Читать книгу Die Hand der Fatme - Rudolf Stratz - Страница 6
Drittes Kapitel
ОглавлениеGegen Abend hatte sich Yvonne Roland im Militärlazarett von El-Ariana häuslich eingerichtet und den Hauptteil der Zeit hindurch sich ihrem Bruder gewidmet. Nun sollte der Ruhe haben. Sie hatte ihm für heute gute Nacht gesagt, obwohl es noch heller Tag war und nur das allmähliche Nachlassen der Gluthitze auf das Sinken des Sonnenballes hinter dem schwarzen Palmengefieder der Oase deutete, und schritt dem Ausgang des Spitals zu. Jetzt mussten die beiden Missionarinnen, wenn sie heute früh die Karawanserei in der Steppe verlassen hatten, in El-Ariana eingetroffen sein. Sie wollte einmal sehen, ob sie schon da waren. Sie blieb auf dem Platze vor der Zitadelle, den sie unterdessen erreicht hatte, stehen und schaute um sich. Der weite Raum, den die grauen, zinnengekrönten und von Palmen überragten Römermauern schon zur Hälfte beschatteten und dessen andere Seite Reihen niedriger, fensterloser, blendendweiss getünchter arabischer Häuser abschlossen, war jetzt in der beginnenden Kühle des Feierabends lange nicht mehr so still und menschenleer wie heute früh beim Morgengrauen. Dutzende von braunen Gestalten, die weissen Mäntel malerisch um die Schultern geschlungen, bewegten sich auf ihm, hockten als weiss flimmernde Kreise auf den Fersen im gelben Staub beisammen und schimmerten als ebensolche schneeige, nur durch vereinzelte Farbenflecke der Turbane und Gürtel unterbrochene Massen dichtgedrängt mit gekreuzten Beinen aus dem schwärzlichen Inneren einer nach vorn offenen Kaffeebude. Dazwischen watschelten da und dort als abenteuerliche schwarze Glocken die verhüllten Maurinnen, die ehrbaren Bürgerfrauen der Stadt. Auch rannte unverschleiert, nur mit flatternden, purpurroten Hemden bekleidet, und mit lachenden blau tätowierten Gesichtern ein Trupp Beduinenmädchen, lustige Bauerndirnen aus der Wüste, dahin, dass der Staub hinter ihren mageren flinken Beinen aufwirbelte und die Hunde kläffend sprangen und die blumengeschmückten, lautlos da und dort spielenden und huschenden Kinder aus ihren grossen dunkeln Augen erstaunt hinterher sahen.
Mitten durch diese Gruppen karrte ein kleiner, hinten mit Gepäck beladener Planwagen. Es flimmerte in ihm von zwei blonden Köpfen. Yvonne lief zu dem Fahrzeug und streckte ihre Hände hinein, damit jede der beiden Missionarinnen die ihre bekäme. Sie hörte zwischen all dem Geschüttel und Begrüssen, dass die zwei Missionarinnen nur diese Nacht in El-Ariana, im Hause eines Vetters ihres arabischen Kärrners, rasten und dann gleich weiter nach Süden, nach den heiligen Oasenplätzen Tosêr und Nephta, den letzten Saharastädten am Rand des unwirtlichen und unbewohnten Gebietes der Sanddünen, ziehen wollten.
„Also Sie haben Ihren Bruder gefunden?“ sagte die eine. „Da hätten Sie die Nacht auch noch bei uns in der Karawanserei bleiben können. Dann hätte die Botschaft heute früh Sie dort erreicht!“
„Was für eine Botschaft?“ fragte Yvonne. Ihr wurde unbehaglich zumut.
