Читать книгу Drachentöter - Rudolf Stratz - Страница 4

Erste Begebenheit

Оглавление

Im stossweisen, schütternden Gebrüll des herbstlichen Nachtsturms draussen ertrank das weinerliche Kreischen der durchfeilten Eisenstäbe. Der Vollmond warf bläulichen Glast auf die lange, schweigende Reihe der Gitterfenster des Gefängnisses. Vor dem Dunkel des einen Fenstervierecks im dritten Stockwerk bewegten sich zwei weisse Flecke. Zwei Männerhände.

Die beiden Hände trennten vorsichtig mit der geschnörkelten Fläche des Stahlplattschneiders die fingerdicken Eisenstäbe, lösten sie von den, in der Mauer steckengebliebenen Stumpfen, zogen sie behutsam in das Innere der Zelle.

Ein grösserer heller Flecken erschien in der leeren Fensteröffnung. Ein Gesicht. Das Gesicht eines bartlosen, jungen Mannes. Kalte Nachtluft umpfiff den spähend hinausgesteckten Kopf und trocknete auf der Stirn die Schweissperlen siebenstündiger Arbeit. Uff! Das Eisen war hart. Der Wille war härter. Ein Blick in die schwindelnde Tiefe des Gefängnishofs. Trapp . . . Trapp . . . da unten der Posten . . . Langsam vorbei . . .

Nun schnell . . . Es ist nicht viel Zeit mehr zu verlieren . . . So ein Gefühl, als ob bald der Morgen grauen würde . . . Um fünf Uhr kommen sie . . . dann revidieren sie die Zelle . . . dann war alle Mühe umsonst . . . Der Gefangene schob langsam den Oberkörper in das gesprengte Fenster. Er schaute furchtlos und schwindelfrei in den Abgrund. Sein Antlitz eines Dreissigjährigen war ehern hart und ruhig. Es zuckte nicht, als die spitzen Zacken der zerfeilten Stäbe in Kittel und Haut schnitten. Aber Blutspuren durften nicht sein. Die rote Fährte, die man hinterliess, erschwerte die Flucht. Er stieg noch einmal vom Schemel auf den Boden der Zelle zurück. Auf dem Holztisch lag der gestrige Brief seines Verteidigers. Er nahm das Blatt und kletterte wieder mit ihm in die Höhe und riss ein Stück von dem Papier ab und las, während er es zum Schutz des Körpers um das eine zerfeilte Endstück des Gitters wickelte, mechanisch im Mondschein die Schreibmaschinen-Schrift . . . „weiss jeder bei uns, dass Sie, verehrter Herr Hauptmann, im Krieg mit Ihrem gefürchteten Flugzeuggeschwader nur heldenhaft Ihre Pflicht auf Befehl Ihrer Vorgesetzten taten . . .“

Er befestigte ein zweites Briefschnitzel um die zweite Schnittfläche und las: „. . . und dass Sie bei Ihren verwegenen Bomben-Abwürfen über feindlichen Städten sicherlich jede unnütze Grausamkeit vermieden haben . . .“

Den Rest der Seite für den dritten Mauerstumpfen. Auf ihr stand: „Jedoch der Frieden von Versailles verpflichtet in seinen Strafbestimmungen, Teil VII, Artikel 228, Absatz 2, Deutschland, den gegnerischen Mächten alle vom Feind bezeichneten deutschen Männer auszuliefern . . .“

Der Untersuchungsgefangene umhüllte das letzte Gitterende mit der zweiten Briefseite. Er las dabei: „Sie, verehrter Herr Hauptmann, stehen auf dieser Ehrenliste und sehen der Gerichtsverhandlung entgegen, die allerdings, nach neuerer Milderung, vor deutschen Gerichten stattfindet. Aber hat sich unser unglückliches Vaterland, das auf Befehl des Feindes seine eigenen Verteidiger als ‚Kriegsschuldige‘ richten soll, nicht in Artikel 231 des Versailler Vertrags wider besseres Wissen vor der Welt als alleinigen Kriegsschuldigen bekannt, und damit auch seine Söhne — alle, die Deutsche sind . . .?“

Glockenschläge draussen von den Kirchen. Eins — zwei — drei — vier — fünf. Fünf Uhr morgens . . . Höchste Zeit. Der Mann im langen, weissleinenen Kranken-Nachtkittel und braunen, schwarzgestreiften Sträflingshosen spähte hinab in die Tiefe. Der Hof war leer. Die Schildwache auf der anderen Seite. Sein Antlitz war so unbewegt, wie es seine Freunde an ihm kannten. Er zwängte seine mittelgrosse, sehnige Gestalt durch die enge Luke und schleuderte einen Mauerhaken mit einer daran befestigten seidengeknüpften Strickleiter nach oben, dass sie fest am Rohr des Blitzableiters hing. Er drehte sich, streckte ein Bein aus, suchte im Leeren, fasste Fuss, zog das zweite Bein nach, stand, in der tosenden, kalten und mondhellen Finsternis, wild schaukelnd, fast frei in der Luft, nur durch das seidendünne Nichts unter seiner einen Sohle von dem Tod in der Tiefe geschieden. Klommi empor — gleichmässig — sicher — Hand um Fuss — bis unter das Gebält.

Über das bog sich, in weitem Schwung von oben laufend, das Rohr des Blitzableiters. Er umklammerte es mit Armen und Beinen. Hing, das Antlitz gen Himmel, den Rücken nach dem Hof unten, und verpustete und hörte in den Pausen des Sturmes sein eigenes wildes Röcheln.

Und in einer solchen Windstille ein leises Trapp . . . Trapp . . . Es kommt immer näher . . . Trapp . . . Trapp . ., der Posten . . . Und zugleich ein Zucken durch Leib und Seele: Du bist geliefert! Der Kerl muss dich ja sehen — wie du da oben zwischen Himmel und Erde schwebst, an die sich bäumende Wölbung des Blitzableiters geheftet . . .

Trapp . . . Trapp . . . Ist der Mensch denn blind? Das Mondlicht ist doch wahrlich hell genug! Jetzt muss er gerade unter einem sein . . . Ruft er denn noch nicht an?

Oder hat er angerufen und der wieder einsetzende Sturm hat es verweht? Gleich wird er schiessen! Man plumpst wie ein Mehlsack in die Tiefe und klatscht unten als ein blutiger Brei auf dem Pflaster auf . . .

Noch nicht? . . .

Trapp . . . Trapp . . . Leiser schon — ferne . . . der Flüchtling wandte mit Mühe den Kopf über die Schulter, so dass er hinunterschauen konnte, und atmete auf: Gesegnet der Dachvorsprung und sein Schlagschatten, dessen Dunkel selbst die Umrisse eines Menschen verschwimmen liess und einem Blick von unten unsichtbar machte . . .

Er hatte wieder Kräfte. Er kletterte an dem Blitzableiter in die Höhe, kippte mit einem Bauchschwung über die Dachrinne, sass oben, löste den Haken, zog ihn mit den Seidensprossen nach, wickelte sie sich um die Brust. Schaute zum ersten Male frei um sich . . . Frei . . . Seltsam die ungewohnte, frische Nachtluft . . . seltsam das Funkeln der Sterne- über dem wirren, blossen, braunen Haar, seltsam, nach der Enge der Zelle, den Blick in nächtige Weite, über ein schlafendes Dächermeer nach Deutschland hinaus . . . Deutschland, das seine Besten dem Feind zum Frasse vorwirft — Deutschland — mein Deutschland heute und immer — trotz allem . . .

Deutschland — ich komme!. . . Der fliehende Mann setzte sich wieder in Bewegung. Er schob sich, halb sitzend, halb liegend, über die vom Tau des kalten Oktobermorgens glitscherigen Schieferplatten des Daches bis an das andere Ende.

Undeutlich ragte, dem gegenüber, in der Finsternis der Turm der Gefängniskirche. Ihr Spitzdach war etwas niederer als das des Hauptgebäudes. Dazwischen gähnte ein leerer Luftraum — zwei Manneslängen breit. Schwindelnd ging es da hinab in die Tiefe des Hofes. Es war ein Sprung auf Tod und Leben. Ein Zoll zu kurz — ein Sturz in die Ewigkeit . . .

Der Flüchtling stand jetzt aufrecht auf den Dachplatten. Hier oben konnte ihn niemand sehen. Trotzdem war er nicht allein. Um ihn im Mondschein, durchsichtig-feldgrau, rechts und links von ihm in Reihen, standen Schattengestalten. Vertraute Gesichter, die längst nicht mehr waren, sahen ihn an. Bekannte, längst stumm gewordene Stimmen riefen — die toten Kameraden der Flugstaffel — sie alle, alle tot . . . gefallen in zwei Erdteilen, an fünf Fronten, gefallen für Deutschland. Er allein, ihr Führer, durch Wunder Gottes und Schlachtenglück, fünfmal verwundet, abgestürzt, gefangen, entflohen und schliesslich doch am Leben. Die hageren Schatten hoben die Arme. Die mageren Gesichter lachten. Die verwegenen Augen blitzten: „Fliege noch einmal, lieber Hauptmann! Fliege durch die Luft — für Deutschland — und sei’s dein letzter Flug!“

Sein Gesicht war unverändert. Er prüfte noch einmal die Entfernung, richtete sich auf, warf die Arme zurück, beugte sich vor zum Todessprung . . . ein Satz . . . ein Wirbel durch die Leere, ein Krachen splitternder Tonziegel auf dem Kirchendach — er rollte blitzschnell über das Dach dem Abgrund zu — er war nur noch einen Fussbreit davon . . . auf dem Dach waren in Abständen aufrechte eiserne Stifte für den Schieferdecker. Die hatte er vorhin gesehen. Er fingerte im Sturz nach rechts und links. Hielt sich. Lag still.

Rutschte, mit den Pantoffeln gegen das Schneegitter fussend, die finstere, steile Riesenwand des Kirchendaches dahin. Liess sich an einem vorstehenden Balken mit der dort verknoteten Strickleiter hinab. Er flog dabei in wilden Schwingungen, vom Sturm geblasen, auf und nieder, prallte an das Mauerwerk, dass ihm die Rippen krachten, kreiste wieder in ungestümem Bogen draussen im Leeren, schnitt sich, nahe über dem Boden hängend, mit dem Endstück der Strickleiter ab, plumpste zur Erde, überkugelte sich zwei-, dreimal, sass betäubt im Sand . . . befühlte seine Knochen . . . sammelte seine Gedanken . . . Auf!

Wieder auf den Beinen, lief er über den dunklen, äusseren Hof zur Umfassungsmauer, warf den Mauerhaken mit dem Rest der Strickleiter hinauf, sass rittlings oben, rutschte auf der anderen Seite herunter, rannte ohne Aufenthalt über die Strasse . . .

Die Gasse hinunter — hundert Schritte geradeaus — auf dem kleinen Platz . . . so hatte es innen auf dem Mundstück der eingeschmuggelten Zigarette gestanden — da hält das Auto . . .

Er stürmte dahin. Gelle Pfiffe aus dem Gefängnis schrillten hinter ihm her. Seine Flucht war entdeckt. Er lief, dass die Schösse seines langen, weissen Kittels flogen und das Geklapper seiner Lederpantoffeln an den Hauswänden widerhallte. Signaltriller einer Patrouille antwortete aus der Stadt dem Gepfeife aus dem Gefängnis . . . rechts . . . links . . . schon ganz nahe. Das Auto . . . wo ist das Auto? . . .

Da dämmerte der kleine, unregelmässige Platz. An der Ecke drüben glotzten zwei grosse, runde, feuerweisse Augen. Der ratternde Wagen. Leise rasselnd und zitternd. Rennbereit. Eine undeutliche Gestalt mit ungeduldig spähendem, vorgebeugtem Kopf auf dem Führersitz . . .

Aus einer Nebenstrasse trippelte ein kleiner, dicker Herr, geschäftig, eine Reisetasche in der Hand, auf den Wagen zu und winkte schon von weitem: „Gott Strambach! . . . Endlich! Auto! Nu schnell, mein Gutester! Ich muss zum Bahnhof!“

Der Flüchtling knirschte im Laufen . . . Esel . . . Für dich harmlosen Geschäftsmann steht doch das Auto nicht da! Er verdoppelte seine Sätze, um es vor dem Dickling zu erreichen. Rasch . . . rasch . . .

Nein . . . Halt! . . . Der Mann im weissen Kittel stand jäh still . . . barg sich blitzschnell hinter einem Hausvorsprung. Dicht vor ihm, über den Platz, von zwei Seiten her gleichzeitig, rannten Gestalten in Tschakos . . . die Brownings in vorgehaltener Rechten . . . die Polizei. Der Kleine Dickling vor dem Auto verschwand in ihrer Mitte. Man hörte nur sein verstörtes Geschrei: „Mich wollen Sie verhaften? Ja — warum denn? . . . Ich bin Staatsbürger! . . . Ich bin Steuerzahler . . .“

Und, schon in der Ferne: „Mein Name ist Lämmerhirt, in Firma Böcklein und Sohn . . . Ringfreie Druckknöpfe en gros . . . Zustand . . . Rechtsstaat . . . Nu hören Sie doch . . . mein Bester . . .“

Stille. Schläfrig stand das Auto auf dem Platz. Rasselte und glühte mit den weissen Augen. Sein Führer war schon beim Nahen der Polizei mit einem Hechtsatz im Dunkel verschwunden. Jetzt wandelte nur noch ein Schutzmann nachdenklich als Wache um den Wagen herum. In seinem Rücken gewann der Mann hinter dem Hausvorsprung die nächste Strassenecke und rannte davon. Blindlings! Nur weg! Weg! . . .

. . . Er war vor der Stadt. Halb schon auf freiem Feld. Die lebten Häuser standen da. Eine fahle, kränkliche Helle graute am Horizont. Durch die sterbende Nacht wanderte in langen, dunklen Zügen schweigend das Volk der Arbeit den Fabriken zu. Noch achteten diese Männer und Frauen im Halbdunkel nicht auf ihn. Er war, in seinem weissen Kittel, vielleicht der Chauffeur eines Fabrikherrn, der nach der Garage ging. Aber bald musste es so licht sein, dass man die breiten schwarzen Streifen an den braunen Hosen des entsprungenen Untersuchungssträflings sah . . . Und dann . . .?

