Читать книгу Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol - Rudolf Stratz - Страница 5

Zweites Kapitel

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Kaum war Ullrich Schneevogt verschwunden, da trat der unruhige Amtsbruder aus der Ecke auf seinen Freund Siebenpfeiffer zu.

„Reizend“, schnaubte er. „Wirklich ganz reizend! Mich lässt du ruhig da in einem Winkel sitzen und verbrüderst dich mit diesem Bergfexen da, diesem rüden Gewaltmenschen, der mir mein Beuschel gestohlen hat! Ich habe jetzt noch keines und werde keines kriegen, sondern mich langsam in den Abend hinüberhungern. Er aber fährt gesättigt davon und stochert sich die Zähne! Der Mensch ist verrückt!“

„Im Gegenteil!“ sagte Martin Siebenpfeiffer wehmütig. „Die satten Menschen haben auf der Welt recht, nicht die Hungrigen. Darum hat er recht. Ich bewundere ihn. Er ist ein Mensch – eine Kraftnatur –“

„– die anderen die Beuschel wegfrisst!“

„Ja. Das auch! Das ist ein kleiner Zug aus der Gesamtheit seines Wesens. Die eiserne Energie. Die rücksichtslose Tat. Dieser Mann wollte essen, und er ass! Andere nicht! Bei ihm ist das selbstverständlich. Bei gewöhnlichen Menschen gar nicht!“

„Ich zum Beispiel!“ fuhr er fort, ehe der reizbare Freund eine Erwiderung fand. „Siehst du: dieser Mensch, der da hinausging, dieser König der Berge – der ist das, was ich sein möchte und nicht bin. Ein Gefäss der Kraft, die von keines Gedankens Blässe angekränkelt ist. Naiv wie die Natur – du hast ja gesehen, mit welcher Unbefangenheit er über dein Beuschel herfiel – stark wie die Natur – ich sage dir, wenn der seinen Muskel spannt, da könnte einem Bären angst und bange werden – ohne Nerven, ohne Schwindelanfälle, ohne Vorgesetzte – kurzum, frei wie die Natur! Und was tut dieser naive, starke, freie Mann der Natur? Er läuft hinter einem Mädchen her, die ihrerseits wieder irgendwo im Schnee herumstrolcht. Das machen die Weiber aus einem! ... Oh Weiber! Weiber! Ihr verderbt die Besten!“

Martin Siebenpfeiffer wurde traurig. „So geht es nun schon solch einem Vollmenschen!“ hub er wieder an. „Was kann ich da vom Leben hoffen? Ich – der Halbe! Der Unbestimmte! Du weisst es ja, lieber Oskar – ich bin eine zerrissene Natur!“

„Ja“, bestätigte der finstere Freund. „Das bist du, Siebenpfeiffer!“

„Ein Mensch, durch den das wehmütige Missverhältnis zwischen Wollen und Können geht. In meinem Innern da gärt und glüht es. Ich möchte das Matterhorn besteigen. Ich bin in meinen Gedanken schon beinahe oben und jauchze aus breiter Brust! Da fällt mir ein, dass ich ja schon schwindlig werde, wenn ich nur von meinem Balkon im zweiten Stock auf die Strasse sehe. Ich möchte reisen! In tollen Abenteuern und Gefahren die Welt durchmessen. Aber bei meiner ersten Seefahrt nach Helgoland wurde ich so fürchterlich seekrank, dass ich mit dem gleichen Schiffe wieder zurückfuhr und mich seitdem nicht mehr aufs Wasser wage. Und als ich dann drei Jahre später nach Italien ging, stahl man mir mein Rundreiseheft und meinen Koffer, und ich musste traurig wie ein kahler Spatz zurück. Und als ich mich wieder nach drei Jahren so recht in den Strudel von Paris stürzen wollte – fiebernd, von dem besten Schneider unseres Städtchens neu angezogen und in Gedanken schon der hartgesottenste, wildeste Abenteurer! – da wurde meine Tante in Schrimm krank, und ich musste hin und sie pflegen. Sonst hätte sie mich enterbt!“

„Ja – ja!“ sagte der Freund finster. „Du bist eine zerrissene Natur!“

„Ich bin’s! Sieh – das ‚Wilde Dirndl‘ da drüben – das ist das Symbol meines Lebens. Theoretisch ist es mein! Denn es gehört unserer Sektion, und die Sektion bin ich! Praktisch aber kann ich es nicht bezwingen, sondern muss unten im Tal stehen und zuschauen, wie andere, die keinen Schwindel und keine Begeisterung kennen, fühllos das vollbringen, was ich mit all meinem heissen Herzen nicht vermag! Ist das nicht furchtbar? Und das ist mein Leben!“

„Ich weiss nur ein Mittel dagegen!“ murmelte der Freund und sah düster vor sich nieder.

