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Zweite Begebenheit

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Die breite Maximilianstrasse in München war an diesem a herbstlichen Sonntagvormittag, ein paar Stunden später, ein schwarzes, wogendes Meer von Menschenköpfen. Ein Brausen, ein Pfeifen, ein hundertstimmiges Schreien vor der schweigenden hohen Front des Hotels, wo die Kontrollausschüsse der Entente ihren Sitz aufgeschlagen hatten. Grüne Polizei stürmte über den Platz vor dem Nationaltheater heran, galoppierte von der Isar her über den Asphalt. Versuchte — eine Handvoll — sich durch das Gewimmel hindurchzuarbeiten — nach dem Mittelpunkt der Gefahr, dort mitten auf der Strasse, um den Köpfe, Hände, Stöcke, Damenschirme drohend, tobend strudelten — nach den beiden goldgeränderten roten Käppis über der zornbewegten Menge.

Die beiden französischen Offiziere sassen mit kalten und höhnischen, aber bleichen Gesichtern in dem offenen, feldgrauen Entente-Auto, das eingekeilt in den Massen stillstand. Münchener Bürger, ältere Männer, bildeten eine freiwillige Schutzwehr um den Wagen, suchten den wütenden Bienenschwarm umher zu beruhigen: „Was habt’s denn davon, wann ihr die schon totschlagt? . . . Sölchene hamm’s in Paris gnua!“

„Wir lassen uns nicht mehr ausspionieren!“

„Die haben net mehr in den Fabriken umeinanderzukriechen!“

„Die haben nix mehr in den Kasernen zu suchen — die Saukerle!“

„Wir sind ein freies Volk!“ schrie eine vor Erregung zitternde, helle Mädchenstimme.

„Ne bougez pas!“ murmelte warnend ein bärtiger Herr mit goldener Brille über den Wagenschlag den beiden Welschen zu, die sich auch wirklich nicht rührten, sondern wie gelbliche, bunt uniformierte Wachsfiguren dasassen und starr vor sich hinsahen. Ein Alt-Münchener neben ihm keuchte im Gedräng und den Rippenstössen der Anstürmenden: „Sie — Herr Nachbar: Sagen’s den beiden Hanswurschten da drinnen, sie sollen net so an höhnisches G’friess herweisen — sonst steh’ ich für nix mehr . . . Hopla — Sie — dös war mei’ Bauch — tun’s doch Ihren Stock eini, mei’ Liaber!“ Er verstärkte seine Stimme: „Leut’! Seid’s doch stad’! Die beiden z’wideren Kerle da im Wagen können ja nix dafür! Die tun halt ihre Pflicht!“

„Schmeisst sie in die Isar — die g’selchten Affen — die g’selchten!“ riet von hinten eine Donnerstimme. Aber nun teilten Pferdeköpfe und Tschakos die Menge. Erreichten den Wagen. Er setzte sich langsam, von Berittenen geführt, umgeben, beschlossen, in Bewegung. Gewann die schützende Einfahrt. Die beiden roten Käppis verschwanden im Dunkel der Torwölbung.

Der Sturm auf der Strasse ebbte. Löste sich in ein Gewimmel einzelner erreger Gruppen, wie schwerer Wogenschlag der toten See unter dem Meeresspiegel. Nun hob die helle Frauenstimme von vorhin an — mitten auf der Strasse — mit einem ungeschulten, aber leidenschaftlich durchdringenden Sopran:

„Deutschland — Deutschland über alles —

Über alles in der Welt . . .“

Hunderte von Hüten lüfteten sich von den Häuptern, Hunderte von Stimmen brausten zu den Fenstern der Entente empor.

„Von der Maas bis an die Memel,

Von der Etsch bis an den Belt . . .“

Der Gesang verstärkte sich. Schwoll zu einem gläubigen Gebet der Massen und verklang:

„Deutschland — Deutschland über alles —

Über alles in der Welt!“

„So! Und jetzt, mein’ ich — jetzt geh’n wir miteinand’ nach Haus“, sagte ein gemütlicher Wachtmeister, der frischweg mitgesungen hatte. Es schien, als sollte sich nun alles, gemäss dem jähen Stimmungswechsel der bald unheimlich fiebernden, bald träge träumenden Isarstadt, in sonntägliches Wohlgefallen auflösen. Da gellte, von dem Prellstein an der Strasseneke herab, eine helle Jünglingsstimme leidenschaftlich über den Platz:

„Nach Haus! . . . Wenn ihr Kaschperle uns nur immer wieder nach Haus schicken könnt! Was G’scheiteres fällt keinem mehr in Deutschland ein! Habt ihr uns im heiligen August vierzehn auch gesagt: Bleibt’s zu Haus!? . . . Da haben wir hinausdürfen . . . Wir alle hier . . . Vier Jahre sind wir nicht nach Haus gegangen, bis wir nimmer konnten . . . .“

Die Menschen strömten in der Richtung nach dem Prellstein und drängten sich. Polizisten arbeiteten sich durch die Menge. Der junge Mann über ihr breitete fanatisch die Arme aus. Seine Stimme füllte mühelos den weiten Platz.

„Der Schützengraben war unsere Heimat! Der Granatentrichter war unser Vaterhaus! Der Sternenhimmel war unser Dach! Wir haben Deutschland die Treue gehalten! Wir sind mit stolzem Haupt heimgekehrt! Wir wollen nicht hinterher dem Saupack von Franzosen die Schuhputzer machen! . . .“

Der Redner war wenig über die Mitte der Zwanzig, bartlos, mit blossem Kopf, baumlang — von etwas zu schmalem Wuchs noch für einen Athleten, und doch in jeder Bewegung voll federnder Kraft des Sportplatzes. Vor ihm — unter ihm — standen seine Freunde — ein Dutzend und mehr — junge Gesichter — gebräunt, wie einst vom Schützengraben, so jetzt vom Gletscherbrand des ewigen Schnees, und bald wieder von der Wintersonne über der weissen Skihalde — gebräunt von Wind und Wetter des grünen Rasens und der blauen Wasserfläche . . . Er hob die geballte rechte Faust. Er schrie:

„Wir sind verraten! . . . Zweiundzwanzig Staaten haben seinerzeit der Reihe nach Deutschland den Krieg erklärt — England und Amerika an der Spitze — und ein Haufe Männer und Weiber in Weimar hat es hinterher im Friedensvertrag von Versailles feig und lügnerisch zugegeben, Deutschland hätte der Welt durch seinen Angriff den Krieg aufgezwungen . . .“

Es ging ein erbittertes Murmeln durch die Menge. Die Schutzleute blieben stehen und horchten.

„Unsere Kabel, unsere Kolonien, unsere Schiffe, unseren deutschen Rhein haben sie in Weimar hingeschenkt und abends im Wirtshaus, im ‚Goldenen Schlüssel’, ins Stammbuch geschrieben: „Erst mach’ dein’ Sach’! — dann trink und lach’!’ . . . Unser herrliches Heer haben sie in Weimar für immer zerschlagen, statt es wiederaufzurichten. Vier Jahre haben wir draussen in der Höll’ auf Erden euch deutsche Frauen vor Marokkanern und Kosacken bewahrt! Dafür schmeisst ein Haufe Männer und Weiber in Weimar unsere tapfersten Kameraden dem Feind als Kriegsverbrecher hin, als wären’s alte Haderlumpen . . .“

„Schande! Schande!“ schrie eine wilde Mädchenstimme in der Menge. Die Freundin daneben beschwichtigte:

„Immer machst du bei so ’was den meisten Lärm!“

„Sei still und falt’ die Hände und schau ihn dir lieber an, wie er dasteht . . . So denke ich mir den Siegfried . . .“

„Wegen dem hellblonden Haarschopf . . .?“

„. . . und wegen den blauen Augen . . . und die Gestalt . . .“

„Bravo! Schwärm’ nur gleich drauf los! Wo du ihn ja gar nicht mal kennst!“

„Der ist der Siegfried . . . Der deutsche Siegfried . . .“

„Und wenn einem dann das Blut kocht, dass die Totengräber des Letzten, was wir noch haben — dass die Totengräber der deutschen Ehre ungestraft in Deutschland deutsche Männer zu Sklaven der Feinde machen“ schrie der Jungmann, „dann heisst’s: ‚Geht’s fei’ heim!’ . . . Kruzitürken ja — da fährt der Franzos in voller Uniform bei uns am hellichten Tag in den Strassen umeinander, als ob ihm München schon gehören tät . . . und dort in Norddeutschland — da sitzt unser Führer — unser Vorbild — unser Hauptmann Kettrich seit Monaten von Entente wegen als Kriegsverbrecher im Gefängnis und kommt in nächster Zeit vor Gericht!“

„Is ja aussi . .!“ rief frohlockend eine Stimme aus dem Hutgewühl unten. Der junge Mann oben beugte sich stürmisch vor:

„Was sagen’s — Sie Freunderl da hinten?“

Eine Zeitung flatterte dort triumphierend in hoch erhobener Hand.

„Da . . . in dem Blatt eben steht’s . . . Gestern in aller Früh ist er ausg’witscht . . . der Kettrich . . .“

„Und nicht wieder gefangen?“

„Keine Spur von ihm . . . schreiben’s da . . .!“

„Hurra!“ schrie der Jüngling oben begeistert, mit leuchtenden Augen. „Unser Kettrich frei! . . .“

„Hurra!“ jauchzten die unten um ihn. Ihre Züge waren verklärt. Sie schüttelten sich glückwünschend die Hände. Es lief ein Rauschen durch die Menge. Da und dort ein Freudenausbruch. Lachende Rufe von einem zum andern: „Der Kettrich ist frei! . . . Unser Kettrich frei!“

„Das haben’s fein gemacht — die Kameraden in Norddeutschland . . .“

„Respekt vor die Preussen!“

„Wo haben sie ihn wohl hin?“ murmelte, unterhalb des Redners auf dem Prellstein, einer der jungen Männer dem anderen zu. Und der ihm ebenso leise ins Ohr:

„Ich denk’, sie schaffen ihn erst nach Pommern oder Mecklenburg, weil’s dahin näher ist. Hernach findet sich der Kettrich schon zu, uns hier ’runter . . .“

Der reckenhafte blonde Siegfried auf dem Prellstein wollte wieder reden. Ein Polizist wehrte ihm schonend.

„Sie müssen jetzt still sein. Ansprachen unter freiem Himmel sind nicht erlaubt!“

„Wenn ihr bloss verbieten könnt! Weiter wisst ihr nix! . . . Das nennen’s nachher heutzutag’ die Freiheit — merkt’s fei’, ihr deutschen Männer — ihr deutschen Frauen da um mich her — das nennen’s die Freiheit, dass alles — ausser dem Schieben und den Schiebetänzen — schlechthin verboten ist — im Namen der Freiheit! Für die Freiheit hat unser Kettrich auch schön gedankt! Ist ausgerückt und hat a solchene Freiheit auf die Kirchweih geladen! Unser Kettrich hoch! . . . hoch! . . . hoch!“

„Hoch!“ schrien die begeisterten jungen Männer in der Runde um den Redner und schwenkten die Hüte. Viele aus der Menge riefen mit „hoch!“, ohne zu wissen, wem es galt. Ein alter Hofbräuhäusler, der schnaufend seinen Bierwampen vom Platzl herauftrug, frug seinen Nachbarn:

„Sö — wer is denn nachher der Kettrich?“

„Einer von die Aufrechten — verstengen’s!“

„A sölchene Leut’ brauchen wir!“ keuchte der Dicke. „Hoch der Herr Kettrich! . . . Dös is an Mann!“

„Hoch! . . . hoch!“

„Hoch!“ schrie leidenschaftlich noch hinten, ganz allein, die Mädchenstimme von vorhin. Um sie lachte es. Der zornentbrannte junge Hüne auf dem Prellstein gellte, auf den Schutzmann weisend, der ihn mit sanftem zwang herunternötigen wollte:

„Da schaut’s her! . . . Wenn einer in Deutschland furchtlos die Wahrheit sagt, dann ziehen’s ihn an den Haxen abi in’n Dreck! . . . Sie, Kamerad von der Sipo . . . Sie tragen das Eiserne Kreuz und das Verwundetenzeichen! Wir haben zusammen gekämpft und geblutet — da draussen! Wir alle hier!“

„Schamen’s Ihna net?“ tobte es rings um die Polizei, die nun wieder nachsichtig zögerte. Der Jüngling oben reckte die Hand zum Himmel.

„Deutschland, heilige Mutter — erwachel . . . Deine Söhne sind da . . . Deine treuen Söhne! . . . Es hat noch Mannskerle genug in Deutschland! Wir fegen schon noch den ganzen Saustall aus! Mit eisernem Besen! Wir sind der Kämpferverein: ‚Kette’! Unserm Kettrich zu Ehren heissen wir so! — Und weil die alten Germanen sich in der Schlacht aneinandergekettet haben, um gemeinsam zu siegen und zu sterben! Dös waren die alten Germanen! Wir san die Jungen!“

„Was glauben’s denn? Ich bin auch dabei!“ Unten schwenkte einer begeistert sein Hütel.

„Gut is! Da schaugts: Den Herrn im weissen Haar!“

„Vor uns liegt die Zukunft!“ schrie der Jüngling, immer noch die Rechte feierlich zum Schwur erhoben. „Die Zukunft soll unser sein, sag’ i . . .Wir wollen nicht unser Leben lang kuschen wie die stummen Hunde und von rechts und links, von jedem dreckigen Nachbar, Fusstritte kriegen und noch: Dank schön! dazu sagen, so, wie wir’s jetzt tun! . . . Wir wollen eine neue, stolze, deutsche Zukunft — das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit — in Ewigkeit — Amen!“

Seine Stimme schmetterte über den Platz wie das Trompetensignal zur Attacke. Als ein Echo gelte fanatisch die Mädchenstimme aus der Masse: „Deutschland hoch!“ — „Hoch! . . . hoch! . . .“ Die Männer riefen es. Die Frauen hatten feuchte Augen. Von der Mitte des Platzes warnte ein gutgekleideter Herr:

„Und was Moskau dazu sagt — daran denkt ihr nicht! . . . Die deutsche Mentalität ist international, oder sie ist überhaupt nicht!“

Als die Schutzleute bei ihm ankamen, lag er schon auf den kleinen, spitzen Kieseln des Pflasters und zappelte mit Armen und Beinen um sich. Sie hatten Mühe, ihn, mit zerrissenem Seidenfutter des Mantels, den Fausthieben der Männer, den Schirmschlägen der Damen zu entreissen. „Von deiner Sort’ haben wir schon mehr als einen kalt-g’macht in München, du Bazi!“ tobte es grimmig hinter ihm her. Die Luft über dem Pflaster schien elektrisch zu zittern, wie in unsichtbaren Wellen aus jenen mörderischen Maitagen von 1919, als die Strassen Münchens von dem Blut von vielen hundert Toten dampften.

Der Siegfried war inzwischen vom Prellstein gesprungen. Er lachte dem Sipomann auf dessen nachsichtige Warnung: „Wenn Sie jetzt net Ruhe geben, muss ich Sie aufschreiben!“ — lachte ihm trotzig ins Gesicht.

„Das können’s gleich haben, Herr Wachtmeister! Zeigen’s mich nur an! Ich sag’ vor Gericht schon mein Sprüchel auf — aber gehörig! Sie — darauf spitz’ ich! Also schreiben’s nur auf: Johann-Baptist Mühlberger — sechsundzwanzig Jahre — katholisch — Oberleutnant der Reserve a. D. — jetzt Handelsbeflissener in der Eisenwarengrosshandlung von Langguth und Meissl — Sohn des pensionierten Bankbuchhalters Sebastian Mühlberger, Ritter des Eisernen Kreuzes von 1870, und seiner Ehefrau, geborenen Rosine Wuchterl . . .“

„Erst schreiben Sie mich auf, Herr Wachtmeister! Ich habe den s-tärksten S-kandal gemacht!“ Ein junger Mann in abgeschabter, sauber gebürsteter Kleidung sagte es in westfälischer Mundart und stellte sich schützend vor den blonden Recken — mittelgross — borstig das Haupthaar — hartstirnig — stiernackig — mit eckigen Schultern — ein Sohn der roten Erde.

„Ich heisse Otto Rulemann. Ich bin Werks-tudent. Hörer am Polytechnikum und Arbeiter in der Eisengiesserei ehemals Morshuber und Kompagnie A.-G. S-pitzen Sie nur Ihren S-tift und notieren Sie auch meine Arbeitskameraden hier!“

Junge bayrische Former und Dreher standen hinter dem trutzigen Niedersachen — Kriegsteilnehmer — mit finsteren Gesichtern — die Fäuste in den Hosentaschen — auf den in das Genick geschobenen Sportkappen das Hakenkreuz. Ein beweglicher junger Mann schob sich durch sie hindurch gegen die Polizei.