Ihm war, als richteten sich jetzt schon verdächtige Blicke auf seinen Anzug — als sähen ihn die Menschen so merkwürdig im Morgengrauen an . . . Wenn sie erst merkten, wer er war . . . Er konnte lange sagen: Ich habe für euch, für Deutschland, gestritten und geblutet . . . Es gab eifrige Seelen genug, die ihn festhielten — die sofort von der nächsten Kantine oder dem nächsten Kontor aus die Polizei anriefen . . .

Noch fünf Minuten . . . noch vier . . . Er sah schon alle die Augen des Volkes auf sich versammelt — ängstlich — misstrauisch . . . mitleidig . . . schadenfroh . . . neugierig . . . Er hörte die unnützen Fragen . . . die wohlfeilen Witze . . . die Rufe nach dem Schutzmann . . . Er fühlte sich auf einmal sehr müde . . . Er fröstelte . . . Er gähnte . . . Ihm wurde alles merkwürdig gleichgültig . . .

Ohne Geld . . . ohne Freunde . . . ohne Auto . . . In diesem Gewand . . . Die ganze Geschichte war hoffnungslos, das gestand er sich jetzt allmählich selbst. Es handelte sich nur noch um ein paar Minuten. Dann war er der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Eine Sehenswürdigkeit der Strasse . . . Ekelhaft . . . Am besten war es, den Skandal zu vermeiden, indem man kurz entschlossen umdrehte und vor den nächsten, besten Schutzmann trat: „Die Sache ist vorbeigelungen! Da bin ich wieder!“. . .

Er blieb stehen. Die kotige Strasse graute im Zwielicht. Die kahlen Bäume bogen sich im Sturm. Er wendete sich mit dem Antlitz unschlüssig zur Stadt zurück. Er stand in seinem flatternden, schon ziemlich weithin sichtbaren Mantel am Weg. Ein Auto sauste diesen Weg von der Stadt heran. Das erste an diesem Morgen. Der Korso der Kommerzienräte und Fabrikbesitzer folgte erst in ein, zwei Stunden.

Der einsame Wagen war eine grosse, elegante, grünlackierte Limousine. Sie fuhr ein polizeiwidriges Tempo. Unausführbar der Gedanke, der den Flüchtling im ersten Augenblick durchzuckte, sich mit einem kühnen Satz hinten aufzuschwingen und als blinder Passagier mitzureisen.

Er ging trotzig weiter, noch ehe das Auto ihn erreichte. Er stemmte den Kopf mit den flatternden, kurzen Haaren gegen die Windsbraut, die ihm um die Ohren brandete und alle anderen Geräusche verschlang — auch das Surren der Gummiräder und den Unkenruf der Hupe hinter ihm. Das Auto hätte nun schon längst an ihm vorbei sein müssen! Er blickte zurück. Da kam der Wagen heran . . . Ganz langsam . . . Immer noch langsamer . . . Hielt gerade neben ihm . . .

Es war nicht seine Art, sich Freude oder Schrecken anmerken zu lassen. Das Gesicht, das er der Limousine zuwandte, war unbewegt. Es verriet nichts von der Spannung seines Innern: Ist das das Auto von vorhin, das meine Spur gefunden hat und mir gefolgt ist — oder bringt es die Polizei, die mich verhaften will?

Der Haltung des Chauffeurs war nichts zu entnehmen. Der Mann sass vollkommen gleichgültig da und schaute leer gerade vor sich hin, so, als habe er eben aus dem Innern des Wagens durch das Sprachrohr den Befehl bekommen, zu halten, und ihn ausgeführt, ohne sich weiter etwas dabei zu denken.

Von innen wurde der Wagenschlag geöffnet und aufgestossen. Ein leiser Hauch von Parfum und Zigarettenrauch strömte heraus. Eine schmale, behandschuhte Damenhand fasste die Hand des Mannes im Mantel draussen und gog ihn herein.

„Na, schnell! . . . Gut, dass ich dich treffe!“ Die Wagentür schlug hastig hinter ihm zu. „Komm! . . . Setz’ dich!“

Ein Druck der Damenhand auf den Gummiball. Ein Zeichen für den Chauffeur draussen: Weiter! Die Limousine surrte, an der Scheibe huschten nebelhaft in der windenden Fahrt die Bäume vorbei. Innen in dem Wagen war es noch fast dunkel. Der Fenstervorhang auf der anderen Seite gegen den Sturm vorgezogen. Der neue Gast fühlte nur, dass das Innere mit Seide ausgeschlagen und üppig gepolstert war. Er sass still. Das alles war sehr schnell gegangen. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Er kannte auch die Frauenstimme neben ihm, aus der dämmerigen Ecke, nicht.

„Also du bist heute auch draussen?“

Er nickte und dachte sich: Wo denn wohl?

„Dass die mir das nicht aus Basel geschrieben haben . . . Ich hab’ dir doch die wichtigsten Sachen zu sagen . . . du . . . ich fürchte: Es verschwinden wieder Briefe . . .“

Er zuckte die Achseln. Ihre Stimme war die einer jungen Frau — tief — leise — vertraulich . . . Ein fremdartiger Anklang darin.

„Zufällig sah’ ich dich da draussen laufen! Du sparst wohl gar schon, dass du mit der Strassenbahn fährst, und den Rest zu Fuss? Unsinn! . . . Geld spielt doch keine Rolle!“

Er bejahte mit einer Kopfbewegung. Er fragte sich kaum: Wobei? Er war zufrieden, dass die Reise im Flug weiterging. Aber da hörte er neben sich die nervöse, halblaute Stimme, diesmal deutlich mit einem ausländischen Ton:

„In einer Minute sind wir da! . . . Ich such’ dich ja wie eine Stecknadel! Ich dachte, du wärst längst in München! Also nun hör’ mal schnell . . .“

Die Krempe eines grossen Hutes stiess an seine Schläfe, so kameradschaftlich näherte sie ihren Kopf dem seinen. Er sah nur, unter einem dichten Schleier, ein paar dunkle Augen. Ein warmer Hauch ihres flüsternden Mundes an seiner Wange:

„Der Colonel besteht darauf, dass du jetzt: selbst nach München gehst . . . Gefährlich . . . ja Gott . . . zu spassen ist mit den Bayern freilich nicht . . . das wissen wir ja . . . Aber in Paris werden sie ungeduldig . . . Sie haben Besorgnisse, dass der Widerstand gegen die Sonderbündler in der Rheinpfalz von München aus geschürt wird. Unsere dortige Berichterstattung ist ihnen ungenügend . . .“

Der Mann neben ihr sass totenstill. Ihre Hand legte sich im Eifer auf seinen Arm. Wie kleine Zangen der leidenschaftliche Druck der Finger:

„Allerweltsspione haben wir ja in München massenhaft herumlaufen! Aber sie dringen nicht in das Herz der vaterländischen Kreise! Wir brauchen da eine allererste Kraft — soll ich dir von dem Colonel bestellen! Wir brauchen dort dich! Du hast eine ganz andere natürliche Gabe, aus den Deutschen ihre Geheimnisse herauszukriegen! Auf dich rechnen sie — im grossen Bureau in Basel — und natürlich erst recht in Paris! Namentlich eben wegen der gefährlichen Stimmung gegen die Franzosenfreunde in der Pfalz! Diese Bewegung reicht bis nach München!“

Die Limousine schwenkte von der Chaussee ab und rollte über einen Feldweg. Die Dame flüsterte hastig und ihre Fingerspitzen spielten dabei nervös mit den Knöpfen an dem weissen Nachtkittel neben ihr, der ihr seltsamerweise gar nicht aufzufallen schien.

„In München selbst können wir natürlich nichts machen. Aber es muss etwas geschehen, um diese Leute unschädlich zu machen! Wir müssen das nachher, in der Pause, besprechen! Es handelt sich um einen grossen Schlag! Eine glänzende Idee des Colonel! Wir müssen möglichst viel Münchener Vertrauensleute der nationalen Bewegung angeblich zu geheimen Besprechungen hinüber in die Pfalz locken — wir haben ja die bewussten. Listen von Studenten und jungen Offizieren — und dort alle zusammen abklappen! Die Deutschen sind ja so vertrauensselig! Das wirst du schon glänzend machen! Na — und dann brauchst du auch nicht mehr Strassenbahn zu fahren, armer Kerl! Solch einen Fang lassen sich die Franzosen was kosten! Sie wollen jetzt einmal ein furchtbares Exempel statuieren! Die Separatisten in der Pfalz und sonst am Rhein haben es sonst zu schwer! Es gibt noch ein Unglück . . .“

Langsam stoppte das Auto. Draussen, hinter den vorgezogenen Fenstervorhängen, war ein undeutliches, hundertfaches Stimmengewirr. Kommando-Rufe. Zigeunergefiedel. Pferdegewieher. Mädchenlachen. Die Dame im Schleier schloss, indem sie aufstand:

„Ich fahre von hier gleich, wie du befohlen hast, nach Baden-Baden — privatim — nicht mit dem ganzen Zauber hier — und warte dort auf dich oder deine Weisungen! . . . Du — hör’ mal . . . noch eins! Sei nicht wieder zerstreut wie neulich, und vergiss nicht, was du hier draussen für einen Namen führst! . . . Du weisst doch: Lorenz Benedikter!“

Sie zog den Vorhang von der einen Scheibe weg, so dass Licht hereinströmte, und wandte sich nach dem Inneren der Limousine zurück, um dem anderen die Hand zu reichen. Es war jetzt drinnen ganz hell geworden. Er sah hinter dem Schleier ihr blasses längliches Gesicht. Nein. Er sah nur wieder die beiden dunklen Augen, die sie plötzlich ungläubig aufriss . . . ihn entgeistert anstarrend, vor Schrecken immer mehr weitete, unter den dichten, schwarzen Brauen. Er sah, wie der ziemlich grosse, ausdrucksvolle Mund sich, entsetzt nach Luft ringend, öffnete. Nun sprach ohne jeden Zweifel die Ausländerin aus ihr. Slawische Töne klangen in ihrem gestammelten Deutsch:

„Du . . . du . . . um Maria willen . . . du hast ja auf einmal . . . . . . . . . braune . . . Augen . . .“

Er schob sich mit einer raschen Bewegung an ihr vorbei. Er stellte sich vor die Wagentür, mit dem Rücken gegen die Scheibe, das. Innere beschattend, den Ausgang sperrend. Er hielt, ohne sich um den lärmenden Jahrmarkt draussen vor dem Fenster zu kümmern, kaltblütig ihren verglasten Blick aus. Er musste, um nicht mit dem Kopf an die niedere Decke zu stossen, breitbeinig mit vorgebeugtem Oberkörper stehen. Das gab seiner Haltung etwas Drohendes. Sie riss, mit einem heftigen Handgriff, auch den jenseitigen Vorhang zurück. Herbstliches Frühlicht erhellte die unbewegten bartlosen Züge ihr gegenüber. Sie begann am ganzen Körper zu zittern.

„Du hast ja braune Augen . . .“ flüsterte sie atemlos „. . . und keine grauen . . .“

Er schwieg.

„. . .Und . . . und . . . wenn man jetzt hinsieht . . . Es ist etwas anderes . . . in deinem Gesicht!“

Das Antlitz drüben war ehern. Sie schrie auf. Sie streckte die gespreizten Hände gegen ihn aus:

„Ja . . . dann sind Sie es ja gar nicht!“

„Nein!“

Es war das erste Wort, das er sprach. Sie war in die Ecke des Wagens gesunken, möglichst weit weg von ihm und drückte sich mit angezogenen Knien in den Polsterwinkel hinein, als könnte sie ihm so entgehen. Dabei vermochte sie doch den dunklen slawischen Kopf — die totenbleichen Züge einer schwarzen Madonna — und die verstörten dunklen Augen nicht von ihm zu wenden. Sie schluckte ihre Angst vergeblich hinunter und murmelte:

„Grosser Gott. . . hat er denn einen Doppelgänger?“

„Ja, mich.“

„Dann müssen Sie . . . sein . . . Zwillingsbruder sein . . .“

„Sein ein Jahr älterer Bruder! . . . Trotzdem hat er schon hundertmal für mich gegolten. — Mein anderes Ich körperlich . . . und mein Gegenteil geistig. Ich bin wieder einmal auf meinen bösen Geist gestossen.“

Sie konnte nicht mehr sprechen. Ein fahler Schein, wie von einer nahenden Ohnmacht, verbreitete sich über ihre schönen regelmässigen Züge. Er sah, wie sie mit aller Zähigkeit ihrer Slawenrasse danach rang, Herrin ihrer selbst im Kampf auf Tod und Leben mit ihm zu bleiben. Er sagte:

„Ich habe lange nichts von meinem Bruder gehört, weil ich überhaupt nicht viel von der Welt hören konnte. Ich bin froh, wenn ich nichts von dem Menschen höre, der in meiner Gestalt als mein Gegenteil auf der Welt herumläuft — oder vielmehr in einem Dutzend von Gestalten, die er wechselt wie das Hemd! Aber jetzt habe ich ihn in seiner verbrecherischsten Gestalt erkannt. Gott sei Dank — noch rechtzeitig!“

Er blickte, in seinem langen weissen Kittel dastehend, auf die Frau in dunklem Hut, Mantel und Schleier vor ihm herunter und fuhr fort, ohne dass seine Miene sich änderte:

„Sie wissen, nach Ihrem Gewerbe als französische Spionin, genau, dass auf Hochverrat Todesstrafe steht!“

Ihr Schwächeanfall war überwunden. Sie sass aufrecht, die Hände im Schoss zusammengeballt. Sie biss kampflustig die Zähne aufeinander und presste die Lippen zusammen. Sie duckte sich unwillkürlich in den Schultern, mit einer Bewegung, ähnlich einer in die Enge getriebenen, zum Äussersten gereizten Katze. Ihre Wangen waren gelblich blutleer. Ihre Lippen wurden nicht blass. Er sah jetzt, dass sie rotgeschminkt waren und ebenso die dichten schwarzen Brauen mit Kohle nachgezogen, und, mit einem schwarzen Stift, die Lider der Augen unterstrichen, die sie, sich zu drohender Kampfbereitschaft zwingend, zu ihm aufschlug.

