaunt — und dabei so zerstreut — aus anderen schweren Gedanken heraus: das war keine Verstellung. Da hatte doch ein tieferer Anlass sie hergeführt. Aber sie wiederholte noch einmal, gleich als ob sie von nichts anderem zu reden wüsste oder sich getraute: „Also nochmals meinen besten Glückwunsch. Sie müssen ja ein so schönes Examen gemacht haben. ...“
„Es geht, gnädige Frau: ‚cum laude‘!“ ...
„Aber alle Herren waren so ausnehmend befriedigt. Mein Mann sagte es mir ausdrücklich ...“
Hedwig lächelte wieder. „Wenn ich ein bisschen was geleistet hab’, dann verdanke ich es vor allem Ihrem Herrn Vater, der mich promoviert hat. Es war rührend, wie er um mich und meine Studien besorgt war, all die Jahre. Meine Dissertation ist ja Kapitel um Kapitel unter seinen Augen entstanden. Jetzt hat er auch noch die Güte gehabt, mich für morgen Abend zu sich zu einem kleinen Doktorschmaus, wie er es nennt, einzuladen. Sie kommen doch wohl auch, gnädige Frau?“
Wieder stockte Frau von Helmstorff und erwiderte dann zögernd. „Nein — leider nicht ...“ Das wunderte Hedwig. Denn sonst waren Helmstorffs bei solchen Gelegenheiten immer bei dem verwitweten Geheimrat Trenkle zu Gaste, der nur die eine Tochter hatte und bei seinen berühmten Feinschmeckerdiners, die er den Kollegen gab, mit seinem kaustischen und für Damenohren oft bedenklichen Witz auf seine greisen Tage immer mehr den Eindruck eines gottlosen alten Junggesellen machte. Frau von Helmstorff war eigentlich dort unbedingt nötig, um ihn nach Tisch ein wenig im Zaum zu halten, und vertrat überhaupt für gewöhnlich bei ihm die Hausfrau. Und ihr diesmaliges Ausbleiben erklärend setzte sie hinzu: „Meine Tochter, die Gymnasiastin in Karlsruhe, hat doch so arg Influenza gehabt und ist heute auf ein paar Tage hergekommen, um sich zu erholen. Da wollen wir nicht gerade ausgehen. Es tut uns recht leid. Wir hätten so gerne Ihren Erfolg mit Ihnen gefeiert ...“
... Ach, schwindle du nur! dachte sich Hedwig. Was liegt denn dir an meinem Doktor? Den hast du bis morgen schon total vergessen! — Aber die Höflichkeit gebot ihr zu sagen: „Sehr gütig, gnädige Frau! Hoffentlich ist es doch nichts Ernstes mit Gretchen?“
„Ach nein — gottlob! Das Mädel ist ja sonst auch kerngesund. Und so merkwürdig kindlich, das fällt mir immer auf, wenn ich sie wiedersehe. Körperlich ja sehr entwickelt — aber geistig hat sie förmlich was von ’nem Jungen ... so harmlos ... das macht der frühe Ernst des Lebens ... die Studien ... wenn ich da an unsere Tanzstundenbackfische denke ...“
Hedwig nickte. Das war ganz richtig. Das hatte sie an sich selber empfunden. Frau von Helmstorff sagte überhaupt, trotz all ihrer Weltläufigkeit, selten etwas allzu Flaches. Dazu war sie von ihrem Mann zu gut erzogen und von Haus aus in ihrer Art eine recht kluge Frau. Aber wie kam sie jetzt gerade auf diese Betrachtung? Warum nicht zum Zweck ihres Besuchs? Hedwig wusste es nicht und setzte das Gespräch fort: „Und mit Ihrem Sohn sind Sie auch zufrieden! ... Ich begegne ihm manchmal auf der Strasse ...“
Über Frau von Helmstorffs unruhige Züge glitt ein freundlicher Schein bei der Erwähnung ihrer Kinder. „Ja, er macht sich ganz ordentlich, der Hans! In ein paar Jahren wächst er mir über den Kopf ... da merkt man erst, wie die Zeit vergeht ...“
Eine neue Pause entstand und aus diesem Schweigen zwischen ihnen heraus fühlten beide: so ging das nicht weiter mit diesem leeren Lippenwerk ...