Die Britinnen wussten nichts Genaues. Sie hatten noch geschlafen und es nur von dem arabischen Hausmeister gehört. Kurz vor Sonnenuntergang sei von Westen her ein Mensch, anscheinend ein Levantiner oder Türke, der sich Ali Stambuli nannte und offenbar die ganze Nacht hindurch geritten war, an der Karawanserei eingetroffen. Er habe einen Brief bei sich gehabt, diesen aber, als er gehört, dass Mademoiselle Roland schon über alle Berge war, nicht abgegeben, sondern sein Pferd gewendet und sei wieder den Weg zurückgetrabt. Er habe den Eindruck erweckt, als sei er der Diener oder Reisebegleiter eines Europäers, der noch weiter zurück sei.
„Grosser Gott!“ sagte Yvonne beklommen. „Was sind da für Leute auf meinen Fersen?“ Ihr war bang zumut, und sie nahm unruhig von den Missionarinnen Abschied, diesmal wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen. Sie schüttelten sich herzlich die Hände und wünschten sich gegenseitig alles Gute in dieser fremden Welt des Landes El-Dscherid. Ehe sich der Wagen wieder in Bewegung setzte, fragte Yvonne schnell, fast ohne zu wissen, was sie tat: „Erinneren Sie sich an den Jäger auf dem Schimmel gestern abend? Haben Sie den vielleicht hier gesehen?“
Jawohl, die beiden Misses hatten den Gentleman bemerkt, im Vorbeifahren an der Kneipe „Zum Seefahrer Sindbad“. Dort habe er vor der Türe gesessen und sich mit dem Mufti, dem einheimischen Koran- und Gesetzeskundigen der Oase, unterhalten.
Damit fuhren sie davon. Yvonne Roland winkte ihnen noch ein paarmal mit ihrem Tuch nach, bis der Reisekarren hinter einem Haufen von eingestürzten Lehmwänden, Römersäulen und üppig darüber wucherndem Schlingwerk und Unkraut verschwand. Dann drehte sie sich um und schritt eilig der Herberge zu. Sie hatte die Richtung vom Morgen her noch wohl im Kopf. Aber ehe sie den „Sindbad“ erreichte, kam ihr der, den sie suchte, entgegen. Sie musste herzlich lachen, als sie ihn sah. Es war so komisch: zu seiner verwetterten und verblichenen Jägerkleidung, den abgeschabten Gamaschen, der vergilbten Schirmmütze — zu diesem ganzen Rüstzeug eines Wüstenreiters, das so ganz zu seinem düsteren, dunkelbraun gebrannten, schönen Antlitz passte, trug er einen weissen Damensonnenschirm in der Hand — ihren Schirm — und schwenkte ihn ihr entgegen. „Eben wollte ich ihn Ihnen in die Zitadelle bringen!“ sagte er. „Die Bande hat ihn heute früh aus dem Karren gerissen. Zufällig sah ich ihn in der Ecke stehen! Nun, Ihren Bruder haben Sie also getroffen und wohnen jetzt neben ihm?“
„Woher wissen Sie das denn schon?“
„Für wie gross halten Sie denn El-Ariana, Mademoiselle Roland“, fragte er, mit ihr den Weg zurückgehend, „dass sich solche Neuigkeiten nicht wie ein Lauffeuer verbreiten sollten? Merken Sie sich nur ein für allemal, dass alle Europäer hier von den Eingeborenen auf Schritt und Tritt belauert werden und sich untereinander ebenso angelegentlich beobachten. Zum Beispiel von dem Fremden, der hinter Ihnen her in die Oase gereist ist, hab’ ich sofort gehört.“
