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I.

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Es ist nicht im Geringsten meine Absicht, mich in die Händel zwischen dem Kaiser Napoleon und dem Herrn von Bismarck zu mischen!“ sagte der kleine aus dem eben eingelaufenen Zug gestiegene Herr in einem reinen Hochdeutsch zu dem Gensdarmen, der ihn auf dem Heidelberger Bahnhof jetzt — in den Kriegs-Sommertagen von 1870 — nach Zweck und Ziel seiner Reise fragte. „Ich bin Ausländer. Ich bin russischer Untertan. Als ich im Juli Odessa verliess, um in Geschäften ins Ausland zu reisen, war der politische Himmel noch unbewölkt. In Frankfurt überraschte mich vor vier Wochen dieser unglückliche Krieg. Ich eile jetzt, dass ich mit meiner Frau und meiner Tochter hier in die Schweiz komme. Wenn ich unterwegs hier in Heidelberg noch über Nacht Aufenthalt nehme, so geschieht das rein nur in bestimmten Familien-Angelegenheiten.“

Der alte Deutschrusse öffnete die Rocknöpfe seines tadellosen, silbergrauen Wiener Sommeranzugs. Er knöpfte auch die blütenweisse Piqué-Weste auf. Er entnahm ihrer Innentasche einen Reisepass, klemmte sich den goldenen Zwicker bedächtig in das feingefurchte, von einem gepflegten kurzen Graubart umrahmte Gesicht, blätterte den Pass auf und reichte ihn dem Gensdarmen auf dem Main-Neckar-Bahnhof in Heidelberg.

„Ich bin der Kaufmann Erster Gilde und Erbliche Ehrenbürger Otto Gebauer aus Odessa. Und dies hier meine Frau Melanie, geborene Malbasá, auch aus Odessa, und meine dort geborene Tochter Katja!“ erläuterte er. Ein feiner Hauch von Kölnisch-Wasser, einer Havannah-Zigarre, tadellos frischer Wäsche ging von ihm aus. Um die beiden Damen hinter ihm wehte der Duftkreis eines starken, fremdartigen Parfüms. Etwas unbestimmt Ausländisches in Haltung und Gesichtsausdruck umgab wie eine Mauer die dreiköpfige Familie. Otto Gebauer fuhr fort:

„Mein Schwestersohn, ein junger Mensch von sechzehn Jahren, ebenfalls russischer Untertan, und aus Odessa stammend, befindet sich seit einigen Jahren hier in Heidelberg bei dem Gymnasialprofessor Ritter in Pension. Mein Neffe ist Waise. Sein Vater — auch Grosskaufmann und Ehrenbürger — und seine Mutter sind tot. Ich bin sein Vormund. Dies. der Grund meiner Anwesenheit hier. Ich will den jungen Mann schleunigst mit mir in die Schweiz nehmen, ehe die Franzosen womöglich über den Rhein kommen und Heidelberg besetzen!“

Der kleine Herr sagte das trocken, in der leisen, langsamen und nachdrücklichen Sprache eines gebietenden Finanzmanns. Der Gensdarm sah ihn wortlos an wie einen Verrückten. Ein dicker Dienstmann blieb mit offenem Mund stehen.

„Was hot der do g’sächt?“ schrie er. „Die Franzose üwwern Rhein? . . .?“

„Hebet ’en!“ riet ein verrusster Eisenbahn-Arbeiter, den Hammer zum Beklopfen der Räder in der Hand.

„Sagen Sie das nicht noch ’mal!“ Ein junges Mädchen stellte seinen Korb mit Liebesgaben hin und sprang, halb weinend vor Zorn, mit geballten Fäusten vor Otto Gebauer. „Es kommt kein Turko ’rüber! . . Es kommt keine Mitrailleus rüber! Dafür bin ich Ihnen gut!“

„Ja . . . Ich meinte ja nur . . .“ Der alte Odessaer Kaufherr sah sich vorsichtig beschwichtigend im Kreise um. Ihn verblüffte immer wieder diese lodernde Stimmung in Deutschland, das er von früher als so phlegmatisch und liebevoll gegen alles Fremde kannte. Hier auf dem Rhein-Neckar-Bahnhof, wo er von Frankfurt angekommen, verlief sich der Schwarm der Reisenden. Aber gegenüber, zwischen den roten Sandstein-Arkaden und Mauern des Odenwald-Bahnhofs wogte es unter dem tiefblauen Sonnenhimmel kornblumblau von bayrischen Uniformen und darüber dem Gewimmel schwarzer Raupenhelme, und wirbelte ein Taubengeflatter weisser Taschentücher um die aus dem schwarzen Tunnelschlund in die grüne Rheinebene hinausdampfenden Truppenzüge, und klang in Jauchzen und Jubel auf den Bahnsteigen und aus den blaugefüllten Wagenfenstern wieder und wieder durch das Rollen der Räder der Sang, den Deutschland in diesen Tagen immer und überall sang — bei Tag und Nacht vom Belt bis zum Bodensee: Fest steht und freu die Wacht — die Wacht am Rhein . . .