Seltsam: Frau von Helmstorff hatte die ganze Zeit Hedwig nicht recht ansehen können. Immer irrte ihr Auge unstät im Zimmer herum, über all den Grossväterkram und die Reliquien Alt-Heidelbergs, die die Wände bedeckten. Jetzt zum ersten Male schaute sie der anderen voll ins Gesicht und dabei überzog eine feine Röte ihr eigenes Antlitz, um gleich darauf einer noch fahleren Blässe zu weichen. „Also ... wir wollen uns lieber nicht weiter quälen und uns gleichgültiges Zeug vorreden — Fräulein Solitander — nicht wahr?“ sagte sie halblaut, „sondern lieber, so schrecklich es ist, auf die Sache eingehen. Worum es sich handelt — wissen wir beide. Das erst noch zu nennen, wollen wir uns wenigstens sparen. Ich wäre ohnedies schon bald lieber zu meiner eigenen Hinrichtung gegangen als den Weg hierher ...“
„Gnädige Frau — ich verstehe Sie nicht!“ Hedwig sah sie ruhig an. Und sie war es auch. „Ich muss Sie bitten, deutlicher zu reden!“
Frau von Helmstorff warf ihr einen Blick zu — es war etwas wie Verachtung darin — eine Frage: Verstellen willst du dich auch noch? Aber ihr Gesicht hatte eher etwas Hilfeflehendes, während sie leise fortfuhr: „Es ist ja nur das eine ... die Bitte ... die Sie ja schon erraten haben werden ...“
„Noch nicht, gnädige Frau! Es tut mir leid ... es scheint Ihnen so peinlich, davon zu sprechen ... aber ich bin noch ganz im Dunkeln. ... Wenn ich eine Bitte von Ihnen erfüllen kann — selbstverständlich werde ich es tun! ... Mit grösster Freude ...“
Während ihrer Worte hatte Frau von Helmstorff sich erhoben. Und nun sagte sie, die Hand auf die Stuhllehne gestützt, den Kopf leicht vorgeneigt, eindringlich und leise: „Also ... dann bitte, Fräulein Solitander ... bitte ... geben Sie meinem Hause den Frieden wieder....“
Es war ein Schweigen. Hedwig stand langsam auf. Sie begriff anfangs gar nicht, was die andere wollte. Erst allmählich wurde ihr durch die Kette eines Gedankengangs klar, was damit gemeint sein musste ... und sie erschrak vor Empörung ... vor Scham. Und jene fuhr inzwischen fort: „Ich hab’ nichts sagen wollen, solange Sie bei ihm ins Kolleg gegangen und ihm gegenüber gesessen sind. Das war Ihr Recht als Studentin — vielleicht sogar Ihre Pflicht. Und auch dass Sie in dem letzten Semester zu uns ins Haus kamen, war ja wohl begreiflich. Sie erwähnten ja selbst vorhin das Verhältnis, in dem Sie zu meinem Vater stehen. Da konnten Sie seine Aufforderung, Sie bei uns einzuführen, kaum ablehnen. Sie kamen ja auch nur ein paarmal — nur der Form halber — das weiss ich alles wohl. Ich will auch gar keine Vorwürfe machen oder mich beklagen ... das hätte ja auch weiter keinen Zweck. Ich möchte nur sagen ... jetzt — wo das alles abgeschlossen ist und hinter Ihnen liegt, machen Sie es ihm leichter, sich zu uns zurückzufinden — auch in Ihrem Interesse — gerade in Ihrem Interesse, Fräulein Solitander! ... Erlauben Sie, dass ich Ihnen das sage ... wir sind ja ungefähr gleichalterig und Sie sind gelehrter als ich — aber dafür bin ich Frau und Mutter — und weiss mehr vom Leben und von solchen Dingen — erwägen Sie nur: wo soll das hinaus? Wo soll es denn schliesslich enden? Es ist ja doch so gar keine Aussicht auf ... es ist doch nur ein fortwährendes Spiel mit dem Feuer — ich weiss: es ist nicht mehr — aber gefährlich — furchtbar gefährlich bleibt es doch für uns alle drei!“
Hedwig hatte sie ausreden lassen. Sie hatte sich inzwischen ganz gefasst und sagte kalt: „Sprechen Sie von Ihrem Herrn Gemahl, gnädige Frau?“
„Muss ich Ihnen auch diese Frage erst noch bejahen? Sie sind wirklich gründlich, Fräulein Solitander!“