„Niemand hat gehört, was ich sagte! Ich leugne es!“

„Mir glaubt man!“

„Wer sind Sie denn?“

„Sie sind gerade an den Richtigen gekommen! Ich weiss nicht, was das für eine Fastnacht da draussen ist! Aber wenn auch alle diese Hanswürste zu Ihnen gehören und Ihnen helfen — ich halte Sie fest, bis die Landespolizei kommt! Ich werde verhaftet — denn ich bin vorhin aus dem Gefängnis entsprungen. Aber Sie mit! Verlassen Sie sich darauf. Wir kommen beide ins Gefängnis — nur Sie für immer!“

Sie war totenbleich geworden und erwiderte nichts. Sie warf einen Blick auf seine schwarzgestreiften, braunen Sträflingshosen — den blossen Kopf — den Hals ohne Kragen. Dann schaute sie ihm finster, prüfend ins Gesicht. Er fühlte die Gedankenarbeit hinter ihrer leise gefurchten Stirn. Sie zuckte, in einer plötzlichen Herausforderung, die Achseln:

„Glauben Sie ja nicht, dass mit mir hier die Sache erledigt ist! Die anderen kriegen Sie nicht. Die arbeiten weiter. Ihr Bruder vor allem! Er wird mich rächen! Denn er steht mir nahe. Er geht jetzt gerade nach München! Er ist wahrscheinlich sogar schon dort! Deswegen war ich so erstaunt, wie ich ihn hier zu sehen glaubte. Und Sie können niemanden in München warnen! Denn Sie sitzen ja selber im Gefängnis!“

„Deswegen kann ich doch die Namen derer nennen, die gewarnt werden sollen!“

„Ich glaube nicht, dass Sie alle Namen und geheimen Verbände aufdecken können, ohne eurer Sache furchtbar zu schaden! Es sind sicher viele darunter, die die Entente als Kriegsschuldige sucht und deren Auslieferung sie sofort verlangen wird, wenn ihr Aufenthaltsort bekannt ist!“

Er antwortete nicht gleich. Er wusste: Das war nur zu wahr . . . Er überlegte finster . . . das Haupt unter der niederen Decke gesenkt. Im Wagen war Schweigen . . .

Draussen brülte ein Nebelhorn wie auf hoher See. Dann überschnappte sich, als es ausgeheult hatte, eine gellende Fistelstimme: „Die Kindesmörderin! . . . Wo steckt denn zum Donnerwetter die Kindesmörderin?“ Viele Rufe wiederholten — es klang wie Fanfaren bis in die Ferne: die Kindesmörderin . . . die Kindesmörderin . . . wieder trompetete eine übermenschlich laute Stimme, scheinbar hoch von oben, aus der Luft: „Ruhe jetzt! . . . Für die Hinrichtung!“ Schrille Signalpfeifen antworteten trillernd von vier, fünf Seiten.

„Hören Sie: Da ist schon die Rede von der Hinrichtung“, sagte der innen im Wagen zu der jungen Frau. Sie mass ihn schweigend, mit einem Blick unergründlichen Hasses. Sie hatte jetzt ihre volle Selbstbeherrschung wieder. Sie langte in ihr Täschchen. Er war bereit, mit einem Ruck die Finger um ihr Handgelenk zu werfen, sobald da ein Revolver zum Vorschein kommen sollte. Aber sie holte sich nur eine kleine, silberne Dose heraus, entnahm ihr eine Zigarette und schlug den Schleier zurück, um sie sich mit bebender Hand schief im Mundwinkel anzuzünden. Der rote Schein des Streichholzes rötete eine Sekunde ihr schönes, längliches, regelmässiges Gesicht. Es war nicht mehr ganz jung — gegen Ende der Zwanzig, mit einer langen geraden Nase, einem willenskräftig gerundeten Kinn — langen, dunklen Wimpern über den dunklen Klosteraugen. Tiefschwarz, glänzend, waren auch die paar sichtbaren Haarsträhnchen über den Ohren. Störend wirkten in dem, ihm halb abgewandten, klassisch strengen Profil nur die grelle Lippen- und Augenbrauenfärbung und die kleinen Karmintupfen innen in der Nase, als hätte sie Nasenbluten gehabt. Auf den Wangen hatte sie kein Rot aufgelegt. Auch das Blut war aus ihnen noch immer gewichen. Sie bemühte sich, möglichst ruhig zu scheinen. Aber das Streichholz flackerte in ihrer Hand, und ihre Finger zitterten, als sie es in den Aschbecher warf.

„Ihr Bruder arbeitet jetzt wahrscheinlich schon in München“, sagte sie gezwungen gleichgültig, mit schwankender Stimme, ohne ihn anzusehen. „Es kann da sehr schnell gehen, wie ich ihn kenne! Er ist ja so geschickt! Vielleicht. lockt er morgen um die Zeit schon Ihre Freunde hinüber in die Pfalz und liefert sie dort dem Colonel ans Messer! Es ist ein weit angelegter französischer Plan, um die Münchener Störenfriede in der Pfalz zu verderben.“

„Wenn die ganze Geschichte überhaupt wahr ist.“

Sie musste beinahe lachen. Sie zuckte bitter die Achseln:

„Glauben Sie, dass ich mich zum Vergnügen Ihnen gegenüber verraten habe?“

Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag und schaute herein, ob die Insassen noch nicht ausstiegen. Draussen leuchtete hinter ihm ein menschenbewegtes, buntscheckiges, stimmensummendes Fastnachtsgewimmel auf. Sie gab dem Mann einen ungeduldigen Wink. Er zuckte zurück. Die Tür schloss sich leise wieder.

Die Frau in der Ecke fröstelte in einem jähen Angstanfall in sich zusammen. Sie zog schauernd die Schultern hoch. Sie nagte mit den weissen Zähnen an der blutleeren Unterlippe und klappte, unter dem dunklen Mantelsaum, mechanisch die Fussspitzen hin und her. Sie schimmerten weiss. Er sah mit Erstaunen, dass sie Sandalen an den blossen Füssen trug.

Er stand uribequem, gebückt, mit gekreuzten Armen und gefurchter Stirn. Er grübelte düster, mit verbissener Anstrengung. Er kämpfte mit sich. Sie versetzte leise, erschöpft:

„Wir müssen zu einem Schluss kommen! Ich bin hier nötig! Ich werde gleich geholt!“

„Gut“, sagte er ruhig und kalt. „Es fragt sich — wieviel Sie wert sind — und wieviel ich wert bin! . . . Ich meine: Ob Ihre Freiheit mehr schadet . . . oder meine mehr nutzt! . . . An sich gehörten Sie natürlich mit einem Mühlstein um den Hals in das nächste Wasser! Es ist ein Jammer, dass man das nicht gleich auf der Stelle machen kann . . .“

Sie lachte leise und spöttisch. Ihr Gesicht belebte sich. Es sah gefährlich aus. Er fuhr fort:

„Aber wenn ich denke: Die Prachtkerle in München alle verraten und verkauft — von den Franzosen nach Cayenne verschleppt oder in ein lebenslängliches Zuchthaus! . . . Und dagegen die traurige Genugtuung, dass man ein Geschöpf wie Sie glücklich erwischt hat — nein: Sie wiegen, wie Sie da sitzen, nicht einen einzigen ehrlichen Deutschen auf, der an euch Lumpengesindel zugrunde geht!“

Wieder öffnete sich die Wagentüre. Eine dicke, ältliche Kammerfrau stand draussen, über dem einen Arm einen kostbaren langen Blaufuchspelz, in der anderen Hand ein blechernes Kantinen-Tablett mit Frühstücksgeschirr. Er hörte, wie die Alte etwas wie „Prosim!, Káva, pani!“ murmelte. Aus dem Mund ihrer Herrin kam ein unwirsches „Dekuji!“ Sie markierte mit dem blossen, sandalenumschlossenen Bein einen nachlässigen Fusstritt durch die Luft, ohne dass sich der Ausdruck ihrer schönen Züge änderte. Die Alte schloss phlegmatisch die Türe.

„Was war denn das für eine Sprache?“ frug er.

„Tschechisch!“

Ihre Muttersprache?“

„Ja. Ich bin aus Prag.“

„Und dabei in französischem Dienst?“

Sie schwieg und gähnte nervös.

„Bloss wegen so ein paar tausend erbärmlichen Franken?“

Ein beinahe mitleidiger Blick als einzige Antwort.

„Aber weswegen sonst?“

Sie lachte kurz und verächtlich und schaute auf ihrer Seite zum Fenster hinaus, wo man nichts sah als einen vom Herbstwind gekräuselten, schilfumränderten See und jenseits kahlen Wald.

„Aus Hass gegen die Deutschen!“, sagte sie.

„Was haben wir Ihnen denn getan?“

„Ich bin so erzogen. Mein ganzes Leben war so. Meine ganze Familie ist so!“

„Dabei sprechen Sie doch fliessend Deutsch!“

„Ich bin zum Teil in Deutsch-Österreich auf der Schule gewesen und aufgewachsen. Ich besitze die ganze deutsche Bildung“

„Und trotzdem . . .“

„Das kommt bei uns oft vor!“

Sie rauchte und blickte ihn fest an. In ihren Augen war ein kalter, fanatischer Hass. In seinen Augen, als Erwiderung, derselbe Hass gegen die Feinde Deutschlands. Er setzte sich, mit einem raschen Entschluss, dicht neben sie und sagte knapp und bestimmt:

„Also passen Sie auf! Ich bin mit mir im reinen! Ich darf nicht anders: Ich muss den Schicksalswink benutzen . . . nicht wegen mir, sondern wegen der Leute in München. Es ist meine Pflicht, die Kameraden in München zu retten — und dafür Sie in Gottes Namen laufen zu lassen — aber merken Sie wohl — unter der Voraussetzung, dass Sie Deutschland auf der Stelle verlassen und sich nie wieder bei uns sehen lassen!“

Sie atmete tief auf und legte die Zigarette weg. „Gut!“ sagte sie.

„Und wer steht mir dafür, dass Sie es tun?“

„Ich schwöre es Ihnen!“

„Gott . . . Ihr Schwur . . .“

„Ich schwöre es Ihnen bei allem, was hoch und heilig ist!“

„Was ist Ihnen denn heilig?“

„Ich schwöre es Ihnen beim Grab meiner Mutter! Kann man beim Grab seiner Mutter lügen? Morgen bin ich weg für immer! Ich hab’ genug von heute! . . . Sie haben meinen wahrhaftigen Eid!“

Sie hatte halblaut, in unterdrückter Erregung, gesprochen. Sie hob feierlich die Hand. Ihr Antlitz leuchtete in einer fremdartigen und frommen dunklen Schönheit. Eine wilde Leidenschaftlichkeit wehte darüber hin und schwand. Die beiden Todfeinde sassen nebeneinander. Sie war plötzlich wieder, in jähem Wechsel der Stinimung, ganz beruhigt und zündete sich mit spitzen Fingern eine neue Zigarette an. Er begann:

„Vor allem muss ich so schnell wie möglich hier weiter! In Ihrem eigenen Interesse! Denn wenn die Polizei mich hier abfängt, habe ich gar keine Veranlassung, Sie zu schonen, und Sie sind mitgefangen und mitgehangen — in des Wortes verwegenster Bedeutung! . . . Also besorgen Sie mir sofort einen Zivilanzug mit allem Zubehör und leihen Sie mir Ihr Auto samt Chauffeur bis München!“

Sie bejahte ergeben, mit einem leichten Seufzer. Sie beugte sich im Sitzen fügsam etwas vor, drückte auf den Gummiball und begann, als der Chauffeur draussen daraufhin den Kopf wendete, durch das Sprachrohr mit ihm eine Unterhaltung in einer Mundart, die dem drinnen wieder das Böhmisch von vorhin schien. Die beiden stritten sich eine Weile miteinander, mehr wie Herr und Dame als wie ein Chauffeur und seine Gebieterin. Dann nickte sie: „Dobry!“ und sagte zu dem Gegner neben ihr: „Der Mann hat recht! Er meint, es ist das beste, er fährt in die Stadt zurück und holt seinen eigenen Sonntagsanzug und seine Sachen. Er hat ungefähr Ihre Gestalt. In einer halben Stunde ist er wieder da! Nun steigen Sie schnell aus!“

„Halt“ Sie drückte ihm noch rasch etwas in die Hand. Es war eine blaue Brille. „Setzen Sie das auf . . . Es ist meine eigene . . . Dann merkt man Ihre Augenfarbe nicht.“

„Das fällt doch gerade auf . . .“

„Beim Film?“ Da hat doch jeder mal etwas an den Augen!“

Nun begriff er erst, worüber er sich bisher keine Rechenschaft gegeben, dass dies hundertköpfige, buntscheckige Menschengewimmel vor ihm eine Filmaufnahme im Freien war. Auf grüner Wiese irrten und wirrten farbige Haufen, durch die ordnend, Gruppen formend, Stichworte ansagend, die Hilfsregisseure schossen, ein paar in fliegendem weissen Ateliermantel wie er, und mit blossem Kopf. Rufe aus langen, tütenartig gedrehten Sprachrohren überschrien, zwitschernde Signalpfiffe übertrillerten das sich langsam ordnende Gestrudel. Hammerschläge hallten aus dem Hintergrund. Hemdärmelige Arbeiter klopften da eilends die Latten- und Pappgestelle einer hochgiebligen mittelalterlichen Strassenreihe zurecht, die in den Stössen des Sturmes zitterte und schwankte. Der Himmel war herbstlich blassgrau und kühl. Zerrissene, weisse Wolkenballen jagten an ihm hin. Unten flatterten an drei, vier Stellen — auf dem Boden, in den Zweigen eines Apfelbaumes, auf einer hölzernen Plattform, die schwarzen Sargtücher der Photographenkästen, die weissen Kittel der Operateure. Ungeduldige Gesichter lugten nach der Windrichtung und dem Wolkenflug. Man wartete auf die Sonne. Es war noch Gewölk davor. Aber dort in der Ferne lag schon hoffnungsheller, goldener Schein über Stoppeläckern und braungepflügtem Land.

Es schien sich um ein mittelalterliches Volksfest zu handeln. Oder um eine Hinrichtung — was also ungefähr dasselbe war. Aus dem Gewimmel von Rittern, Edelfrauen, Ratsherren, Bürgermädchen, Handwerksgesellen, fahrenden Leuten, Landsknechten ragte in der Mitte des Platzes ein hohes, schwarzausgeschlagenes Schafott. Der Henker, von Kopf zu Fuss blutrot gewandet, stand unten an der Treppe, an die er sein blankes Richtschwert gelehnt hatte, und las, den Zwicker vor den Augen, stirnrunzelnd den Kurszettel. Auf dem freien Platz, zwanzig Schritte von ihm, harrte zwischen Schergen ein bleicher, apolloschöner Jüngling in Knappentracht und zündete sich gewandt, mit den gefesselten hohlen Händen vor den edlen Zügen, gegen den Wind eine Zigarette an.

