Читать книгу Die Hand der Fatme - Rudolf Stratz - Страница 5

Zweites Kapitel

Оглавление

Die ganze Nacht durch holperte und rumpelte die Arabâ durch die Wüste weiter, und hinter ihr hörte man durch die totenstille, jetzt ganz kühle Luft einen regelmässigen Laut — das Trappeln eines im Schritt gehenden Pferdes. Die Huffchläge klangen in gleicher Entfernung. Sie blieben nie zurück, ob auch Stunde um Stunde der eintönigen Fahrt verrann; sie kamen aber auch nie näher.

Der alte arabische Karrenführer schaute sich zuweilen um. Yvonne Roland war nach kurzer Fahrt ermattet eingeschlafen und wurde zuweilen durch einen unsanften Puff des Wagens halb zum Bewusstsein gebracht. Sie schlummerte dann aber noch fester ein. Sie hörte das Trapp-Trapp des Reiters und träumte allerhand Räubergeschichten, die immer wilder und bunter wurden, je mehr die ursprüngliche Müdigkeit schwand und einer Art fieberigen, unruhigen Dämmerns zwischen Wachen und Schlafen Platz machte. Schliesslich war ihr ganz deutlich, als ob eine vielköpfige Horde von Arabern mit rauhen Stimmen sich näherte. Mit einem hellen Schrei setzte sie sich auf. Der Morgen graute schon stark, einen klaren Tag verheissend; über den ewigen Steinen und spärlich gewordenen Alfabüscheln und breiten Sandflächen brauten die letzten Nachtnebel. Neben der Arabâ hielt hoch zu Esel das erste lebende Wesen, das sie seit dem Verlassen der Karawanserei zu Gesicht bekommen hatte — der arabische Postreiter aus der Oase El-Ariana, langbärtig, die Kapuze seines braunen Burnus gnomenhaft über den Kopf gezogen, die Ledermappe mit den Briefschaften umgehängt. Er hatte mit dem Fuhrmann bei der Begegnung ein paar Worte gewechselt, die hatten Yvonne aufgeweckt. Er ritt nun, sich nach morgenländischem Brauch auf dem letzten Rückenwirbel seines Grautieres im Gleichgewicht haltend, in entgegengesetzter Richtung davon.

Und da vorne standen im fliessenden, feuchtkühlen Silbergrau des Morgens Pappeln, ganz gewöhnliche Pappeln wie daheim. Und zwischen ihnen ein einzelner riesiger Feigenbaum, von dessen Ästchen Hunderte und aber Hunderte von bunten Fetzen und Lappen aller Art wehten, und der in seinem Fastnachtsputz ein Marabu, ein heiliges Ding war. Gleich hinter ihm war schon das erste Ölwäldchen, seltsam knorrige, zart taubenfarben beblätterte Stämme, von stacheligen, mannshohen Kaktusstauden umschlossen. Und über dem hier beginnenden Gras blähte es sich im Wüstenwind auf geschuppten, kurzen, braunhaarigen Säulen von breitem, gelblichem Gefächer und Gefieder. Hier war die Grenze des Reiches der Palmen. Der Fuhrmann wies darauf hin, auf schwärzliche, niedere, weit entfernte Massen, wie von Unkraut oder Farnwedeln. Allmählich begriff Yvonne, dass das alles wohl Dattelbäume sein müssten, Tausende und Zehntausende. Und wenn man weiter in die Ebene hinaussah, dann zogen sich dort dieselben blauschwarzen Mauern und Flächen hin und säumten den Horizont mit neuen dunkeln Kronen und zeigten dem, der durch die Wildnis kam, dass er El-Dscherid erreicht hatte, das gelobte Land, den Garten Tunesiens.

Weidevieh quoll dem Fahrzeug aus den Toren von El-Ariana entgegen. Erst als man in die Strassen des Araberfleckens einbog, verloren sich die Herden. Hier war es mit einem Male ganz still. Tot, wie ausgestorben standen zu beiden Seiten der schmalen Hauptstrasse die fensterlosen Hausfronten, ihre weisse Tünche nur an einer Stelle von der festverschlossenen Tür durchbrochen. Manche der aus ungebranntem Lehm zusammengebackenen Gebäude lagen, wie in all diesen Saharastädten, halb oder ganz in Trümmern und bildeten verödete Schutthaufen. Bei vielen anderen der düsteren, geheimnisvollen, überall am Eingang mit korinthischen Säulen und Riesenquadern der Römerzeit gestützten Eulennester wusste man nicht: waren sie nie fertig geworden oder schon wieder zerfallen, waren sie noch bewohnt oder bereits wieder gleich einem morsch und löcherig gewordenen Zelt in der Wüste unbenutzt ihrem Schicksal überlassen?