„Ich bin gründlich, gnädige Frau, weil es sich um meine Ehre und meinen guten Ruf handelt! Und da erwidere ich Ihnen: Ich bin allerdings in das Privatissimum Ihres Herrn Gemahls gegangen wie viele andere Studenten! Und ich war auch im ganzen dreimal bei Ihnen im Hause und habe mir dabei noch weniger gedacht, sondern wollte nur höflich sein — und ich bin ihm gestern im Examen gegenüber gesessen — und das ist alles. Nie war ich mit ihm unter vier Augen zusammen, nie habe ich einen Brief von ihm bekommen oder gar an ihn geschrieben — nie habe ich mit ihm irgendwie durch Dritte verkehrt — kurz — es ist nichts zwischen uns und war nichts zwischen uns — nicht das geringste ...“
Und in einer Aufwallung ehrlichen, nachträglichen Zornes konnte sie sich nicht enthalten, hinzuzufügen: „Eigentlich hätten Sie das wohl auch erst des näheren prüfen sollen, gnädige Frau — ehe Sie solche ... Anfragen oder Bitten oder wie Sie’s nun nennen wollen, an mich richten!“
Die zwei jungen Frauen sahen sich eine Sekunde in die Augen — ernst, eigentlich ohne Feindseligkeit — eher mit banger Spannung. Sie waren beide betroffen — ganz betäubt. Jetzt auch Alwine von Helmstorff. Sie verhehlte es nicht und sammelte ihre Gedanken. Erst nach einer Weile versetzte sie ruhig, aber mit zuckenden Lippen: „Also das wäre Ihnen nicht bekannt, dass mein Mann seit etwa dreiviertel Jahren überhaupt ... ja überhaupt nur noch an Sie denkt, Fräulein Solitander?“
„Ich schwöre Ihnen: nein!“
„... Dass ihm überhaupt alles andere im Leben nur noch so nebenbei ist? ... Dass er nicht nur fortwährend von Ihnen redet — das hat er längst aufgegeben, wie er merkte, dass ich Verdacht schöpfte — aber ich hab’s ihm doch angesehen — nach jedem Kolleg ... ob Sie dagesessen sind oder gefehlt haben — das war seine Stimmung für den Rest der Woche — und für den Anfang der nächsten die Erwartung, ob Sie diesmal da sein würden! O — ich kenn’ ihn doch. Und wenn Sie bei uns eingeladen waren — da haben zwei gezittert — nicht nur er — schon tagelang vorher — sondern ich für ihn ... weiss Gott: ich hab’ etwas leisten müssen an Selbstbeherrschung in dieser Zeit. Ich wollt’ es ja auch. Ich bin zu stolz für einen Skandal. Aber nun muss es ein Ende nehmen — ich halt’ es nicht mehr aus und er auch nicht.“
Sie brach ab. Die Tränen schienen ihr nahe. Aber sie beherrschte sich. Und Hedwig sagte, blass geworden und fest: „Und ich hab’ nichts davon gewusst, gnädige Frau!“
„Und dass er plötzlich alle seine Bücher da unten in dem armseligen Lädchen hat einbinden lassen, wo sie ihm nur Dummheiten machen — und alle paar Tage gekommen ist, um nachzusehen — um dabei in Ihrer Nähe zu sein und Ihnen womöglich zu begegnen — ist Ihnen auch das nicht aufgefallen?“
Hedwig zuckte zusammen. Das war richtig. Erst vorhin war er dagestanden und hatte zweimal wie unabsichtlich nach ihrem Fenster hinaufgeschaut! Jetzt begriff sie das. Und zugleich setzte Frau von Helmstorff leise, zwischen den Lippen, hinzu: „Und ich habe noch einen weiteren Beweis, der gegen Ihre Worte spricht, Fräulein Solitander. Woher hat mein Mann Ihre Photographie?“
„Er hat sie nicht!“ Hedwigs Wangen färbten sich dunkel und zugleich wurde auch Frau von Helmstorff rot. „Doch,“ sagte sie gepresst. „Er hat sie! Ich hab’ mich so weit entwürdigt ... ich bin heimlich über seinen Schreibtisch gegangen! Da liegt sie in einer Schublade, die sonst verschlossen ist! Ich hab’ sie selbst in der Hand gehalten und wieder auf ihren Platz getan!“
„Und ich weiss nun auch, wie sie dahingekommen ist!“ sagte Hedwig jetzt ganz kalt und verächtlich. „Bitte — gehen Sie von hier aus direkt zu dem Universitätsphotographen Schneider, ehe er durch mich oder sonst irgendwie etwas von unserem Gespräch erfahren kann. Er wird Ihnen sofort bestätigen, was er mir vor ein paar Monaten bei einer zufälligen Begegnung auf der Strasse erzählt hat: Es sei ihm arg — aber es hätte irgend jemand mein Bild, das bei ihm im Wartezimmer aufgelegen habe, mitgehen heissen. Wer — das wisse er nicht — und nachforschen könne er doch auch nicht gut. Also nun ist’s ja klar. Aber gegen Diebstahl ist man eben wehrlos. Ich habe Ihrem Herrn Gemahl keinen Anlass und kein Recht zu alledem gegeben. Ich war bis zu dem Augenblick, wo Sie mir das jetzt gesagt haben, so harmlos wie ein neugeborenes Kind ...“