Es pfiff kalt durch die Luft. Auf der Leiter, die, dem Schafott gegenüber, zu einem türmchenartigen Hochgerüst führte, witschte ein kleiner dicker Herr flink wie ein Wiesel die steilen Sprossen empor und donnerte oben, mit windflatternden Mantelschössen, in sonderbarem Deutsch durch ein Pappsprachrohr, das beinahe so gross war wie er selber: „Mjusik! Mjusik! . . . Tanzen! . . . Die Leute werden mir ja steif!“

Die Kapelle seitlings setzte mit einem Tangotakt ein. Edelleute, Mägdlein, Häscher und Volk schritten und schoben und liessen sich schieben und traten rückwärts und vorwärts, in hundert Farbenflecken, wie eine rhythmisch zuckende Malerpalette.

Der Mann, der aus der Limousine gestiegen war, nahm das Operettenbild einen Augenblick halb geistesabwesend in sich auf. Dann hörte er hinter sich das Surren des abfahrenden Autos. Er drehte sich jäh auf dem Absatz um. Ein Schrecken: Er sah seine Feindin nicht! Nur ihre Kammerfrau, die ihren dunklen Hut und Mantel wegtrug.

Doch: Da stand eine grosse, schöne, dunkeläugige, bleiche Nonne im langfliessenden schwarzen Klostergewand, unter dem nur die Füsse in den Sandalen weiss schimmerten. Ein blosser, schlichter Madonnenscheitel teilte ihr glattgestrichenes, glänzendes schwarzes Haar. Sie setzte mit Hilfe der wiederkehrenden Dienerin die grosse weisse Flügelhaube auf. Sie wirkte, in deren Beschattung über dem länglichen Antlitz, jetzt merkwürdig blutleer, wie ein schöner Schemen.

„Schauen Sie nur nicht selber auf Ihre Gefängnishosen“, sagte sie, während sich die Alte trollte. Dann tun’s die anderen auch nicht, sondern denken, das muss so sein! Hier läuft ja jeder anders herum!“

Das merkte er auch: Es war kaum möglich, hier aufzufallen, wo sich die Jahrhunderte und Stände auf einem Maskenball des Lebens mischten. Er hielt noch die blaue Brille in der Hand. „Benedikter! Ich muss dich nachher sprechen!“ rief ihm im Vorbeieilen ein junger, wie aus dem Modejournal von gestern entsprungener junger Mann zu, der ein Bündel Depeschen in der Hand trug, und winkte ihm kameradschaftlich mit der Rechten. Und er besann sich, dass er hier der Herr Benedikter sei . . . Aber wer war dieser Benedikter? Was tat er hier?

Die leidende, schmerzbewegte Nonne neben ihm rauchte, Zigarette und Rosenkranz in der Hand, dass feiner, blauer Dunst die weissen Haubenflügel umwob. „Was sind das für Leute hier?“ frug er sie finster. „Sind die mit Ihnen im Einverständnis? Wissen die, wer Sie eigentlich sind?“

„Halten Sie mich für so dumm?“ frug sie gleichmütig und blies den Rauch von sich.

„Also haben die auch keine Ahnung? Gott sei Dank! Wenn ich mir denke, dass Deutsche . . .“

Sie warf einen Blick nach der Zufahrtstrasse zurück. Das Auto raste dort in der Ferne, im Sturm dahin, in der Richtung nach der Stadt.

„Eine unangenehme halbe Stunde! . . . Zwischen Tod und Leben! . . . Für Sie und für mich!“ sagte sie in ihrem leicht fremdartig gefärbten Deutsch. „Da vorn spielen sie mit Kerker und Schafott — und in Wirklichkeit spielen wir damit! Wie meinen Sie: dass Deutsche . . .? Deutsche sind hier nur die Statisten — und auch die nur zum Teil. Denn es sind auch eine Masse Russen darunter. Im übrigen sind hier alle Darsteller und alles, was sonst herumläuft, Ausländer! Es ist nicht ein einziger Deutscher dabei! Der Film wird für ausländische Rechnung in Deutschland gedreht!“

„Warum gerade in Deutschland?“

„. . .weil die Ausländer in Deutschland ja alles beinahe umsonst haben!“ sagte sie mit einem stillen, geringschätzigen Lächeln. Es schien ihm, dass das Deutschland galt. Er frug:

„Und nun vor allem . . . Sie haben mich mitgebracht . . . Wir kennen uns also vor diesen Leuten . . . Was bin ich eigentlich hier? Wie stehe ich zu Ihnen . . .?“

Sie sah ihn schweigend an — mit einem rätselhaften, gar nicht nonnenhaften Zucken um ihre Mundwinkel — einem nichts weniger als klösterlichen Spiel der Augen. Sie war, in diesem Augenblick, unter der Haube der Ordensfrau, ganz Weib — ein schönes Weib — Eine verständnisinnig und verführerisch lächelnde Eva . . .

„Das ist für mich nicht so leicht zu sagen. Sonst hätte ich es schon getan!“ Sie schnippte aufmerksam die Asche von ihrer Zigarette. „Es gibt Dinge — die muss man erraten . . . Aber gut denn . . . In Gottes Namen also: Sie sind — was übrigens jeder Mensch hier weiss . . .“ Jäh brach sie in der deutschen Sprache ab und streckte liebenswürdig lächelnd die Hand aus: „Good morning, Mr. Orenstiel! . . . How do you do?“

Der kleine bewegliche Gentleman, der vorhin auf dem Gerüst aus dem Megaphon trompetet hatte, beugte sich ritterlich über ihre Hand und drückte dann flüchtig die ihres Begleiters: „Well. Mr. Benedikter! So glad, to meet you . . .“ und halblaut, zornig, vor ihren Ohren, in leidlichem Deutsch zu ihm weiter: „Uarum sorgen Sie denn nicht dafür, dass das Frauenzimmer nicht ewig unpünktlich ist? Uas glauben Sie, uas uns so ein Vormittag kostet?“

„Is she not yet arrived?“ schrie eine ungeduldige Männerstimme aus der Ferne. Ted Orenstiel antwortete, die Hände am Mund, wieder sonnig schmunzelnd: „She is here!“ Und sie selber meldete klangvoll und laut: „Here I am!“

Es war jetzt ein Gedränge um die Diva. Ein langer, italienischer Regisseur schoss heran, faltete lächelnd die Hände vor der Brust, legte liebenswürdig den Kopf seitlings und bat schmelzend um Eile. „Favorisca di sbrigatervi, Signora!“ Sie zeigte, durch eine Handbewegung nach ihrem Klosterhabit, dass sie schon fertig aus der Stadt gekommen, und antwortete: „Jo ho finito!“

Ein Photograph, ein Russe, zwängte sich an dem Welschen vorbei. Er wollte sich überzeugen, ob man beim Weichen der Wolken gleich anfangen könne. „Prschaluite! Belibben Sie, bereit zu stehen! Sonne chält sich nicht lang am Chimmel!“ Der kleine Mr. Orenstiel herrschte ihn an: „Uas reden Sie da Deutsch? Sie uissen doch, dass die Frau Gräfin kein Uort Deutsch versteht.“

Sie hatte zu der deutschen Anrede ein völlig leeres und verständnisloses Gesicht gemacht. Sie gähnte unbefangen und gab sich kaum die Mühe, zwei Fingerspitzen vor den grossen, edelgeschnittenen Mund zu halten.

„Ah — cela ne presse pas encore!“ sagte sie gelangweilt zu ihrem Feind neben ihr. „Venez par ici, mon ami!“

Sie ging, fortwährend vertraulich auf Französisch auf ihn einredend, mit ihm nach der Mitte des Platzes, in das Volksgedränge hinter dem Schafott. Er merkte, dass sie ihn aus der Nähe des Filmstabes unauffällig wegbugsieren wollte. Man versuchte, sie zurückzuhalten. Rufe, Bitten wurden hinter ihr laut. Sie spreizte, ungeduldig abwehrend, die Finger:

„Il me faut m’aboucher maintenant avec Monsieur Benedikter!“ — und dies tête-à-tête schien auch niemandem aufzufallen. Er sah, als er sich, unwillkürlich nach dem Auto spähend, umwandte, nur ein eigentümliches, stilles Lächeln auf den Gesichtern . . .

Sie waren, auf dem Marktplatz vor den Papphäusern, mitten in ein Stück Russland geraten. Um sie waren nur russische Gesichter, russische Laute — Komparsen — Flüchtlinge — Männer und Frauen, denen man ansah, dass sie zu Tschin und Adel des gestürzten Zarenreichs gehört hatten . . . Die gräfliche Nonne ging durch das Spalier, das sich ehrerbietig vor ihr öffnete, und schob, was im Wege stand, nicht eben sanft beiseite. Sie hatte jetzt, seitdem sie aus dem Auto auf den Filmboden getreten, eine gleich-gültig-gelöfte; lässige Haltung, mit eigentümlichen, verächtlichen, slawischen Schulterbewegungen. Etwas gespielt Müdes und Schleichendes. Sie glich jetzt einer grossen, weichen, trägen, schönen Katze auf leisen Sohlen.

„Warum machen Sie eigentlich hier mit —“ frug er gedämpft und finster, „wo Sie doch eigentlich ein ganz anderes Gewerbe bei uns betreiben?“

Sie legte, seufzend, ob das Auto noch nicht wiederkäme, unwillkürlich die Hand auf das grobe dunkle Tuch über der Herzgegend. Sie antwortete zerstreut:

„Das könnten Sie sich doch selber sagen, dass man auf diese Weise keinen Verdacht erweckt — in Deutschland reisen kann und im Auto fahren und mit Menschen zusammenkommen und sich verkleiden, wie man will!“

„Aber können Sie denn spielen?“

Ich war Schauspielerin!“

Plötzlich wurde es um sie goldenhell. Die Sonne erschien am Himmel. Die hundert bunten Farbenflecke auf der Wiese leuchteten auf. Ein brausendes Ah! ging durch die Menge. Die Photographen und ihre Gehilfen stürzten an ihre Kurbelständer wie die Kanoniere an das Geschütz. Der Henker steckte den Kurszettel ein und ergriff sein Blutschwert, der arme Sünder warf die Zigarette weg. Die Signalpfeifen schrillten. Ein Regisseur ruderte mit beiden Ellenbogen durch die Russenwelt und winkte, aufgeregt der Heldin. Die Nonne raffte ihre Kutte bis an die Knie und rannte, was sie konnte, mit weissschimmernden Waden nach vorn. Sie sah auch als laufende Frau von hinten graziös aus. Ihr Feind gestand es sich ein, während er ihr finster nachschaute. Neben ihm sagte ein junger galizischer Gigerlkönig auf wienerisch zu einem Russen in Zivil: „Die Urschel kann ’was! Die . . . wenn die net so faul wär’! . . . Aber die nimmt im Jahr kaum eine Rolle . . .“

„Und sonst?“

„Nü — ’ne Gräfin!“ Ein leidendes Achselzucken. Dann gestikulierte der Jüngling noch einmal mit allen zehn Fingern auf die Komparserie ein. An allen Ecken des Platzes gaben die Hilfskräfte die letzte Belehrung: „Wenn der Henker zum Schlag ausholt . . . Stichwort: Entsetzen! . . . A jedem von euch graust’s!“ Der Slawe neben ihm übersetzte es eilig seinen Landsleuten auf Russisch . . . „Da springt die Nonne aus dem Kloster . . . Ausgerechnet ’ne Nonne . . . Nü — wie wird einem da? Staunen! . . . Kümmt se wirklich? Ja! . . . Sie kümmt. Sie wirft sich auf die Knie! Sie schreit: Frai-i-heit für meinen Fra-ind! . . . A nettes Klostermadel — net? Auf ‚Fra-i-heit’ hebt’s alle die Arme hoch und schreit’s: ‚Fra-i-heit!’ und drängt’s gegen die Hellebarden! . . . Stellt’s den fünften Ratsherrn da hinten aussi — schafft’s mir den Fadian weg, der eben wieder gähnt und zur Seite spuckt. Lassen’s sich an der Kasse auszahlen, Sie Schlemihl! Sie verschimpfieren uns net die Aufnahme.“

„Serr eine schöne Person!“ sagte der Russe, nachdem er das Schlagwort ‚Freiheit’ übersetzt, und betrachtete die Nonne, in deren starres Gesicht vorn auf dem Platz der lange Italiener eindringlich in seiner Muttersprache einredete: „Frau Gräfin: Sie sind viel zu zerstreut! . . . Was haben Sie denn nur? . . . Warum schauen Sie denn immer auf die Strasse hinaus? Da ist doch nichts zu sehen! Um Gottes willen: Nehmen Sie sich zusammen! Der Vormittag heute kostet der Gesellschaft ein Vermögen!“

Nein. — Es war noch kein Auto auf der Landstrasse zu sehen! Kein Auto aus der fernen Stadt! Der Mann, der noch vor ein paar Stunden dort in der Stadt in der Zelle gesessen, spähte umsonst, die Brille lüftend, die kahlen, windgepeitschten Baumreihen der Chaussee entlang. Da waren nur ein paar Bauernfuhrwerke — sonst nichts.

„Sieht aus wie Cheilige — aber Augen sind nix cheilig! . . . Geggenteill“

Der Dandy aus Przemysl gab dem Russen einen warnenden Rippenstoss. „Darf ich Sie mit Herrn Benedikter bekannt machen?“ versetzte er harmlos, aber mit hochgezogenen Augenbrauen. „Mies schauen’s heute aus, Herr Benedikter! Irgend ’was gefällt mir net an Ihne! I weiss nur net, was!“

Der vor ihm hatte, als die Sonne erschienen, die blaue Brille aufgesetzt. Er war nicht der einzige auf dem Platz. Der Russe frug:

„Und was machen Sie chier, Cherr Benedikter?“

„Nützlich macht er sich halt.“ sagte der Jüngling aus Galizien unschuldig und klopfte dem anderen frech und vertraulich auf die Schulter. „Spült auch Passagen, wann’s sein muss! Da schauen’s die schwarzen Streifen an den Hosen! Man könnť meinen, er kommt schlankweg aus’m Zuchthaus! Dös gibt einen von die venezianischen Galeerensklaven nachher! . . . Sie — so an rechtes, ausgeartetes Früchtel machen — dös kann der Benedikter! Mehr net!“

„Also. Sie sind Schauspiller?“

„Je nachdem die hohe Herrin befiehlt!“ berichtete der Galizier. „. . . Die Frau Gräfin kann doch kein Wort Deutsch . . . Pscht: Respekt: Herr Benedikter ist ihr Dolmetsch! Ihr Privatsekretär! Ihr Reisekurier . . . Ihr . . .“

„Mächen für alles!“ kicherte hinten kaum hörbar eine weibliche Stimme. Der, den es anging, vernahm es doch.