„Und das wäre?“

„Heiraten!“

„Heiraten!“ wiederholte Martin Siebenpfeiffer melancholisch. „Du meinst: das zieht den Menschen aus den Wolken hernieder und stellt ihn auf seine zwei Beine, zwischen seine vier Wände, dass er weiss, wozu er da ist, und sich vom Leben keine Rätsel mehr aufgeben lässt? Oh ja – bester Freund – harmonisch im Sinn des Wortes würde meine Ehe mit Lori Vogel – ach, rede doch nicht! Natürlich denkst du an Lori Vogel! Ihr alle denkt ja nur an sie und mich! – Also harmonisch würde die Ehe schon sein. Ich würde noch dicker werden, als ich schon bin, ich würde keine Verse mehr machen, mich nicht mehr an Schneevogts furchtbaren Reiseberichten berauschen, den Vorsitz in meiner Sektion niederlegen und den eines Kegelklubs übernehmen, und nicht mehr an das ‚Wilde Dirndl‘ und seine Bezwingung denken – und, siehst du das – da – das ‚Wilde Dirndl‘ – das gerade ist’s! Das Weib! In mir brennt die Sehnsucht nach dem Weibe – der wilden nachtlockigen Göttin, wie sie die Dichter schildern, die nur dem auserwählten Helden sich ergibt. Solch ein Held nur einmal zu sein – nur vierundzwanzig Stunden lang in vollsten Zügen leben und geniessen – Sieger zu sein über das Weib ...!“

„Lori Vogel nimmt dich gleich!“

„Ach – Lori Vogel! Sie ist ein munteres, liebes Wesen für den Wochentag, für die gute Stube. Das Glück bei Milchkaffee und Semmeln und der langen Pfeife. Ich aber denke an das Weib – ich sehe so etwas Lächelndes, Geheimnisvolles vor mir, etwas Nixenhaftes, Dämonisches!“ – wieder starrte er traumverloren zu dem „Wilden Dirndl“ hinüber – „eine kalte Schlange mit Feueraugen, halb Engel, halb Teufel, ein wildes Rätsel mit schwarzflatterndem Haar ...“

„Das ist Unsinn!“ sagte der Amtsbruder.

Martin Siebenpfeiffer seufzte. „Gewiss ist’s Unsinn. Das weiss ich selbst. Wir sind ja so klug. Es gibt ja solche Fabelwesen nicht! Aber warum haben wir denn dann die Sehnsucht danach? Eine Art Erinnerung beinahe, als seien wir ihnen schon im Leben begegnet – Gott weiss wo – oder in einem andern Leben oder auf einem andern Planeten ...?“

„Das ist alles Unsinn!“ wiederholte der Freund.

„Doch! Ich hab’ schon mehrmals gelebt, in verschiedenen Gestalten – bis jetzt endlich diese zerrissene Natur aus mir geworden ist – anders wäre der Zwiespalt ja gar nicht zu erklären. Diese Feuerseele in der Hülle eines kurzatmigen, fetten, kleinen Oberlehrers, der keinen Berggipfel zu erklimmen, kein Weib zu berücken, nichts Grosses zu tun und zu leiden vermag. Und ich werde immer dicker bei allem Kummer und Zorn! Die innerliche Glut setzt bei mir aussen Speck an, statt ihn zu verzehren, und je korpulenter ich werde, desto mehr entferne ich mich von meinen Idealen, meinem Stanley, Cäsar Borgia oder Napoleon oder was gerade meine Brüder im Geiste sind. Denn grosse Männer sind zumeist klein und mager. Ihre unruhige Seele braucht kein so weich ausgepolstertes Nest. Aber ich ...? Dickbäuchige Menschen heiraten, kriegen Kinder und zum siebzigsten Geburtstag ein Ständchen vom Kegelklub und enden als Ehrenmitglied vieler Vereine. Und ich habe von Taifunen und Erdbeben, von rasenden Liebesstürmen und blutigen Duellen und von der tollen Jagd nach dem Glücke geträumt ...“

Der kleine Mann stand bekümmert auf und holte aus der Ecke den grünen Rucksack, das Lodenhütchen und den Bergstock hervor.