Frau von Helmstorff hatte die Augen niedergeschlagen, so, als ob sie sich für ihren Mann schämte. Und in dieser Haltung sprach sie halblaut: Wenn dem so ist, Fräulein Solitander — dann habe ich Ihnen manches abzubitten, was ich in dieser Zeit von Ihnen gedacht habe!“
„Ja — ich glaube — das haben Sie, gnädige Frau! Ich kann nur wiederholen: ich war vollkommen ahnungslos. Es ist mir weiss Gott auch furchtbar genug ...“
Nun hob die andere den Blick wieder. Angst lag darin. Und doch wieder zögerndes Vertrauen. Die Gemeinsamkeit zwischen zwei Frauen. „Aber was soll nun weiter werden?“ frug sie. „Es kann doch nicht so fortgehen — das halt’ ich nicht aus!“
„Meine Aufgabe ist ganz klar, gnädige Frau!“ sagte Hedwig so ruhig sie konnte. Die Erregung zitterte in ihr nach. „Irgend einen Anlass, mit Ihrem Herrn Gemahl amtlich, in seiner Lehreigenschaft, zusammenzutreffen, hätte ich seit gestern so wie so nicht mehr gehabt und wahrhaftig auch nie gesucht. Es bleibt mir also nur übrig, meinen Verkehr in Ihrem Hause einzustellen. Und das ist ja selbstverständlich, dass ich Ihre Schwelle nie wieder betrete ...“
Sie überlegte einen Augenblick und setzte dann hinzu: „Einmal hätte ich ja übermorgen noch zu ihm auf eine Minute in die Sprechstunde gehen müssen, um meinen Dank abzustatten. Sie wissen, das ist Brauch nach jedem Doktorexamen oder eigentlich Vorschrift. Zu den anderen Professoren geh’ ich morgen schon. Ich muss sehen, wie ich mein Fernbleiben einrichte, ohne dass das zu sehr auffällt, denn Ihr Herr Vater zum Beispiel wird mich gleich danach fragen ...“
Ihre Besucherin schüttelte den Kopf. „Ich wünsche nicht, dass irgend etwas auffällt!“ sagte sie beinahe hart und durch diesen Ton klang die Frau von Welt, die um jeden Preis kein Aufsehen nach aussen haben wollte. „Sonst hätte ich diesen schweren Gang zu Ihnen wahrhaftig nicht erst angetreten. Also ... ich bitte Sie: kommen Sie übermorgen zu meinem Mann in sein Sprechzimmer! Erledigen Sie diese geschäftliche Formalität, wie wenn nichts wäre. Darauf kommt es wahrhaftig nicht mehr an. Und dann ...“
Sie brach ab. Man sah, sie unterdrückte etwas, was die andere vielleicht hätte verletzen können. Aber Hedwig begriff sie vollkommen und sagte einfach: „Aber natürlich, gnädige Frau, das ist ja ganz selbstverständlich, dass damit unsere Beziehungen für immer erledigt sind.“
Dabei kam ganz jählings Unmut und Erbitterung über sie. „Mehr kann ich beim besten Willen nicht tun. Ich selbst bin ja eigentlich bei der ganzen Geschichte nicht beteiligt!“
„Wieso — Fräulein Solitander?“
„Ich nicht — sondern nur mein Gesicht hier mitsamt seinen Sommersprossen — und meine roten Haare! Ach — was ich diese roten Haare manchmal hasse! Aber ich kann sie mir doch nicht abschneiden. Sie kämen ja doch wieder nach. Ich meine: nur mein Äusseres ist bei dem allen in Frage gekommen — in meine Seele hat er nie einen Einblick getan! Wir haben nie etwas Vernünftiges miteinander gesprochen — ausser etwa gestern beim Examen — nie — ich erinnere mich genau! Es ist alles rein körperlich! Darin liegt das Entwürdigende auch für mich ...“
Die zwei jungen Frauen schauten sich ernst in die Augen und beider Augen waren feucht. Und es war plötzlich zwischen ihnen etwas wie dasselbe Schicksal und Leid. Und dann fasste Frau von Helmstorff mit einem raschen Entschluss ihre Hand und drückte sie. „Ich danke Ihnen, Fräulein Solitander!“ sagte sie, während sie sich zum Gehen wandte. „Sie waren so, wie ich gleich von Anfang hätte hoffen sollen! Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen unrecht tat. Aber ich bin unglücklicher, als es jemand ausser uns zu wissen braucht!“