„Wenn Sie was bei die Frau Gräfin und ihre Kaprizzen durchsetzen wollen, müssen’s sich hinter den Herrn Benedikter hier stecken! Der hat bei der Gnädigen einen grossen Stein im Brett!“

Der Russe winkte bedeutsam und schwieg. Er hatte einen grossen blonden Vollbart. Es liess sich ein Lächeln darunter ahnen . . . Auf den Gesichtern der Photographen dicht dahinter war der belustigte Ausdruck deutlicher. Es zuckte auf den geschminkten Lippen der Bürgermädchen gegenüber . . . überall war eine stille, achtungsvolle Heiterkeit . . .

Und der Mann in ihrer Mitte sagte sich: Also ich bin hier der offizielle Geliebte dieses Frauenzimmers . . . Und darf mich gegen diese Ehre nicht ’mal wehren . . . Natürlich . . . Wie hatte sie vorhin selber im Wagen gesagt: ‚Ihr Bruder wird mich rächen! Denn er steht mir nahe! Er geht jetzt nach München’ . . .“

Nach München . . . die Zeit rinnt . . . Der Verrat wühlt . . . Nach München . . . nach München . . . Wo bleibt das Auto?. . . Nein, es kann ja noch gar nicht zurück sein . . .

Er krampfte die Fäuste in den Taschen des Mantels vor Ungeduld. Sein Gesicht war kalt beherrscht wie immer. Viele Pfeifen trillerten. Neben ihm warf der schwarzhaarige Jüngling die Arme in die Luft und schrie wie besessen mit grässlicher Stimme: „Entsetzen!“ Andere Rufe hallten „Entsetzen!“ Dumpf dröhnten die Paukenschläge der Kapelle, gequält kreischten die Hörner, unheilverkündend rasselten die Trommeln und peitschten die Nerven auf und zauberten Schrecken rings auf die rot, weiss und violett gefärbten Züge.

„Freiheit!“ donnerte hoch oben von dem Turmgerüst durch das Sprachrohr der lange Italiener in fremdartigem Deutsch das mühsam eingeprägte Wort. „Freiheit!“ brauste es unten durch die Masse des mittelalterlichen Volkes. „Freiheit!“ schrien die Russen. „Freiheit!“ schrien die deutschen Männer, die deutschen Frauen, die deutschen Mädchen und strudelten mit verzückten Gesichtern gegen den Lanzenwald der Büttel.

Der Flüchtling stand abseits von dem Gedränge, ausserhalb der Aufnahme. Ein Operateur hatte ihn gerade noch am Mantelzipfel gepackt und zurückgerissen und geschimpft: „Das sollte einem alten Filmhasen wie Ihnen doch nicht passieren, dass Sie einem die Platte verderben!“ Er trug die blaue Brille vor den Augen. Die Welt dunkelte vor ihm wie ein lärmender, sturmbewegter Meeresgrund in einem düsteren und doch erhellten Blauschwarz, so als sähe man wie eine Kafe durch die Nacht. „Freiheit! . . . Freiheit!“ . . . Er dachte sich: Freiheit — missbraucht man wieder einmal in Deutschland deinen heiligen Namen . . . . „Freiheit!“ schrie es immer lauter auf das Winken der Regisseure in das wilde Gekurbel der Photographen. Da vorn wurde offenbar immer noch weiter gespielt. Freiheit . . . Was zetert ihr bezahlten Leute hier vor den geschäftstüchtigen Ausländern von Freiheit? . . . In München . . . da ist deutsche Freiheit in Gefahr. Freiheit der Freunde . . . Freiheit der Besten . . . . . .

Er riss die Brille ab. Sein Blick suchte, von der kleinen Erhöhung, wo er stand, über hundert Köpfe weg die Landstrasse. Noch alles leer . . .

Aber da vorn, nahe vor ihm — da war das grosse Bild: Der Höhepunkt des Tages: Auf schwarzem Ross hielt da irgendein schwarzbärtiger Bösewicht mit seinem Gefolge, und vor ihm auf dem Pflaster kniete, um das Leben des armen Sünders bettelnd und barmend, die schöne Nonne. Dem Kloster entwichen — vor allen Menschen sich ächtend — das Jenseits sich verscherzend — aus Liebe! Sie streckte im Knien die beiden Arme weit rechts und links, als hinge sie, eine Märtyrerin der Liebe, am Kreuz. Ihr Mund war weit offen. Riesig dunkelten die verzweifelt aufgerissenen Augen. Sie spielte — spielte in atemloser Leidenschaft — keuchend — hingerissen von der Szene — sie umfing den Steigbügel — sie küsste flehend den Rocksaum — sie krampfte wildlachend die Finger um den Puffärmel des Tyrannen — heisere; abgebrochene slawische Laute stöhnten heiss aus ihrer Kehle in die tiefe Stille, in der nur noch die Kurbeln der Apparate eilig summten. Vorgebeugt — mit angehaltenem Atem und gespannten Gesichtern — sie nicht aus den Augen lassend — standen seitlings in einer Reihe die Direktoren und Regisseure.

Sie schrie laut auf. Sie schnellte empor. Sie riss den Geretteten an sich ihren Raub — wie eine Tigerin der Liebe. Ein wilder Triumph verklärte, in einem trotzigen Augenaufchlag der Sünderin zum Himmel, ihr Gesicht. Sie war hinreissend schön in diesem Augenblick. Der drüben sah jetzt erst, welcher Leidenschaft diese Frau fähig war, — was dieser geschmeidige Körper in der Ekstase an Bewegungen hergab. Eine barbarische Urkraft wurde da wach — irgendein Erbteil ihrer Nasse . . . Und mehr noch erwachte . . . schien es ihm . . . obwohl er ja nichts vom Film verstand. Aber es ging ihm doch durch den Kopf: Kann man das spielen, ohne dass man etwas von dieser Verzweiflung — dieser Not innerlich erlebt? . . . Kann man diesen Wahnsinn der Liebe verkörpern, wenn man nicht selber bis zum Wahnsinn liebt . . .?

Und wenn diese Frau liebt — dann liebt sie meinen Bruder . . . Und dann — mit diesem Menschen — dann ist sie wahrhaftig eine Märtyrerin der Liebe . . . Und schon halb für ihre Verbrechen gestraft . . . . . . . .

Pfeifenschwirren! Halt! Schluss! Uff! Plötzlich allgemeine Gleichgültigkeit. Die Photographen stürmten nach den Dunkelkammern. Pause bis zur Entwicklung der Platten. Allgemeines Gedränge. Butterbrote. Sekt in Gläsern auf dem Kantinentisch. Bier. Kaffee. Die Musik spielte das Bananenlied.

„Serr gutt!“ sagte der Russe. „Eine fabelhafte Frau . . .“ Er schien sich für verpflichtet zu halten, dem Günstling der Diva nebent ihm ein paar Komplimente zu machen. „Mindestens fünfzig Meter grosses Spiel . . .! Eine andere Frau — sie leggt sich gleich nachher in der Garderobbe hin — piekt Morphium — schnupft Koks — kippt Kognak — abber sie . . . ist gleich an Telephon gegangen, als wenn nichts wäre . . . Ah . . . Sie sollte unter ihren Namen schreiben: ‚Die Frau mit die unverbrauchten Nerven’. . .“

Er dachte sich: Jeder Mensch hier auf dem Platz kennt den Namen meiner Geliebten. Nur ich nicht . . .

„Da kommt Gräfin, zurück“, versetzte der Russe. „Gerade hierher! Sie sucht Sie!“

Die Nonnenhaube war ihr, nach der Weisung des Italieners, gleich zu Beginn der grossen Szene vom Haupt geglitten. Sie ging jetzt, in ihren vom Hals bis zu den Füssen reichenden Blaufuchspelz gewickelt, mit blossem, glänzend schwarzem Scheitel. Sie sah so wieder ganz anders aus, einer brünetten, russischen Fürstin ähnlich. Sie war noch belebt vom Spiel. Auf den Wanger schimmerte noch ein Hauch von Röte. In den Bewegungen der Glieder verebbte langsam die Leidenschaft zu der früheren Lässigkeit. Sie hatte eine Zigarette im Mund — sie rauchte eigentlich immer — und schob kameradschaftlich ihren Arm unter den ihres Todfeindes und zog ihn beiseite. Man hatte da einen weiten Blick in die Ebene hinaus. Ein grosses Reitergeschwader von gepanzerten Rittern sammelte sich da, hinter vielen harrenden Automobilen, unter Trompetenstössen, zögernd und langsam, auf dem Sturzacker um seine Fähnlein. Ein Regisseur in Zivil galoppierte mit blossem Kopf aufgeregt auf und ab. „Wo ist Mr. Orenstiel?“ tobte er. „Die Leute fangen schon wieder im letzten Augenblick mit Streik an, wenn wir nicht den Tarif verdoppeln! Kinder, es ist zum Wahnsinnigwerden!“

„De Brieder werden ungemietlich! Sie legen sich schon aufs Drohen!“ meldete ein tiefer Bass aus der Ferne. Auf freiem Feld trat ein Fünfer-Ausschuss von streikenden Kreuzfahrern mit zwei Yankees und einem Dolmetsch zusammen. Man begann, zu verhandeln . . .

„Ich wurde eben an das Telephon geholt!“ sagte die Frau im Blaufuchspelz zu dem Mann im Gefängniskittel. ‚Mit wem ich gesprochen habe, ist ja gleich — und auch, unter welchen Code-Worten wir uns verständigt haben: Die Hauptsache ist die Nachricht: Ihr Bruder ist — absolut sicher — seit gestern abend in München! . . .“

„Wo bleibt Ihr Auto?“ Er fuhr auf. Er ballte die Fäuste. „Himmerherrgott . . . Ich muss Ihr Auto haben . . . Ich muss nach München . . .“

Sie antwortete nicht. Sie hob sich auf den, von den Sandalenriemen geteilten Zehenspitzen, beugte den Oberkörper vor, als ob sie so weiter sehen könne, und spähte in die Ferne.

„Schläft denn der Kerl . .?“ knirschte er fast lautlos zwischen den Zähnen, während sein Antlitz ruhig blieb. „Wo steckt der Mensch . . . . Ihr Chauffeur . . .? Ich muss nach München . . . Ich muss . . .“

Ihr Arm streckte sich aus. Ihr Zeigefinger zuckte mit einer jähen Bewegung durch die Luft, in der Richtung nach der Landstrasse. Da fauste etwas zwischen den kahlen Bäumen. Eine Fahne von Herbststaub wehte hinter den fliegenden Rädern. Die Gäule vor den überholten Marktfuhrwerken stiegen. Die Bauern drohten mit erhobener Peitsche hinterher. Arbeiterfrauen sprangen zur Seite und schimpften mit geballten Fäusten. Das Auto war schon weit von ihnen weg.

„Es kommt . . .“

„Er fährt achtzig Kilometer!“ murmelte er aufatmend, und sein Auge mass berechnend den Rest der Strecke. „In zwei Minuten ist er da.“

Beide standen schweigend nebeneinander und starrten. Hinter ihnen rief eine Stimme über das Feld.

„Katzengrün! . . . Vermitteln Sie doch bei den berittenen Pachulken! Wir kommen ja nicht vorwärts! Der Streik springt uns sonst noch auf das ganze Volk hier über! . . . Da . . . da bilden die Ratsherren schon einen Debattierklub! Ich kenn’ den Schwindel!“

Die grüne Limousine mässigte ihre Fahrt und bog auf den Feldweg ein. Hier, auf dem weichen Boden, rollte sie langsam. Aber sie kam näher und näher. Die Blicke der beiden hingen an ihr . . .

„Na wartet . . . wenn ich in München bin . . .“ sagte er halblaut vor sich hin.

„Katzengrün muss die Sache deixeln!“ rief der vorbeieilende galizische Jüngling von vorhin und fuchtelte mit den Armen. „Sie kennen doch den Rechtsanwalt Katzengrün — den grossen Lizenzkäufer — auf holländische Rechnung . . . oder ist’s schwedisches Geld . . . Da schauen’s die Wolken im Westen! Wenn die Sonne weggeht, derfen wir uns die ganze Reiterschlacht sauer kochen lassen! Dös weiss die Bagasch’ da — die ölendige! . . .“

Das Auto . . . das Auto . . . Sie zogen es mit ihren Blicken leidenschaftlich zu sich heran. „Noch eine halbe Minute“ murmelte er. Da klang hinter ihnen, aus den Gruppen des mittelalterlichen Volkes, die helle Stimme eines blondgezopften, in eine Wurststulle beissenden Gretchens:

„Kinner . . . die Bolizet“

Sie drehten sich jäh um. Quer über den Platz, mitten durch die Menge, schritten zwei Gendarmie-Wachtmeister in grünen Mänteln, mit umgeschnalltem Revolver. Hinter ihnen ein hagerer Herr in Zivil, mit Schmissen im Gesicht, der ein Papier in der Hand hielt und sich suchend umsah.

„Nu filmt der Staatsanwalt mit!“ meinte die Blondine neugierig.

„Das is’n Untersuchungsrichter — den kenn’ ich!“ belehrte sie ihr Nachbar, der täuschend echt als mittelalterlicher Gänsedieb gekleidet war.

Der Vertreter der Behörde blieb stehen, schaute prüfend einen Malergehilfen in langem, buntbeklextem Mantel an. Ging weiter. Gerade auf die beiden zu. Der Mann im Gefängniskittel, mit den Gefängnishosen an den Beinen, wusste, wen — hinter dem goldenen Zwicker — die Augen des alten Korpsstudenten drüben suchten! Das Auto . . . Er berechnete im Bruchteil einer Sekunde — der Untersuchungsrichter war noch fünfzig Schritt entfernt. Das Auto musste jetzt eben vorfahren . . . Wenn man, ehe es stoppte, hineinsprang, noch im Schwung der Fahrt im Bogen schwenkte und die Karre auf Mord und Kaputt laufen liess, dann war noch Rettung möglich . . . Ein paar Kugeln aus den Gendarmerie-Karabinern — die brauchten ja nicht gleich die Pressluft aus den Gummischläuchen zu fetzen . . . oder einen selber durch die Rückwand zu treffen . . . Er war durch mehr Ehrenspaliere weisser Blitzwölkchen von Schrapnells gegondelt . . . als Kampfflieger im Krieg . . .