„Von Ali Stambuli oder wie dieser türkische Mensch heisst?“
Er schaute erstaunt auf. „Es ist kein Türke. Der Mann soll aus Strassburg kommen und allerdings solch ein levantinisches Individuum als Dolmetscher mit sich führen. Vor einer Stunde ist er in dem Hof vom ‚Seefahrer Sindbad‘ abgestiegen — das Pferd ganz nass und in den Flanken voll Blut von den Sporen ... der Mufti hat es mir eben mitgeteilt und hinzugefügt, es sei recht traurig, dass wir Ungläubigen doch immer solche Eile hätten! Wir kämen doch alle zusammen — Moslim — Christen — noch zeitig genug zu Tode ...“
„Und wie hat denn dieser Mensch aus Strassburg ausgeschaut?“
„Das hat mir der Mufti nicht mehr verraten können. Er wurde plötzlich abgerufen, zum Kadi, dem Oasenrichter. Wahrscheinlich kann sich das Eingeborenengericht wieder über irgendeine knifflige Koranstelle nicht einigen. Da muss er helfen!“
Sie ging, ohne es zu wissen, immer rascher, als wollte sie so schnell wie möglich der in ihrem Rücken liegenden Schenke und allem, was darin war, entfliehen. Dabei schaute sie zu Boden, in Sorgen und zweifelnde Gedanken verloren. Ein paarmal schüttelte sie, wie um die zu verscheuchen, energisch den hübschen bräunlichen Kopf, dessen Wangen jetzt auffallend blass geworden waren. Aber sie sprach nichts, und auch er drängte sich nicht in ihr Schweigen. Nur einmal fragte er gedämpft: „Wollen Sie vielleicht lieber allein weitergehen?“ Aber sie wehrte erschrocken ab, und so schritten sie zusammen zur Zitadelle und hinter ihr in den Palmenwald.
Da war ein kleiner See. Das tiefe Blau des Abendhimmels spiegelte sich in ihm zurück, das gelbe Lehmgeklüft seiner Ränder verdoppelte sich im Widerschein seiner Flut, die hohen Kronen der Dattelbäume lugten neugierig über die matt schimmernde Fläche, und in ihr lebte und spritzte und lachte und prustete es von badenden Araberjungen. Ihre geschmeidigen braunen Körper hoben sich bronzefarben, von unzähligen feinen Luftbläschen umperlt, in hurtigen Schwimmstössen aus dem Wasser ab. Sie umkreisten ein gewaltsam in die Schwemme gebrachtes Kamel, das jetzt in feierlicher Ergebenheit in dem Schlamm des Bodens kniete und nur den blöden Kopf und den langen Hals, dräuend wie der Anfang einer Urweltschlange, aus den Fluten erhob. Daneben ritten ein paar Burschen ihre Pferde in das kühlende Nass, andere sassen da und spülten sich den Staub ab und tranken dasselbe Wasser aus der hohlen Hand und zogen, reihenweise am Ufer kauernd, die Wäschestücke hin und her. Und wo nur von dem Teich die Wasseradern ausstrahlten und sich in Mengen von grossen und kleinen Bächen im geheimnisvollen Dämmern des Palmenhains verloren, blinkten neue weisse und bunte Gewänder im Schatten und wuschen sich Greis, Mann und Kind und stillten ihren Durst, ehe der Abendgesang der Muezzin drüben von den weissen Türmen zur Moschee und zum Gebet rief. Und über ihnen kräuselte ein leiser Abendhauch die fahlgrünen, von der Glut des Sonnenuntergangs vergoldeten Wipfel, über denen ferne in gespenstischer Öde die kahlen Steinhügel der Wüste grellgelb flammten.