„Erscht die Pälzer!“ schrie er fröhlich und heissblütig. „Ich war der wahre Krischer, Herr Wachtmeister! Schreiwe Sie mich uff!“ Und plötzlich hochdeutsch: „Louis Leichsenring — nein . . . Ludwig Leichsenring — Husarenrittmeister a. D. und Kommerzienratssohn aus Pirmasens — jetzt Bankvolontär . . . Ich und der ganz Kriegsbund Leichsenring hier gehören auch auf Ihre Auslieferungslischť — die alle da!“

Die jungen Männer drängten sich von drei Seiten hinter ihren Führern heran. Nahmen sich das Wort vom Mund. Jeder wollte vor dem andern in das Notizbuch kommen. Die Namen hagelten: „Hinrichs — Hauptmann a. D., Landwirtschaftspraktikant! — Schreiben Sie: Neigenfink — Kriegsschwerbeschädigter — nur ein Bein — hier in München mit Respekt zu sagen: ä Sachse! . . . Ritter des Hausordens von Hohenzollern . . .“. . „Friedrich Plänk — Kaiserlicher Korvettenkapitän und U-Bootkommandant — zur Zeit stellungslos . . .“ „Oberst a. D. Ritter von Häveker . . . Ja — was denn, mein Liaber? Sie müssen uns alte Leut’ gerad’ so gut aufschreiben wie das Jungvolk!“

„Wir wollen alle vor’s Gericht!“

„Da sagt’s denen Grosskopfeten, wo’s Deutschland not tut!“

„Mut!“ schrie der Siegfried mit eherner Stimme. Sein blauäugiger, blonder Jünglingskopf überragte alle umher. „Mut! Himmelsakra! Mut! Daran fehlt’s. Schwatzen tun’s — die Herren und die Damen und die Fräulein — in den Parlamenten und aussi — schwatzen tun’s — die Minister — überall in den Ländern — Schwatzen tun’s — die Redner in den Volksversammlungen! Aber’s geschieht nix! Das ist der Fluch! Wir brauchen den starken Mann! Den Mann, der’s Maul hält und handelt!“

„Na — ich mein’, Ihr Mundwerk ist auch net schlecht!“ Der Wachtmeister gab es, erschöpft von dem Massenandrang, auf. Er wollte sein, noch leeres, Notizbuch wieder zwischen die Knöpfe des Mantels schieben. Da zwängte sich ein junges Mädchen mit rücksichtslosen Ellenbogenstössen leidenschaftlich durch die Gruppen der jungen Männer vor ihn hin. Es war, als fürchtete sie, zu spät zu kommen . . .

„Bitte — schreiben Sie mich auch auf!“ sagte sie atemlos.

„Ja — was wär’ denn dees?“

„Ich möchte auch dabei sein . . .“

Der Wachtmeister schmunzelte ein wenig und blickte sie an. Sie war zart gewachsen und einfach dunkel gekleidet. Sie hatte, unter dem schwarz getupften Schleier, runde, kindlich weiche, blasse Züge. Die Augen waren sanft und dunkel. Sie schien noch sehr jung. Sie sagte eifrig:

„Ich bin die Dame, die immer so laut geschrieen hat — die ganze Zeit . . . Haben Sie’s denn nicht gehört?“

„Freili . . .“

„Dann, bitte, tun Sie Ihre Pflicht! Ich mach’ noch mehr Lärm, wenn es nötig ist. Ich will mit vor Gericht!“

„Wie alt san’s denn, Fräulein?“

„Zwanzig!“

„Da stehen’s noch unter väterlicher Gewalt!“

„Meinen Vater haben die Russen, wie sie ihn zu Anfang des Krieges nach Sibirien brachten, auf einer Station acht Tage lang auf einem toten Strang vergessen. Da ist er mit zehn anderen, älteren, nicht mehr wehrpflichtigen deutschrussischen Kaufleuten, in dem verschlossenen Viehwagen erfroren.“

Es ging eine stumme Bewegung durch die Leute ringsum.

„Und da haben’s nix helfen können?“

„Wir konnten gerade noch fliehen! Wir haben unser ganzes Vermögen verloren. Wie wir hierherkamen, starb meine Mutter vor Erschöpfung. Meine beiden Brüder sind als Kriegsfreiwillige im Westen gefallen! Ich will vor Gericht, weil ich: ‚Hoch Deutschland!’ gerufen hab’! Ich heisse Almuth Römer. Bitte, schreiben Sie mich auf!“

„Da stehen’s hier in München ganz allein?“

„Ja. Ich nähre mich von russischem Sprachunterricht und Übersetzungen! . . . Ich bitte Sie: Lassen Sie mich nicht aus Ihrer Liste weg . . .“

„Ja — warum denn?“

„Ich will auch einmal etwas für Deutschland tun!“ Sie sagte es sanft und eifrig. Ihr Lächeln war bescheiden. Sie setzte stolz hinzu:

„Ich bin Genossin des Teutschenrings Irminsûl!“

„Dieselbigen kenn’ ich!“ sagte der dicke Hofbräuhäusler schnaufend zu seinem Nachbarn. „Dös san schon die ganz Scharfen . . . Die Schärfsten — verstengen’s — von die Schärfsten.“

„Was Sie net sagen . . .“

„Dös san schon keine Lutherischen mehr — wissen’s — dös san schon ganz richtige Heiden! Die beten fei’ die Bäume an, mei Lieber . . . An Wotan hamm’s als Kalenderheiligen!“

„Die ‚Irminsäule’ . . .“ meinte der Wachtmeister sinnend.

„Ja Aber jetzt schreiben Sie mich endlich auf!“

„Ich schreib’ Sie net auf!“ Der Mann des Gesetzes wurde plötzlich zornig. „Sie sind, weiss Gott, schon geprüft g’nua . . . Da derft’ ich überhaupts bald das Münchener Adressbuch ausschreiben, wenn ich . . . Na also . . . Endlich haben die Leut’ ein Einsehen und geben a Ruh’!“

Die Menge hatte sich schon gelichtet. Sie rieselte jetzt ganz auseinander. Es war Sonntag-Vormittag und Weisswurstzeit. Aber während sich die Neugierigen trollten, formten sich aus der Masse der Mitläufer heraus scheinbar zwanglos neue kleine Stosstrupps und Trüppchen. Kein Demonstrationszug, bei dem es neue Scherereien mit der Polizei gegeben hätte. Die jungen Männer verstreuten sich zu zweit und dritt, — in losen Reihen — wie es gerade kam — auf dem Bürgersteig — auf dem Fahrdamm — die Residenzstrasse hinunter nach dem Odeonsplatz.

Dort war jetzt die grosse allwöchige Münchener Stunde: Die Stadtmusik vor der Feldherrnhalle. Schon aus Vorkriegszeiten her die Parade der Schönen Welt. Die Kapelle der Reichswehr spielte den Feuerzauber. Bis in die Ludwig-, bis in die Briennerstrasse hinein standen, wandelten, plauderten die Damen und die Herren. Wie verschiedenfarbige Beete leuchteten da und dort in Haufen die Mützen der Korps. Vereinzelt das Grau der Uniformen. Ein Grüssen. Ein Stimmengeschwirr. Ein eindringliches Gerede von Mund zu Ohr. Ein Zunicken im Vorbeigehen. Ein Flüstern beiseite. Das sächsische Ehepaar, das, den roten Reiseführer in der Hand, von den Arkaden her sich das bunte Gesellschaftsbild ansah — es ahnte nicht, dass es hier auf einem blau-weissen Vulkan herumspazierte — dass dieser Boden zerklüftet war von einem unterirdischen Wirrwarr öffentlicher und geheimer vaterländischer Verbände, Kampfgruppen, Organisationen — dass die Taubenschwärme von der Theatinerkirche her allein hier sonder Galle und ohne Staatsgeheimnisse zwischen den Stiefeln der Herren und den hohen Rocksäumen der Damen trippelten.

Der blonde Siegsried ging inmitten seiner Freunde, sie um Kopfeslänge überragend, mit den langen, federnden Schritten des Sportplatzes durch das friedliche, halb stehende, halb bummelnde Gedränge. Ein paar Krankenschwestern, mit dem Hakenkreuz als Brosche, schauten ihm verklärt nach. Das Hakenkreuz war überall. In den Knopflöchern der Herren. An den Hüten. Das Hakenkreuz als Krawattennadel. Das Hakenkreuz als Damenarmband. Das Hakenkreuz an der Mauer. Das Hakenkreuz als einendes Kabbalazeichen über diesem, dutzendfach in einzelne Parteien und Richtungen gegliederten nationalen Aufmarsch der blau-weissen und schwarz-weiss-roten Sehnsucht, in dem jeder wusste, wer der andere war — ihm über die Köpfe weg zuwinkte — ihn beobachtete . . .

Den hünenhaften Jungmann mit seiner wettergebräunten Gefolgschaft kannte die ganze junge Männerwelt auf dem Platz. „Da geh’ her, Hansei!“ rief es und ein strahlendes Gesicht mit einem vernarbten Granatenriss am Kinn raunte: „Du — der Kettrich is frei!“

„Pscht! Mühlberger!“ Von der anderen Seite kam einer und hakte sich in seinen Arm. „Jetzt hab’ ich eine schöne Post für dich: Unserm Kettrich ist’s zu fad geworden! Er hat sich bei den Hanswurschten da oben gedrückt!“

„I weiss doch schon!“ sagte Hans Mühlberger und lachte glückselig. Überall über den Platz hin summte der Name: Kettrich! . . . Kettrich . .!! Ein geheimnisvolles, vielsagendes Zunicken von einem Häuflein zum andern — unterdrückter Jubel auf jugendlichen Zügen — ein bisschen Schadenfreude über den Norden — bedenkliche Bureaukratengesichter . . . Das Wispern eines vergnügten, rosigen Münchener Kindls: „Da wer’n sich die Preissen gift’n!“

„Die Preissen hab’n ihn ja selber befreit!“ belehrte die andere junge Münchnerin. „Es hat solchene Preissen und solchene!“

„Wo sind’s denn hin mit ihm?“

„Das werden’s gerad’ hier ausschellen lassen!“

Hans Mühlberger stand mit den Seinen mitten auf dem Platz. Er hatte jetzt, wo er lachte und nach allen Seiten Hände schüttelte, etwas von einem grossen, guten Jungen an sich.

„Wenn man bloss ’was Näheres erfahren tät, wie’s mit dem Kettrich seiner Flucht gewesen ist!“ sagte er aufgeregt.

„Ihr Bub’n . . I bin ja rein närrisch vor Freud’! I möcht’ glei’ zu schuhplatteln anfangen — gerad’ vor die gichtbeinigen Exzellenzherren dahinten . . .“

„Ja. Mehr vom Kettrich steht in der Zeitung net! . . . Bloss — ’n Steckbrief haben’s da im Norden schon erlassen — heisst’s — und a hohe Belohnung, wer ihn fängt — mehr als wie für a Schock Lustmörder beisammen!“

„Pfui Teifi! Da möcht’ man ausspuck’n!“

„Das weiss ich —“ sagte Hans Mühlberger. „Das weiss ich wie’s Evangelium: Sobald der Kettrich kann, da gibt er mir Nachricht hierher — gerad’ mir! . . . Ich bin sein Treuester von den Treuen! Wir haben’s gemacht wie die alten Deutschen: Wir haben uns in den Arm geschnitten und haben’s fei’ ins Glas tropfen lassen und in rotem Tiroler dann Blutbrüderschaft getrunken. Wann mir der Kettrich jetzt sagt: ‚Hans! Spring vom Rathausturm ’runter!’ — ich tu’s!“

„Das weiss a jeder, dass du ihm blind ergeben bist!“

„Und dös war die ganze Zeit mein Herzweh, dass wir das Befreiungswerk haben denen im Norden überlassen müssen, weil wir z’wenig Verbindungen haben . . . da oben . . . Na — Hauptsach’, dass er frei is! . . . Rulemann — was gibt’s?“

Der vierschrötige westfälische Werkstudent zog den baumlangen, jungen Bajuvaren beiseite.

„Siehst du den schnurrbärtigen, grossen Herrn, der da drüben bei dem Leichsenring und seinen Leuten s—teht?“

„I kenn’ ihn net!“

„Sehr vers—tändlich! Denn er s—tammt aus Norddeutschland. Es ist ein Major a. D. von Goddentow. Er ist vorhin mit dem zweiten Berliner Nachtschnellzug angekommen!“

„. . . und weiss was vom Kettrich?“

„Er hatte selber die Hand mit im S—piel! Komm schnell hin zu ihm!“

Sie bummelten harmlos durch das Gewühl. Ringsum plauderte und scherzte es. Die Musik spielte den Fledermaus-Walzer. Die Herbstsonne schien hell. Der Himmel war blau. Rosige Mädchengesichter lachten. Die Hakenkreuze blinkten. Der Boden schien leise zu beben. Es zitterte etwas Unsichtbares in der Luft . . . . . .

Jenseits der Stelle, wo beim Sturz der Räterepublik das Münchener Volk den bolschewistischen, riesigen Matrosenhäuptling und ein paar seiner Sowjetrussen als Rache für die Ermordung der Geiseln erschlagen hatte — da, wo es schon menschenleer war, stand der Kampfbund Leichsenring um den Gesinnungsgenossen aus Norddeutschland. Der Major von Goddentow berichtete, während die beiden herantraten, raunend und etwas sorgenvoll:

„Tja — die Sache hat ja geklappt — aber eine Patentlösung wurde es nicht! Irgendwo da oben bei uns, in unseren Reihen, steckt Verrat! . . . Wir merken’s immer wieder und suchen und finden’s nicht . . .“

„Dös is doch überall dieselbige Sauerei!“

„Die Flucht Kettrichs wurde ganz offenbar verraten. Zum Glück im allerletzten Augenblick! Es handelte sich buchstäblich um Minuten! Als die Wächter in die Zelle stürzten, hatte der gute Kettrich eben abgebaut . . .“

„Glück muss der Mensch haben!“

„. . . Nu noch der höllische Dusel, dass sie vor unserem Automobil einen harmlosen Spiesser abklappten, der blind wie ein Karnickel darauf zulief. Ich hatte genau noch währenddessen Zeit, mich meinerseits zu salvieren und vom Chauffeursitz zu verschwinden! Einen Augenblick habe ich deutlich, auf der anderen Seite vom Platz, in der dunklen Gasse den Kettrich gesehen — in seinem langen, weissen Gefängniskittel!“

„Gottlob! Dös gibt einem wieder an Schwung!“

„. . . bis sie nun merkten, dass sie da einen unglücklichen Reiseonkel an Stelle vom Kettrich erwischt hatten — da hat der ja ’nen kleinen Vorsprung gewonnen! Aber trotzdem: wir sind in grösster Unruhe! . . . Auch wenn man ein Kettrich ist — aber ohne einen Groschen Geld — in Sträflingskleidung — mit Pantoffeln an den Füssen — wie weit kommt denn da der Mensch?“

„Ui Sakra ja!“

„Da habe ich gedacht: ‚Vielleicht wissen die Herren in München etwas!’ — und hab’ mich auf die Bahn gesetzt und bin hierher!“

„Nix wissen wir!“ sprach Hans Mühlberger und nagte an der Unterlippe. Seine Augen gingen gedankenverloren über den von der Herbstsonne vergoldeten, menschenwimmelnden, musiküberfluteten Platz. Dort, zwischen den anderen Leuten, stand das junge Mädchen von vorhin, das durchaus auch hatte aufgeschrieben werden wollen. Sie schaute herüber. Er war schon gewohnt, dass ihn die jungen Mädchen anstarrten. Junge Frauen auch. Ihr Name, den sie vorhin der Polizei genannt, ging ihm, in der Geistesabwesenheit, durch den Kopf: Almuth Römer . . . Er sah zerstreut unter dem Schleier das weiche, junge, runde Kindergesicht — die dunklen, sanften, eigensinnigen Augen. Er sah ihr bescheidenes, dunkles Kleid im Wind um die zarte, magere Gestalt flattern, und beachtete es nicht und wendete seinen blossen blonden Haarschopf zur Seite und sagte:

„Sie nennen mich den Freund von unserem Kettrich, Herr Major! . . . Wissen’s: das is für mich zu viel Ehre! Der Kettrich und ich sind freilich Freunde! Aber ’s is halt doch ’was anderes . . . vom Kettrich geht ’was aus . . . auf einen . . . Ja — das lässt sich net so beschreiben! . . . Und kurz und gut: I geh’ eben für den Kettrich durchs Feuer.“

„Und sell bawwelt er net bloss so hin!“ bestätigte Louis Leichsenring, der Rheinpfälzer. „Sell hat er im Krieg mehr wie einmal bewiese!“

Das junge Mädchen stand drüben und schaute immer wieder einmal in einer stillen, leidenschaftlichen Versunkenheit zu dem Hans Mühlberger hinüber. In ihrem unscheinbaren Mäntelchen und Rock hob sie sich wenig aus der Menge ab. Nicht weit von ihr leuchtete es farbenfreudig in grüngesticktem grauem Loden und gemsledernen kurzen Hosen, blossen, braunen Knien, gesticktem Ledergürtel unter bunter, von Silbertalern klirrender Weste, rosa Halstuch, wehendem weissem Adlerflaum auf keckem Hütl. Jetzt, wo nach altem Brauch das Oktoberfest auf der Theresienwiese draussen begonnen hatte, waren immer viele Tausende von Bauern, zumal Sonntags, in der Stadt. Der junge Bursche, der diese Pracht des bayrischen Hochlandes trug, war klein von Wuchs und ein wenig säbelbeinig. Er hatte ein offenes, freundliches, blasses Gesicht mit einem kleinen blonden Schnurrbart. Er ging unsicher, zögernd, ein an die Einsamkeit seiner Berge gewöhnter Älpler, unter dem Stadtvolk herum. Näherte sich, wie durch Zufall, bis auf einige Entfernung, der Gruppe um den Major von Goddentow. Blieb, die Hände im Gurt, müssig stehen.