Jetzt hielt die Arabâ vor einem niedrigen Haus, das zwar durch Glasfenster und einen Holzvorbau einen halb europäischen Eindruck machte, sonst aber durch seinen Schmutz und seine Baufälligkeit wenig einlud. Es schien eine Kneipe zu sein. „Au Simbad le Marin“ stand auf dem Schild — „Zum Seefahrer Sindbad“. Und an solch einen Abenteurer, Flibustier und Piraten erinnerte der weissbärtige, kleine, aber in den Schultern breite und stämmige Kerl, der auf die Schwelle trat. Seine schlauen, wässerigen Augen funkelten. Er gestikulierte lebhaft und drang hastig auf Yvonne ein. Yvonne war erschreckt. Und da sie nicht antwortete, beteiligten sich auch die Gäste des Hauses, ein paar in zerfetzte und kalkbespritzte Röcke und Hosen gekleidete Maurergesellen, an dem Lärm. Ein grinsender Neger schrie dazwischen und machte Miene, den Koffer vom Wagen zu ziehen. Einige Araber traten dazu, um zu sehen, was es gäbe. Sie luden die Fremde durch aufmunternde Gebärden ein, sich den „Seefahrer Sindbad“ doch im Inneren anzusehen. Schliesslich stand wohl ein Dutzend Männer um den Wagen. Drinnen kauerte Yvonne Roland mit zornfunkelnden Augen und hochgezogenen Knien, den Tropenhelm schief auf dem Kopf, die eine Hand in der Tasche, um im Notfall nach dem Revolver langen zu können, die andere Hand schützend über ihre Siebensachen gebreitet. Sie war erbost, aber keineswegs verschüchtert, sondern hauptsächlich voll Wut auf diesen alten Kutscher da vorne, der ganz ohne Grund mit seinem Karren hielt, als sollte sie in aller Ewigkeit vor dieser Kneipe bleiben.

Plötzlich fiel ihr mit Schrecken ein: sie hatte ja ganz vergessen, gestern abend dem Mann durch Vermittelung der Missionarinnen sagen zu lassen, wohin er eigentlich in El-Ariana fahren sollte. Nun lud er sie natürlich vor der Herberge ab, wahrscheinlich der einzigen am Ort.

Aus dieser waren inzwischen noch ein paar schlampige, gelbliche Weiber in bunten Kopftüchern erschienen und nahmen in einem unbewachten Augenblick den Sonnenschirm der Fremden in Verwahrung. Zwei, drei Eingeborene in ihrer sonderbaren Tracht, einem turmartigen, spitzen Schleiergebäude auf dem Kopf, einem ganz kurzen weissen Jäckchen und weiten weissen Hosen, waren aus einer Seitengasse so hastig herbeigewatschelt, dass sie fast die gestickten Pantoffeln von den blossen Füssen verloren. Yvonne Roland blickte entschlossen, ihre erhöhte Verteidigungsstellung zwischen den Rädern nicht zu verlassen, aber doch sonst ratlos darein. Nirgends war ein hilfreicher, nirgends ein vernünftiger Mensch zu sehen. Und als sie nun in heller Wut auf ihren Revolver zeigte, musste sie ihn gleich wieder einstecken, so gross war das Geschrei, die Abwehr und das Gelächter. Selbst unter den rabenschwarzen, glockenartigen Gebilden, die etwas abseits in stummer Neugier standen — von Kopf bis zu Fuss nach strenger Sitte Südtunesiens unkenntlich verhüllten Maurinnen —, selbst unter diesen Schleiermassen schüttelte es sich vor Gekicher.