Das waren jetzt nicht mehr, wie bisher, nur die stämmigen, bastreichen und gerippten Palmen, zwischen deren zerschlissenen Blätterhäuptern hoch oben die braunen Dattelbündel in fusslangen Trauben herabhingen — nicht mehr nur das einförmige feine Silbergrau des Ölwalds. Dazwischen sprosste und grünte und blühte es überall, wo das Wasser den toten Stein und Sand belebt hatte, in verschwenderischer, lachender, inmitten der grimmen, ringsum hereingrinsenden Öde doppelt märchenhafter Üppigkeit. Für jeden Tropfen, den die Erde aufgenommen, gab sie einen Halm und unterbrach das satte Schattengrün der Matten mir unzähligen rotflammenden Mohnblumen. Sie umhüllte das Lehmgemäuer mit nicht endenden, blütenübersäten Hecken wilder Rosen, aus denen phantastisches Schlingwerk im Klettergerank und wehenden grünen Schleiern hinauf zu den Bäumen stieg, zu dem rosa Lorbeer, dem gefürchteten Wasservergifter und Fieberbringer, den nur noch hier und dort die Axt der Eingeborenen verschont hatte, zu dem tiefdunklen, über und über von der Pracht scharlachroter Sterne überflammten Granatlaub, zu den haushoch ragenden riesigen Aprikosenbäumen, dem Nuss- und Pfirsichgeäst. Dazwischen breiteten, förmlich kleine Wäldchen für sich, die hundertjährigen Feigenbäume ihre dichtbelaubten, schattenreichen, früchteschweren Äste wie segenspendende Arme über das Zittergelb kleiner, von Agavenhecken umzäunter, von blauen Blumen durchleuchteter Haferfelder am Boden, und über alles andere hin schimmerten in tiefem Dunkel die Orangenhaine, vom untersten Ast bis zum Wipfel mit Hunderten und Taufenden von goldenen Monden ihrer Apfelsinen wie von Lichtern am Weihnachtsbaum besteckt. Im frostigen Hellgelb seiner Blätter und Früchte stand der hochragende Zitronenbaum daneben, beinahe weiss — geisterhaft unter dem blauen Himmel wie ein Gespenst am lichten Tag, um die schwarzen Türme der Zypressen schlang sich wilder Wein und spielte in tändelnden Ranken mit den blutfarbenen Korallen unter ihm, den Fruchtknospen an dem unwirschen, graugrünen Gestachel der mannshohen Kaktushecken, und fächelte über das schwärzliche Schilf der Sumpfstellen, und da, wo die Mittagsglut am heissesten brannte und doch das Laubdach wieder Schatten spendete, da entfalteten sich die mächtigen Büschel der Bananenstauden, und oben aus ihrem langen, schmalen Blattgefieder schauten tellergrosse, himmelblaue Blumensonnen geheimnisvoll wie in einer Märchenwelt auf den Wanderer herab.
Es war eine eigene Luft in dieser schwülen, bunten Wüsteninsel, voll von einer süssen Fäulnis, vom Duft der Blumen und der Ausdünstung des stehenden Wassers. In allen Büschen und Hecken zitterte es von jubilierendem Vogelgezwitscher durch das sanfte Plätschern der rinnenden Bäche, das stärkere Brausen der über Palmstammwehren in kleinen, schäumenden Wellen sich stürzenden Fluten. Überall, von nah und fern, klang halblauter, trällernd langgezogener, seltsam sehnsüchtiger Gesang aus den Kronen der Dattelbäume. Dort schimmerten rote Kopftücher und weisse Hemden. Araber hantierten da noch in luftiger Höhe, Männer und Knaben. Andere, Vornehme, lustwandelten in ihren umzäunten Grundstücken im Innern der Oase unter den Palmen oder lagen plaudernd beisammen im Grase. Weithin schimmerten das Grün und Zimtbraun, das Goldgelb und Taubengrau ihrer kostbaren, seidengestickten Gewänder. Viele hatten ihr Söhnchen, ihr liebstes Spielzeug, auf dem Arm und liebkosten es in träumerischem, leidenschaftslosem Gespräch. Ein jeder war mit frischen Blumen geschmückt bis herab zum Geringsten, der da sein mit Grünfutter beladenes Eselchen vor sich her in die heimische Hütte trieb, bis zu den kleinen braunen Hütekindern, die, flink durch den Staub springend, ihre Rinder, das einzige Vieh, das in der Oase selbst weiden durfte, nach dem Ausgang der Palmenwälder lenkten. Dort draussen, jenseits der finsteren grauen Hochburg, über den schneeigen, vom Abendgold verklärten Dächern, mahnten jetzt die Tempelrufer. Allah ist Allah! Der Abend ist da. Die Sonne sinkt. Die Sorge ruht. Bald glitzern die Sterne. Es naht das Dunkel. Es kommt das Vergessen — die Erlösung von Leid und Not. Überall ist das grosse Schweigen: der Frieden ist da — der heilige Hirtenfrieden der Wüste von Anbeginn und Ewigkeit bis auf unsere Tage ...