Otto Gebauer schaute zurück zu dem Häusergewirr Alt-Heidelbergs, das sich zwischen Neckar und Königstuhl schmiegte. Feierlich-riesenhaft, in der Nachmittagsonne in rotem warmen Leben aus Waldgrün leuchtend, stand mit seinen Palastruinen das von den Franzosen zerstörte Schloss unter dem blauen Himmel des 2. September 1870.

„Das Volk ist hier noch aufgeregter als in Frankfurt, Melanie!“ sagte der kleine, ausländische Kaufherr kühl, ohne Teilnahme an dem Geschehen um ihn, zu seiner Gattin. Frau Gebauer — die geborene Malbasá — stand hinter ihm — das Schosshündchen unter dem einen Arm, mit dem anderen das langgestielte Lorgnett vor den Augen. Deren Brauen waren geschwärzt, das einst schöne, nun im Verblühtsein leere, runde Gesicht so weissgepudert, dass nur die grossen Augen der Levantinerin dunkel herauslächelten und der Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe unter der Reismehlschicht verschwand. Sie zupfte sich entrüstet, mit dem anspruchsvollen Auftreten einer Frau aus den ersten Kreisen der Odessaer Finanzwelt, den geblümten Kaschmirschal um die Schulter zurecht und versetzte mit tiefer, voller Stimme — kurzatmig — denn sie war umfangreich und dabei nach der Vorschrift der Mode bis zum Ersticken geschnürt:

„Ah — c’est embêtant, mon ami! Cela ne va pas à la longue!“

„Um Gotteswillen, Mama — sprich hier nicht französisch!“ Katja, die 22jährige Tochter, bog warnend die schlanke, enge Taille aus der weissen, violettgestreiften, noch krinolinenartigen Wölbung des in den Hüften weit ausladenden Glockenrocks, in dem sie, schlank, frisch und lang — ein Kopf grösser als die Eltern, wie in einem Tonnenreifen stak, und hob lebhaft die weissen Hänge-Ärmel. Ihr schönes, längliches Gesicht zeigte, wie schön die Mutter einst gewesen. Aber es war schmaler — ganz anders geistig belebt. Glänzende dunkle Augen lächelten über einem lebensneugierigen, halb offenen Mund und einer geraden regelmässigen Nase. Die Gesichtsfarbe war bräunlich, in der Blutmischung von Deutschtum und Mittelmeer.

Sie schüttelte mit dem Ungestüm der verwöhnten einzigen Erbtochter den jungen Kopf, dass die langen, unregelmässig um die Ohren baumelnden Ringellocken flogen. Die Hauptmasse des reichen dunklen Haars war nach rückwärts zu einem Chignon geballt. Von dem Hinterkopf her sass ein kleiner lackierter Matrosenhut aus weissem Wachstuch schief nach vorn in die glatte Mädchenstirn gerügt. Die krauste sich bei ihrer wiederholten Warnung:

„So gib doch schon Acht, Mama!“

Aber Madame Melanie Gebauer verachtete von Russland her das Volk — Muschiks — Iswoschtschiks — Arteltschiks — Schwerarbeiter. Diese Leute waren Luft. Sie begann laut und ungeniert, sich erhitzt fächelnd:

,,Ah! plût à Dieu, que ce petit Sacha soit chez soi . . .“

„Mama wird nicht ruhen, bis wir hier noch alle zusammen Haue kriegen!“ sagte das schöne Mädchen zu ihrem Vater — halb lachend — halb unruhig — aber doch in der Haltung einer Dame der grossen, osteuropäischen Welt. Und zugleich ging es schon los:

„Was bawwelt die do auf französisch — die dicke Madam!“

„Ob Sie gleich’s Maul halte . .“

„Die g’hört kriegsgefange!“ verkündete ein Bengel.