Da mussten diese wandelnden Trauerglocken beiseite treten. Es kam in raschem Hufklappern um die Ecke, im geräumigen Schritt eines Pferdes, so wie heute die ganze Nacht hindurch — ein sonnenbrauner Jäger auf einem Schimmel ward sichtbar und lenkte seinen Gaul ohne weiteres mitten durch die Haufen der Menschen, als ob das ein aufgescheuchter Schwarm Spatzen wäre. Er rief dem Kärrner auf arabisch ein paar rauhe Worte zu, ihm weiter durch die stillen weissen Hausmauern der Strasse vor ihnen zu folgen. Dort angelangt, hielt er sich neben dem Wagen. Die Gasse war so eng und düster wie ein Festungsgraben. Sein Knie berührte fast das Rad der Arabâ. So zogen sie in dem stillen Schatten dahin, in den von oben, vom blauen Himmel her, über den Rand der flachen Dächer allerhand grünes Schlinggewächs, rote Blumensterne, violette Dolden im Winde schaukelten und wehten, und in dem ab und zu ein paar spielende Kinder lautlos in dämmerige Höfe huschten. Nun besann sich Yvonne Roland erst und forschte: „Wie kommen Sie denn nur auf einmal hierher?“

„Sehr einfach: ich bin ebenso wie Sie die Nacht auf der Strasse gewesen ...“

„Ach — dann waren Sie das, von dem man immer das Hufgetrappel gehört hat?“

„Wahrscheinlich war ich zufällig immer hinter Ihnen.“

Sie war unbefangen genug, seine Gleichgültigkeit für bare Münze zu nehmen. Sie sagte, im Karren kauernd und wieder die Hände über den Knien faltend: „Ach so! ... Dann ist’s ja gut ... Aber bitte schauen Sie mich nicht so an!“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich so greulich ausseh’, ganz verwildert ... nach solch einer Nacht ...“ Sie blickte ein wenig verlegen, im Gefühl ihrer Zigeunerhaftigkeit, vor sich nieder. Erst nach einer Weile hob sie wieder die Wimpern. Nun schaute er im Sattel von ihr weg, geradeaus. Sie musterte ihn unwillkürlich. Dem machte solch ein Ritt natürlich nichts aus! Der war wie dazu geschaffen. Eigentlich gefiel er ihr sehr gut, und sie betrachtete ihn immer noch, als er sich plötzlich umwandte und fragte: „Warum schauen Sie mich denn nun so an, Mademoiselle Roland?“

„Weil ...“ Sie stockte, fasste dann Mut und sagte schnell: „Man hat mir erzählt, Sie wären auch hier Soldat gewesen!“

„Ja — ich war auch Soldat.“ Weiter sagte er nichts. Sie wagte nicht, weiter zu forschen. Da wies er schon mit der Hand auf einen vor ihnen sich öffnenden freien Platz. „Hier ist die Kasbah — die Zitadelle ...“

Es war das Unwahrscheinlichste, was hier unter afrikanischem Himmel, von der Sahara umgeben, im zwanzigsten Jahrhundert stehen konnte: die Zeiten der Römer Waren wieder lebendig geworden. So wie die Legionen einst dies Kastell am Palmenhochwald errichtet und die Byzantiner es ausgebaut hatten, so trotzte es jetzt noch, ein riesiges, hochragendes Mauerviereck mit geschnörkelten Zinnen und schlanken Warttürmen und Torbögen und Gräben, unter dem Blau des Himmels, im Gelb des Wüstensandes aus dem grauen Felsboden weit über die Lande, ein düsteres Zwing-Uri, ein steinernes Sinnbild der Macht. Ein paar Dattelbäume hoben aus dem Innern ihre grünen Kronen über den Mauerkranz und rauschten im Morgenwind. Sonst rührte sich nichts. Die grosse Eingangspforte war fest verschlossen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich langsam auf das Klopfen hin öffnete und der Wachtposten, ein diensthabender Unteroffizier, herzukam.

Dieser, ein baumlanger, hübscher Mensch, steckte seinen Blondkopf durch den Spalt und sah verdutzt auf die Fremde, die da vor ihm stand, jung und schlank, den weissen Tropenhelm immer noch schief auf dem Kopf. Sie wollte ohne weiteres an ihm vorbei und hinein. Aber er wehrte ihr. Jetzt ging das nicht! Zu dieser frühen Morgenstunde! Ob ein Kranker einen Besuch empfangen konnte oder nicht, darüber musste der Stabsarzt entscheiden!