Tiefer und tiefer waren Sidi Frank und seine Begleiterin in das Innere der Oase gegangen. Sie sprach fast nichts. Sie wollte nur schauen. Er störte sie nicht. Er blickte nur zuweilen von der Seite mit einem halben Lächeln, das sein düsteres, in Wildnis und Einsamkeit abwehrend streng gewordenes Gesicht seltsam erhellte, auf sie hinüber, während sie da neben ihm ging.
„Ach — das ist ja gar nicht wahr!“ sagte sie endlich, als eben ein kleines Negerbüblein auf einem Esel vorbeigetrabt war und beide durch seinen fröhlichen Gruss: „Bon jour, Sidi!“ aufgeweckt hatte, „— das ist wie ein Wunder so schön!“
Er nickte. In dieser Andacht vor der Natur waren sie beide eins. Und nun fingen sie auch an zu reden. Nicht voneinander. Das wagten sie nicht. Sie kannten ja nicht einmal ihre richtigen Namen. Sie wussten, dass sie Verstecken miteinander spielten und spielen mussten in dem fremden Land und dass das vielleicht ganz gut so war — aber von der Oase erzählte er ihr und sagte ihr: „Nun wissen Sie, warum sie ‚El-Ariana‘ heisst — ‚die Rose‘ — die Rose der Wüste!“
Und dann wies er ihr allerhand Dinge, die sie bisher noch nicht beachtet hatte: die bleichen Tierschädel an den Dattelstämmen, die schwarzen Schildkröten, die sich so flink beim Nahen eines Menschen kopfüber in das hier kaffeebraune Wasser zu kugeln wussten, da einen schönen jungen Araber sinnlos berauscht in einem Blumenbeet, die leere Kognakflasche noch krampfhaft mit der Hand umspannend — das Ergebnis europäischer Zivilisation —, und da scheu als Wilddiebe schleichend ein paar abgerissene Tagelöhner aus der Stadt, das Messer im roten Gurt, einen geblendeten kleinen Lockvogel im Käfig über der Schulter und alle Taschen ihrer schmutzigen Röcke und Hosen voll von gemordeten kleinen Sängern. Die Kerle wussten wohl, warum sie jetzt erst, bei Einbruch der Dunkelheit, sich zurückwagten. Es dämmerte immer stärker, und Sidi Frank drehte endlich auch um. „Wir müssen uns eilen!“ sagte er zu Yvonne. „Bei Nacht findet sich kein Mensch aus diesem Labyrinth mehr hinaus!“
Sie bejahte. Hastig stieg und stolperte sie hinter ihm her — denn der Weg war zu schmal, als dass man nebeneinander gehen konnte — und sah zwischen den Palmwedeln schon die ersten Sterne schimmern und die Zitronenbäume immer unheimlicher im Dunkel leuchten und wunderte sich auf einmal, wie sie dazu kam, hier mit einem unbekannten Mann als sein getreuer Wandergesell bei Nacht und Nebel durch Afrika zu ziehen.
Still, den Kopf nachdenklich gesenkt, folgte sie ihm aus dem Wald hinaus, in das Freie und in die da noch herrschende Helle des Zwielichts.
Die Luft war hier schwül, von Staub gesättigt. Und in diesem Staub kauerten überall Gruppen zimtbrauner Araber aus dem Volke in weissen Mänteln und Kapuzen, die Tintenflecke einiger Negergesichter dazwischen, und machten Feierabend in dem flüsternden, langsamen Gespräch der Wüste, das den an europäischen Lärm gewöhnten Ohren immer wie das Gemurmel einer Verschwörerschar klang. Ab und zu raffte sich einer auf, machte sein Salem — sein Abschiedszeichen mit der Hand von der Stirne zur Brust — und wandelte, in seinen gelben Pantoffeln schlurfend, heimwärts zu Weib und Kind.