Sie war auf den Flur hinausgetreten. Da draussen hantierte die Baas. In der Ferne klang das Lachen von Suse Trautvetter — hier waren schon überall Menschen — hier begann das Reich der Verstellung und die beiden fügten sich darein und bemühten sich sogar, beim Abschied auf der Schwelle zu lächeln. Aber es gelang ihnen nicht und ihre Stimmen schwankten, während Frau von Helmstorff mit einem nochmaligen Händedruck sagte: „Adieu, Fräulein Solitander!“
Und ebenso, als Hedwig erwiderte: „Adieu, gnädige Frau! Vielen Dank für Ihren Besuch!“
Dann kehrte sie in die Bibliothek zurück — da setzte sie sich hin — unter dem Bild des alten grimmigen Predigers Markus Solitander, der schützend auf sein Enkelkind herabschaute — und ordnete ihre Gedanken. Das ging nicht so schnell. Das alles war so plötzlich gekommen. Sie war ganz überrumpelt. Und wenn sie es sich auch jetzt allmählich klar machte — ein Staunen blieb — eine Verwunderung über sich selbst, dass sie so blind hatte sein können, das gar nicht zu merken! Aber andere hatten es ja auch nicht gesehen — niemand! Das war klar. Denn sonst hätte es längst an Sticheleien und Anspielungen und anonymen Briefen in der Kleinstadt nicht gefehlt. Und das war immerhin ein Trost, dass die ganze Sache sich im geheimen abgespielt hatte und ebenso in nichts verschwand.
Sie stand wieder auf. Es war eine quälende Unruhe in ihr. Drüben an der Wand hing ein grosser alter Spiegel. Vor den stellte sie sich hin und betrachtete sich genau, das feine weisse, schmale Mädchengesicht mit den grossen, grauen Augen, die so kühl und klug wie immer blickten, als ginge sie diese Sache gar nichts an — die schlanke Gestalt — und über alles ausgegossen ein Glanz von oben, der leuchtende Feuerschimmer ihres rotgoldenen, in schweren Flechten die Stirne krönenden Haares. Und nachdenklich, bitter, traurig sagte sie zu sich: Also das bist wieder einmal du — dies Haut und Haar und körperliche Leben. So sehen dich die Menschen — so strömt von dir eine Macht aus — die nicht dein ist — die deinem Willen entzogen — ja die oft ganz unbewusst ist — wie eben jetzt in diesem Fall — und die doch untrennbar mit dir verbunden ist, so dass ihr nach aussen als eines geltet und in Beziehungen zu Menschen, in Wirkungen und Gegenwirkungen geratet, von denen deine Seele, dein eigentliches „Ich“ gar nichts weiss ...
Darin lag für sie das Niederdrückende eines solchen Erlebnisses. Aber allmählich wurde ihr doch wieder frei und leicht zu Sinn. Eigentlich ging sie das ja eben darum gar nichts an — dieser unpersönliche Eindruck auf fremde Augen, der von ihr ausstrahlte, mochte sich mit dem abfinden, wen er traf. Es regte sich in ihr förmlich ein leiser Übermut, ein Triumph, so stark zu sein, ohne dass man es wollte. Und wie seltsam, dass diese Macht sich gerade Helmstorff, den Gönnerhaften, den schönen Mann, den von seiner Gottähnlichkeit Durchdrungenen zum Opfer gewählt hatte ...
Sie schüttelte den Kopf. Es war ihr jetzt auf einmal wieder traurig zu Mut, dass dieser Zwischenfall gekommen und ihr die Stimmung nach dem Examen getrübt hatte. Aber war denn diese Stimmung vorher so rosig gewesen? Das auch nicht! Das hatte sie doch wahrhaftig gestern Abend Hermann Riedinger in aller Deutlichkeit gebeichtet. Man wurde gar nicht mehr klug aus sich selbst. Das wirrte und webte alles durcheinander und eigentlich war doch immer die Leere da. Am besten — man dachte gar nicht mehr daran — dann verlor es sich von selbst. Und damit zuckte Hedwig Solitander die Achseln und ging hinauf in ihr Arbeitszimmer.