Die Kleine drüben sah es. Sie bemerkte deutlich, dass das Auge des Oberländers einen Blick des blonden Siegfried zu erhaschen suchte. Aber der und seine ganze Gesellschaft steckten die Köpfe zusammen wie die Verschwörer und verhandelten leise. Er achtete nicht auf den dürftigen jungen Menschen im kurzen Wichs, der sich langsam zurückzog und in der Masse verlor.

Aber da war er wieder . . . diesmal von der anderen Seite, so dass der Hans Mühlberger ihn eigentlich hätte sehen müssen, wenn er nicht so angelegentlich mit dem schnurrbärtigen Preussen einen Kriegsrat gepflogen hätte. Überall auf dem Platz tuschelten solche Gruppen, wisperten, hatten Geheimnisse. Der junge Mann in Lodenjoppe und Wadenstutzen stand und bemühte sich, dem eben vergnügt wie ein Junge lachenden Blondkopf, der hoch den Kreis der Freunde um ihn überragte, ein Zeichen zu geben — ihn unauffällig beiseite zu locken . . . Es half nichts. Das junge Mädchen drüben sah es deutlich . . . . . . . .

Es zuckte ihr in den Fingerspitzen, in den Fussspitzen, selber an Stelle des einfachen Mannes vom Lande hinüberzugehen und den Hans Mühlberger darauf aufmerksam zu machen, dass ihn da jemand suchte! Aber er kannte sie ja ebensowenig wie den jungen Oberbayern. Gott sei Dank — sie atmete auf — jetzt fasste der endlich einen Entschluss. Er ging, bedächtig in seinen schlürfenden Nagelschuhen, mit dem schweren, etwas krummen Knie des Bergbauern, auf den Ring der jungen Deutschen zu.

Zwischen denen und ihm schwenkte knatternd ein Motorrad auf den Platz ein. Stoppte. Der vierzehnjährige blonde Bub im Sonntagsgewand, der es geübt lenkte, sprang vom Vordersitz und näherte sich, es mit der Linken schiebend, mit der Rechten höflich sein Kapperl lüftend, aufgeregt den Herren.

„Musst gleich heimkimma, Hansei!“ schrie er seinem älteren Bruder, dem Siegfried, zu. Der lachte:

„Wo brennt’s denn nachher, Peperl?“

„Telephoniert hat einer . . .“

„Ja mei’! — Ist denn der Vater net da?“

„Dich hat er sprechen wollen! Keinen anderen net!“ flüsterte auf einmal der Bub und hob sich auf den Fussspitzen, um das Ohr des grossen Bruders zu erreichen. „Recht ängstlich war er am Telephon und hat gedrängt, man soll dich holen! Nachher will er noch ’mal anrufen! Es wär’ ganz ’was Wichtiges!“

„Aber was — das hat er net gesagt?“

„Na! Bloss . . .“ Der Pepi machte grosse geheimnisvolle Augen. Auf seinem Kindergesicht malte sich der besorgte Ernst des Mitwissers der Geheimnisse, die über dem Odeonsplatz brauten. „Bloss . . . die drei Worte hat er g’sagt . . .“ Er wisperte dem jungen Hünen etwas ins Ohr. „Verstehst — die drei Worte hat er g’wusst! . . . Hansei — der is zünftig — derselbige am Telephon!“

Das Antlitz des Hans Mühlberger war plötzlich sehr ernst geworden. Der Kleine ergänzte atemlos und wichtig:

„Da hab’ i glei’ dei’ Rad genommen und bin hierher!“

„Weiss keiner ’was?“

„Ah na! Die Eltern waren noch in der Kirch!“ sagte der Tertianer, „und die Cenz — die Madel san doch zu dumm zu so ’was!“

„Dös is was vom Kettrich!“ Sein Bruder sprang auf das Rad, der Gymnasiast setzte sich hinten auf. Es puffte und knatterte. Sie schossen davon — in der Richtung nach der Nymphenburger Strasse — achtlos an dem bleichen, säbelbeinigen jungen Mann in trotziger Hochlandstracht vorbei, der ihnen betroffen und verbissen nachguckte.

„Hat er schon angebimmelt?“ Hans Mühlberger stürmte mit Siebenmeilenstiefeln an den langen Beinen die Treppe zu der bescheidenen elterlichen Wohnung empor. Der Papa Mühlberger sass da in der Wohnstube am Fenster und hatte, unter dem weissen Schnurrbart, die lange Pfeife im Mund. Er trug heute, dem Sonntag zu Ehren, sein Eisernes Kreuz von 1870 im Knopfloch. An der Wand hing unter Glas und Rahmen ein photographisches Gruppenbild seines Vereins der Ritter des Eisernen Kreuzes von Anno Siebzig — alle nun schon Siebziger und Achtziger — mit der Erinnerung an Wörth und Sedan.

„E hat bisher noch nix wieder von sich g’spüren lassen!“ sagte er und paffte heftig, um seine eigene Unruhe zu verbergen. „Da kannst nix machen, Hanserl! Musst halt warten!“

Das Telephon war in der Stube. Nebenan deckte die Cenz, die hübsche, blonde Haustochter, den Mittagstisch und lief dazwischen in die Küche, wo ihre Mutter mit der Magd ein Ganserl briet. Ihr Bruder Hans stellte sich zornig mit dem Rücken gegen den Kachelofen, die Hände in den Hosentaschen, wie eine Schildwache neben den Fernsprecher.

„Wann d’ bloss warten darfst!“ stiess er hervor. „Alleweil heisst’s: Seid stad! . . . Oder, wie’s in einer gerad’ so hundsmiserabligen Zeit bei die Preussen geheissen hat: ‚Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!’ . . .“

„Hol’ der Teifi die Ruh’!“ sprach der Alte freundlich.

„I sag’ dir, Vater: Was i heut’ wieder fuchtig gewesen bin . . .“

„I — meinst, ich krieg’s net mit der Wut, wenn ich den Saustall von heutzutag’ she —.“ Der Papa Mühlberger stocherte in seiner Pfeife: „ich, wo ich noch bei Orleans mit dret Löcher im Leib die Winternacht im Schnee gelegen hab’ und mir g’sagt hab: ‚Wastl — jetzt is mit dir gar! Macht nix! . . . Das Reich is da!’ Und jetzt bringen’s das ganze Reich auf die Gant — die Bazi — die drecketen . . .“

„. . . wie ich heuť am hellichten Tag mitten auf der Maximilianstrass’ wieder die roten Käppi und die roten Hosen gesehen hab’“ . . . knirschte der junge Mann. „Ich hab’ sie gesehen draussen, wie du, Vater, im ersten Jahr vom Krieg! . . . Da waren am Abend die Felder weithin rot, wie wenn der Mohn blüht, und hat sich nix mehr gerührt — so haben wir aufgeräumt! . . . Wir haben keinen Rothosenen über’n Rhein gelassen, anders als als Gefangenen — aber die schon ’gnua! — und auch net, wie sie später schieferblau ang’ruckt sind! Vier Jahre lang net . . . wir haben den ganzen Krieg über in Frankreich die Wacht gegen die Franzosen gehalten! Und jetzt — im Frieden — jetzt lassen’s die Franzosen nach Deutschland eini! Jetzt laufen die in ihren roten Hosen in den deutschen Städten umeinander! I — da möcht’ man doch alles kurz und klein schlagen . . . sapperdibix!“

„I bewunder’ dei’ Ruh’!“ sagte der Papa. „Ich, wie i jung war, mei’ Lieber, war hitziger!“

„Net amal die Fenster darfst einschmeissen, da wo die verfluchte Bagasch’ wohnt!“

„Warst halt immer ein stiller Bub!“

„Da haben’s gerufen: ‚Die beiden Franzosen — die tun ihre Pflicht!’ Sehr recht! Aber die Deutschen, die ihnen das zur Pflicht gemacht haben — denen möchť ich ihre Pflicht mit dem Ochsenfiesel auf den Buckel schreiben!“

„Hansei — ka Schneid hast net!“ sagte der Alte. Er nahm die lange Bismarckpfeife in den Mund und zündete sie mit zitternder Hand wieder an. „An Ochsenfiesel — des is viel z’ wenig! . . . Die Engländer und die Franzosen, die haben ihren König geköpft. Das war ein schreckliches Verbrechen. Aber ein König ist auch ein Mensch. Es wächst ein anderer für ihn nach. Aber in Weimar haben’s die deutsche Ehre umgebracht — im Vertrag von Versailles — die Verbrecher und die Verbrecherinnen —“

„. . . schon dass wir unsere Feldherren und Kriegshelden hätten ausliefern sollen!“ Der Sohn hob die geballten Fäuste. „Und das nennt sich Deutsche und erstickt net daran . . .“

„. . . und die Ehre, Hansei — die wachst von selber net wieder nach! Nie und nimmer! Die muss sich a Volk wieder holen, und dös gibt an harten Gang.“ Der Vater Mühlberger stand auf. Er hatte heute ausser dem Elsernen Kreuz noch den bayrischen, den badischen und den württembergischen Militärverdienst-Orden und ein paar andere Kriegskreuze auf der Brust. „Wenn i no raufen könnt’ —“ brummte er. Und dann, ergeben: „Aber i bin halt alt!“

„Horch . . .“

„’s Telephon?“

Nein. Es war blinder Lärm. Vater und Sohn schwiegen. Aus dem Nebenzimmer rief die helle Stimme der Cenz: „Mittag is! Kommt’s zum Essen!“

Die Cenz, eine stämmige, schöne, achtzehnjährige Bavaria von der Theresienwiese, teilte die Suppe aus. Die Eltern löffelten behaglich. Der Hans Mühlberger ass nichts. Er horchte immer wieder, ob nicht nebenan der Apparat schrillte.

„Cenz — wie weit stemmst du jetzt den Diskus?“

„I sag’s net!“ Die Cenz tat geheimnisvoll. „Ihr werdet’s ja heut nachmittag schaug’n!“

„Aber im Weitsprung hast dich um zehn Zentimeter verbessert! Dös is Tagesgespräch . . .“

„Um beinah’ elf!“ berichtigte Fräulein Mühlberger. Sie räumte die Teller ab. Man ahnte die Spannkraft des Biceps unter ihren durchsichtigen Blusenärmeln.

„Kommsť leicht heut’ gar net an die Reih’!“ sprach der Tertianer kauend, in Verachtung der Weiblichkeit. „Die Leuť draussen — die wollen euch Madel heuť gar net schaug’n — heuť, wo die nordischen Meister zu Besuch da sind. Dös gibt an Wettbewerb . . . Hansei: heut’ derfst zeig’n, was du kannst!“

„Der Hansei wird schon Ehre einlegen gegen die Finnen und die Norweger!“ sagte die sportehrliche Cenz, ohne jede Empfindlichkeit und mit leuchtenden Augen. Der ältere Bruder wehrte finster ab.

„I hab’ jetzt anderes im Kopf! . . . Vater: Warum ruft denn der von vorhin net wieder an?“

„Wahrscheinlich, weil’s gefährlich is, für ihn! Er traut sich net noch einmal an den Apparat!“

Hans Mühlberger stand brüsk vom Tisch auf und bezog wieder seine Wachtstellung am Telephon nebenan. Er lehnte da beharrlich, mit gekreuzten Armen. Nach einer halben Stunde steckte die Schwester fröhlich den blonden Münchener Kindl-Kopf in Hut und Schleier durch den Türspalt und zeigte lachend die weissen Zähne:

„Hansei? Kommst jetzt mit?“

„I hab’ kei’ Zeit!“

„Ja aber — “

„Schau, dass d’ weiterkommst!“

Er hörte das Haustor unter der kräftigen Hand der Cenz dröhnen. Er harrte und harrte . . . wieder eine halbe Stunde . . . da endlich . . . Er fuhr auf . . . Es schrillte . . . Er riss den Hörer ans Ohr — beugte seine Körperlänge zu dem Apparat nieder. Sein Antlitz verfinsterte sich: Es waren nur die Freunde. Vom Sportplatz draussen. Sie mahnten: „Wo bleibst denn? Ohne dich sind wir g’schmiert! Dös weisst eh! Mach’ schnell!“

„Ja — ja I komm’ schon!“ Er hängte ungeduldig ab. Er konnte sich nicht von dem Telephon losreissen. Er ging rasch und rastlos, mit feindseligen Blicken, vor dem stummen Kasten auf und nieder. Da lebte der wieder auf. Es klingelte. Das waren gewiss immer noch die Sportbrüder draussen, die ihn drängten! Herrgott— lasst’s mich in Ruh! . . . Zornig führte er die Muschel ans Ohr. Plötzlich wurde sein Gesicht starr und feierlich fast ein wenig bleich. Durch den Ferndraht raunte eine unbekannte Männerstimme mit oberbayerischem Anklang.

„Wer is am Apparat? . . . Der junge Herr Mühlberger? . . . Der Herr Johann-Baptist Mühlberger? . . . Hören’s, Herr Mühlberger . . . Wie geht’s ’m Göd?“

Er zuckte zusammen. Da waren wieder die drei geheimen Worte . . .

„Gut geht’s ’m — dem Göd!“ sagte er ruhig in den Apparat. Eine kurze Pause. Dann wieder die ferne Stimme:

„Am Telephon lässt sich das alles net so leicht ausdeutschen — gelt? Man weiss nie, wer zuhört! . . . Also bitt’ schön, Herr Mühlberger . . . seien’s so gut: auf dem Sportplatz draussen — da kommt unser Bote schon an Sie ’ran . . . da reden’s dann frei mit ihm . . . net wahr? Vergelt’s Gott viel tausendmal! . . . Alsdann . . . Pfü’et Gott, Herr Mühlberger!“

„Grüss Gott!“ sagte Hans Mühlberger mechanisch. Dann kam Leben in ihn. Blinde, atemlose Hast. Den Hörer an den Haken! Hut und Mantel auf dem Vorplatz vom Riegel! Sein blau-weiss gestreiftes Sporttrikot hatte er zum Glück schon unter den Kleidern an. Im Sturmschritt nach der Flurtür.

„Hansei! — Wohin?“

„’naus, Vater! . . . Nix wie ’naus . . . auf den Sportplatz . . . I darf dir net mehr sag’n! I weiss ja selber noch nix . . . Wie? . . . I hab’ kei’ Zeit . . . Auf Wiederschauen auf d’ Nacht . . . Wann i bloss noch zurechtkomm’. . .“

Frisches Herbstwehen über den weiten Flächen vor der Stadt. Warmes Sonnengold. Weiss segelnde Wolkenballen am blassblauen Himmel. Fern schon der schwarze Saum der Zaungäste. Buben auf Bäumen. Windverwehte Musik. Farbige Anschläge an der letzten Strassenecke, an der Bretterwand, am Eingang — mit schwarzem Teer und roter Tünche auf weisse Pappe in den Reichsfarben gepinselt. In grossen, schiefen Buchstaben: „Die nordischen Meister.“

Innen, im Eirund der grünbewachsenen Arena, verkündeten gerade, als er eintrat, halbwüchsige Buben, die Klubfarben am Ärmel, durch grosse pappene Schalltrichter mit hellen Knabenstimmen aus dem Innenraum des Platzes nach den vier Windrichtungen: „Es wirft Jorois-Finnland!“

Alle Augen waren auf den Nordländer gerichtet, der zum Sprung antrat. Hans Mühlberger, sonst hier der Held des Tages, konnte ein paar Minuten unbeobachtet, mit dem leichtausgreifenden, federnden, an freies Edelwild erinnernden Gang des grossen Sportmanns, aussen die Bahn umschreiten — an den Holzbänken des Ersten Platzes hin — an dem mit Papptafeln gezeichneten Raum für die Ehrengäste und die Presse. Über den zweiten Platz — durch das Gedränge des Stehplatzes drüben. Er dachte sich: Wenn auch alle auf den finnischen Meister schauen —der, der mich sucht, sieht mich schon. Lang genug bin ich dazu . . .