Und unter diesen Hausvätern war auch ein vornehmer, überall durch Erheben der anderen aus ihrer Hockstellung, durch einen Zuruf, von Vertrauteren durch einen Kuss auf die rechte Schulter begrüsster Mann, ein jovialer, magerer Weissbart mit einer Brille, die ihm das Aussehen eines gelehrten Mönches gab. In der herabhängenden Linken trug er einen zappelnden Hahn an den Beinen. Den hatte er auf dem Markte gekauft und brachte ihn als Braten den Seinen mit.
„Da ist ja der Mufti!“ sagte Sidi Frank lebhaft. „Nun kann er uns ja Auskunft geben!“
Damit trat er auf den islamitischen Gottesmann zu und begrüsste ihn. Tahar ben Belgassem, der Mufti, blieb wohlwollend lächelnd stehen. Eigentlich hätte er lieber seinen Weg fortgesetzt. Sein Tagwerk war zu Ende. Er hatte dem Kadi Dschilani ben Habib, diesem ewig Unwissenden, diesem weltlichen Araberrichter der Regierung, einen schwierigen Streitfall auf geistliche Art, an der Richtschnur des Korans, erläutert — er hatte sich dann, Mohammeds Vorschrift gemäss, im feigenbaumüberschatteten, brunnensprudelnden, von Tauben durchgurrten Vorhof der Moschee Hände und Füsse gewaschen und dann innen, das Antlitz gen Osten, zu Allah gebetet. Nun wollte er seine Ruhe. Aber Frank war ein Mann, der bei den Eingeborenen besondere Achtung genoss. Und so gab denn auch Tahar ben Belgassem bereitwillig Auskunft auf die arabische Frage des anderen.
„Der Mufti erzählt mir, der Fremde stände vor dem Tor der Zitadelle und warte auf Ihre Rückkehr!“
Man brauchte nur um die Ecke der Römerfeste zu biegen, so war man dort und stand ihm gegenüber. Einen Augenblick nur zauderte Yvonne Roland. Dann sagte sie finster und entschlossen: „Also los!“ Sie nickte dem Mufti leicht dankend zu und schritt so energisch aus, dass ihr Gefährte kaum Zeit hatte, sich mit der umständlichen Höflichkeit des Orients von dem Moslem zu verabschieden.
Aber auf dem Platz vor der Kasbah verlangsamte sie ihre Schritte wieder. Mitten auf ihm harrte ihr Verlobter.
Sie fasste rasch die Hand ihres Begleiters, schüttelte sie im Gehen und bat leise: „Also gute Nacht für heute!“ Er merkte, dass er sie nun allein mit dem Fremden lassen müsse. Sie hatte haltgemacht. Er ging weiter, an dem anderen vorbei, der auf das junge Mädchen zuschritt. Eine Sekunde schauten sich, während sie sich trafen, die beiden Männer gegenseitig, ohne zu grüssen, ins Auge — scharf — prüfend —, und die ersten Funken dumpfer Feindseligkeit sprangen in diesem Blick von einem zum anderen über, wie das Aufblitzen von Plänklerschüssen vor schweren Kämpfen im Feld. Dann setzte der Jäger, ohne sich noch einmal umzudrehen, seinen Weg fort, und Monsieur Wallot näherte sich Yvonne.