„Stellt sich die alti Maschin do hin und parliert druff los!“

„Hülfe!“ ächzte Madame Gebauer. Sie sprach, aus der reichen Griechenkolonie Odessa’s stammend, schlechter deutsch als ihr Mann und ihre Tochter. „Hülfe!“

„Still, Ihr Männer! Als norr kalt Blut!“

Ein vierschrötiger, bärtiger Pfälzer zu Anfang der Fünfzig donnerte es von einem Waggon voll Liebesgaben her mit kochendrotem Gesicht. Er kam hitzig heran. Er hatte grobe, kluge, willensstarke Züge. Er trug am Arm die weisse Binde des roten Kreuzes. Er brauchte die Umstehenden nicht erst unsanft bei Seite zu schubsen. Die machten ihm von selber Platz.

„Mich kennt’r doch!“ schrie er den Heidelbergern zu. „Wenn ich auch norr e Mann’emer bin!“

„Ha freilich — Herr Niethammer!“

„Also horcht emol: Die Fremde do — die gehöre behandelt wie die Augäpfel — und wenn sie noch so dumm daherschwätze! Dees sind Russe! Die Russe sind unsere gute Freund! Die decke uns de Rücke! Da brauche wir kein’ Mann im Osten! Alles üwwern Rhein! — Kumme Sie — die Herrschafte — Ich bring’ Sie aus dem Bahnhof heraus!“

„Sie sind wohl Eisenbahnbeamter?“ frug der alte Grosskaufmann und fischte schon, gemäss russischer Gewohnheit, nach einem Trinkgeld in der Westentasche. Der derbe Mann aus dem Volk lachte.

„Ah bah! Ich hab’ e Fabrik in Mann’em!“

„Welcher Artikel?“ Otto Gebauer’s kaufmännische Neugierde erwachte.

„E Eisengiesserei! Ich hab’ freilich klein angefange . . .

Da gucke Sie die beide Pratze do an — da merke Sie heut’ noch, dass ich gelernter Maschinenschlosser war! Mei’ Vater war noch Vorarbeiter — drüwwe — im Saarland. Der hot sich als Schmied selbständig gemacht. Ich bring’ das Fabrikle immer weiter hoch — wann jetzt die grosse Zeit kummt und hilft!“

„Das furchtbare Blutvergiessen den ganzen August hindurch nennen Sie eine grosse Zeit?“

Sie waren vor die beiden Bahnhöfe, auf den Platz am Winterhafen, getreten. An den ersten Häusern der Stadt drüben hingen bunte Flaggen. Buben und Mädchen zogen mit verschiedenfarbigen Fähnchen vorüber. Sie schwenkten sie begeistert und sangen aus hellen Kinderkehlen:

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall —

Wie Schwertgeklirr und Wogenprall!“

„Do gucke Se hin!“ Der Pfälzer legte dem Deutsch-Russen unbekümmert die schwere Hand auf die Schulter. „Die Meiste von den Kinnern trage rotgelbe Fahne — das sind unsre badische. Und manche trage blau-weisse — den Bayern zu Ehren. Und e paar auch schwarz-rote für Württemberg und rot-weisse für Hesse — Aber das Beschte fehlt — denn das habe wir nit — Gott sei geklagt: Die Reichsfarbe fehle — Wir habe keine deutsche Farbe mehr. Wir habe kei’ deutsches Reich!“

Er schüttelte in plötzlicher Aufwallung seines rheinischen Bluts den kleinen Herrn an seiner Seite.

„Ich bin jetzt fuffzig. Ich hab’ als junger Mann das Jahr 48 miterlebt. Ich hab’ in Frankfurt, in der selige Paulskirch’, die schwarzrotgoldene Fahne hänge sehe! ’s war nix mit dem Schwarzrotgold damals, für das wir so begeischtert ware — ’s is nix geworde! Aber es muss ’mal werde — und wenn nit schwarzrotgold — dann anderswie! Es gibt noch mehr Farbe im Regenboge. Aber das Reich muss komme! Das muss ’mal komme!“

Seine braune, mächtige Hand wies in die Ferne. Weit am Himmelsrand, dunstig verschleiert, blauten da über dem unsichtbaren Rhein die Vogesen.