„Wo willst du denn um Gottes willen hin?“ fragte der Freund.

„Auf die Törlihütte!“ Siebenpfeiffer räusperte sich etwas befangen. „Sieh mal: dein Feind da mit dem Beuschel, der hatte vorhin ganz recht, als er sagte, dass aus solch einer überfüllten, mit Tabaksqualm und Bierdunst durchzogenen, lärmenden Schutzhütte alle Romantik flieht. Die Bergwelt ist wie ein schönes Weib. Man muss mit ihr allein sein, unter vier Augen. Dann hat man was davon. In Gesellschaft nicht. Drum will ich die Nacht heute allein in der ‚Törlihütte‘ zubringen!“

„Verrückt!“ sagte der Freund in schlichtem Ton.

Martin Siebenpfeiffer zog die Brauen hoch. „Wieso denn?“ tadelte er. „Die Hütte ist seit heute eröffnet. Köchin und Kellnerin, die Monika und die Veronika, sind oben und werden für mich sorgen. Ich werde leben wie Gott in Frankreich, bei Gulasch und Ziegenmilch – du weisst, dass ich als Abstinenzler keinen Tropfen Wein trinke – und vor Sonnenuntergang bei einer guten Zigarre draussen vor der Hütte sitzen – ganz allein und Selbstherrscher in meinem kleinen, neugeschaffenen Reich –, dann noch ein bisschen drinnen beim Lampenlicht träumen und auf den Sturmwind draussen horchen und schlafen gehen, ohne schnarchenden Kameraden und ohne Lärm von kneipenden Spätlingen aus der Wirtsstube. Und morgen jodle ich euch, wenn ihr zur Einweihung heraufkeucht, als ein ausgeruhter, munterer Mann entgegen.“

„Aber heute abend kommt doch Fräulein Lori Vogel an!“

„Ach – Lori Vogel!“ Martin Siebenpfeiffer wurde plötzlich etwas verstimmt. „Es kann sich doch nicht alles in der Welt um Lori Vogel drehen. Ich bin doch nicht mit ihr verheiratet!“

„Noch nicht!“ bestätigte der finstere Freund.

„Ich werde ihr eben morgen früh guten Tag sagen! Richte ihr das aus! Ich hätte noch dringend oben in der Hütte etwas zu tun! Das muss sie doch begreifen!“

Er schnürte geschäftig seinen Rucksack zusammen, warf ihn sich über die Schulter ins Kreuz, stülpte das Wetterhütchen verwegen auf den Kopf und bot dem Amtsbruder die Hand. „Gehst du noch ein Eckchen mit?“

„Keinen Schimmer!“ erwiderte der Freund.

„Alsdann – pfüet Gott!“ sagte Siebenpfeiffer treuherzig wie ein waschechter Tiroler und trat hinaus in den grell über dem weissen Wegstaub vor dem Wirtshaus brütenden Sonnenschein. Einen zornigen Blick warf er noch einmal zu dem „Weisen Lamm“ hinüber – das fehlende „z“ gab ihm, wie immer, einen Stich ins Herz –, dann stieg er wohlgemut mit dem Bergstock schlenkernd die grünen Matten zur Törlihütte empor.

Er atmete auf bei dem Gedanken, dem „Weisen Lamm“, dem Kampf ums tägliche Brot darinnen, dem Haschespiel mit der Kellnerin, ja selbst der Gesellschaft des finsteren Freundes entronnen zu sein. Mochte der den Nachmittag hungernd und bierbegehrend im Tal verkümmern, er, Martin Siebenpfeiffer, wanderte voll feuriger Begeisterung zur Höhe.

Einige hundert Schritte in gipfelstürmender Hast! Dann kamen, je steiler der Hang wurde, der kurze Atem und der Schweiss in der stechenden Mittagsglut. Während er immer langsamer, immer bedächtiger Fuss vor Fuss setzend weiterklomm, stieg trotz der prächtigen Bergwelt ringum, der grünen Wiesen, der weissen Firndächer unter dem blauen Himmel und des verschwenderisch alles erwärmenden Sonnengolds eine beklemmende Schwermut in ihm empor.