„Aber ich kann nicht warten, Monsieur!“ sagte Yvonne Roland entschieden. Ihre Stimme bebte vor Ungeduld, ihre Hände ballten sich im Zorn. „Ich muss zu meinem Bruder!“

„Ich bedaure unendlich, Madame! Es ist gegen meine Instruktion.“

„Ach — Ihre Instruktion!“ Sie machte einen neuen Versuch, einzudringen. Aber der Sergeant war ebenso höflich wie unerbittlich. „Madame würden die acht Tage Arrest nicht für mich absitzen, die ich dann bekomme“, sagte er, legte noch einmal grüssend die Hand an das Käppi und sperrte die Türe wieder zu. Der Jäger sagte zu Yvonne Roland: „Der Eingang bleibt nun schon verschlossen. Der Sergeant tut nur seine Pflicht.“

„Aber vielleicht kann man woanders hinein!“ Yvonne Roland musterte das Kastell mit einem finsteren Blick hartnäckiger Kampfbereitschaft. Und plötzlich hellte sich ihr unter der abenteuerlichen Kopfbedeckung doppelt schmales Antlitz auf. Dort oben, auf dem Gang zwischen dem Kranz der Mauerzinnen, hart neben der vorspringenden Rundung des Eckturms, dort oben flatterte frisch gewaschene Wäsche. Wer die über die Seile gehängt hatte, der musste doch hinauf und hinunter gekommen sein. Und nun entschied sie: es gab da eine Art Treppe, oder eigentlich nur lange Eisenstifte, die, in einiger Entfernung voneinander eingetrieben, schräg aufwärts führten.

„Da steig’ ich hinauf!“ sagte sie entschlossen zu ihrem Gefährten. Der schüttelte abwehrend den Kopf. „Wenn ich Ihnen helfen könnte — ja. Aber ich darf als früherer Soldat solche Abenteuer nicht riskieren. Man kennt mich hier.“

„Ich kann auch allein!“ Sie stellte prüfend einen Fuss auf die erste verrostete Sprosse, warf einen misstrauischen Blick umher, und arbeitete sich in die Höhe. Er stand unten, bereit, sie aufzufangen, falls sie stürzte. Aber sie turnte sich bis zum Zinnenrand empor, schwang sich hinüber und nickte lebhaft als Zeichen, dass ein Abstieg nach innen vorhanden sei. Er rief ihr gedämpft hinauf: „Ihr Bruder liegt, wenn Sie um die Ecke kommen, in dem neuen, blau gestrichenen Häuschen, das auf die Mauer zwischen den beiden Halbtürmen aufgesetzt ist ... die Treppe hinauf und gleich rechts ...“

Sie nickte noch einmal. Dann verschwand der weisse Helm hinter der Mauer. Sie sprang die letzten Sprossen hinab und stand innen und schaute sich um.

Da war das Verwaltungsgebäude, ein Hof davor, eine hohe Palmengruppe in der Mitte, eine Menge zerbrochener Römersäulen darum herum, aber kein Mensch zu sehen. Also flugs weiter. Im Lauf um die Ecke, den niedrigen Holzschuppen mit den Wasserbottichen, den krapproten, in der Sonne trocknenden Hosen und Leibgurten, den Seifenstückchen und Handtüchern der Militärwäscherei rechts lassend, und nun — o weh — da waren Menschen — aber nur Araber — kranke Araber! In blauweiss gestreiften Kitteln kauerten sie in der Sonne, zwischen ihnen ein Negerjunge mit geschientem Arm und ein gelblicher, schwindsüchtig hustender Soldat. Sie alle schauten stumm und erstaunt, aber ohne sich zu rühren, auf die Fremde. Die ging jetzt langsam, um keinen Verdacht zu erwecken, so wie jemand, der seines Wegs ganz sicher ist, schnurgerade auf das blaue Haus zu und die Treppe hinauf und hinein.

Das Zimmer links war leer. Es schien zur Zeit unbenutzt. Rechts war die Türe offen. Sie holte tief Luft, sammelte sich einen Augenblick und trat über die Schwelle. Drei Betten standen in dem grossen kahlen Raum. Von zweien waren nur die Gestelle da, niemand darin. Im letzten aber, am Fenster, da regte sich etwas und seufzte zwischen der strohgefüllten Matratze und der groben grauen Wolldecke. Durch das vor den Scheiben nickende gelb zerschlissene Palmengefieder des Oasenwaldes fiel die warme Morgensonne in trügerischem Rot auf ein blasses junges Gesicht mit eingesunkenen Augen und einem leidenden Zug um die Lippen.