Der Finnländer, ein kaum mittelgrosser, breitschulteriger, mit Muskelbündeln vollbepackter Athlet, lief, in andächtiger Stille ringsum, mit erhobenem Speer über die Mitte des Rasens heran. Grosse, schwarze, arabische Zahlen auf Papptäfelchen am Boden zeigten seitlings die Entfernungen — 30 — 40 — 50 Meter. Dann der derzeitige deutsche Rekord. Dahinter — nur ein paar Meter weiter — in unerreichbarer Ferne, dämmerte der Weltrekord . . .

Hans Mühlberger blickte nicht auf die Bahn, sondern auf die Zuschauer. Keiner unter ihnen, dessen Auge nicht fieberhaft an der Mitte des Platzes hing . . . Ein Brausen von Menschenstimmen. Ein prasselndes, dünnes Händeklatschen, das sich in der weiten, freien Luft verlor.

„Jorois-Finnland! 61,95 Meter!“ riefen feierlich die hellen Knabenkehlen durch die Sprachrohre! Bravo! . . . Bravo! Die Musik spielte. Die Freunde umringten aufgeregt den blonden, jungen, bayrischen Riesen.

„Was ziehst dich denn da herum, Hans! Mach’ dich fertig! Schau’, dass d’ deine rechte Form zeigst — damit der Finnländer wenigstens an Respekt kriegt . . .“

Der eine klatschte ihm mit den Händen vor den versonnenen blauen Augen:

„Hansei! Aufg’wacht! . . . Was stehst denn da und machst an Sterngucker!“

Der Hans Mühlberger schaute, während der Finne zum zweiten und dritten Mal warf, nicht nach den Sternen hinauf, sondern über den fröhlich bewegten Sportplatz hin. Die bayrisch blauweissen und Münchenerisch schwarzgelben Wimpelchen flatterten, in bunten Farbenflecken leuchteten die vielscheckigen Sweater vom Grün des Bodens. Im Längsrund herum wogte ein Gewimmel von Sportmützen und blauen Schirmkappen. Neun Zehntel der Zuschauer waren junge Männer. Frauen nur vereinzelt dazwischen. Sein Auge streifte, während es nach irgendeinem Zeichen von unbekannter Seite suchte, eine einsam für sich stehende Mädchengestalt. Ihr dünnes Mäntelchen und ihr kurzer, dunkler Rock flogen im Wind. Irgendwo hatte er heute das blasse, runde, weiche Kindergesicht mit den dunklen Augen unter dem getupften Schleier schon gesehen. Ja — das war ja die hitzige, kleine Urschel gewesen, die durchaus auch mit aufgeschrieben werden wollte und vor Gericht . . . Sogar der Name, den sie dem Polizeimann zugerufen, klang ihm im Ohr: Almuth Römer . . . aber leer — ausserhalb seiner Gedanken . . . Er blickte von ihr weg. Spähte weiter über den Platz. Er sah nichts . . .

Die Freunde drängten. Er wehrte lachend ab. „Was wollt’s denn: Ich blamier’ mich ja doch nur gegen den Finnen! Dös gibt an bethlehemitischen Kindermord! Weiter nix!“

Aber dann warf er doch das Alltagskleid ab und trat, nur die dünne, farbige Hülle des Sporttrikots auf dem jugendstarken Leib, den Speer in der Hand, lang aufgeschossen wie eine Schwarzwaldtanne, in die Arena. Es war ein Rauschen der Bewunderung umher, während er den Speer in erhobener Rechten rückwärts schwang und prüfend die Zielweite mass. Die Frauen machten gerührte Gesichter. Die Männer schauten wohlgefällig auf seine sieghafte, blonde, jugendliche Kraft.

„Jessas ja! Dös is aner! Solang wir noch solche Bub’n in Deutschland hamm, da feit sie nix.“

„San immer noch welche vom Krieg übrig! Gott sei gelobt!“

„Wachsen nach — Herr Nachbar — wachsen nach! Schauen’s nur das Jungvolk an! Dös is a freud’ . . .“

„Sö — jetzt werft er!“

Der Hans Mühlberger stürmte, mit erhobenem Eschenspeer, über den sonnenüberfluteten Rasen. Das war nicht mehr der junge Handelsbeflissene einer Eisenwarengrosshandlung — das schien nicht mehr ein Bild von heute — da schleuderte Siegfried selber im Wasgenwald die Lanze wider Bär und Elch und schlug das Wild des Urwalds — starker Ure viere und einen grimmen Schelch . . .

Im Laufen schnellte der blonde Recke den Speer aus dem vorgewirbelten Arm. Der Speer zischte in weitem, flachem Bogen durch die Luft über die Bahn, suchte die Erde, blieb wild zitternd im Boden neben den Zahlentafeln stecken. Ein Jubel ringsum. Ein Händeklatschen! Jeder sah die schwarze 60 auf der weissen Fläche — die Grenze einer durchschnittlichen, hohen Weltleistung. Die hellen Knabenkehlen brauchten kaum mehr durchdringend aus ihrem Sprachrohr in das freudige Stimmengewirr zu trompeten: „Mühlberger 60.05 Meter!“

Der finnische Meister schüttelte seinem deutschen Sportgenossen anerkennend die Hand. Hände überall. Glückwünschende umdrängten ihn. Sein blonder Haarschopf ragte über die Menge. Er sah, in zwanzig Schritt Entfernung, abseits von den anderen — allein wie immer — das junge Mädchen. Die Almuth Römer. Sie merkte nicht, dass er sie beobachtete. Sie kam wohl gar nicht auf den Gedanken, dass er sich um sie kümmern könne. Sie schien gang zufrieden, still beiseite dazustehen und ihn anzuschauen. Das tat sie schwärmerisch, mit einer weltversunkenen Andacht. Er musste über das narrische Mabel lachen. Aber dann fiel ihm ein, was sie dem Schutzmann von ihrem furchtbaren Schicksal — der Ausrottung ihrer ganzen Familie durch den Krieg — erzählt hatte. Sie dauerte ihn. Er wollte ihr etwas Freundliches antun. Er trat auf sie zu. Er lachte gutmütig. Sie schaute ihn unsicher, verwirrt an. Sie glaubte zuerst gar nicht, dass das ihr gelte. Dann kam ein glücklicher Schein in ihr Gesicht. Er sah eine zögernde Bewegung ihrer Hand und erkannte, dass sie ihm auch Glück wünschen wollte, und kam ihr entgegen und nahm ihre Hand in seine mächtige Rechte.

„Na — san’s zufrieden?“ frug er lustig.

Sie blickte zu ihm empor und sagte dankbar:

„Ach — war das schön.“

„Der Wurf eben? Haben’s so viel Freude am Sport?“

„Ich versteh’ nichts davon! . . .“

„Ah — da schaugst! . . . Und sind doch hier draussen . . . bei die Sportfexen?“

„Ich hab’ doch Ihren Namen gehört — heute vormittag — und dann in der Zeitung gelesen, Sie würden heute nachmittag hier mit den Nordländern kämpfen, — und da bin i ich auch heraus!“

Er lachte belustigt.

„Also mir gilt die Ehre?“

„Ja.“ Sie nickte unbefangen. „Weil Sie ein deutscher Mann sind — wie ich ihn mir denke! Ich habe Sie doch heute von dem Prellstein herunter reden hören! . . . Das war das Rechte! . . . So müssen mir sein! . . . Ich danke Ihnen noch einmal dafür!“

Sie gingen langsam, in der Kameradschaft des Sportplatzes, miteinander auf und ab. Er war ernst geworden. Er schlug feinen langen, weisswollenen und blaugeränderten Sportmantel fester gegen den Herbstwind um die Schultern und sagte:

„Sie sind schon eine rechte Deutsche, Fräulein! Das hab’ ich schon gemerkt!“

„Ja. Das bin ich!“

„Und Sie haben’s net so leicht wie andere! Nach allem, was Ihnen widerfahren is . . .“

„Gerade darum! Wir haben doch als Deutsche im Ausland gelebt. Ich habe an Deutschland alles verloren. Aber auch alles. Da kann man Deutschland gegenüber nicht gleichgültig sein — nach solchen Opfern! Da muss man es lieben oder man muss es hassen! . . . Und da bin ich auf das erstere gekommen. Ganz von selber. Es ist gar kein Verdienst dabei!“

„Aber brav ist es schon!“

„Es wird einem nur so schwer gemacht!“ sagte Almuth Römer. „Was kann man denn heutzutage in Deutschland gern haben — so wie es jetzt ist? Man möchte etwas bewundern — zu etwas aufschauen! Aber es ist nichts in Deutschland da! Es ist alles so platt — so gewöhnlich — so leer . . .“

„Dös glaubst“, nickte der Recke und ballte die Faust in der Richtung gegen Westen — da, wo Paris lag . . .

„Und da haben mir Ihre Worte heute einen rechten Trost gegeben! . . . Ich bin ja bei der ‚Irminfûl’. Das sind ja gewiss vaterländische Männer. Aber meist sind sie schon älter . . . Und dann immer bloss: Heil! und: Wodan! . . . Wir leben doch in der Gegenwart! . . . der haben Sie heute eine Fadel aufgesteckt! . . . Ihnen geht’s wie Feuer vom Mund . . .“

„Mei’ — I sag’s halt g’rad, wie’s is — Fräulein!“

„Ja eben! . . . Da geht man mit! . . . Ach — man möchte ’was, tun! Ich bin zu allem fähig, wenn ich weiss, dass es das Rechte ist! Man muss es mir nur sagen!“

Sie brach ab. Sie lächelte zum erstenmal. Ihr blasses Kindergesicht war eigentlich sehr hübsch. Sein weiches Rund schmeichelte sich allmählich, fast unmerklich, in fremde Augen. Sie setzte zutraulich und hoffnungsvoll hinzu:

„Ich bin nämlich viel leidenschaftlicher, als ich ausseh’!“

Er lachte. „Das hab’ ich schon g’spannt — wissen’s!“ und überschaute dabei wieder unruhig den Platz. Nirgends etwas Ungewöhnliches. Nirgends ein Mensch, der ihm durch Kopfnicken oder Augenwink ein geheimes Zeichen gab. Hinten zupfte ihn einer am Mantel.

„Glei gehst bei — Hanseil. Der Norweger tritt scho’ an!“

„Es springt Larsen-Norwegen!“ trompeteten die Jungen. Und, nach kurzer Pause: „Larsen: 4 Meter!“ Stürmisches Händeklatschen hinterher.

Hans Mühlberger hatte heute an dem Sport keine Freud’! Er stand mit den anderen, jungen deutschen Athleten in schwarzen Schlüpfern und schwarzen Kniehosen um das hochragende Sprunggestell. Einer nach dem anderen bemühte sich, es dem Skandinavier nachzutun, der seinerseits dazwischen Angriffe auf den Weltrekord von 4¼ Meter unternahm. Umsonst. Immer wieder fiel die Latte herunter.

„Hans! Jetzt schraubst di’ mal fei’ aufi!“

Bisher war der Hans Mühlberger ziemlich achtlos noch in langen Hosen gesprungen. Nun streifte er diese unbekümmert ab und ebenso den Sweater — stand nur in dünnem Sporthemd und Kniehosen um den muskelstarken Jünglingskörper — bezeichnete sich mit dem Stab am Boden unter dem Gestell den Punkt zum Aufsetzen — ging zurück — kam angerannt — stemmte die Stange auf — schwang sich hoch — lag einen Augenblick vollkommen wagrecht oben in der Luft frei über der Latte — liess die fallende Stange los — flog drüben herunter — überkugelte sich auf der Erde — schaute, noch im Siken, in die Höhe . . . Dort lag die Latte unberührt . . . Stand auf. Klopfte sich den Staub ab. Händeklatschen und Beifallsrufe um ihn her. Über den ganzen Platz hin der prasselnde Zweitakt der Handflächen.

„Darfst di schon sehn lassen, Hansei!“

„Mühlberger: 3,80 Meter!“ schrien die Knabenstimmen.

Die Freunde umdrängten ihn. Er sprach eifrig mit dem etwas Deutsch verstehenden Norweger, der, braungebrannt, lang, mager und hager wie ein Wüsten-Araber, nur aus trockenen Sehnenbündeln über einem Knochengerüst zu bestehen schien. Im Umkreis schauten die herangedrängten Zuschauer — fast alles sachverständige junge Männer aus dem Volk — bewundernd auf ihre Vorbilder. Almuth Römer stand neben einem sportbegeistert strahlenden Schuppomann in Zivil. Plötzlich fühlte sie von der anderen Seite her eine Wolke kräftigen Gebirgsknaster, so, als sei es Absicht, in ihr Gesicht wehen und wendete unwillkürlich den Kopf nach der Stummelpfeife. Die Pfeife qualmte unter dem blonden Schnürrbärtchen eines bleichen jungen Mannes in oberbayrischer Tracht. Almuth Römer erkannte den säbelbeinigen, dürftigen Gebirgler, den sie vormittags auf dem Odeonsplatz gesehen. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, blinzelte sie vertraulich von der Seite mit zuges kniffenem rechten Auge an und bat leise — linkisch und listig zugleich:

„Gengan’s, Fräulein! . . . Sö kennen doch an Herrn Mühlberger! Sö hamm doch alleweil noch mit ihm gered’t . . .“

Sie nickte.

„I hätt’ was Bressantes mit ihm z’schaffen! . . . Aber i gehör’ unter die einfachen Bauersleut’! I trau’ mich net unter die Herrischen da! San’s doch so gut und sagen’s ihm: Da wär’ i! Er weiss nachher scho’!“

Das junge Mädchen überlegte. In den dunklen Augen leuchtete fanatische Freude, mitmachen zu dürfen im Münchener Labyrinth — heimlich helfen zu können — in unterirdischen Gängen . . .

„Geben Sie mir Ihr Messer!“ raunte sie.

„Mei’ Messer?“

„Schnell doch!“ Sie stampfte eigensinnig mit dem Fuss:

Der engbrüstige Oberbayer war verdutzt. Aber er fuhr in die Hintertasche seiner Gemsledernen, wo er nach Landesbrauch das griff-feste lange Hirschhornmesser stecken hatte, und schob es ihr verstohlen in die herabhängende Hohlhand. Sie schloss unauffällig die Finger um die Lederhülse, näherte sich dem Ring der Rekordbrecher und drängte sich bis vor Hans Mühlberger. Sie hielt ihm diensteifrig das Messer hin:

„Herr Mühlberger — haben Sie nicht das Messer da verloren — vorhin, wie Sie sie noch mit langen Hosen sprangen? Ich hab’ es gerade da am Boden gefunden!“

Unwillkürlich schauten die um sie nach der Stelle, auf die sie wies. Diesen Moment benutzte sie und flüsterte Hans Mühlberger zu:

„Der krumme kleine Oberbayer da hinten will Sie dringend sprechen“

Der blonde Recke begriff im Nu: „Was Sie für ein Talent zum Verschwörer haben, Fräulein Römer!“ sagte er leise und lachend, löste sich, das Messer dankend einsteckend, langsam aus der Gruppe der Athleten und schlenderte auf den Mann mit dem Adlerflaum und den nackten Knien zu. Tat, als erkenne er plötzlich irgendeinen ländlichen Freund aus dem Gebirge, und schüttelte ihm die Hand.

„Jesses — der Sepp!“

„Ja freili bin i’s! . . . Wie geht’s denn nachher ’m Göd?“

„Gut geht’s dem Göd!“

Und dann gedämpft:

„Da — nehmen’s Ihr Messer! . . . Wer san’s? Was bringen’s?“

„I soll Sie glei’ holen, Herr Mühlberger . . . Aber recht heimlich . . . hamm’s mir g’schafft! . . . Gottlob, dass i endlich z’weg kommen bin! I kenn mi net aus — hier — unter den Leut! . . . I bin vom Land . . . weisst: aus der Werdenfelser Gegend! I bin nur auf’n Sonntag in Minka. Sie hamm mich nur g’schickt, weil i a ganz a sicherer Mann bin!“

„Wohin wollen’s mich führen?“

„Zum Kettrich!“

„Er ist in München?“

„Scho’ seit heuť früh!“

„Und net zu mir?“ schrie der Hans Mühlberger empört.