„Aber Yvonne!“ sagte er, die ihm willenlos überlassene Hand ergreifend, statt der Vegrüssung in einem Tone schonenden Tadels. „Liebste Yvonne ... ich hatte doch eigentlich auf ein anderes Wiedersehen gehofft! Du machst ja wirklich ein Gesicht, als sähest du irgendein Schreckgespenst statt deines Bräutigams! Nicht einmal Vorwürfe will ich dir machen! Geschehen ist nun einmal geschehen! Jetzt handelt es sich nur darum, vernünftig zu sein — was du bisher nicht warst, liebe Yvonne — im Gegenteil — diese abenteuerliche, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch unternommene Reise hierher ... nun, Schwamm drüber ... ich kann das nur mit deiner vollkommenen Weltunkenntnis entschuldigen ... ein Glück, dass dir wenigstens nichts passiert ist und ich dich heil und gesund treffe ... aber mager bist du geworden, Ärmste ... und braun ...“
Seine letzten Worte hatten weicher geklungen. Und nun fand auch sie endlich die Sprache wieder. „Du kannst überhaupt noch gar nicht hier sein!“ stiess sie erbittert und verwirrt heraus. „Es ist ganz unmöglich! Ich habe mir alles genau ausgerechnet! Die Schiffe von Marseille gehen doch nur ...“
„Und über Italien kann man nicht fahren und von Sizilien den Katzensprung nach Tunis herüber und von Susa aus, wo du mit einem Maultierkarren gefahren bist, mit einem Automobil im Hui durch die Steppe?“ fragte er lachend. „Du hast doch nicht Fieber?“ forschte er.
„Nein — ich bin ganz gesund!“
„Ja — aber warum zitterst du dann so?“
Sie schwieg. Die Antwort war für ihn deutlich genug. Sie hiess: Vor dir! Er nahm sich zusammen, um freundlich besorgt zu erscheinen, und sagte lebhaft und bestimmt: „Es liegt doch wirklich gar kein Grund vor, Yvonne ... es ist ja für mich so peinlich — betrübend, ja: direkt betrübend — schon in Strassburg hab’ ich in letzrer Zeit bemerkt, dass du Angst vor mir gehabt hast ... ja — wenn ich noch ein Wüterich wäre — aber ich bin doch ein umgänglicher Mensch — und wenn jemand gegenüber, dann dir, die ich aufrichtig liebe. Das weisst du. Aber deswegen kann man doch nicht zu allen Torheiten durch die Finger sehen! Das spreche ich mit Entschiedenheit aus — auch im Namen deiner Familie, als deren Vertreter ich hier stehe ...“
Die Erwähnung der Familie erbitterte sie. „Die Tanten und Basen daheim gehen mich gar nichts an — nur die Mutter. Der hab’ ich heute früh schon telegraphiert, dass ich hier bin und dass sich Gaston leidlich befindet — und damit gut! And nun gute Nacht! Ich will jetzt in die Zitadelle zurück!“
„Das hat Zeit! Ich hab’ noch vieles mit dir zu sprechen, Yvonne!“
„Morgen ist auch noch ein Tag! ...“
„Nein, morgen wollen wir, wenn irgend möglich, schon die Rückreise antreten. Du und ich! Für deinen Bruder wird bestens gesorgt. Da brauchst du dir keine Angst zu machen.“
„Und ich soll von ihm weg?“
„Yvonne, das musst du doch einsehen, dass dein ganzer Aufenthalt hier — die Lage, in die du dich gesetzt hast, eine Unmöglichkeit ist. Ich will doch schliesslich keine Zigeunerin heiraten, sondern eine junge Dame aus gutem Haus!“
Sie schaute ihn an, und plötzlich lachte sie — halb aus Zorn und Empörung — halb weil er ihr wirklich so unfreiwillig komisch vorkam — hier in der Sahara mit seinen Sorgen und Bedenken, was wohl die Leute daheim zu diesem und jenem sagen würden, wo ihr einziger warmblütiger und jugendstarker Gedanke gewesen war: Da drüben liegt dein Bruder krank! Geh hin und pfleg ihn! ...
Und jählings machte sie ihren Arm frei, drehte sich auf dem Absatz um und rannte, so schnell sie konnte, durch die Torwölbung in das Innere der Zitadelle. Da hinein konnte er ihr nicht folgen. Der lange Sergeant bewachte die Schwelle.