Der junge Soldat hatte ein Geräusch gehört und setzte sich mühsam im Bette auf. Dabei belebten sich seine Züge von der Anstrengung ein wenig. Das war ein hilfloses, spitzes, mageres Gesichtchen. Er starrte aus grossen Augen seine Schwester an, die im Türrahmen stand, und murmelte dann erschrocken, als habe er ein Gespenst gesehen: „O Gott ... Yvonne ...!“

Dann glitt allmählich ein freundliches Lächeln über sein Antlitz. Er schloss halb die Lider, wie um die flüchtige Sinnestäuschung, die Erinnerung an die Tage von einst, an die Kindheit, an die Heimat in grünen Wäldern fern überm Strom, möglichst lange festzuhalten. Aber die blieb und blieb. Und nun ging seine ungläubige Verklärung in Trauer über, in Kummer über seine Schwäche und Sehnsucht, die ihm solche Bilder vorgaukelte. Nachdem er noch einmal leise geseufzt: „Ach Gott ... Yvonne!“ winkte er mit einer trostlosen Handbewegung der Luftspiegelung zu, sie möge nun wieder zerfliessen und ihn einsam auf seinem Schmerzenslager lassen.

„Geh doch weg, Yvonne!“ sagte er weinerlich wie ein verwöhntes, eigensinniges Kind. „Sonst denk’ ich, du bist’s wirklich!“ Sie schritt leise auf den Fussspitzen zu ihm hin und flüsterte mit angehaltenem Atem: „Ich bin’s auch, Gaston!“

„Ach wo!“ Der kleine Soldat im Bett schüttelte hartnäckig den Kopf und sprach mehr zu sich selbst als zu ihr: „Das bild’ ich mir nur ein ... weil ich zu schwach bin ... da seh’ ich dich ... und die Mama ... dich hab’ ich noch nie so gesehen ... aus der Nähe ... sonst immer nur fern ... in einem weissen Kleid am Fluss ... ich hab’ euch gar nicht schreiben wollen ... hast du denn meinen Brief gekriegt?“

„Gewiss, Gaston, deswegen bin ich ja hier!“ Sie kniete neben seinem Bett auf den Backsteinboden und legte ihren Arm um seine hagere Schulter und lachte ihm herzhaft mit zuckenden Lippen ins Gesicht. „Erkennst du mich denn wirklich nicht, du Dummchen?“

Und nun leuchtete das Verständnis in seinem ängstlich abwehrenden, bedrückten Antlitz auf. Das wurde strahlend klar vor überwältigendem Glück ... „O Gott ... Yvonne!“ schluchzte er hellauf, sich krampfhaft an sie klammernd wie ein Kind an die Mutter. Dann liefen ihm die Tränen über die eingesunkenen Backen. Er stiess in ersticktem Jubel hervor: „Yvonne ... Yvonne ... ach Gott ... Yvonne ... du gute Yvonne ... du Liebste, Bravste ... bist zu mir gekommen ... von so weit her ... bloss weil ich geschrieben hab’, wie krank ich bin ... du bist doch immer derselbe tapfere kleine Kerl ... du bist ein ganz anderer Kerl als ich. Er umhalste sie kraftlos und barg sich weinend und aufatmend an ihrer Brust: „Aber jetzt sterb’ ich auch nicht! Nein! Nein! wenn du nicht gekommen wärst, wär’ ich gestorben! Aber jetzt bleib’ ich am Leben!“

„Ja — das tust du, Gaston!“ sagte sie bekräftigend und mitleidig und streichelte ihm sein ganz kurz geschorenes Stoppelhaar. Ihre Stimme schwankte und klang umflort. Die Rührung des Wiedersehens überwältigte auch sie — nur dass sie mannhafter sein wollte als ihr Bruder und es nicht verraten. Mit all der Willenskraft, die in ihr wohnte, nahm sie sich zusammen, und es gelang ihr auch. Da sah sie, immer noch vor dem Bett kniend, an dessen Rand einen dunklen Punkt ... ein totes Insekt ... und der junge Soldat, der ihren schreckensstarren Blick bemerkte, nickte kummervoll mit dem leidenden Köpfchen: „Ach Gott, ja, Yvonne, Wanzen gibt es hier viel!“

Das war mehr, als Yvonne Roland ertragen konnte! Gegen das grosse Unglück hatte sie sich gewappnet gehabt. Aber dass ihr Bruder in einem Bett mit Wanzen liegen würde, das war zu furchtbar.

Der bleiche kleine Kerl sah angstvoll in das gebräunte, jugendlich schöne Mädchengesicht über ihm, das in diesem Augenblick für ihn etwas von einer Madonna hatte, so liebevoll und mild schaute es, immer noch von dem weissen Schleier im Nacken umrahmt, auf ihn nieder. „Schickt dich die Mama?“ fragte er leise.