„Pscht! . . Der Kefirich darf sich doch net am hellen Tag sehn lassen! Die Gericht’ — da wo er aussikimma is — die san doch hinter ihm drein! An Steckbrief hamm’s scho’ telegraphiert, dass ihn nur gleich a jeder kennt! Dieselbigen aus Norddeutschland, die ihn hergebracht hamm — die haben ihn glei’ gut versteckt! . . . Den findet keiner und wenn er auf zwei Schritt‘ an ihm vorbeiläuft!“

„Sie wissen, wo er is?“

„Wär net übel!“ Der Mann aus dem Volk lachte. „I bin doch der Bruder vom Kocherl in söllerem Haus!“ Er wies in die Ferne. „Sixt: Da glei’ hinter der Strassenecken — da hält an Automobüi! Mit dem san wir glei’ dort! . . . ’s is gar net weit!“

„Gehen’s voraus“, sagte Hans Mühlberger hastig. „I zieh’ mich nur schnell an! I komm’ gleich nach!“

Der Norweger tat eben wieder einen neuen Meistersprung. Alles schaute auf ihn und spendete Beifall. Hans Mühlberget liess unbeachtet Musik, Händeklatschen, Farbengewimmel hinter sich. Er stand draussen vor dem Sportplatz. Der Abend begann schon zu dämmern. Der Wind wehte kühl. Er eilte die bereits gepflasterte, noch häuserlose Strasse entlang. Hinter der ersten, einsam ragenden Mietskaserne harrte die Kraftdroschke. Der Oberbayer sass in grüngrauer, gestickter Pracht darin. Et setzte sich neben ihn. Die Räder surrten.

„Wie geht’s unserem Kettrich?“

„Ja mei’ — wissen’s: Er liegt halt im Bett!“

„Is er krank?“

„Krant just net! Aber sie san halt in am offnem Auto gefahren — pfei’gerad hierher . . . scho’ rechtschaffen heiser is er . . .“

„Nach der Gefängnisluft — auf einmal ’raus und durch die Nacht — ja freili!“

„. . . und in die Augen hat ihn die frische Luft g’bissen . . . Dö san g’schwollen — weil’s gar so schnell gefahren sind . . . Aber morgen — sagt der Kettrich — morgen derf kimma, was mag! Da is er wieder der alte — sagt er!“

„Und nah’ von hier is er?“

„Gerad’ da — in Schwabing!“

Sie waren schon in Schwabing. Die nüchternen, geradlinigen Häuserviertel um die Hohenzollernstrasse herum wiesen im Abendgrauen in nichts auf die Geheimnisse von München hin, die in diesen Mietwohnungen, Fremdenpensionen und Dachateliers lockend wie ein minderwertiger Hörselberg spukten. Hans Mühlberger ballte leidenschaflich die Faust.

„So nah’ is er einem — schon den ganzen Tag . . . und man weiss es net! . . . Turnt da heilsfroh wie an Aff’ — und unterdes is der Kettrich . . .“

„Steigen’s aus, Herr Mühlberger! Da san m’r!“

Es war ein Haus wie andere. Es war innen wie anderswo ein schon halb dunkler Treppenaufgang von einem halben Dutzend Stufen. Die Inschrift an der Flurtüre links konnte man in dem Zwielicht nicht mehr lesen. Die Türe war nur angelehnt — offenbar schon beim Vorfahren des Autos von innen geöffnet. Dämmerig der Gang. Der Oberbayer hängte sein Hütel neben einen phantastischen, riesengrossen Damenhut, dass dessen weisse Straussenfeder und sein weisser Adlerflaum sich berührten. Sein durchschwisster grüner Rucksack hing Da neben dem grellen, schwarz-gelb gefleckten Leopardenpelz eines Damenmantels. Auf dem Stuhl lag ein verstaubter, dunkelroter Fez, als wohnten hier Türken oder Levantiner. An einer Türe las Hans Mühlberger eine schief angenagelte Visitenkarte: „Blandine Feuerschütz — Schlaftänzerin’. Es kam ihm wunderlich vor.

Eine schwammige, alte Dame in einem wenig sauberen Morgenrock, weissgepudert unter mausgrauem Haar, führte ihn und seinen Begleiter auf ihren Schlappschuhen in eine Art Antiquitätenkabinett. Die kostbaren alten Möbel aller Stilarten, die es füllten, waren, um Raum zu sparen, achtlos aneinander gerückt. In den Ecken lagen Stösse von gerollten Perserteppichen. Ölgemälde lehnten, zu zweit und dritt übereinander, mit der Leinwandrückseite nach aussen, an den Wänden. Ein Donauweibchen leuchtete von der Decke mit einer elektrischen Ampel über einen Waschkorb mit wappengeschmücktem, altem Silberzeug. Es war niemand, ausser einigem Mottengeflatter, in dem Gemach. Dessen Hinterwand nahm, frei in der Mitte stehend, ein unwahrscheinlicher Koloss von einem Eichenschrank in schwergeschnitztem Kirchenbarock ein. Es schien, dass drei Männer ihn keinen Zoll weit rücken konnten. Der Oberbayer kniete nieder und bastelte an einer Sprungfeder im Boden des Schranks. Nun zeigte sich, dass der mächtige Kasten auf versenkten Rädern lief. Er gehorchte einem kräftigen Handstoss und rollte geräuschlos zur Seite . . .

Dahinter war eine ganz gewöhnliche, weisse Stubentüre. Die alte Dame legte den Finger an die schwärzlich behaarte Oberlippe. „Pst! Er schläft!“ Der Gebirgler drückte leise die Türe nach innen auf. Ein Lichtstrahl von dem Donauweibchen fiel auf die Schwelle eines dahinter unbestimmt dunkelnden schmalen, langen Hinterzimmers mit einem Gartenfenster.

„Vorsicht, dass kein Licht hineinkommt!“ mahnte flüsternd die alte Dame. Und zu Hans Mühlberger weiter: „Sonst sieht man von draussen aus der Nachbarschaft in das Zimmer. Wir können es nicht verhängen und auch keinen Laden vormachen — damit er schlimmstenfalls mit einem Sprung draussen ist, wenn die Polizei doch ’mal plötzlich kommt! Er liegt auch mit den Kleidern im Bett!“

Das war dort, in den dämmerigen, weissen Kissen, das wohlbekannte, harte Stahlheimgesicht des Freundes — bleich von der Haft — erschöpft von der Flucht — und dadurch ein paar fremde Linien um den bartlosen, festen Mund, in dessen straff herabgezogenen Winkeln immer die zähe Willenskraft Wacht hielt. Jetzt war dieser unerschütterliche Ausdruck etwas verwischt durch den Schlaf. Der Fliegerhauptmann Kettrich ruhte, schwer atmend. Er hatte die Augen geschlossen. Es war immerhin, von nebenan her, hell genug in dem Gemach, dass man Antlitz und Gestalt des Mannes im Bett deutlich erkennen konnte. Hans Mühlberger betrachtete ihn freudig bewegt, mit einem sonnigen Lächeln der Rührung. Er gab sich Mühe, seine blonde Baumlänge möglichst geräuschlos auf den Fussspitzen nach dem Bett hin zu bewegen. Aber der Flieger dort — auf Erden und in der Luft zu Hause — mit Wind und Wolkenflug vertraut — hatte — das wusste jener — die feinen Sinne eines Wilden. Er wachte auf. Er legte instinktiv die linke Hand über die schmerzenden Augen, um sie gegen die Lichtblendung des Donauweibchens von der Türe her, zu schützen. Aber er konnte durch die Finger durchblinzeln. Er erkannte Hans Mühlberger und streckte ihm die Rechte entgegen.

Der drückte sie stumm und leidenschaftlich. Er wusste: Gefühlsausbrüche waren Walter Kettrichs Sache nicht. Durch solche Hanswurstereien verlor man seine Achtung. Bei Kettrich ging es um die Sache. Weiter nichts. Er setzte sich neben ihn auf das Bett. Er meldete Halblaut — damit man es nebenan nicht hörte, und dienstlich:

„Major von Goddentow ist aus Berlin eingetroffen. Er sucht dich!“

Der Kampfflieger vor ihm nahm die Hand von den Augen. Er hielt die Lider halbgeschlossen. Er zwinkerte nur mit ihnen, offenbar unter Schmerzen. Es schien, als müsse er sich erst aus dem Schlaf raffen. Er schwieg.

„Der Goddentow erzählt, er konnt’ gerad’ noch vom Chauffeursitz ’runter und sich dünne machen, wie die Polizei ans Auto kam! Er und seine Leut’ waren in grösster Sorge um dich . . . Was aus dir nachher geworden is — ohne Zivil und ohne Geld . . .“

Der im Bett antwortete nicht gleich. Er hatte immer noch Mühe, seine Gedanken zu sammeln. Er hustete. Endlich sagte er:

„Da bin ich ja!“

„Das is die Hauptsach’! Aber wie war denn das nur möglich? So red’ doch schon!“

Der Mann im Bett hustete noch immer und presste die Hand an die Stirne.

„Ich hatte zum Glück noch eine andere Verbindung, die die Gruppe Goddentow nicht kennt!“ sprach er mühsam zwischen den Hustenstössen. „Die haben mich hierher gebracht! Sonst wäre ich ja gleich zu dir!“

„Ja freili!“

„Aber mehr möchte ich darüber nicht sagen. Du weisst: Ich spreche mit jeder Gruppe nur von ihren Angelegenheiten! Ausserdem strengt mich das Reden sehr an . . .“

„Man merkt’s: Deine Stimme ist ganz heiser! Ich täť sie nie wiedererkennen!“

„Ich bin scheusslich erkältet . . . Ich hab’ Stiche auf der Brust . . . Tag und Nacht im offenen Auto . . . Egal! Hauptsache, dass man wieder auf dem Befehlsstand steht!“

„G’lobt sei Gott!“

„. . . und es war allerhöchste Zeit!“ Der Fliegerhauptmann Kettrich tastete mit der Hand nach einer Schale auf dem Nachttisch. Dort lagen Leinwandbäuschchen in einer Wasserlösung, der ein schwacher Kamillengeruch entströmte. Er deckte die feuchten Umschläge über die Augen. Sein Antlitz hatte die gewohnte, unbewegte Ruhe. Er sagte gedämpft, in einem immer gleichbleibenden, leidenschaftslosen Tonfall:

„Hans — sind eure Gruppen hier bereit?“

„Ganz und gar!“

„. . . bereit, auf der Stelle anzutreten?“

„Wir spannen nur auf den Befehl!“

„. . . und führt ihn unweigerlich aus?“

„Ich hab’ dir blinden Gehorsam auf Tod und Leben geschworen, und die andern auch!“

Der Mann im Bett, mit zwei weissen Pflastern statt der Augen, lag eine Minute stumm. Durch drei Zimmer durch hörte man aus der Ferne ein schrilles hysterisches, weibliches Auflachen. Hans Mühlberger dachte sich: Das muss die Traumtänzerin sein! Er horchte dienstlich auf: Der neben ihm sagte kürz und fest:

„. . . ich musste ’raus . . . um jeden Preis — um im letzten Augenblick das grösste Unheil zu verhüten! Es steht in den nächsten Tagen eine Riesenschweinerei bevor!“

„Hier . . .?“

„Nein. Drüben in der Rheinpfalz!“

„Die Franzosen . . .“

„Schlimmer als die Franzosen! . . . Das Gesindel, das sie sich den Rhein ’runter gemietet haben die Lumpenkerle, die sich Deutsche nennen! . . . Die Sonderbündler!“

„Die Sauband’ . . . Gestern erst hat der Leichsenring an Brief von daheim gekriegt! Sein Vater, der Kommerzienrat, hat ihn in Mannheim durch einen sicher’n Mann auf d’ Post geben lassen! Er schreibt: Drüben in der Ryempfalz treiben’s die Separatist’n schon an vielen Orten gerad’, wie’s mögen! Da haben die schon die G’walt . . .“

„Und das ist der Anfang! Die haben noch ganz andere Pläne!“

„. . ‚Jeden Tag werden’s kecker’ . . . schreibt der alte Herr Leichsenring!“

„Die Franzosen bereiten mit Hilfe von den Sonderbündlern einen Lebensgefährlichen Sauhieb gegen das Deutsche Reich vor!“ Der Hauptmann Kettrich hustete wieder heftig und griff sich mit der Hand an die schmerzenden Rippen.

„Verschnauf’ ein bissel! Du bist ja schrecklich heiser!“

„Es ist keine Zeit, zu pennen! Die Geschichte drängt! Wir haben sichere Nachrichten, dass die Schweinehunde lieber heute als morgen in der Pfalz losschlagen und die Trennung vom Reich ausrufen wollen!“

„Umg’legt gehören’s alemiteinand . . . die elendigen Verräter . . . die elendigen . . .“

„Die Franzosen, ihre Brotherren, halten sich natürlich vorläufig im Hintergrund und warten, bis die Stinkbombe aufgeflogen ist . . .“

„. . . Und dann sprechen’s: Dös wär’ der freie Wille des deutschen Volkes am Rhein — die Lugenschippel — die ausg’schamten . . .“

„Mit den weissen und farbigen Franzosen brauchen wir also nicht anzubandeln! Dazu ist jetzt nicht die Zeit! Das weisst du selber, dass man gegen Tanks und Giftgas und Flieger und schwere Feldhaubigen nichts machen kann . . .“

„Gott sei’s geklagt! . . . Wehrlos haben’s uns halt gemacht . . . In Weimar und Versailles . . .“

„. . . Aber an den Kostgängern der Franzosen — an unseren Herren Landsleuten — an denen können wir ein Volksgericht vollstrecken, wenn sie den Rhein vom Reich reissen wollen!“

„Sollen’s nur probieren . . .“

„. . . . Dann fliesst Blut . . .“

„. . . Schad’t gar nix — wenn’s draufgehen — alle z’sammen . . .“

„Die ganze Pfalz steht kampfbereit zur Ahmehr! . . . Jeden Augenblick kann der Funke ins Pulverfass fliegen! Wer ein deutscher Mann ist, der gehört jetzt zu unseren Brüdern überm Rhein!“

„Da bin i!“

„Die Pfälzer müssen sehen, dass wir aus dem unbesetzten Vaterland hinter ihnen stehen. Sie brauchen Zuzug! . . . So schnell wie möglich . . .“

„An mir fehlt’s net!“

„Und an den anderen darf’s ebensowenig fehlen! Schau, wen du rasch zusammenkriegst — aber nur ganz entschlossene, haarscharfe Kerle aus dem Bund — die Besten von den Besten . . .“

„I find’ sie schon!“

„. . . vor allem die Führer . . . möglichst sämtliche Führer . . . sag’ ihnen von mir: Die Sach’ steht auf Spitz’ und Knopf! Jede Minute ist kostbar. . .“

„Wann sollen wir abrucken?“

„Heute abend noch! . . . Mit dem Schnellzug nach Mannheim! Bestelle ausdrücklich: Es ist mein strengster Befehl! Ich selber komme morgen nach . . . auf anderem Weg. Ich bin steckbrieflich verfolgt. Ich kann die Bahn nicht benutzen!“

„Is scho’ recht!“

„Da habt ihr Geld . . .“

„Ui Jegerl — is das ein Batzen beieinand . . .“

„Schweizer Franken! Mit denen kommt ihr überall durch! In Mannheim wartet ihr auf mich. Auf dem Bahnhof wird euch schon einer empfangen — mit dem Kennwort! Dem vertraut ihr euch an! Der schmuggelt uns der Reihe nach hinüber in die Rheinpfalz!“

„Hat er g’nug falsche Pässe?“

„. . . oder ohne Pässe mit Kähnen über den Rhein . . . Nur keine Sorge . . .“

„Ah — da feit si nix!“

„Also — Hans: die Besten — nur die Besten . . .“

„Was nach ’was herschaut — vom Bund —, das geht mit! I klaub’ sie mir schon heraus — die Rechten!“

„Dein Ehrenwort, dass du niemandem sagst, wo du mich getroffen hast!“

„Mein Ehrenwort!“

„Also Handschlag, Hans!“

„Handschlag!“

Das Zimmer nebenan war leer. In der Küche drüben sassen unter der flackernden Gasflamme auf Holzschemeln der bleiche, junge Oberbayer und das Mädchen für alles. Der Gebirgler rückte seinen Stuhl gegen das Herdfeuer und wärmte sich, eine Zigarette unter dem dünnen, blonden Schnurrbärtchen, die in kurzen Lederhosen und Wadenstutzen steckenden, mageren Beine. Vom Wasserkessel her war ihm ein Tropfen auf das linke Knie gespritzt. Es entstand da sofort ein weisser, kleiner Fleck in der anscheinend naturbraunen Hautfärbung. Der Sepp klatschte sich mit den flachen Händen auf die blossen Stellen zwischen den Gamsledernen und den Wollstutzen.