Das Auto — Er wandte sich um: Er sah es nicht! Nur eine rasselnde, gepanzerte Reitermasse, die von dem Blachfeld drüben herübertrabte und zu beiden Seiten des Weges aufritt. Es war dem Rechtsanwalt Rakengrün gelungen, sich mit dem Betriebsrat der Kreuzfahrer auf fünfunddreissig Prozent. Zulage zu einigen. Alles ordnete sich kriegerisch, unter Trompetengeschmetter, zur Ritterschlacht auf dem Marktplatz.

Eine Bewegung der Frau neben ihm . . . Er hatte es erwartet, dass sie versuchen würde, beim Anblick der Gendarmen zu entfliehen! Die Ärmel ihres Pelzes waren weit geschnitten. Er fuhr mit der Rechten unter den Saum und umspannte, ruhig, dicht bei ihr stehend, — ohne dass es ringsum auffallen konnte — mit einem Griff ihr linkes Handgelenk.

„Sie bleiben!“, sagte er.

Ihr Arm zuckte. Suchte sich zu befreien. Er hielt sie fest und schaute kalt, gleichgültig, nach dem nahenden Richter. Er war viel stärker als sie. Sie konnte nichts gegen ihn machen. Sie durfte sich auch nicht durch eine ungebärdige Bewegung verraten. Er fühlte das plötzliche, nervöse zittern ihres Körpers. Er glaubte förmlich, ihre Zähne klappern zu hören. Ihr schönes Gesicht verlor jede Farbe. Und doch zwang sie es noch, um sich nichts anmerken zu lassen, zu einem verzweifelten Lächeln für die Menschen draussen. Sie murmelte; als sprächen sie vom Wetter:

„Lassen Sie mich frei . . .“

Er antwortete gar nicht.

„Da . . . da bleibt er . . . wieder stehen . . .“ sagte sie verzerrt heiter: „Ich kann noch schnell weg . . . Ins nächste, beste Auto . . .“

„Das glaub’ ich . .“ Seine Hand rang unsichtbar mit ihrem Arm. Es war für sie ein hoffnungsloses Spiel. Niemand achtete auf sie. Alle umher schauten nach vorn, auf den Mann des Gesetzes, der jetzt wieder langsam mit den Wachtmeistern weiterging — auf sie zu — wieder stehenblieb . . . Noch eine Galgenfrist . . .

Sie langte mit der freien Hand in die Tasche des Pelzes. Er beobachtete sie scharf — bereit, mit seiner Linken zuzugreifen, wenn sie da etwas zum Vorschein brächte . . . einen Revolver — einen Dolch . . . Möglich schien ihm alles. Aber sie holte nur ein Taschentuch heraus und wischte sich den kalten Schweiss von der Stirne. Ein feiner Parfümhauch wehte herüber. Ihr Blick war gläsern geworden. Sie raunte:

„Haben Sie doch Mitleid . . .“

„Habt ihr Mitleid mit meinen Landsleuten, die ihr den Franzosen auf die Schlachtbank liefert?“

Jetzt machte sie einen wilden, leidenschaftlichen Versuch sich loszureissen, und lachte dazu, für die Umstehenden, hell als sei es ein Spass. Die Eisenklammer um ihren Arm löste sich nicht. Der Untersuchungsrichter war noch fünfzehn Schritt entfernt. Ein Blick nach rückwärts: Eine Mauer von Mietgäulen, blechernen Kürassen und gleichgültigen Statistengesichtern. Das Auto hoffnungslos dahinter. Sie begann vor Angst zu schlucken wie ein kleines Kind. Ihr Mund stand ungläubig weit offen.

„Der Tod . . .“ Sie keuchte. Ihr Arm wurde plötzlich schlaff, hoffnungslos in seiner Hand . . . „Das ist mein Tod . . .“

„Wieviel ehrlichen Deutschen habt ihr ihn schon gebracht!“

Die beiden standen unbewegt. Zwei Menschen, die gewohnt waren, sich eisern zu beherrschen. Sie wollte immer noch heiter ausschauen. Aber es wurde jetzt, während die Gendarmen heranschritten, nur ein grässliches Lachen daraus, das ihre Züge verzerrte.

„Ich kann doch nicht im Zuchthaus verfaulen . . .“ stöhnte sie.

„Warum haben Sie spioniert . .“

„Ich bin eine Frau! . . . Denken Sie, dass ich eine Frau bin . . .“

„Ich denke an Deutschlands Rettung . . . Wenn nicht in München, dann wenigstens hier!“

Zehn Schritte . . . der Richter . . .

„Erbarmen . . .“

Die Hand um ihr Gelent gab nicht nach.

„Hat ein Mensch auf der Welt mit Deutschland Erbarmen? . . . Denkt an den Frieden von Versailles . . .“

Ihre Knie schwankten. Er glaubte, sie würde ohnmächtig werden, aber sie hielt sich mit zäher Willenskraft aufrecht. Sie sah ihm mit heissglühendem Hass in den dunklen Augen ins Gesicht und sagte:

„Hätte ich Sie doch vorhin nicht gesehen . . .“

„Und ich Sie nicht!“ Der Hass in seinem Blick war eiskalt. „Dann wäre ich jetzt vielleicht noch frei! Nun gehen wir miteinander zum Teufel!“

Die beiden Todseinde standen, Hand in Arm, mit starr gewordenen, unbewegten Gesichtern nebeneinander. Sie sprachen kein Wort mehr. Sie erwarteten ihr Schicksal. Da kames. Die Sporen der Wachtmeister klirrten. Der Untersuchungsrichter ging ihnen jetzt voraus, an der letzten Gruppe vor den beiden vorbei, schnell auf sie zu.

Dann machte er plötzlich halt, als würde er sich jetzt erst über irgendeinen Eindruck klar. Er drehte sich noch einmal zu der Statistengruppe zurück und fasste einen Tchwächlichen, etwas säbelbeinigen jungen Mann, der da treuherzig lächelnd als Landsknecht stand, plötzlich scharf ins Auge.

„Drehen Sie ’mal gefälligst den Kopf zur Seitel“ sagte ei zu dem Komparsen. „Da . . . zwei Narben an den Halsdrüsen links — das stimmt . . . schlechte Zähne . . . blaue Augen . . . hm . . . Streifen Sie ’mal den rechten Ärmel auf . . . Na bitte . . . keine Ziererei! . . . Das hilft nun nichts . . . Tätowierung: blauer Anker — Glaube, Liebe und Hoffnung . . . Haben Sie nun die ganze Partie Schuhwaren geklaut? . . . Ja? . . . Na: sehen Sie wohl: Immer das Beste, gleich zu gestehen! . . . Also im Namen des Gesetzes! Bitte! Ich verhafte Sie!“

Der Landsknecht wanderte betreten, trotzig gerade vor sich auf den Boden fehend, zwischen den beiden Wachtmeistern zu der Baracke, um sich umzukleiden. Der Untersuchungsrichter ging, seine Papiere einsteckend, ohne sich weiter umzuschauen, nach getanem Werk hinterher. Das blonde Gretchen schrie dem Häftling noch nach: „Det sollen Sie ’mal an der Filmbörse untersuchen, wo der seine Karte jestohlen hat!“ Er antwortete verächtlich über die Schulter: „Olle Flimmerjule!“ Dann verschwand die Gruppe in dem sie neugierig auf dem Marsch begleitenden Gewimmel der Bürger, Edelfrauen und Knappen.

Ein schweres, tiefes Aufatmen zweier Menschen, die kein Wort miteinander sprachen, sich kaum nach einer Weile mit einem stummen Seitenblick streiften, im gegenseitigen Hass ihrer Schicksalsgemeinschaft . . . Es war für ihn, bei aller Erlösung, ein grimmiges, inneres Lachen, ein verächtlicher heisser Zorn, sich mit der Frau im Blaufuchs, in der Rettung vor deutschen Häschern eins zu wissen — er — in dessen Seele nichts als Deutschland, die blinde, — ach ewig . . . blinde — Mutter lebte — und dieses Geschöpf da . . .

Er glaubte, sie würde noch jetzt plötzlich ohnmächtig, umfallen. Der letzte eiskalte Schrecken kam nun bei ihr nach. Sie schauderte immer wieder jäh in sich zusammen. Sie zitterte leise am ganzen Körper. Sie trat mit unsicheren Schritten an den nahen Kantinentisch, wo Champagner in Gläsern feilstand, warf ein Bündel Papiergeld auf die nasse Holzplatte und stürzte einen Kelch herunter. Das belebte sie etwas. Sie schaute beinahe ungläubig um sich und zog fröstelnd die Schultern hoch. Er dachte sich: Das war dir wenigstens eine Lehre! Dir wird jetzt der Boden Deutschlands unter deinen Sandalen zu heiss! Auch ohne deinen Schwur . . . beim Grab der Mutter . . .

„Platz frei . . .! Platz frei!“ Sie traten zur Seite, Pfeifengetriller. Geschrei. Alle Photographen an ihren Geschüben. Der kleine Feldherr stand oben auf seinem Turmgerüst mit seinem Stab. Gebrüll durch die Sprachrohre. Trompetenstösse vom Blachfeld als Antwort. Mit Flatternden Wimpeln, in rasselndem Blech, kunstvoll in Staffeln aufgefächert, dass es nach viel mehr Rittern aussah, als es waren, galoppierte der reisige Heerbann heran. „Kaufen Sie Vereinigte Spinnereien! Die kriegen bald Junge“, rief mit eingelegter Lanze — atemlos — im Vorbeireiten ein Kreuzfahrer einem anderen Nachzügler neben ihm zu, und dann, sich im Sattel nach rückwärts wendend, wütend: „Was karren Sie denn mir egal hinter den Hufen her? Wollen Sie mit Ihrer Benzindroschke ooch mit aufs Bild?“

Die grüne Limousine, die hinter dem Reiter rollte, stoppte, nahe den beiden. Er und sie schritten auf das Auto zu, langsam, mit gleichgültigen Gesichtern, um nicht aufzufalen. Aber alles schaute nach dem Marktplatz. Dort tobte die Reiterschlacht. Der berittene schwarzbärtige Bösewicht von vorhin war mit den Seinen, von der Pappstadt des Hintergrunds her, dem Kreuzheer in die Flanke gefallen. Das schwarze Schafott ragte aus einem Wirrwarr von Marienbannern, Pferdeköpfen, Helmen, Schilden, Schwertern, in deren Geklirr ununterbrochen das Megaphon hoch von oben: „Tempo! . . . Tempol . . . Zum Donnerwetter: Tempooooo!“ heulte.

„Steigen Sie ein!“ sagte sie hastig. Sie riss selbft den Wagenschlag auf. Er schaute hinein: Da drinnen lag, alles, was er benötigte: Anzug — Mantel — Hut — Stiefel. Aber er blieb noch draussen. Er trat zu dem Chauffeur:

„Bitte — geben Sie mir Ihre Pistole!“ versetzte er höflich.

Der Mann am Steuer sah ihn finster an und antwortete nach einer Weile in fremdartigem Deutsch:

„Habe ich keine . . .“

„Natürlich haben Sie eine Mehrladepistole bei sich!“ sagte der andere ruhig. „Jeder Chauffeur, der heutzutage einen Wagen allein über Land fährt, hat eine.“

„Wenn ich habe — ich brauche selber . . .“

„Und wozu haben Sie sie nötig?“ drängte die neben ihm den Flüchtling im Kittel. Er drehte sich ihr, zu.

„Um nicht unterwegs im Wald von Ihrem Chauffeur, oder was der Herr in Wirklichkeit ist, totgeschossen zu werden. Was machen Sie für ein erstauntes Gesicht? Das ist doch für jemanden wie Sie das Nächstliegende, um einen Mitwisser los zu werden!“

„Was denken Sie von mir?“

„Das Niederträchtigste . . . Und von diesem Menschen ebenso! . . . Ohne die Pistole setze ich keinen Fuss in den Wagen . . .“

Sie überlegte. Dann redete sie wieder hastig in fremder Zunge mit dem Chauffeur. Er widersprach. Sie schienen sich jetzt zu einigen. Er griff in die Tasche seines dicken Fahrpelzes, holte einen Browning heraus und reichte ihn wortlos dem andern. Der überzeugte sich mit zwei Griffen, dass das Magazin gefüllt war, entsicherte die Waffe durch einen Ruck am Rohr, bis auf den Stellhebel, und steckte sie in die Tasche.

„Nun nach München — was das Zeug hält!“ befahl er. Der Chauffeur knurrte.

„Ich weiss nur nächste Wegstrecke! Was dann . . .?“

„Ich kenne Deutschland wie meine Tasche! Aus dem Flugzeug von oben und aus dem Auto unten! Ich zeige schon die Richtung! . . . Und Sie . . .“ Er wendete sich noch einmal kalt und drohend an die Nonne im Pelz. „Sie befreien morgen Deutschland für immer von Ihrer Gegenwart!“

„Beim Grab meiner Mutter! Machen Sie schnell . . . da kommt alles zurück . . .“

Die geworfene Christenheit zu Pferde flutete Flüchtend heran. Es war ein regelloses Gewimmel, schon ausserhalb der photographischen Platten. Aber die aufgeregten Gäule liessen sich nicht so schnell halten. Das Automobil rollte dumpf tutend zwischen galoppierenden, schimpfenden, an den Zügeln reissenden Kreuzfahrern. Ein Löwenritter hatte schon den Hals seines Hengstes umschlungen, löste sich, plumpste rasselnd zu Boden. Der ledige Gaul jagte noch ein paar Dutzend Sprünge, vor Schrecken prustend, mit zurückgelegten Ohren, neben der Limousine her. Dann blieb er zurück. Man hörte in gleichmässiger, fliegender Fahrt nur noch den eintönigen, beruhigend summenden Viertakt des Motors.

Er hatte die Vorhänge vor den Scheiben zugezogen und sich in den dunkelblauen Sonntagsanzug des Chauffeurs gekleidet. Die Sachen passten nicht ganz, aber sie waren zum Glück eher zu weit als zu eng. Denn der Unbekannte draussen am Steuer war etwas grösser als er.