„Nein, Gaston! Ich bin heimlich fort und hab’ einen Brief aus Marseille nach Hause geschrieben!“ Yvonne Roland kämpfte mit sich und sagte dann hastig, während ein ganz feines aufsteigendes Rot ihr für eine Sekunde die Wangen färbte: „... ich bin nämlich verlobt ... Gaston ... seit einem Vierteljahr ... und mein Bräutigam ... wir verstehen uns darin nicht ... er ist furchtbar schroff und streng in solchen Dingen — er würde es nie und nimmer dulden, dass ich solch eine abenteuerliche Reise unternähme. Ich bin bei Nacht und Nebel ausgerückt. Und von Tunis mit zwei Engländerinnen weiter, zu Schiff und mit der Bahn und auf dem Wagen, und jetzt allein die Nacht durch, na — und da bin ich ...“

Sie lachte ihn an und schlug mit der flachen Hand auf das Bett. Er musste auch lachen. Dabei hatten die beiden Geschwister noch nasse Wimpern. Da ging die Türe auf. Der lange Sergeant, derselbe, der ihr vorhin den Eintritt verwehrt hatte, kam geschäftig herein, den Krankenrapportzettel und das Fieberthermometer in der Hand und rief: „Roland ... gleich kommt der Arzt!“

Jetzt erst bemerkte er Yvonne und blieb stehen. „Um Gottes willen, Madame, Sie hier? Wie sind Sie denn hier hereingekommen?“

„Ich bin über die Mauer geflogen, Monsieur!“ sagte sie sanftmütig.

„Aber das ist verboten.“

„Ja — das weiss ich!“

„Ich meine, es ist verboten, sich hier bei den Kranken aufzuhalten! Sie müssen sofort weg! Wenn der Arzt Sie sieht ...“

„Ach, er wird schon schrecklichere Dinge im Leben gesehen haben!“

Der Sergeant musste lachen. „Das glaube ich selbst, Madame! Aber mich trifft die Schuld.“

„Ich werde Sie entschuldigen.“

„Gut, Madame! Ich muss Rapport erstatten!“ erklärte der lange Unteroffizier und ging. Dabei zuckte ein verstohlenes Lächeln unter seinem aufgestutzten Schnurrbärtchen.

Ihr Bruder berührte sie am Arm. „Rasch Yvonne ... ehe die alle da ’reinkommen ... am Ende schickt dich der Doktor doch weg ... vielleicht sehen wir uns erst morgen wieder ... erzähle mir doch noch schnell von deinem Bräutigam ... du bist verlobt, sagst du ... wie ist denn das gekommen?“

„Gott“, sagte Yvonne, den Kopf ein wenig abwendend, und ihr schmales, verfinstertes Gesicht zeigte nicht gerade das stille Glück einer Braut. „Er ist ein sehr stattlicher Mensch — überall in der Welt herumgekommen, hat sehr viel gesehen und erlebt — dadurch hat er mir imponiert — er ist auch gut fünfzehn Jahre älter als ich — schon nicht mehr sehr weit von den Vierzig — und ich, in meiner Ahnungslosigkeit, ich sag’ noch: ‚Sie haben’s gut, Hugo Wallot ... Sie sind überall auf der Erde zu Hause. Und unsereins — das steckt in solch einem Winkel und kann nicht heraus!‘ Da sah er mich so merkwürdig an — aber er hat nichts darauf erwidert! Aber ein paar Tage später — da machte er seinen Besuch. Mich hat er dabei eigentlich kaum angesehen ... aber trotzdem, wie er weg war — das Geschrei und Gelaufe von all den Tanten und Basen kannst du dir denken ... ‚Der kommt wieder!‘ trompeteten sie der armen Mama rechts und links ins Ohr! ‚Pass nur auf! Der hält um Yvonne an!‘ Und richtig — nach kaum vierzehn Tagen hat er’s getan!“

„Und da hast du eben ‚Ja‘ gesagt, Yvonne?“

„Zuerst wollt’ ich nicht!“

„Und schliesslich hast du ihn doch genommen?“

Yvonne Roland war aufgesprungen und schritt in dem Zimmer hin und her. „Ach, da haben sie mir in den Ohren gelegen, Gaston — die Persönlichkeit — das viele Geld — die Stellung — die Aussicht auf eine grosse Karriere ... rein verrückt und krank haben sie mich damit gemacht, und da hab’ ich denn eines schönen Tages erst ein Stündchen geweint und dann ‚Ja‘ gesagt ...“