„Ich friere an den Knien!“ sagte er auf französisch zu der brünetten kleinen Köchin. „Welch’ eine blödsinnige Volkstracht!“

„Ein Wunder, wie Sie die zu dieser Volkstracht gehörende Mundart beherrschen, Capitain!“ Das Münchener Kindl sprach auch französisch. Der französische Hauptmann lachte:

„Kein Wunder bei meiner Methode, Mademoiselle, eine fremde Sprache bei den Töchtern des fremden Landes zu lernen! Diese Kunst ist galant und praktisch zugleich! Ich habe sie schon vor dem grossen Krieg geübt! Ich liess mich nach München beurlauben, weil man mir sagte, dass in keiner Stadt Deutschlands die Mädchen zärtlicher seien als an der Isar. Nur unglücklicherweise — es waren keine Montmorency’s — keine Gräfinnen, die mir ihr Herz schenkten, sondern Kinder des Volkes, und so lernte ich die barbarische Mundart Bayerns. Nun kommt mir das zugut!“

Die beiden — der französische Hauptmann und die Agentin aus der Welsch-Schweiz — lachten wieder. Draussen schlug eine Tür. Er horchte auf:

„Da geht er weg!“

Durch einen Türspalt auf dem Flur lugte das bleiche, nervöse Geistergesicht der Schlaftänzerin mit grossen Schattenaugen und neckisch kurzen Bubisträhnen um die Ohren. Sie sah gerade noch Hans Mühlbergers junge Reckengestalt über den Gang stürmen, den Treppenabsatz hinab, hinaus auf die nachtdunkle Strasse.

Wenige Minuten später verliess auch der Oberbayer, nach flüsternder Zwiesprache mit dem Mann im Bett, das Haus in Schwabing. Der Mann im Bett war nun schon, mit einem Sprung ausserhalb des Bettes. Er stand in voller Kleidung. Er warf die Wattebäuschchen auf den Boden. Die Augen schmerzten ihn nicht mehr. Sie sahen, grau und kühl, ohne mit den Wimpern zu zucken, mitten in den Lichtquell des Donauweibchens hinein, liefen dann misstrauisch hin und her. Die Stirn darüber zog sich in grübelnde Falten. Er war schon mit seiner Überlegung zu Ende. Er ging mit langen, weich wiegenden, kaum hörbaren Schritten durch das Vorderzimmer in den Flur und an das Telephon. Er rief eine Nummer hinein. Dann, nach ein paar Minuten des Wartens mit einer Stimme, in der keine Spur von Heiserkeit mehr war:

„. . . Kann ich Herrn Privatgelehrten Splittgerber selber sprechen? . . . Oh — Sie sind es? . . . Guten Abend! . . . Hier ist William T. Mirander, vom European Associated Press Committee. — Sie entsinnen sich meiner? Danke! Sehr schmeichelhaft! Sie luden mich neulich einmal ein, Sie auf Ihrem Landsitz im Isartal zu besuchen und über Ihre pazifistischen Bestrebungen zu interviewen! Ich hätte nun eben bis morgen vormittag Zeit . . . Wie? Ja! . . . Die Strasse zu Ihnen ist ja, wie Sie sagten, für Autos gesperrt. Ich würde diesen kleinen Abendzug nehmen, der ja wohl bald geht! In ein paar Stunden bin ich da! Wie? Sie sind gern bereit, mit mir nür Englisch zu sprechen? Oh — es tut nicht not! Ich bin Amerikaner und auf amerikanischem Boden geboren — aber mein Vater war Skandinavier und meine Mutter eine Deutsche! . . . Bitte, unbekannterweise meine Empfehlungen an Mrs. Splittgerber! Wie? Sie ist nicht da? Sie hat heute in Berlin im Reichstag gesprochen? . . . O ja . . . Mrs. Splittgerber ist ja Abgeordnete. Ich vergass. Und ich darf trotzdem? . . . Thank you — wenn wir schon Englisch sprechen müssen . . . Good bye!“

Er wandte sich von dem Apparat ab. Neben ihm stand besorgt die quallige alte Dame mit dem schwarzen Schnurrbart und kratzte sich mit einer Stricknadel im Grauhaar. Er sagte, während er eine schon gepackte kleine Handtasche aus der Ecke holte, nachlässig:

„Ich muss diese Nacht wo anders zubringen, nachdem dieses grosse Kind hier hereingeschaut hat! Trotz seines biederen, deutschen Ehrenworts! Sicher ist sicher! . . . Sollte jemand nach mir fragen, so haben Sie niemals etwas von mir gehört!“

„Und Ihre Adresse . . .“

„Ich habe keine Adresse! Ich existiere überhaupt nicht. Ich bin Luft. Wie oft ich euch das noch sagen soll. . .“

Er schüttelte seufzend den Kopf, zuckte die Achseln, nahm Mantel und Hut und ging, die Tasche in der Hand. In dem heimlichen Hamsterlager im Vorderzimmer stand die alte Dame vor dem geöffneten Küchenschrank und ordnete kurzatmig in je Zwanzigpfund-Pakete zusammengeschnürte deutsche Papiergeldlasten für den Schmuggelverkehr im Rucksack über die Grenze, — Salvarsankästchen in festen Flugzeugpackungen zum Auswerfen über dem Ausland, — kirschgrosse, auf der Zollstation in der Backentasche zu verbergende Seidenbeutelchen mit losen Diamanten zur Kapitalflucht in die Schweiz. Sie glich, in ihrem mütterlichen Schalten, einer gewissenhaften Hausfrau, die ihr Leinen lüftet und ihr Eingemachtes prüft.

Die eine Zimmertür nach dem Flur hinaus war offen. Drinnen stand die Mademoiselle aus der Welsch-Schweiz in fleckiger Küchenschürze als Publikum für die Schlaftänzerin. Das bleiche, wirrhaarige Geschöpf probte seine neueste Nummer: Sie sass, in einem durchsichtigen Geisterhemd, mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl und lächelte schlummernd, sehnsüchtig, in schwermütigen Träumen. Aber dazwischen zuckte es schmerzlich um ihre halboffenen Lippen, und sie bewegte sich unruhig mit wechselndem Mienenspiel. Denn sie fing sich im Schlaf einen Floh. Der Mann mit der Reisetasche kümmerte sich nicht um sie. Er betrat das Treppenhaus, sicherte, das Haustor aufdrückend, vorsichtig mit hinausgestecktem Kopf rechts und links in die dunkle Nacht und ging dann durch die menschenleere Gasse in der Richtung nach der Ludwigstrasse.

Dort hatte sich der Oberbayer schon eine Viertelstunde vorher auf den nächsten Strassenbahnwagen geschwungen und war in das Innere der Stadt gefahren. Auf dem Hauptpostamt gab er eine Depesche nach Mannheim auf. Der Beamte las: „Bestellte Ware eintrifft morgen früh. Sorgt für ordnungsmässigen Empfang!“ Er schaute auf. „Wird ’leicht net mehr rechtzeitig ankomme — dös Telegramm!“ sagte er. Der Gebirgler schob noch einen Stoss Banknoten hin. „Machen wir’s halt dringend!“ sprach er gleichmütig. Dem Mann am Schalter fiel das nicht weiter auf. „Die Rammel hab’n jetzt a Geld — die g’scheerten!“ meinte er zu seinem Sonntagnachmittag-Kollegen, während die Nagelschuhe die Treppe hinabscharrten. „Die verdienen vüll z’ vüll Geld — mit am Viehhandel ins b’setzte Gebiet!“

Draussen schlenderte der bleiche junge Hochländer weiter. Vor ihm warf plötzlich der Münchener Vulkan ein Flämmchen auf. Ein kleiner Sturmzug quoll unversehens aus einem der finsteren Gassenschächte der Altstadt heraus. Ein rotes Schnupftuch mit aufgenähtem Sowjetstern an einer Holzlatte wehte ihm in der Dunkelheit voraus, wie eine letzte Luftspiegelung aus versunkener Räte- und Bolschewistenherrlichkeit.

„Fangt’s scho’ wieder an!“ keifte vom Bürgersteig drüben eine resolute Münchnerin und stemmte die Arme entrüstet in die Seiten.

„Hoch Moskau! . . .“ johlten die halbwüchsigen Burschen, die jungen Fabrikmädel, die dunklen Gruppen der Männer, von denen keiner die ferne gelobte Russenstadt je gesehen. „Hoch die Dritte Internationale!“

„. . . dass i net lach’!“ Ein dicker Herr schwenkte erbost den Regenschirm. „International san auf der ganzen Welt bloss mir Deutschen — dass Gott erbarm’!“

„Hut ab vor Moskau!“

Der Sonntagshut wurde dem dicken Herrn vom Kopf geschlagen und rollte in den Staub.

„Hoch unsere russischen Brüder!“ Er bekam einen Boxerschlag vor den Bauch. Die Familien auf der Strasse flüchteten.

„Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister! Da schaugen’s den Sauhaufen an! Is söll jetzt noch erlaubt?“

Die Polizei stürmte schon herbei. Sie hatte noch nach der anderen Seite hin zu tun. Um die Ecke kam es im Marschtritt. Kleine Buben mit wirbelnden Trommeln voraus. Geschlossene Reihen hinterher. Die Hakenkreuz-Fahne flatterte. Ein hagerer Herr mit grauem Schnurrbart, straff, militärisch, schwenkte sie fanatisch in wallenden Falten wie der Fahnenträger vor den frommen Landsknechten. Hakenkreuz und Sowjetstern prallten aneinander, Hakenkreuzler und Sowjetler sprangen sich blindlings, ohne eine Sekunde Überlegung, an die Gurgeln. Die Gasse dröhnte vom verworrenen Knirschen, Ringen und Keuchen der Kämpfenden. Verkrallte, einander bläuende, sich beissende und drosselnde Menschenknäuel ballten sich am Boden. Die Latte flog in Stücke — das rote Tuch in Fetzen — Moskau stob in wilder Flucht. Hurra! Hurra! „Hoch Deutschland!“ Der Fahnenträger lachte und wischte sich die blutige Nase. Die Buben trommelten aus Leibeskräften Viktoria. Die Polizei fischte sich, was sie kriegen konnte, aus dem Gewühl heraus. Autos mit tobenden, mühsam festgehaltenen Verhafteten sausten die dunkle Gasse hinunter zur weiten Strassenwölbung des Augustinerstocks.

Dort, in einem Zimmer des Polizeipräsidiums, sass ein höherer Beamter am Tisch. Er hatte — auch jetzt im Dienst — das Menschliche des deutschen Südens — einen jener stillen, blondbärtigen Münchener Köpfe mit ruhigem, in sich gekehrtem Blick. Der junge Mann, der vor ihm stand, sagte schroff, die Hände in den Taschen, vor Ungeduld zitternd:

„Heute früh wurde ich, ohne jeden Grund, auf einer Bank im Hofgarten verhaftet! Jetzt erst werde ich verhört!“

„Es ist Sonntag. Nach dem Gesetz sind sogar vierundzwanzig Stunden . . .“

„Und was unterdessen aus Deutschland wird — aus deutschen Männern — die sich hier in München in der tollsten Gefahr befinden — ohne es zu wissen . . .“

„Welche Männer . . .?“

„Egal! Darüber kann ich nicht reden! Es handelt sich hier darum, ob ich ein Teppichschieber bin!“

„Es besteht der dringende Verdacht . . .“

„Ich bin so wenig dieser verfluchte Baron Bartelmann wie Sie!“

Der Regierungsrat warf einen Blick auf eine vor ihm liegende Photographie und dann wieder auf den Verhafteten und schüttelte den Kopf.

„Die Ähnlichkeit ist so fabelhaft . . .“

„Bitte: Sie haben doch da das Signalement des Kerls! Was hat er für Augen?“

„Hellgraue!“

„Und ich dunkelbraune! Na also . . .“

„Allerdings . . .“

„Damit ist der Fall doch erledigt! Nun bitte: Mir brennt der Boden unter den Füssen!“

„Bleiben Sie gefälligst! . . . Es könnte möglicherweise schliesslich ein Schreibfehler sein!“

„Was hat der Kunde sonst für besondere Merkmale?“

„Keine!“

„Aha! Nun werde ich Ihnen einmal etwas zeigen! . . . Passen Sie gefälligst auf!“ Der drüben hatte sich Rock und Weste aufgeknöpft. Jetzt riss er das Hemd vorn auseinander. Rechts auf der Brust glühte, strahlenförmig gezackt und eingesenkt, die Narbe eines Einschusses.

„Die Kugel ging nämlich hinten wieder ’raus — schon 1914 — bei Ypern!“ sagte er. „Das rote Hufeisen da an der Schulter — ich weiss nicht, ob Sie gedient haben . . .“

„Ich habe den Krieg als Hauptmann in der Front mitgemacht!“

„Dann bitte gehorsamst, Herr Hauptmann: das ist schon ein neutraler amerikanischer Granatsplitter von 1915 — aus dem Osten. Mit der kleinen Erinnerung an Bagdad — hier am Handgelenk — möchte ich Sie nicht aufhalten! Aber hier . . . komisch . . . diese Kugel . . .“ Er streifte Hose und Unterzeug auf. „Am Bein lang . . . über’m Knöchel ’rein — unterhalb des Knies heraus . . .“

„Also waren Sie Flieger! Anders können Sie den Schuss nicht gekriegt haben!“

„Ach so . . . hm . . . Na ja . . . möglich! Kann alles sein! . . . Aber jedenfalls: Wenn dieser Baron Bartelmann geflogen wäre, statt dass er geschoben hat, dann wären doch seine Narben im Steckbrief erwähnt!“

„Ich gebe es zu!“

„Es ist sonst nicht üblich, mit seinen Narben zu renommieren! . . . Aber ich musst’ es in dem Fall! Herr Hauptmann: Ich muss jetzt weg!“

„Wollen Sie mir vorher zu Protokoll geben, wer Sie in Wirklichkeit sind?“

„Ich? Ach so . . . ja. Natürlich: Ich bin der Oberleutnant der Landwehr ausser Diensten Friedrich Wilhelm Schulze — bisher beim Grenzschutz in Schlesien — jetzt arbeitslos!“

„Sie hatten bei Ihrer Verhaftung keinerlei Papiere bei sich, die diese Angaben bestätigen?“

„Nee!“

„Wie kam das?“

„Wie das kam? Ja . . . auf die einfachste Weise leider! Auf dem Weg hierher . . .“

„Was wollten Sie hier?“

„Gott — mir München anschauen! Es ist doch so eine nette Stadt . . .“

„Fahren Sie fort!“

„. . .da duselte ich leider in der Eisenbahn ein, und sie stahlen mir Geld, Uhr, Papiere — alles!“

„So. . .?“

„Ja. Ich kam in München an, setzte mich auf eine Bank und dachte: Was nun weiter? . . . Da wurde ich von hinten von Ihren Leuten abgezwickt . . . Herrgott: Ich muss jetzt fort . . .“

„Können Sie sich zur Bestätigung Ihrer Angaben auf einige zuverlässige, hiesige Persönlichkeiten berufen?“

„Tut mir leid . . . Herrgott: Draussen schlägt es schon acht Uhr . . .“

„Sie haben doch hier jedenfalls Bekannte!“

„Keine Seele!“

„. . . und wollen doch in München Leute, die in Gefahr schweben sollen, retten? Möchten Sie mir diesen Widerspruch erklären?“

„Kann ich nicht! Lassen Sie mich jetzt in Kuckucksnamen schon gehen!“

„Ja aber . . . bitte: Erst müssen Sie . . .“

„Dieser Widerspruch liegt in der Zeit! Die Zeit ist verdreht! Ich bin auch verdreht . . . Ich hab’ ’nen Kopfschuss . . . da rede ich dann ganz quatsches Zeug . . .“

„Wollen Sie mir die Stelle am Kopf zeigen?“

„Es ist nichts zu sehen! Es war eigentlich mehr ein Absturz! Seitdem leide ich zeitweilig an Gedächtnisschwäche.“

„Es scheint . . .“

„Es gibt Tage — da kann ich mich an nichts erinnern! So leider gerade heute . . .“

„Hm . . .“

Es war still. Die beiden Kriegsgefährten sahen sich in die Augen. Dann warf der Herr am Tisch einen Blick auf den neben ihm aufgeschichteten Einlauf von Amtsschreiben, Fahndungsblättern, Polizeidepeschen. Plötzlich wurde er heftig und schob den ganzen Stoss mit dem Ellbogen beiseite.

„Jetzt ist Sonntagabend!“ versetzte er zornig. „Das wär’ ja ’ne Viecherei, sich jetzt noch hinsetzen und Akten fressen!“ Er schaute sich gereizt nach allen Seiten um, als verlangte das irgend jemand von ihm in dem leeren Zimmer. „Morgen ist auch noch ein Tag! Das hat bis Montag früh Zeit!“

„Aber ich hab’ keine Zeit! Ich muss fort!“

„Ja — da geh’n Sie halt schon!“

„Na — Gott sei Dank . . .“

„Und wenn Sie keinen Menschen hier kennen, dann schauen Sie, dass Ihre Freunde hier Sie nicht wieder ohne Ausweis auf den Bänken ’rumsitzen lassen!“

Der Hauptmann Kettrich stand draussen, auf der Strasse, im Freien. Selber frei. Das Nachtdunkel blendete ihn wie andere das Licht. Er fühlte sich schwindlig vor Erschöpfung. Ihm gegenüber drehte sich langsam vor dem Sternenhimmel die mächtige Gebäudemasse der Augustinerkirche. Die gedämpften Lichtkreise der Laternen auf dem Bürgersteig schaukelten leise. Der Boden schwankte wie von einem Erdbeben. Die Ermattung . . . Er zwang sie nieder. Befahl seinem Willen. Herrgott — wo befand er sich doch eigentlich? Richtig — in München! Die Freunde in München! . . . Die Freunde in Gefahr . . .