Nun schaute er, fertig umgezogen, durchs Fenster. Draussen flog herbstlicher Wald vorbei. Kahle, hohe Stämme. Dann ein tiefes Tannendicticht bis zur Strasse. Es reiste jetzt noch eine furchtbare Gefahr der Entdeckung im Wagen mit: Seine Gefängnissachen. Er hatte aus Kittel, Pantoffeln und Unterzeug ein kleines Bündel geschnürt. Er beorderte durch das Sprachrohr: Stop! Er stieg aus, überzeugte sich, dass niemand auf der Strasse war, und schob den Packen in der Tannenschonung unter Haufen von dürrem Laub und Reisig. Er setzte sich jetzt vorn neben den Chauffeur. Seine Hand wies den Weg nach Süden. Nach München . . . nach München . . . Jede Minute war vielleicht ein Menschenleben . . .

Die Limousine lief. Lief bergauf, bergab. Lief Stund’ um Stunde. Lief durch Deutschland, das mit seinen Feldern, seinen Dörfern, seinen Wäldern so friedlich unter herbstblauem Himmel im Sonnenschein und Wolkenschatten dalag, als seien all die letzten Jahre ein böser Traum. Nur die Wipfel der Bäume, die sich bebend bogen, — die kleinen Schaumwellen auf den Gewässern — der Tanz von welkem Laub in der Luft, liessen merken, dass nach wie vor der Sturm durch Deutschland stöhnte — von der Waterkant bis zum bayerischen Hochland.

In einem Dorf assen und tranken sie eilig etwas. Sie liessen es sich aus dem Wirtshaus an das Auto bringen. Weiter! Weiter! Nach München! In einem Städtchen fassten sie Benzin. Der Tank aufgefüllt. Zwei volle Kanister neben dem Führersitz. Weiter! Weiter! Nach München! Ein scharfer Knall mitten auf der Landstrasse. Ein Pneu segnete das Zeitliche. Einen Reservereifen aufgezogen. Gott sei Dank: Auf dem Dach der Limousine lagen drei. Weiter! Weiter! Nach München! . . . Nach München! . . . Nach München! . . .

Aber plötzlich stoppte der Fremde am Steuer und sagte rauh und knapp: „Müssen wir halten! . . . Ich kann nicht mehr!“

Es war kein Wunder. Der Ausländer hatte gute Nerven. Aber er war jetzt viele Stunden fast ohne Unterbrechung gefahren. Die Mittagszeit war schon vorüber.

Der andere drängte ihn vom Führersitz und nahm da selber Platz.

„Schlafen Sie jetzt ein paar Stunden!“ sagte er. „Inzwischen kutschiere ich!“

„Können Sie denn?“

Er zuckte nur verächtlich die Schultern: Ein Kampfflieger! . . . Ein stets sturzbereiter Motor in freier Luft — das war ein ander Ding als in solch einem, auf fester Erde rollenden Kasten . . .

„Aber ruhen Sie sich gefälligst auf dem Sitz hier neben mir aus!“ sagte er zu dem Chauffeur, der über das Trittbrett hinabsteigen wollte. „Nicht innen im Wagen! Ich bin darin komisch: Ich habe hinten keine Augen! Ich hab’ nicht gern fremde Leute im Rücken!“

Der Mann fügte sich — finster wie immer. Er rückte sich zurecht und schloss die Augen.

Nach München . . . Nach München . . . . .

Die Limousine lief. Frass die Kilometer. Die Landstrasse flog ihr entgegen. Es begann allmählich zu dämmern. Der Abend sank. Blutrot glühte zur Rechten der schwindende Sonnenball zwischen schwarzem Gewölk. Die beiden vermummten Männer, der Wache und der Schlafende, fuhren ihre Sturmfahrt weiter in die Nacht hinein. Nebel grauten. Weiss dampften die Wiesen. Schwarz stand der Wald. Der Chauffeur erwachte. Gähnte. Schaute um sich.

„Ich fahre wieder!“ sagte er, und, auf das Kopfschütteln des andern, mit einem Ungestüm, das seiner sonstigen, finsteren Geschmeidigkeit widersprach: „Mir ist Wagen anvertraut! Jetzt — Sie schlafen! Später — bei Mondschein — wir wechseln wieder!“

Dem andern war es recht. Er hatte nur einige Stunden chauffiert. Aber es war ihm ungewohnt, nach der langen Haft. Die durch Monate entbehrte frische Luft schläferte ein. Die Müdigkeit kam, nach der Anstrengung der letzten Nacht, seitdem er — vor noch nicht vierundzwanzig Stunden — zum erstenmal die Feile an die Gitterstäbe seiner Zelle gesetzt.

„Wissen Sie denn den Weg?“ frug er noch zur Vorsicht.

„Jetzt — hier — ist Weg nicht zu fehlen!“

Er setzte sich innen in die Limousine. Er war entschlossen, nicht zu schlafen, sondern, durch die Vorderscheibe hindurch, aufzupassen, dass die dunkle Gestalt draussen am Steuer in der tiefen Dämmerung nicht absichtlich oder unabsichtlich vom Weg abirrte. Gefährlicheres — etwa ihm ernstlich irgendwie ans Leben gehen — konnte der Unbekannte nicht wagen. Denn jeder Unfall des Autos kostete ihm ja zuerst das Genick. Zudem hatte er hier drinnen ja den Chauffeur vor sich ständig im Auge. Die Pistole zur Hand. Gut . . .

Nach München . . . nach München . . .

Der Wagen jagte durch die mondhelle Nacht. Eintönig, im Viertakt der Zylinder, hämmerte sein Herzschlag. Man konnte den Tonfall heraushören: Nach — München — nach München . . . Immer wieder . . . Es wirkte einlullend — dieser stete Gleichklang . . . Der Flüchtling kämpfte dagegen . . . zwinkerte mit den schweren Lidern. Schloss sie . . .

. . . Irgend etwas hatte ihn geweckt . . . Ein Schlag draussen? . . . Ein Fall? . . . Er fuhr empor . . . blinzelte ungewiss um sich . . . Er war doch eingenickt gewesen . . . Es war ein bisschen zuviel . . . die letzte Nacht . . . und dieser Tag . . . Er war noch ganz schlaftrunken . . . Überlegte . . . Wo war er denn eigentlich? . . . In der Zelle? . . . Ach so . . . nein . . . diese seidenbespannte Polsterecke, in der er lehnte — die welkenden Blumen in den Silbervasen an der Wand vor ihm — in der Luft ein letzter, ganz feiner Hauch vom Parfüm der Frau, die diesen Morgen in diesem Wagen gesessen . . . Er begriff . . . Gott sei Dank . . . Vorwärts . . . nach München . . .

Tak . . . tak . . . der Motor surrte . . . tat unermüdlich seine Pflicht. . . Draussen glitten im Mondschein die Schatten von Bäumen vorbei . . . auffallend langsam . . . Es ging steil die Strasse aufwärts . . . immer noch langsamer . . . aber da war schon, nach drei, vier Metern, die Steigung überwunden. Der Wagen hatte sie gerade noch ohne Zurückschaltung auf langsamere Gangart gemacht — das war ein bekannter Trick guter Chauffeure, den Schwung des Anlaufs auszunutzen. Nun holte die Limousine oben förmlich Atem, lief auf dem ebenen Boden los, vergrösserte reissend ihre Schnelligkeit, stürmte wie ein durchgehender Gaul mit der vierten Geschwindigkeit und Vollgas hinaus in die Nacht.

Hoffentlich in der gehörigen Richtung, bei dem wahnsinnigen, immer noch wachsenden Tempo . . . Er spähte durch die Stirnscheibe nach vorn. Schnurgerade, von Bäumen eingefasst, dehnte sich im grellen Mondschein die Landstrasse. Sie schien dem Auto entgegenzuschiessen in der wilden Jagd. Es war der richtige Weg. Gut so, dass der Kerl am Steuer die Karre auf Tod und Leben laufen liess . . . . .

Ja, wo war er denn?

Der innen im Wagen fuhr sich mit der Hand an die Stirne: Er sah ganz deutlich durch die Scheibe draussen das freie Lenkrad. Keine Hand an seinen Speichen. Kein dunkler Rücken eines Fahrers zwischen dem Steuer und dem Innern des Wagens. Der Platz des Chauffeurs war leer. Die Limousine raste führerlos hinaus in die Nacht.

Ein Blitz durch das Hirn des aufspringenden Mannes . . . Ein Gedanke: Der Kerl hat in vierter Geschwindigkeit die Steigung genommen, ist oben, zwei Schritt vor der Höhe, wo es ganz langsam ging, abgesprungen und hat die vierzig Pferdekräfte allein weiterrennen lassen . . .

Die Wagentür auf . . . Heulend umpfiffen ihn die Luftwirbel der rasenden Fahrt . . . Hinaus . . . den Fuss auf das Spritzlech . . . über den Werkzeugkasten weg . . . die Hand nach der Messingstange der Windscheibe vorn . . . Sie fasst . . . der Körper schwingt sich hinterher . . . Kinder — das habt ihr fein gemacht . . . Nur an eins habt ihr nicht gedacht: An das Entschlusstempo eines Kampffliegers, der Dutzende von Malen sein Leben nach Bruchteilen von Sekunden gerechnet hat . . .

Die Landstrasse . . . Noch immer streckte sie sich als breites, gerades Band . . . Aber wie lange noch? Das Auto frass sie in sich hinein. Jede Krümmung war der Tod . . . .

Seine Füsse erreichten den Boden des Führersitzes. Vorsicht: Nicht auf die Bremse treten! Sonst überschlagen wir uns dreimal in der Luft — der Wagen und ich . . . Er schob die Schultern nach — schaute nach vorn . . . da tauchte es plötzlich aus der Nacht . . . rechts . . . links am Weg . . . Nun wusste er, warum der Mann am Steuer diese Stelle zum Absprung gewählt: Grell leuchteten auf grossen Tafeln, im Mondschein weithin sichtbar, die Gefahrwarnungen auf — die blitzartige Zickzacklinie: ‚Achtung: Kurve!’ . . . Drei, vier grosse Aufschriften: Alle Automobilverbände von Deutschland warnten: ‚Achtung! Kurve!’ Es musste eine der gefährlichsten Stellen in deutschen Landen sein, auf die das Auto atemlos Sturm lief.

Die weissen Flecken der Warnungstafeln waren im Hui in der Nacht zurückgeblieben. Da vorn, im Schwarzen, Unbekannten, war der Tod. Zwei Füsse hat der Mensch. . . zwei Hände! . . . Zwei Hände und zwei Füsse griffen blitzschnell, meisternd, in die durchgehende Maschine. Die Kuppelung ausgetreten — die Hand am Schalthebel . . . . det Motor gedrosselt . . . Da: Zum zweitenmal am Weg aus der Mondnacht wachsend die Warnungstafeln: Achtung! Kurve! . . . Nun bremsen . . . vorsichtig . . . vorsichtig . . . der nächste Augenblick hiess Gefahr. Da schwenkte schon die Landstrasse ganz plötzlich, jäh, in scharfer Krümmung steil abwärts. Er konnte eben noch den immer noch rasenden Wagen hart an den Geländerbalken fangen und herumwerfen, die unter dem Anprall wie Streichhölzer geknickt worden wären. Während er das Lenkrad drehte, sah er zwischen seinem erhobenen rechten Ellenbogen und seinem Körper tief da unten ein einsames Licht vor einem Wächterhaus in dem Steinbruch, der da zwei Zoll neben ihm sich senkrecht in den Abgrund klüftete.

Immer neue scharfe Kurven. Die Strasse senkte sich, seitlings von dem Steinbruch, in vielen steilen, kurzen Schlangenwindungen zu Tal. Jede einzelne hiess für einen führerlosen Wagen das Ende seiner Fahrt. Aber die Maschine war gebändigt, gebremst, gedrosselt. Sie trudelte gehorsam ihres Wegs. Rannte flink unten im Wiesengrund durch schlafende Dörfer, verträumte Felder, mondhelle Wälder weiter. Der sie lenkte, hatte keine Zeit nachzudenken. Nach München . . . nach München . . .

War er schon in Bayern? Er fuhr durch einen Hohlweg. An der roten Sandsteinwand prangte schwarz aufgemalt der Sowjetstern. Mit Teerpinsel darunter: „Hoch Moskau!“. Er wusste, dass er sich noch in Thüringen befand. Weiter! . . . weiter . . . Die Nacht nutzen . . . Der helle Tag heisst neue Gefahr . . .

Zuweilen übermannte ihn die Müdigkeit. Er fiel am Steuer in sich zusammen. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Er riss sich, mit hartem Gesicht, hoch. Er befahl sich: Du bleibst wach! Du bleibst stark! Du musst!

Und wieder schaute er aufmerksam vor sich in die Nacht. Lenkte mit klarem Kopf den Wagen. Es tat not. Die Strasse war hier schwierig, im Gebirge. Er sehnte sich nach den blau-weissen Grenzpfählen. Oder war er schon, gespannt mit Weg und Wagen beschäftigt, unversehens daran vorbeigefahren? Da tauchten die ersten Hakenkreuze auf . . . an den Hauswänden, an den Mauern, an den Prellsteinen, an den Bäumen. Er war in Bayern . . .

Er atmete tief auf. Er fuhr weiter, immer weiter, halb wie im Traum, und doch in dem zähen, belebenden Willen: Nach München! Der Wille sass neben ihm und lenkte das Rad. Der Wille rief ihm ins Ohr: Nach München! — und scheuchte Hunger und Durst. Der Wille gab ihm von Zeit zu Zeit einen Rippenstoss: Schlaf nicht! Nach München! Der Manneswille hielt ihn wach. Stund’ um Stunde durch dämmerndes Land. Schon schwindet das Holzfachwerk der fränkischen Bauernhäuser und macht den langen, flachen Dächern der weissen, altbayerischen Höfe Platz. Der Himmel wird fahl. Die Hähne krähen. Hütet euch vor dem gallischen Hahn, ihr Freunde in München — ihr Blutbrüder des grossen Kriegs . . . Ich komme . . . ich komme . . . . . .

Wenn nur das Benzin reicht! . . . Er opferte eine Minute . . . Schaute nach . . . Der Lebensstoff stand nur noch einige Zoll hoch im Tank. Er presste die Lippen zusammen. Fuhr weiter. Es muss langen . . . bis München . . . .

Heller, grauer Herbsttag. Kalt die Luft hier oben auf der bayerischen Hochebene. Noch schlummert die Welt. Kein störendes, verschlafen auf falscher Seite trottendes Bauernfuhrwerk auf der Strasse. Er horchte im Fahren, ob es im Motor knallte — ob die Zündung aussetzte. Noch war Benzin da. Er pumpte Druckluft nach. Weiter. Weiter.