War er nicht, wie er da mühsam zu der endlich errungenen Hütte hinaufschlich, ein General ohne Heer, ein Sieger ohne jubelndes Volk? Wo blieben die Vereinskameraden am morgigen Jubeltag? Sie liessen ihn allein, all die Menschen, an die er, der alternde Junggeselle, sich in Ermangelung eines eigenen Heims so gerne mit naiver Zutraulichkeit anschloss, sie alle, ausser Lori Vogel, nahmen gar keinen Anteil an seinem Stolz und seiner Freude über das doch zu ihrem Besten von ihm gestiftete Werk.

Niemand brauchte ihn. Niemand dankte ihm. Am wenigsten die Bergsteiger, die von morgen ab lärmend, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt, die Törlihütte füllten. Wozu hatte er nun mit all dem Feuereifer die drei Jahre gearbeitet? Immer für Fremde, denen er fremd blieb. Wo war das Eigene in seinem Dasein, das Persönliche, von dem er sagen konnte: „Das hab’ ich mir errungen! Das gehört mir, und niemand darf es mir nehmen!“

Und wenn es auch nur eine Erinnerung war – besser als dies Sehnen und Warten auf das Grosse, Berauschende, das da kommen soll und nie kommt. Man zweifelt und dürstet sein Leben lang, und die andern lachen und trinken und wischen sich behaglich den Mund.

Martin Siebenpfeiffer seufzte tief auf vor Bitternis und schämte sich des nicht. Auch Hamlet war ja fett und kurz von Atem, wenn er auch den Purpur trug und ein Prinz war. Innerlich glich sich das aus. Da war jener vom Lauf seiner Tage ebensowenig befriedigt wie sein Erbe im Geiste, Dr. Martin Siebenpfeiffer. Beiden schien in ihrer Bitternis etwas faul zu sein in der Törlihütte und im Staate Dänemark.

Am Wege sass ein halbwüchsiges Mädchen auf einer umgedrehten Türe und trocknete sich mit der Schürze die Schweissperlen aus dem hübschen Gesicht. Siebenpfeiffer blieb stehen. „Was schaffst denn da, Mirzl?“ forschte er freundlich.

„Die Tür zum Damenzimmer soll i zur Hütten aufi tragen, gnä’ Herr!“

Richtig! Die Türe war gestern im Tal vergessen worden! Nachdenklich setzte der einsame Wanderer seinen Weg fort. Das Damenzimmer war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen, weil es unnötig soviel Platz wegnahm. Aber wer das Geld hat, hat die Macht, und Lori Vogels, der blonden Hüttenerbauerin, Wunsch, ein eigenes Gelass in ihrem neuen Reiche zu besitzen, war ja begreiflich und ihm Befehl.

Nun war er schon aus dem Bereich des Knieholzes und der Alpenrosen heraus. Tief unter ihm schimmerten die Dächlein von Sankt Lukas in der Öd, und die Ungeduld beflügelte seine Schritte. Er wusste: wenn er um jenen Bergvorsprung bog, dann lag das bisher einzige, dauernde Wahrzeichen seines Erdenwallens, dann lag die Törlihütte zum Greifen nah vor seinen Augen.

Er hatte beinahe Angst, der bescheidene Bau könne gleich einem Märchenschloss aus Tausenundeiner Nacht urplötzlich wieder in den Boden versunken sein! Aber nein! Er blieb stehen, und ein freundliches Lächeln umspielte sein erhitztes Gesicht. Da grüsste blitzblank das niedere, rotbraun gestrichene Schutzhaus über das mit grossen Markierstangen geschmückte Trümmerfeld herüber, hart hinter ihm kräuselte der spielende Bergwind die kornblumenfarbenen Wellen des Törlisees, und darüber stieg der weisse, wildzerrissene Wall des Törligletschers bis zur Höhe des Firnpasses hinauf, über dem der Himmel blaute. Links davon stand, dem Auge jetzt weit näher gerückt, aber noch weit schroffer und trotziger, als wenn man es vom Tale aus sah, die unterworfene Königin dieser kleinen Welt, das böse „Wilde Dirndl“.