Jetzt war die Schwächeanwandlung überwunden. Er kannte sich in München aus. Er suchte rasch die Richtung: dort hinunter! Er eilte, zuweilen stolpernd, unsicher, wie ein Seefahrer, der eben Land betreten, nach der Nymphenburger Strasse.

„Wo ist der Hans?“ Im schwach erleuchteten Treppenhaus stand er dem Papa Mühlberger gegenüber, der eben mit seinem Dackl auf dem abendlichen Weg mach dem Löwenbräu-Keller war. Der alte Herr stand eine Stufe über ihm. Er holte mit Münchener Ruhe die Pfeife unter dem weissen Schnurrbart heraus.

„Der Hans? Ja mei’ . . . San’s leicht ein Freund von ihm?“

„Ja . . . ja . . .“

„Nachher kommen’s zu spät! Der Hans ist schon vor einer guten Weil’ auf den Bahnhof!“

„Er will weg . . .?“

„Pscht — ja! . . . Ich hab’ eben oben telephonieren müss’n! Ich soll ihn in sein’m Geschäft entschuldigen, er wär’ krank! Aber er macht a Reis’. . .“

„Wohin?“

„Er sagt: Nach Mannheim! Zu am Sportfest! Aber i glaub’, er geht weiter — ’nüber in die Pfalz! I gönn es ihm, dass er ’mal aussi kimmt! Wissen’s: Der Bub is gar so still und brav . . . Schneid hat er z’weni! . . . Dös muss er noch lernen!“

„Fährt er allein?“

„Ah na! . . . A halbes Dutzend Spezi san’s — wann net mehr . . . Sie . . . Wann’s a zu seinen Freunderln gehören, na springen’s! Am End’ erwischen’s den Zug noch!“

Der Hauptmann Kettrich stürmte durch die Strassen. Er war atemlos. Aber jede Müdigkeit war jetzt geschwunden. Dazu war jetzt keine Zeit. Es war wie beim Angriff draussen im Feld. Die Spannung des Augenblicks trug einen. Die Nervenkraft flackerte wie Strohfeuer noch einmal auf.

Er lief über den Platz vor dem Hauptbahnhof. Stand in der wimmelnden Vorhalle. Presste sich in die grosse Abfahrtshalle vor den Bahnsteigschranken. Eingekeilt im tausendköpfigen Menfchengewühl des Sonntagabends und des Oktoberfestes zugleich. Bunt aus der Menge leuchtend alle Volkstrachten Bayerns. Die grossen Hauben der Dachauerinnen — breite schwäbische Hüte —, goldgestickte flache Hüte mit langen, schwarzen Bändern aus dem Chiemgau, seltsame hohe Kegel aus weltfernen Tälern an der Salzburger Grenze, Adlerflaum und Gamsbart — Juhu — ein Gejodel — ein Gepfeife — ein Gejuchze — ein Gedränge um die Sperren. Fäuste unter die Nasen der atemlosen Beamten: „Sie! Mir woll’n a noch mit!“

Da drüben stand noch der Zug nach Augsburg und weiter nach dem Westen — nach Mannheim . . . an den Rhein . . . endlos lang . . . die Lokomotive nicht mehr sichtbar aussen in der Nacht — da stand er — Bündel braungebrannter, lachender, bierseliger Köpfe aus allen Fenstern — die Gänge vollgepfropft mit Oktoberfestgästen, Menschen auf den Trittbrettern, Menschen in Massen vor den Wagen — schreiende, fuchtelnde, schiebende Knäuel von Menschen an den Nadelöhren der Durchlässe.

Mit den Ellbogen in das Gewühl! Durch! Zur Sperre! Da fiel es dem Hauptmann Kettrich jählings ein: Ich hab’ ja keine Bahnsteigkarte! Sich rasch eine holen? Vielleicht war noch Zeit . . . Ein zweiter, erkältender Schrecken: Ich hab’ ja nicht den lumpigsten Geldschein bei mir . . .

Unter dem roten Farbenfleck der Mütze draussen auf dem Bahnsteig trillerte es durchdringend. Ein Arm hob sich. „Abfahren!“ Ein Wutgeschrei der Nachzügler draussen. „Halt! . . . Halt!“

„Ihr derft’s net ohne Karten eini!“

„. . . bald’s doch abfahren! I muss mit!“

Es tobte um die Holzwannen der Knipser. Draussen schrillte es aus der Nacht vor der Lokomotive zurück. „Abfahren!“ gellten die Rufe längs des Zuges. Die Wagentüren krachten. „Himmelherrgottsakra!“ brüllte ein Riesenkerl aus dem Gebirge und schwang sich mit einem Satz über die Brüstung. Es krabbelte und kletterte im Nu dutzendfach hinter ihm, neben ihm her und hob die kreischenden und strampelnden Frauenzimmer herüber. Det Hauptmann Kettrich machte es wie die anderen. Er stand schon innen auf dem Bahnsteig. Er kämpfte sich durch. Schaute der Reihe nach in die letzten Wagen. Vorwärts — nur vorwärts! Man kam kaum vorwärts. Die Mauern der Zurükbleibenden waren viele Mann tief. Die Wagen ruckten — bewegten sich — rollten. Juchhu! . . . Gejohle aus den Fenstern. Katzenmusik auf dem Bahnsteig. Der Zug glitt aus der Halle. Da vorn . . . da ganz in der Ferne . . . Walter Kettrich schrie auf: „Hans! . . . Hans!“ . . . Das war Hans Mühlbergers kühnes Gesicht mit dem blonden Schopf, das aus einem der ersten Wagen guckte — zurücklachte und nickte — nicht ihm, ihn konnte der Hans in dem kribbelnden Ameisenhaufen vor dem Zug nicht sehen — seine Stimme in dem Getöse unter der Glaswölbung nicht hören — nein: Es galt einem jungen Mädchen, das da, am äussersten Ende des Bahnsteigs stand und mit dem Taschentuch wehte.

Umher schimpfte und fluchte es. Rufe von Beamten gossen Öl auf die Wogen: „Seid’s stad! Es geht ein Nachzug!“ „Wie weit?“ — „Bis Neu-Ulm!“ Der Hauptmann Kettrich überlegte. Was half das? Die anderen — die vor ihm — die fuhren über Ulm hinaus weiter ins Verderben. Und woher Geld für eine Fahrkarte? . . . Und nun fühlte er — in dem Rückschlag der Enttäuschung — seine Knie wanken. Spürte ganz deutlich, in dem Geschiebe und Gestosse, der dicken Luft und dem Gezeter um ihn: Lange halte ich mich nicht mehr aufrecht . . . mit allem Willen nicht . . .

Das junge Mädchen, das dem Hans Mühlberger nachgewinkt hatte, kam zurück. Sie bahnte sich mühsam einen Weg nach dem Ausgang. Ein vierzehnjähriger Münchener Bub ging neben ihr. Sie trug das Taschentuch noch in der Hand. Inniges Abschiedsglück — eine wilde, leidenschaftliche Begeisterung — leuchteten auf ihrem blassen, runden Kindergesicht nach. Ihre dunklen Augen schauten betroffen auf den totenbleichen, bartlosen Unbekannten, der achtlos die Bauern, die ihm im Weg standen, beiseite schob, vor sie trat, kaum, in der Erregung, den Hut lüftete, — heiser frug:

„Wo fährt um Gottes willen der Mühlberger hin?“

Almuth Römer zauderte mit der Antwort. Statt ihrer erwiderte der Peperl keck:

„Mei’ Bruder? Dös werd’n wir Ihne gerad’ auf die Nas’ binden!“

Der Fremde beugte sich nieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das pausbäckige Gesicht des Kleinen wurde, bei den Geheimworten, tief achtungsvoll. Er nahm sein Hütel vom Haupt.

„Nach Mannheim san’s, Herr!“ flüsterte er. „Alle z’samm . . . Aber da bleiben’s net . . . So viel weiss i scho’!“

„Wer hat das angeordnet?“

„Ja — mei’ Bruder — der Hans! Aber bei Leib net von sich aus. Den hat aner vom Sportplatz g’holt — so a Rechter mit G’nagelten und Lederbux — und nach einer guten Stund’ war der Hans wieder da und hat mich und noch a paar in der Stadt ’rumgeschickt — es möcht’ ganz heilig und gewiss a jeder zu dem Zug nach Mannheim am Bahnhof sein!“

„Dadurch hab’ ich es erfahren!“ sagte Almuth Römer. „Ich war auf dem Sportplatz!“

. . . Es wär’ ein Befehl vom Kettrich selber — hab’ i bestellen müsse!“ wisperte geheimnisvoll der Bub. „Und alle waren’s auch zur rechten Zeit da und sind abg’fahren . . .“

„Nur Sie kamen leider eine Minute zu spät!“ sagte das junge Mädchen aufgeregt, in einer fanatischen Kameradschaft des Kettenbundes Kettrich, zu dem Fremden vor ihr. Im nächsten Moment wandelte sich die zarte, eigensinnige Sanftmut ihrer Züge in Besorgnis. Sie fasste schnell mit beiden flachen Händen unter seine Ellenbogen und hielt ihn aufrecht. „Was ist Ihnen denn?“ frug sie. „Sie schwanken ja . . .“

Ein paar Bauern blieben stehen und schauten neugierig hin. Er biss die Zähne zusammen. Er stand wieder halbwegs fest auf den Beinen. Aber es war ein schwarzer Funkentanz vor seinen Augen. Ein dumpfes Meeresbrausen in den Ohren. Langsam — ganz langsam — schien es — senkte sich die Seitenwand der Halle mit ihren verstaubten Glasfenstern und verräucherten Backsteinflächen erdrückend auf ihn nieder . . . . . . . .

„Hören Sie . . . rasch . . . ehe ich ohnmächtig werde . . .“ Er stiess es mühsam hervor. Sie legte den Arm um ihn, bereit, ihn zu stützen. Denn seine Knie knickten. Sie schaute ängstlich, mit weit aufgerissenen Augen, zu ihm empor. Von der anderen Seite hielt ihn der Peperl mit erschrocken aufgesperrtem Mund.

„Der Hans Mühlberger . . . muss zurück . . .“ Er keuchte es ihr mit letzter Anstrengung ins Ohr. „. . . Alle . . . müssen zurück . . . Warnt sie . . . um Gottes willen . . .“

„Wovor denn . . .?“

„Ich . . . ich kann sie alle nicht mehr warnen! . . .“ Er taumelte. Warf beinahe den halbwüchsigen Bub zu Boden, der sich hilfreich gegen ihn stemmte. „. . . Ich bin selber alle . . . Ich falle gleich um . . .“

„Wovor warnen? . . .“ Sie krallte entsetzt die schmalen Finger in die Falten seines Mantels. Sie fühlte die zunehmende Wucht seines erschlaffenden Körpers.

„Söller hat a Massl z’viel derwischt!“ meinte sachkundig ein dicker Münchener im Vorbeitrollen zu seinen Freunden.

„Wovor warnen? . . .“ Der Hauptmann Kettrich hörte die Mädchenstimme schon wie aus ferner, nebeliger Weite an seinem Ohr. Er stöhnte auf:

„Der Hans . . . und alle von der Kette’ . . . fahren in den Tod! . . . Sie sind an die . . . Franzosen verraten . . .“

„Sie — Fräulein . . . I glaub’, der spinnt!“ murrte der kleine Mühlberger. Sie legte ihm die Hand auf den Mund. Sie horchte mit verzerrtem Gesicht:

„Die Franzosen . . . locken sie in eine Falle . . . drüben in der Rheinpfalz . . .“

„Ja . . . aber der Hauptmann Kettrich hat doch selber . . .“ hauchte Almuth Römer.“

„Das war nicht der Kettrich . . . Ich bin doch . . . der Kettrich . . . ich . . . ich hier . . . Das heute nachmittag war ein französischer Spion . . .“

„Ach, du barmherziger Himmel . . .!“

„Das war niederträchtiger Betrug . . .“

„Reden Sie weiter . . . Halten Sie sich aufrecht . . . Sie müssen . . . Sie müssen . . .“

„Es geht um das Leben . . . von dem Hans . . . und allen . . . Sie müssen gewarnt werden, ehe sie morgen früh die Rheinbrücke in Mannheim betreten . . . Um jeden Preis . . .“

„. . . Nachtelegraphieren . . . und es am Zug ausrufen lassen . . .“

„Die fahren ja unter falschem Namen!“ wisperte der praktische Peperl verstört. „I kenn’ den Hans! Der gibt fei’ kein Laut von sich, wenn’s am Zug lang nach am Mühlberger schreien! Der denkt höchstens, ’s kommt von der Firma . . . Und er soll wieder heim!“

„Helfen Sie mir doch, Peperl!“ keuchte Almuth Römer. „Ich kann ihn nicht mehr halten . . .“

In dem wachsgelben Gesicht vor ihr schlossen sich die Augen. Sie hörte noch ein letztes, verzweifeltes:

„Holt den Zug ein . . . Holt den Hans ein, eh’ es zu spät ist!“

„I hab’s Motorrad da . . . I bin doch darauf mit dem Hans hiecherg’fahren! . . . Mei Freund, der Xaverl, hält’s draussen!“ flüsterte der Pepi. „I setz’ mi auf! I fahr’ pfei’gerad hinterm Zug her nach Augschpurg!“

Ein letztes, heftiges, anfeuerndes Nicken drüben. Almuth Römer liess den Ohnmächtigen auf eine leere Gepäckrolle sinken. Hilfreiche Hände griffen zu. Der Pepi riss das junge Mädchen beiseite.

„Wann’s mir der Hans bloss glaubt —“ flüsterte er verzweifelt. „I bin doch bloss a Bub! . . . Mich lachen’s aus, wann i daher kimm’!“

„Ich fahr’ mit!“

„Dös täten’s, Fräulein?“

„Mich kennt er! Mir vertraut er! . . . Ich lass’ ihn einfach nicht weiterfahren! . . . Ich lass’ ihn vom Stationsvorsteher in Schutzhaft nehmen! Ich . . . ich . . .“

„Kimmen’s!“

„Und der Herr da . . .?“

„San Leut’ genug um ihn!“

„Da ist auch schon ein Sanitäter!“

„Kimmen’s! Kimmen’s!“

Die beiden arbeiteten sich durch den Wellenschlag der Menschenbrandung — immer bedacht, einander in dem Geschubse und Geschiebe nicht zu verlieren. Almuth Römer fragte atemlos:

„Können Sie denn die weite Strecke bis Augsburg fahren?“

Der Bub lachte stolz und warf sich in die Brust.

„I bin zünftig! Der Hans is doch Streckenfahrer und hat scho’ Preise gewonnen! Und i hab’ hinter ihm gehockt. I kenn’ den Weg wie mei’ Tasch’! Xaverl!“ Er pfiff vor dem Bahnhof durchdringend auf zwei Fingern. „Glei’ gehst bei! . . . So! . . . Vergelt’s Gott! . . . Schwingen’s Ihne aufi, Fräulein! Derfen halt schauen, wie’s mit die Röck’ zurechtkomme! Alsdann . . . firti’!“

Der Motor knatterte. Der Auspuff knallte. Der Wind pfiff um die Ohren. Der Pepi Mühlberger steuerte, mit aufmerksamem Sportgesicht, wie ein Alter, die schnurgerade Strecke entlang. Da hinten in der Nacht lag schon München. Der Nymphenburger Park dämmerte. Im Hui durch Pasing . . .

„Der Zug is schon durch!“ schrie, sich umwendend, der Bub.

„Können wir ihn denn überhaupt noch kriegen?“

„Dös Schnauferl schafft’s!“

Weithin in feierlicher Öde, vom Mondschein überblaut, scheinbar endlos, lag das Dachauer Moos. Die Strasse stieg und sank. Häuserschatten und Baumkronen malten sich in stillen, silbern zitternden Wasserflächen: Fürstenfeldbruck. Steil im Bogen empor. „Dös is der Haspel — dös Luader!“ schimpfte im Sturmwind der Bub. „Jetzt geht’s fei abi auf Mering!“

Sie kreuzten die Eisenbahn. Der Zug war schon vorbei. Chaussee und Bahnkörper liefen jetzt dicht nebeneinander wie zwei Lineale viele Kilometer weit auf Augsburg zu. Zur Linken gleissten wie ineinandergewundene Schlangen die verworrenen Rinnsale des Lech. Der Pepi wies, unter einem windverwehten Triumphgeschrei, mit dem Zeigefinger nach vorn. In der Ferne lockte auf dem Eisenbahndamm wie ein Irrwisch durch die Dunkelheit ein grünes Licht. Die Schlusslaterne. Der Zug. Der Zug . . . . . . . . . . . . .