„Aber hör mal, Yvonne“, meinte der kleine Soldat im Bett nachdenklich. „Sosehr scheinst du ihn aber wirklich nicht zu lieben!“

Yvonne Roland zuckte die Schultern. „Ich weiss nicht, Gaston! Später kam dann eine Zeit — da hatt’ ich ihn wirklich gern — da gewöhnte ich mich an ihn und fügte mich ihm — er ist ja auch soviel älter und klüger als ich — da kam dein Brief an mich. Dass er mir da verbieten wollte — das hat ihn mir wieder ganz fremd gemacht. Ich hab’ förmlich Furcht vor seiner Strenge gehabt und behalten.“

Sie schaute vor sich hin. Ihr hübsches Gesicht war sehr ernst, fast traurig. Vom Hof her klangen Fusstritte und Männerstimmen durcheinander.

„Das ist der Doktor!“ sagte Gaston Roland aufgeregt und ein wenig ängstlich. „Das wird schön! Am Ende versteckst du dich doch noch, Yvonne!“

„Wo denn, um Gottes willen?“

„Das Zimmer gegenüber, auf der anderen Seite vom Flur, das ist leer. Es ist für Frauen reserviert — wenn eine von den paar Europäerinnen in der Oase plötzlich krank werden sollte ...“

„Ach — jetzt weiss ich schon, was ich tu’!“ sagte Yvonne Roland. Sie regte sich nicht von der Stelle, bis der Arzt eintrat, gefolgt von einem ganzen Schwarm weisse Schürzen tragender, eifriger, seine Anweisungen mit Bleistift notierender Lazarettgehilfen und Krankenwärter, unter ihnen der lange Sergeant, der seinen Vorgesetzten mit ein paar Flüsterworten auf den Eindringling aufmerksam machte.

Er hatte dabei ein dienstlich ernstes Gesicht, aber es zwinkerte ihm doch merkwürdig in den Augen, und der Doktor, ein kleiner, dicker, strammer Herr mit schwarzem Knebelbärtchen und breiten Schultern, gab sich gar nicht erst Mühe, die Würde seines Berufes zu wahren. Für ihn gewann alles, was irgendwie mit einer hübschen Frau zu tun hatte, sofort einen heiteren Anstrich. Es wäre philiströs gewesen, sich da auf den Strengen hinauszuspielen.

Er wischte sich seine kleine Hand an der Schürze ab und reichte sie dann Yvonne. „Ich gratuliere Ihnen, Madame! Diese Zitadelle, in der wir uns befinden, ist, wie Ihnen vielleicht bekannt, von dem byzantinischen Feldherrn Belisar erbaut. Sie hat seitdem unzähligen Feinden Widerstand geleistet. Sarazenen, Araber, Türken haben sie nicht zu bezwingen vermocht. Sie sind der erste Angreifer, der, noch dazu am hellen Morgen, über die Mauer gestiegen ist!“

„Ja — der Sergeant kann nichts dafür!“ sagte Yvonne Roland schnell. Sie wollte dem gutmütigen, langen Burschen keine Ungelegenheiten bereiten.

„Und darf man fragen, was Sie hier suchen, Madame?“ fuhr der Doktor, komisch finster die buschigen Augenbrauen runzelnd, fort.

„Ärztliche Hilfe — weiter nichts!“

„Wa — was?“

Yvonne Roland legte die Hand in das Genick und sagte dann: „Ich hab’ mir einen furchtbaren Sonnenstich zugezogen. Das brennt so heftig! Und da doch das Zimmer für die Frauen nebenan leer ist, da könnte ich doch gleich dableiben und, wenn es mir wieder besser geht, meinen Bruder pflegen helfen.“

Der rundliche kleine, stämmige Arzt schaute im Kreis seiner Getreuen umher und sagte, vergnügt sich die Hände reibend, als hätte er einen sehr guten Witz gehört: „Sie kennt nicht einmal die Symptome des Sonnenstichs! Sie steht da und flunkert und flunkert — und ... notieren Sie, Sergeant: ‚Die Kranke erhält wegen nervöser Schwindelanfälle bis auf weiteres Aufnahme und die Erlaubnis, ihren Bruder zu besuchen!‘ Es ist doch auch wirklich Ihr Bruder, Madame?“

„Nun, natürlich!“ sagte Yvonne erbittert und wurde ein wenig rot.