Von drüben her klangen helle Juchzer. Die Monika und die Veronika, die sich offenbar in ihrer Einsamkeit sträflich langweilten, hatten mit ihren Luchsaugen bereits den Besucher erspäht. Aber es dauerte noch eine gute Stunde, bis Martin Siebenpfeiffer keuchend und mit zitternden Knien den letzten steilen Schotterpfad zur Hütte emporklomm, ganz erschöpft auf einen Stuhl, den die flinken Dirnen schon herausgeschleppt hatten, niederfiel, sich von der Monika in eine Schlafdecke wickeln und von der Veronika ein Glas Milch einflössen liess. Dabei war des Geschwätzes kein Ende. Alles hätten sich die beiden, die Jungfer Köchin und die Kellnerin, eher träumen lassen, als dass der gnä’ Herr heute schon heraufkäme – den weiten Weg bei der Hitze, und schwitzen tät’ er schon rechtschaffen! Und andere Bergsteiger seien natürlich noch nicht gekommen, weil die Hütte ja erst von heute ab dem Verkehr übergeben werde – aber fix und fertig sei alles, bis auf die Tür zum Damenzimmer, und der gnä’ Herr möchte nur selber nachschauen – ja, und was sie noch fragen wollten, die Trinkgelder dürften sie doch miteinander teilen, weil die Monika doch aus der Kuchel nicht herauskäme und der weltgewandten, schwarzäugigen Veronika, die schon einmal in einem Hotel in Meran Stubenmädel gewesen, das Einkassieren überlassen müsse?

„Nun seid mal endlich still!“ unterbrach Siebenpfeiffer den Wortschwall. „Natürlich tut ihr die Trinkgelder in eine Blechbüchse und teilt sie am Ende der Saison. Aber jetzt schaut, dass ihr weiterkommt!“

Daraufhin setzten die beiden hinter dem Hause ihren Drang nach Konversation mit dem Echo fort, und Martin Siebenpfeiffer überliess sich jenem träumerischen, müden Behagen, das den Bergsteiger am Ziel der Wanderung überkommt.

Nun war er ja am Ziel. Das Haus war geschaffen. Sein Werk! Mit einer gewissen Rührung sah er das Gebäude an, das äusserlich klein und dürftig, wie er selber sich vor dem trotzigen „Wilden Dirndl“ beugte und in Wahrheit doch dessen Wächter und Gebieter war. Und mit diesem Bewusstsein kam über ihn der Drang des Regierens und Kommandierens.

Er holte ein Stück Kreide aus der Tasche, beorderte die Monika und die Veronika als Stab hinter sich und wanderte als Geist der Ordnung durch das Haus. An die Türe des Speisezimmers malte er ein grosses: „Eintritt den Führern streng verboten!“, an ein kleineres, aber notwendiges Gemach nebenan desgleichen, an den Eingang zur Küche kam eine Warnung: „Unbefugter Aufenthalt verboten!“ – an den Hausflur in grossen Lettern: „Es ist verboten, Bergstöcke, Pickel und Mäntel ins Gastzimmer zu nehmen.“ Dann entstand oben an dem Türbalken des Damenzimmerchens ein: „Herren ist der Eintritt strengstens verboten!“, über dem Eingang des allgemeinen Schlafraumes ein: „Es ist verboten, sich mit Stiefeln auf die Pritsche zu legen!“ und an den zwei mit Betten versehenen Einzelzimmern ein: „Es ist jedem Bergsteiger verboten, mehr als ein Bett zu belegen!“

Allerdings standen diese Warnungen auch in der gedruckten Hausordnung, die unten im Speiseraum hing, und waren ohnedies allgemein bekannt. Aber doppelt genäht hält besser.

Nun sah er noch nach, dass das Aufschneidemesser mit der grossen Glocke, deren Läuten im Lauf des Gesprächs die unverbesserlichen Bergrenommisten schrecken sollte, schräg über dem Speisetisch hing, dass Hüttenbuch und Fremdenbuch in Ordnung waren und die Handapotheke samt Gletscherseil und Laterne sich an ihrem Platz befand – dann war sein Werk getan.