Die grüne Laterne stand scheinbar in der Nacht still. Schien langsam näher zu kommen, je mehr der Peperl seine Fahrt verstärkte. „I lass das Zeug’l laufen!“ keuchte er, sich umdrehend. „Wir rucken nach . . . Merken’s? . . . Wir rucken nach!“

Nun glitt das grüne Auge schon ziemlich dicht vor ihnen dahin. Rote Funken aus den Lokomotivschloten vorn umstiebten es. Änderten ihren Flug. Wirbelten nach links. Massig hob sich dahinter vom Nachthimmel der Dom von Augsburg über dunkelnden Dächern.

„Der Zug fährt um die Stadt ’rum! . . . Wir müssen da an der Seit’n lang!“ Der Pepi Mühlberger lenkte sein Radl in die Innenstadt, sauste durch die Gassen, mühte sich, im Vorbeifahren die Namen an den Strassenecken zu lesen: Am roten Tor. . . Esserwall . . . Stoppte plötzlich unschlüssig vor einer Kirche — rief einen Begegnenden an:

„Sie . . . i bitt’ . . . wo san wir denn hier?“

„Das isch St. Ullrich!“

„Jesses! Wir woll’n auf den Bahnhof!“

„Da hätten Sie nit über den Kikenmarkt fahren dürfen! Das isch ein grausiger Umweg! . . . Links halte! Links halte!“

Der Pepi tat es. Geriet in breite, finstere Parkanlagen. Kein Mensch umher. Er schüttelte verstört den Kopf. Jagte weiter. Ein grosser Platz. Händewinken: „Dort . . . dort . . . Die Halderstrasse ’runter, Büble! . . .“ Der Bahnhof. Schweres, stossweises Maschinenkeuchen. Der Schnellzug glitt eben aus der Halle. Weiter nach Westen.

Der Bub stand neben dem Rad und heulte geradeheraus. Die Tränen zogen Rinnen in die Staubschicht seiner Backen. Er bekam einen Rippenstoss. Sah Almuth Römers fanatisch entschlossenes, feines Gesicht.

„Vorwärts, Peperl!“

„Wohin?“

„Weiter hinterher! Nach Ulm!“

Der Motor knatterte atemlos durch die Nacht. Wald. Stille Dörfer. Ein Flug von Giebeln und Gassen: Zusmarshausen „Zwischen Burgau und Günzburg müssen wir den Zug abzwicken!“ schrie der Peperl. „Da san wir im Vorteil! Da macht er die grosse Reib’n nach Norden!“

Auf hohem Hügel, mit mächtigem Schloss, stieg’ Günzburg aus dem Sternendämmern. Steil die Gasse hinab. Drüben rechts der Bahnhof. Nichts mehr vom Zug. Eisenbahn und Landstrasse durchschnitten jetzt nahe nebeneinander die breiten Donauwiesen. Aber nirgends mehr funkelte in der Ferne das grüne Irrlicht.

Die Wellen der Donau glitzerten in Tausenden von silbernen Schuppen. Himmelhoch ragte das Ulmer Münster. Die beiden fuhren über die Brücke von Neu-Ulm nach Ulm. Die letzte Hoffnung: Der lange Aufenthalt des Zuges am Bahnhof dort . . . Nein: Der Bahnhof war schon wieder leer . . . Schon seit einer halben Stunde. Ein gutmütiges Kopfschütteln der Schwaben: „Das Zügle holt keiner mehr ein . . . Da ischt jede Mühe umsonst . . .“

Der Bub stand hoffnungslos, wieder dem Weinen nahe. Er war erschöpft. Er war nun schon ein paar Stunden ohne. Aufenthalt gefahren. Er wusste nicht, was nun machen? Er schaute tränenschluckend, kindisch verzweifelt, fragend Almuth Römer an. Sie war halberstarrt vor Frost in ihren dünnen Kleidern. Sie zitterte von Kopf bis zu Fuss. Sie vermochte kaum zu sprechen, so hatte ihr der Sturm der Fahrt die Luft aus den Lungen gerissen. Sie sagte nur:

„Weiter!“

„Aber’s hilft doch nix mehr, Fräulein!“

„Weiter nach Westen! Hinter ihm her! Vielleicht gibt’s doch noch ein Wunder!“

„Aber i kann bald nimmer!“

„Wir fahren, so lang es irgend geht!“

„Das Radl fangt mir an, zu wackeln! I she’ nimmer recht!“

Vorwärts!“

„. . . Wann wir hinfallen . . .“

„. . . dann liegen wir da!“

„. . . und uns ’s Genick brech’n!“

„. . . dann sind wir tot! Weiter! Weiter!“

Steil zum Wilhelmsberg hinauf! Du, unter den Kehren an der Zitadelle, gab es schon den ersten Knax: Der erschöpfte Peperl schnitt die Kurve falsch. Glitt aus. „Ui — sakra!“ Er und das Fräulein lagen neben dem Rad am Boden. Sie war schon wieder auf den Beinen. Ihre Handflächen bluteten. Sie hatte sie sich im Sturz auf dem Schotter wund geschürft. Sie riss ihr Taschentuch in zwei Stücke und wickelte es sich flüchtig um die Hände. Der Peperl befühlte weinerlich sein geprelltes Knie.

„Ift dem Rad etwas geschehen?“

„Na — dös net!“

„Weiter!“

Im grellen Mondschein dehnte sich oben die gewaltige, unendliche Einsamkeit der Rauheni Alb. Kaum ein Baum, ein Strauch auf der kahlen Hochsteppe. Selten der Lichtpunkt eines Hauses, das Kläffen eines Hundes. Mondbeglänzt die weiten, mageren Weideflächen. Ein Gewimmel von grossen und kleinen Steinblöcken aus dem kargen Boden. Dämmernd dort das niedere Rund eines Schafpferchs. Der Wohnkarren des Schäfers daneben. Das Rad Flitzte dahin. Der Pepi sass ermüdet auf dem Lenksitz. Ein Krach. Ein Splittern. Diesmal überkugelten sie sich beide. Sassen halb betäubt am Boden. Vor ihnen im Strassengraben verbeult — verbogen — ausser Gefecht — die Maschine. Der Pepi war mit ihr am Kreuzweg — zum Glück langsam, die Richtung suchend — gegen den Wegweiser gerannt.

„Aus is!“ sagte er. „Weiter geht’s nimmer!“

Sie rafften sich auf. Sie standen stumm, zwei Menschenpünktlein auf der grenzenlosen, mondbeschienenen, einsamen Hochebene. Der Wind heulte wie ein Schlosshund, in langen stöhnenden Stössen, und erstarb in Wimmern. Er blies durch die flatternden Kleider bis auf die Knochen. Gleichgültig funkelten die Sterne an dem herbstfalten Nachthimmel. Der Mann im Mond segelte vor ihnen rasch dahin, als habe er seinerseits die Verfolgung des Zuges aufgenommen, der irgendwo da in der Ferne nach Westen rollte . . . immer weiter nach Westen . . .

Der Bub bastelte hoffnungslos an dem Motorrad herum. Das junge Mädchen lehnte an dem Wegweiser — die Fäuste gebaüt — die weichen Lippen wild aufeinander gepresst — stürmisch atmend — den Blick starr am Boden. Sie überlegte.

„Jetzt müssen wir eben zu Fuss weiter, Pepi!“ sagte sie fanatisch. „Bis zum nächsten Dorf!“

„Und dann?“

„Ich weiss nicht. Ich denke an nichts! Ich hol’ den Hans ein oder ich bleib’ tot!“

Durch den Sturm brüllte irgendwo fern eine verirrte, weidende Kuh. Dann wurde es wieder still. Der Wegweiser warf seinen Mondschatten quer über die Strasse. Auf der leuchtete in der Nacht ein Lichterpaar auf. Das Kuhgebrüll klang stossweise schon viel näher. So rasch konnte kein Stück Vieh laufen. Die grellen weissen Augen wuchsen auf der Landstrasse zu blendenden Scheiben. Bläuliche Helle huschte mit ihnen und färbte den Boden rechts, und links weiss, als läge schon Schnee auf den Herbststoppeln.

„Ein Automobüi!“ rief der Bub. Almuth Römer sprang jäh mitten auf die Strasse, stand mit ausgestreckten Armen, wie der Wegweiser hinter ihr. „Halt! halt!“ gellte ihre leidenschaftliche Stimme dem Wagen entgegen, der plötzlich, wie ein erschrecktes, grosses Nachttier verhoffte und zögernd weiterlief.

Dös hilft uns jetzt a net mehr viel!“ sagte der Peper! mutlos. „Den Zug fangst nie und nimmermehr!“

Das junge Mädchen stand schneeweiss im Lichtkegel der Laternen des gebremsten Autos. Weiss das Gesicht mit den angstvollen, dunklen Augen, weiss scheinbar wie ein Hemd in dem schwarzen Rahmen der Nacht dahinter, das windflatternde Mäntelchen.

„Na . . . Panne?“ sagte eine Stimme gemütlich hinter einem rotglimmenden Zigarrenpunkt auf dem Führersitz. „Ist es kaputt — das Verhältnis-Radel? . . . So geht’s, wenn ihr euren Schnauferln zuviel zumutet!“

„Ach — sparen Sie Ihre Weisheit! . . . Wir mussten um jeden Preis den Schnellzug einholen! . . . Ich muss weiter! . . . Herrgott im Himmel . . . ich muss!“

„Wohin, mein Fräulein?“

„Nach dem Rhein . . . Ins besetzte Gebiet . . .“

„Nanu?“

„Mein . . . Mein Bruder liegt dort im Sterben . . . Er hatte Streit mit schwarzen Franzosen . . . Die Wilden haben ihn misshandelt . . . Wenn Sie ein deutscher Mann sind . . .“

„Na — ich denke: Kriegsteilnehmer! . . . Frontkämpfer . . . Keiner von den Etapperichen!“

„. . . dann helfen Sie mir!“

„Wie denn?“

„Nehmen Sie mich mit!“

Ein kurzer, zweifelnden Blick des jungen Mannes in ihr verstörtes Gesicht. Dann sagte er ernst: „Nee — es stimmt! Die Angst ist echt! So kann sich niemand verstellen!“

„Weiss Gott!“

„Ich fahre aber nur noch da bis Geislingen hinunter! Ich bin Geschäftsmensch. Ich kann nicht weiter!“

„Nachher sitzen’s wieder da, Fräulein!“ lamentierte der Peperl. „Der Zug — oh’ mei — der is jetzt schon bald bei Stuttgart!“

„Sie wollen einen Zug nach dem Westen?“ Der junge schnurrbärtige Mann im Ledermantel und mit dem Lederhelm auf dem Kopf dachte nach. „Warten Sie ’mal . . . Ich hab’ doch den ganzen Fahrplan intus! . . . Ja, Kinder: Seid ihr denn verdreht? . . . Der Münchener Zug hat sich freilich längst verkrümelt . . .“

„Ich muss noch mit! Ich muss!“

„Glatt ausgeschlossen! Aber der Schweizer Schnellzug . . . über Romanshorn . . . vom Bodensee ’rauf . . .“

„. . . nach dem Westen . . .?“

„. . . der ist jetzt eben — also nun ’mal kalt Blut . . . Was ist denn die Uhr? . . . Na natürlich . . . Der Zug ist jetzt von Ulm, mit einer Geschwindigkeit von sieben Mokkakäfern, hierher unterwegs!“

„Schnell! . . . Schnell . . .“

„Steigen Sie ein! . . . Wenn Gott ’nen ollen Sportsmann wie mich nicht verlässt, dann müssen wir eigentlich die Schlafmütze von Schnellzug in Geislingen noch abklappen! . . . ’rin ins Geschäft — der junge Mann da!“

„I geh’ net von dem Radel weg!“ trobte der Peperl. „Das gehört net mir! Das gehört dem Hans!“

„Schieben Sie das Rad weiter, Peperl!“ Das junge Mädchen drückte ihm Zehrgeld in die Hand. „Melden Sie sich in Geislingen bei der Polizei! Die sorgt schon, dass Sie heimkommen!“

„Keine Volksreden! Sonst hat’s geschnappt!“ rief der Herr am Steuer. Almuth Römer schaute nicht nach Rad und Bub zurück. Sie sass aufrecht in dem kleinen, leichten Wagen. Die Nacht flog ihr entgegen. Das Automobil fegte im Sturm die weissgeschlängelte, totenleere Strasse dahin. Weiter! . . . Weiter! . . . Der helle Schlag tanzender Kieselsteine an das Spritzblech . . . Der hämmernde Viertakt des Motors . . . Jetzt schnatterte auch noch hinten die aufgerissene Auspuffklappe . . . Weiter . . . Ein rot auf weiss warnendes Gatterzeichen am Weg — die Automobilhieroglyphe: ‚Achtung! Eisenbahnschranke!’ . . . Schon zitterten im Mondlicht die sich langsam senkenden Schlagbäume schräg über den Schienen . . . Unten durch — mit geduckten Köpfen . . . Im Flug vorbeiflatternd det Name der Station . . . Urspring . . . als Wächtet des Tals dahinter. Plötzlich der jäh abschiessende Abhang. Strasse und Bahnkörper stürzten sich nebeneinander in die steile Tiefe der Geislinger Steige — von der Hochfläche der Rauhen Alb ein paar hundert Meter in wenigen Minuten hinab in das schwäbische Rebhügel-Land.

Das Auto rollte schnell und lautlos, mit gedrosseltem Motor, zwischen den immer höher wachsenden Buchenwaldwänden der Bergschlucht zu Tal. Hinter ihm erhob sich ein dumpfes gewaltiges Poltern. Es näherte sich schnaufend und stampfend aus der Nacht.

„Er kommt!“ schrie der Mann mit dem schiefen Zigarrenstummel im Mundwinkel. Er konnte den lederumspannten Kopf nicht wenden. Almuth Römer blickte zurück. Halb über ihr, in schattenhaften Umrissen, rasselte die schwarze, funkenkeuchende Masse der Lokomotive. Der Kopf einer langen, lichterhellten Riesenschlange in den Windungen der Bergflanke. Der Schnellzug von Friedrichshafen donnerte heran. Sein dröhnendes Rollen der Räder verschlang jeden anderen Laut. Blutiger Feuerglanz aus dem offenen Kessel überlohte die geschwärzten Gesichter der Männer auf der Lokomotive. Schon war sie auf gleicher Höhe mit dem Auto unten. Der Mann am Steuer warf einen prüfenden Blick empor. Gab Gas. Die beiden Kraftwagen — der schwarze Goliath der Kohle oben — der dunkelrote David des Benzins unten — liefen im Sturm um die Wette nebeneinander — schossen Schulter an Schulter zu Tal.

Oben, an den Wagenfenstern, schauten die Reisenden aus den hellen Abteilen. Köpfe streckten sich heraus und lachten. Hände winkten. Wehrten. Ein weisses Tuch flatterte. Mit weissen Augäpfeln im schwarzen Antlitz schrie der Heizer durch die Hohlhand etwas herüber. Man verstand es nicht — in dem hundertfachen Räderbrausen der steilen Talfahrt, das an den Berghängen widerhallte.

Lokomotive und Auto im Wettlauf. Der Mann am Motor gönnte, Hand und Fuss an den Bremsen, dem Mann vor dem Feuer oben keinen Zoll Vorsprung, gab, wie der Sturzhang der Strasse sich plötzlich abflachte, seinem exaplodierenden Benzingemisch ebensoviel Spielraum wie der Führer des Kolosses oben dem zischend gespannten Wasserdampf. Lokomotive und Auto jagten, jetzt ganz dicht nebeneinander, scheinbar einträchtig, auf Geislingen zu. Mit verschlafenen Häusern dehnte sich, noch im Bergwinkel, die Altstadt. Weiter, nach dem freien, breiten Tal hinaus, ragten die hohen Schlote der Fabriken.“

Die Gummiräder des Autos federten fausend über das holperige Pflaster. Hielten, am anderen Ende des Städtchens, vor dem Bahnhof Drüben rollte langsam der Zug ein.

„Lösen Sie sich fix ’ne Karte! Der Herr am Steuer liess seinen Wagen stehen und stürmte auf den Bahnsteig.

„Es muss noch eine Dame mit!“ schrie er mit Kommandostimme. „Die Dame fährt zu ihrem sterbenden Bruder in das besetzte Gebiet!“

„Wo ist die Dame? . . . Schnell!“

„Da läuft sie ja, mit ihrer Karte, was sie kann!“

Hände schoben Almuth Römer durch die Sperre. Hände schoben sie in ein geöffnetes Abteil. Die Wagentür krachte zu. Der Zug donnecte nach Westen.

Drachentöter

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