„Und da er sich Roland nennt, heissen Sie wohl ebenso?“

Sie nickte. In kurzem war die Tabelle ausgefüllt, wonach Yvonne Roland, zweiundzwanzig Jahre alt, katholisch, ohne Beruf, aus Strassburg gebürtig, sich als Insassin des Militärlazaretts der Oase El-Ariana betrachten durfte.

Nun streckte sie dankbar dem Doktor die Hand hin, und der schüttelte sie und lachte dazu aus voller Kehle dröhnend und schrie zu dem Bett hin: „Roland ... jetzt werden Sie gesund!“

„Jawohl!“ kam es von dort gehorsam zurück, und der Doktor nickte und sagte im Weggehen zu seiner neuen Patientin: „Eigentlich fehlt ihm nichts mehr! Den Typhus hat er glücklich hinter sich. Es ist nur die Schwäche. Wir kriegen ihn nicht hoch. Die Lebenskraft fehlt. Da müssen Sie jetzt helfen und ein bisschen davon hergeben. Mir scheint, Sie haben genug!“

Er lachte noch einmal, trocknete sich den Schweiss von der Stirne, denn es fing schon wieder an, glühend heiss zu werden, und der Himmel draussen zeigte ein tiefes Blau, und rief: „Auf Wiedersehen!“ Er setzte, halb im Trab, seinen Rundgang fort. Die anderen folgten ihm, vergnüglich grinsend und auf Yvonne zurückblickend. Nur ein blasses, zahnlückiges Weib blieb übrig und trat näher. Das war die Wärterin des Frauengemachs. Sie lud Yvonne Roland ein, ihr zu folgen und sich nebenan ein Bett auszusuchen und häuslich einzurichten. Der Kranke brauche jetzt ohnedies etwas Ruhe!

„Ja, ich komme schon!“ sagte Yvonne, blieb aber noch stehen und sagte rasch und gepresst, als habe sie lange mit dem Entschluss, die Frage herauszubringen, gekämpft: „Sag nur noch, Gaston ... kennst du einen Mann ... so eine Art Jäger oder so etwas ... sie nennen ihn Sidi Frank ...“

„Ja, gewiss!“ sagte der kleine Soldat zu seiner Schwester, die auf einmal ihr Gesicht von ihm weggewandt hatte und eifrig zum Fenster hinausblickte, als wäre da etwas sehr Merkwürdiges an den Palmzweigen zu entdecken. Das Stückchen Wange, das unter dem feinen Braunhaar noch sichtbar blieb, war lebhaft gerötet — wie ihm schien, von der darauf flimmernden Sonne. „Gewiss! Er war früher auch Soldat, und wie unser Regiment hierherkam, hab’ ich ihn kennengelernt. Draussen, noch jenseits des grossen Salzmeers — hast du das schon gesehen?“

„Den unheimlichen weissen Schein überall am Horizont ... meinst du das?“

„Ja — also da drüben, ganz im Süden, hat sich ein alter vornehmer Colonel angesiedelt — eigentlich auch kein rechter Franzose, sondern Elsässer wie wir. Der haust da mit seinen Viehherden und seinen Arabern in der Wüste, mitten in einer riesenhaften, verlassenen Römerstadt, deren Namen man nicht einmal mehr kennt. Und Frank lebt bei ihm, halb als Gefährte, halb als Verwalter und Aufseher. Oft liegt er auch wochenlang irgendwo in den Bergen auf der Jagd — wenn er dann hier durchkommt, dann besucht er mich jedesmal ...“

„Aber du weisst nicht, wer es eigentlich ist?“

„Nein. Er spricht nie von sich. Die älteren Soldaten sagten, es sei ein Wunder, dass er noch am Leben sei. Aber ihm ist nie etwas geschehen, und bloss deswegen habe er, wie seine Jahre um waren, den Dienst verlassen und sei zu dem Colonel in die Wüste gezogen.“

„Und dabei muss es doch ein gebildeter Mann sein, nicht wahr?“

„Ja, gewiss! Das merkt man doch!“

Er verstummte, und auch Yvonne fragte nicht weiter.

„So ... solch ein Mensch ist das!“ sagte sie endlich langsam, nickte dem Bruder noch einmal zu und folgte der zahnlückigen Aufwärterin in das Zimmer nebenan.

Die Hand der Fatme

Подняться наверх