Es war schwül zwischen den durchsonnten Bretterwänden, die den beizenden Dunst von frischem Lack und kaum getrockneter Ölfarbe ausstrahlten. Martin Siebenpfeiffer trocknete sich die Stirne – denn das Ankreiden all der Verbote war keine kleine Arbeit gewesen – und ging über die krachende Treppe hinab ins Freie. Draussen war immer noch die stille feierliche Mittagsglut der Alpenwelt. Aber von den Firnhängen des „Wilden Dirndls“ strömte zuweilen ein erfrischender Windhauch herab und liess Schaumspritzer auf dem kleinen, eirunden Törlisee hinfliegen, dem Siebenpfeiffer langsam zuschritt. Ringsum war eine Wildnis von Steingeröll, von Felsbrocken und halbzerpulvertem Schotter, die Endmoräne des in kaum fünf Minuten Entfernung zum Bergjoch aufsteigenden Gletscherwalles, und mitten in ihr lag, sanft und friedlich wie ein zur Erde niedergefallenes Stück Himmelsblau, in dem die weissen Lämmerwölkchen oben sich freundlich spiegelten, die leise zitternde Wasserfläche. In würzigem Hauche blühten bunte Sommerblumen an ihren Ufern aus den Fugen des Gesteins, kleine bunte Schmetterlinge trieben einander lustig haschend im Gaukelfluge darüber hin, silberhell plätschernd rannen von allen Seiten die Gletscherwasser und Schneebäche der sonnenüberstrahlten Firnfelder ihrem Sammelbecken, dem blauen Auge des Törlisees zu – träumerisches Behagen, lächelnde Müdigkeit war ringsumher, wenn nicht zuweilen hoch oben von dem trotzigen „Wilden Dirndl“ ein fernes Knattern und Stäuben den Niedergang einer Lawine anzeigte.

Martin Siebenpfeiffer sah sinnend zu dem kekken, weissen Gipfel hinauf. Ja, ja – das „Wilde Dirndl“ liess nicht mit sich spassen. Da stand es zum Greifen nah und doch für ihn ewig unerreichbar. Und beklemmend beschlich ihn der Gedanke, dass künftig sein Dasein – sein alpines wenigstens – noch mehr eine Halbheit, ein Rätsel sein würde als bisher. Der Sektionsvorstand, der alles daransetzt, jenes spröde „Wilde Dirndl“ mit Sturm zu nehmen, der das Schutzhaus baut, den Weg anlegt, die Führer unterweist und dann endlich, dem Schwindel untertan, vom Törlisee aus mit dem Fernrohr zuschauen muss, wenn wildfremde Bergsteiger die Frucht all seiner Mühen pflücken und auf dem Gipfel die Hüte schwenken – nun ja – dieser Hamlet der Berge war eben er, Martin Siebenpfeiffer – eine zerrissene Natur ...

Voll zorniger Sehnsucht, es doch einmal im Leben den Kraftmenschen gleichzutun, statt ewig platonisch zu denken und zu lieben, schloss er, lang auf einem durchsonnten Grasplätzchen hingestreckt, die blauen Augen, und seine Gedanken wanderten träumend in die Ferne.

Hinter jenem Manne der Gewalt, hinter Ulrich Schneevogt her, den ihm heute die Gunst des Schicksals in den Weg geführt. Ja freilich – das war ein Ganzer! Alles an ihm so einfach und selbstverständlich. Er konnte, was er wollte! Und wollte wohl nur, was er konnte! Darin lag das ganze Geheimnis.

Ob er wohl „sölles Fräulein“ jetzt glücklich gefunden hatte? Und wie mochte sich dann ihr Zusammentreffen gestalten? Leichtes Spiel hatte er wohl mit ihr nicht ...

Schon in Halbschlaf versunken, sah Martin Siebenpfeiffer hinter seinen geschlossenen Wimpern ein unbestimmtes Traumbild – etwas sehr Schlankes, sehr Grosses, sehr Hübsches – eine junge Dame, die heiter lachend und unbekümmert mit hochgeschwungenen Lackstiefeln auf der Spitze des Grossglockners tanzte –. Er seufzte einschlummernd tief auf über soviel Vermessenheit und über das unmotivierte Hereinragen des Grossglockners in ein Gebiet, in dem doch unbestritten das „Wilde Dirndl“, also ein weibliches Wesen, herrschte.

Ein weibliches Wesen! Es gibt überhaupt nur ein Weib auf der Welt! Das sucht man und findet es nicht und nennt es darum unsre Frau Venus im Hörselberge und die ferne Königin von Avalûn und die Fee Morgana mit dem herzlich tollen Lachen. Das Lachen wurde stärker und stärker. Es mischte sich mit dem Gekicher der herabhüpfenden Quellen zu einem feinen Silberlaut, als wolle das „Dirndl“ oben, das sie entsandte, des Schläfers unten am Törli spotten.

Und dann klangen andre, prosaische Töne durch das übermütige Raunen der Eisgeister. Ein in bestimmten Zwischenräumen sich wiederholendes Geräusch, das schwer die Sommerstille durchsägte. Martin Siebenpfeiffer war am Ende der Dinge angekommen, wo kein Weib und kein Berg mehr Sehnsucht weckt. Er schlief ermüdet den Schlaf des Gerechten.

Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol

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