Die ersten Leute am Weg. Viehhändler. Ein Bulle zwischen ihnen, mit verbundenen Augen. Schaut, wie ihr mit dem Biest fertig werdet! Ich habe keine Zeit, zu stoppen! Ich muss nach München. Ein Gendarm. Er geht im Dienst über Land. Er blickt gleichmütig dem Auto nach. Gott sei Dank! . . . Herrgott im Himmel — wenn du endlich mal wieder was für Deutschland übrig hast, dann lasse mir ein paar Tropfen Benzin im Tank . . . Die Benzintropfen, die hier fehlen, die fliessen als Blutiropfen überm Rhein . . . .

Noch immer läuft der Wagen . . . läuft . . . läuft . . . läuft . . . Lauf’, lieber Wagen: Du hast Deutschlands Todfeinden, seinen unterirdischen Maulwürfen und giftigen Nattern, gedient. Jetzt bist du. Deutschlands glüchaft Schiff! Trägst Leben und Freiheit deutscher Männer!

Er hätte auf die heisse Haube des Motors klopfen mögen wie der Reiter auf die Mähne des treuen Rosses: Halte nur aus — halte nur aus — dass dir nicht im letzten Augenblick die Lebenskraft versiegt . . . Himmel — hilf — hilf einem guten Deutschen . . . Hier ist das Land des frommen Glaubens . . . Überall hier am Weg hängt der Heiland am Kreuz, lächelt im Opferschrein das Bild unserer lieben Frau . . . Tu’ ein Wunder . . . Lasse den Tank nicht leer werden — bis München . . .

Er blickte nach vorn in die Weite und lachte — zum erstenmal seit Monaten überzog das alte, verwegene, siegestrotzige Lachen des Kampffliegers sein bartloses, von der Gefängnishaft bleiches Gesicht. Fern — geisterhaft hob sich in der grauen Morgenluft ein Zwillingspaar von Türmen mit stumpfen Hauben aus einem undeutlichen Nebelmeer . . . die Frauentürme grüssten — das Wahrzeichen Münchens . . . München . . . Da war München . . . . . .

Er steuerte darauf zu. Nahe vor der, einsam im Feld stehenden Tafel: ‚Burgfrieden der Stadt München’ machte er halt. Es lag da am Weg, ein windschiefes, baufälliges, hölzernes Stade! — eine leere Scheune — während des Krieges unbenutzt und zerfallen, der Dachplatten beraubt, dass der Herbsthimmel durch die Sparren lugte. Das Tor hing noch halbwegs in den Angeln. Er drückte es auf und lenkte das Auto vorsichtig hinein und legte wieder den Holzriegel vor das Tor. Aus dem, auch jetzt im Herbst, noch feuchten Moorboden der Zufahrt quoll das Wasser und bedeckte die gegitterten Eindrücke der Gummiräder. Es vergingen jedenfalls Stunden, ehe man, durch Zufall, die Limousine da drinnen fand — oder Tage — vielleicht hier in der Einsamkeit, Wochen und Monate . . . . . . . . . . . .

Bisher war die Strasse um ihn leer gewesen. Jetzt rollte ein Milchwägelchen um die Waldecke, die Kannen hinten, ein Köter nebenher. Der Kutscher nahm den Mann am Weg gutmütig mit nach München. Da war schon Schwabing. Sie fuhren durch das Siegestor. Die Ludwigstrasse entlang. Am Odeonsplatz dankte der Fahrgast, schüttelte dem rosigen jungen Milchmann die Hand und sprang ab. Über ihm, in den Lüften, dröhnten die Glocken der Theatinerkirche. Er entsann sich, dass heute Sonntag sein musste. Um ihn strömte es auf dem Platz von Andächtigen auf dem Weg zur Messe. Er hatte Sorge vor zu viel Menschenaugen. Er ging eilig durch das Taubengeflatter des Pflasters hinüber nach dem noch ganz leeren Hofgarten, von wo man seitlich, hinter der Residenz herum, unbeachtet auf einem Umweg das mittelalterliche Gassengewirr des ältesten München erreichen konnte. Unter der Torwölbung der Arkaden hörte er hinter sich rufen:

„Baron!. . . Baron!“

Er achtete nicht darauf. Er schritt eilig weiter. Er war kein Baron. Er konnte den Anruf nicht auf sich beziehen. Aber da vernahm er ganz nahe im Rücken eine scherzhafte Fistelstimme:

„Na . . . Barönchen! . . Baron Bartelmann . . . laufen Sie doch nicht so!“

Es schlug ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter. Er drehte sich um und sah einen kleinen, dicken Herrn mit einem faden, runden Kladderadatsch-Gesicht und einem ebenso runden Einglas darin, streng nach englischer Mode gekleidet, dazu kokett ein bayrisches Hütl mit grünem Band und Gamsbart auf dem Kopf.

„Na — haben Sie heute nacht auch noch weiter geschwiemelt, oller Kronensohn?“ schäkerte der Dickling. „Auf einmal waren Sie weg! Sie verschwinden immer so geheimnisvoll . .“

Der andere sah ihn schweigend und finster an.

„Da bin ich ’ne andere Nummer! Ich hab’ mir den Konaki, den faulen Kopp, noch ’mal ins Gebet genommen, dass wir die Perser Teppiche endlich über die Grenze kriegen! . . . Im Beisein von Aristides Dukas . . .“

„So . . .“

„Der olle Devisen-Fritze ist ja ooch mit äusserster Vorsicht zu geniessen! . . . Na — wir sind die alte Garde — was . . .Baron . .? Uns kann keiner . . . Sagen Sie ’mal: Apropos: Kennen Sie mit Ihren ausgezeichneten, westöstlichen Verbindungen — west-östlich ist jut — was? — kennen Sie einen Diamantenaufkäufer Parisell? Ist der Mann seriös? Ich glaube, ’s ist ’n Lümpchen! Ich frühstücke nachher mit ihm!“

„Ich kenne weder Sie noch diesen Menschen!“

„Nanu — Spass . . . Ihr Kater ist, scheint’s, nicht von schlechten Eltern, lieber Bartelmann!“

„Ich bin nicht der Baron Bartelmann . . .“

„Ja — wer denn?“

Der andere hemmte auf den Lippen die zu schnelle Antwort: „Mein Bruder ist’s!. . . Mein Bruder — wieder in einer anderen seiner vielen Gestalten — lichtscheu mitten in einem Rattenkönig von Balkanschiebern und Berliner Raffkes — zusammen mit diesem Burschen da die Seele irgendeines Schlawiner-Klüngels . . . . .

Also es ist wahr: Er ist in München! . . . Er geht hier umher! . . . Und seine eigentliche Beute hier — das sind nicht Teppiche, nicht Diamanten und Devisen — diese Geschäfte macht er nur nebenbei — sein Edelwild sind Menschen, sind meine Freunde — meine ahnungslosen Freunde hier in München . . . . .

„Sie sind so komisch heute, Baron!“ Das dicke Kerlchen vor ihm blinzelte ihn kurzsichtig an. Er reichte ihm die Hand.

„Also nehmen wir an, ich bin der Baron Bartelmann!“ sagte er. „Aber nun entschuldigen Sie mich, bitte! . . . Ich habe dringende Geschäfte!“

Er liess den verblüfften kleinen Schieber stehen. Er eilte mit langen Schritten durch den menschenleeren Hofgarten. Er ging auf dem knirschenden Kies an dem Musik-Kiost vorbei. Er setzte die Füsse allmählich langsamer, schleppender. Es waren jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem er sich durch das Zellenfenster gezwängt. Diese ganze Zeit hatte er sich, mit Ausnahme der Viertelstunde Schlaf am Abend, aufrechtgehalten. Nun, ohne die belebenden Luftwirbel der Fahrt — im plötzlichen Lärm und Leben der Stadt nach der Einsamkeit des Gefängnisses —, in der ungewohnten Anstrengung des Gehens —, nun kroch ihm unversehens, bleiern die Ermattung von den schwer gewordenen Füssen in die Knie — legte sich ihm um das Herz. Er fand keinen Atem mehr. Auf der letzten Bank, am anderen Ende des Hofgartens, setzte er sich für einen Augenblick hin, schöpfte tief Luft; schaute leer den Spatzen zu, die am Boden zirpten. Es summte ihm in den Ohren. Schwarze Pünktchen tanzten ihm vor den Augen. Dann fühlte er seine Kräfte wiederkehren. Wollte aufstehen und weitergehen in die schützende Altstadt, nahe da drüben.

„Grüss’ Gott, Herr Nachbar!“ sagte plötzlich ein freundlicher, schnurrbärtiger Mann. Er hatte sich neben ihn auf die Bank gesetzt, obwohl ringsum Platz genug war. Aber das fiel in dem gemütlichen München nicht auf.

„Guten Morgen!“ erwiderte der Flüchtling und knöpfte, noch im Sitzen, seinen Mantel zu. Der andere blickte ihm treuherzig, aber merkwürdig forschend ins Gesicht, so, als wollte er sich seine Züge einprägen . . . oder in die Erinnerung rufen . . . oder mit einem Bild vergleichen . . . . . . .

Es wurde dem Entsprungenen unbehaglich. Er erhob sich schnell, griff an den Hutrand und wollte gehen. Der schnurrbärtige Mann meinte phlegmatisch, ohne den Blick von ihm zu wenden:

„Sie . . . bleiben’s doch noch! Gerad’ ’nen Moment! Gelt — sein’s so gut . . .!“

„Ich hab’ wirklich keine Zeit! Adieul“

„Ich darf schon bitten . . . Ich hab’s auch schon . . . also so früh schon auf, Herr Baron!“

„Herrgottdonnerwetter — ich bin kein Baron!“

„Na — na — na . . . Baron ist doch kein Schimpfwort net! Sie sind doch der Baron Bartelmann!“

„Nein . . . zum Kuckuck!“

„. . . und sind jetzt halt zeitig geworden! . . . Da können’s nix machen!“

„Treten Sie mir nicht in den Weg! Sonst werd’ ich unangenehm, alter Freund!“

Das schmunzelnde schnurrbärtige Gesicht drüben wandelte sich in die dienstlich strengen Züge eines ehemaligen Unteroffiziers. Ein Papier in seiner Hand. Die Sprache knapp und bestimmt.

„Hier mein Ausweis: Fremdenkontrolle München! . . . Sie! . . . Auf die Schieber sind wir in München scharf! Mit die Galizier und Schlawiner machen wir hier kurzen Prozess! Den Herrn Konaki haben wir noch heut’ nacht festgekriegt . . . und den Herrn Parisell vorhin aus dem Bett geholt, ehe er seine Diamanten hat verschlucken können . . .“

„Was gehen mich die Kerle an!“

„Der kleine Herr Zippke — der Berliner — mit dem Sie eben gesprochen haben Sie — der hat g’schaut, wie wir ihn gefasst haben! Jetzt — Sie — Sie sind net schlecht gelaufen! Wenn Sie sich net da auf die Bank gesetzt hätten, hätt’ ich Sie net mehr derwischt!“

„Sie haben sich unnötig Mühe gemacht!“ sagte der Flieger kalt. Seinen bartlosen Zügen war keinerlei Erregung anzumerken. „Ich bin nicht Ihr Bartelmann — oder wie das Gewächs heisst . .“

„Also schön — Ihre Ausweispapiere . . . bitte . . .“

Papiere . . . Er griff sich in die Taschen. In alle Taschen des Sonntagsanzugs eines fremden Chauffeurs, den er trug. Die Taschen waren leer. Er sagte sich selbst: So dumm wird der Kerl, der mich umbringen wollte, schon nicht gewesen sein, dass er irgendeinen Ausweis von sich auf meinem Leib gelassen hätte — als Fingerzeig für die Polizei, die im Steinbruch das zertrümmerte Auto, mit falscher Nummer, und darunter meine Leiche fand! Er suchte noch einmal: Nichts . . . nichts . . . .

„Also irgendeine Legitimation haben’s nicht bei sich?“

„Zufällig — nein!“

„Und wie wollen’s nachher heissen? Wer sind’s denn?“

„Darüber kann ich hier und Ihnen keine Auskunft geben!“

„Jetzt weiss ich schon Bescheid! Kommen’s . . . Jetzt machen wir ’nen Spaziergang nach dem Augustinerstock . . . Schauen’s bloss net so gefährlich drein . . .“

„Sie dürfen mich nicht verhaften . . . Sie wissen nicht, was auf dem Spiel steht . . .“

„Dös san Sprüch’!“

„Es handelt sich um das Leben von deutschen Männern.“

„Wenn Sie sich doch noch ausweisen können — oder Sie finden angesehene Leuť in München, die für Sie gutsagen — ja — heuť ist freilich Sonntag — aber trotzdem — auf den Nachmittag — allerhöchstens am Abend sind’s wieder frei . . .“

„Mensch . . . Dann ist es zu spät . . .“

„Aber Sie sind ja der Baron Bartelmann — das wissen’s ja eh . . . Die Beschreibung stimmt aufs Tüpferl . . . Also kommen’s . . .“

Der ihm gegenüber überlegte im Bruchteil einer Sekunde: Er hatte den Browning in der Tasche. Wenn er ihn rasch herausriss — er wollte dem Beamten vor ihm nichts zu leid tun — nur ihm die Pistole, die jener vermutlich gleichzeitig zum Vorschein zu bringen suchte, mit einem schnellen Griff der Linken entreissen — ihn mit der Waffe im Schach halten — flüchten — in langen Sprüngen . . . vielleicht gelang es! Es musste gelingen! Es war vielleicht die letzte Rettung für die Freunde . . . Hier ganz in der Nähe . . . in München . . . . .

Et senkte die Hand in die Tasche, als suche er noch einmal nach einem Ausweis. Ein rascher, heimlicher Fingerdruck gegen den Sicherungshebel. Er fühlte sich plötzlich von hinten an beiden Armen, rechts und links, von je zwei Fäusten gepackt. Zwei Fremdenkontrolle-Beamte standen da und hielten ihn fest, und der dritte, der Schnurrbärtige, vor ihm sagte:

„Sie! . . . Machen’s kei’ Geschichten, Herr Baron! . . . Drei Männer sind stärker wie einer! Und Sie halten sich ja eh kaum auf den Beinen! Also — jetzt gehn wir alle z’samm’ halt aufs Polizeipräsidium!“

Drachentöter

Подняться наверх