„Gucke Sie, Herr! Deswege is das Blutvergiesse da drausse! Deswege fliesst da das kostbare deutsche Blut! Die Sach’ is gut. Die is gross. Die is heilig! Für die lohnt sich’s zu sterbe! Ich sag’ Ihne: Ich könnt’ manchmal heule, dass ich fusszig uff’m Buckel hab’ und hier Unterhose und Bauchbinde verlade muss, statt dass ich e Zündnadelgewehr in den Fäuschte halt’ . . . Ja und jetzt . . . Wo wolle Se denn eigentlich hin?“

„Zu dem Gymnasialprofessor Hermann Ritter — wenn Sie den vielleicht . . .“

„Ob ich den Ritter kenn’? Hal Wie mei Tasch’. . dees is auch e feschter deutscher Mann! Mit dem hock’ ich oft beisamme, wenn ich nach Heidelberg, komm’! Der hat e Herz für’s Vaterland! Er wohnt gleich da hinne uff der Anlag’! Da springt gerad’ einer von seine Bube vorbei! . . Albert! . . . Do gehscht bei! Wo kummscht denn her?“

„Von den Baracke!“ Der Sekundaner hemmte seinen atemlosen Trab und deutete auf die freie Ebene hinter den Bahnhöfen. „Ich muss gleich zur Grossherzogin ins Museum.“

„Dort im Saal von der Museumsgesellschaft hat die Grossherzogin mit ihren Damen ihr Hauptquartier!“ erklärte der Mannheimer Fabrikant, „und die älteren Gymnasiaschte wie der Albert da, die springe den ganzen Tag als Botte hin und her!“

„Da freuen Sie sich wohl, dass Sie sich auch nützlich machen können!“ frug Katja Gebauer den jungen Menschen. Er sah die elegante schöne Weltdame böse an. Er warf erbittert den Kopf zurück.

„Ein Dreck is das!“ rief er wütend. „Bloss weil ich erst sechzehn bin, darf ich nicht hinaus! Ich könnt’ gerad’ so gut schiesse wie die Andere! Und wenn ich so weit bin wie die Andere, denn ist’s vorüber, und ich war nicht dabei!“

„Du bist zu jung, Albert — und ich bin zu alt!“ sagte der Fabrikant Niethammer. „Da kann mir nix mache!“

„So? . . . Warte Sie nur, Herr Niethammer, was noch passiert!“

„Hoffentlich keine Dummheiten, mein Sohn! Und jetzt führst du die Herrschaften ’nüwwer zu deinem Vater! Keinen Dank! Is mit Bläsier geschehen! Gute Reis’!“

„Seien Sie doch nicht so kratzbürstig!“ sagte, im Weitergehen mit den Eltern, Fräulein Gebauer weltläufig verweisend zu dem Sekundaner neben ihr und schwenkte dabei den kleinen, weissen Sonnenschirm, dass dessen lange Seidenfranzen flogen. Darunter zeigte im Schatten ihr schönes bräunliches Gesicht lachend die weissen Zähne. Aber in den Augen blieb eine geistreiche Schwermut — etwas Fremdartiges — Träumerisches — aus fernem Osten und südlichem Blut. Sie wandte dem jungen Mann mit einer sprunghaft sprechenden Schulterbewegung den hochfrisierten dunklen Kopf zu. Die Schäferlocken baumelten ihr wetterwendisch um die schmalen, lebendigen Züge, während sie strafend fortfuhr:

„Wir haben Ihnen nichts getan! Wir wollen doch bloss meinen Vetter Sascha Kersting besuchen, der bei Ihrem Vater in Pension ist! Er muss doch mit Ihnen im gleichen Alter sein!“

„Er ist auch sechzehn wie ich! Er sitzt mit mir in der Obersekunda!“

„Und kommt Ihr nett aus miteinander? Wie geht’s denn dem Sascha?“

„Ha — genau wie mir!“

„Was heisst das? Warum ballen Sie denn so die Fäuste?“

„Wie ein dummes Frauenzimmer kommt sich unsereins vor!“

„Danke!“

„Alle dürfen hinaus und kämpfen! Und unsereins hockt daheim über dem saudummen Tacitus und dem Rindvieh von Plato — no ja — es ist doch wahr.“ Der junge Mann brach wütend los: „Da predigen sie einem die Hude voll von den Spartanerjünglingen und den antiken Tugenden der Römer — und jetzt, wo man einen antiken Jüngling machen könnt’ — jetzt sperren sie einen zu Haus in den Stall wie die Gickel! Ich lass’ mir die Behandlung nicht mehr lang gefallen! Und der Sascha auch nicht!“

,,Den Sascha geht es doch schon gar nichts an!“ meinte die junge Odessaerin kühl. „Er ist doch Russe!“

„Russe?“ Der junge Mann riss die Augen auf. „Wenn einer von deutschen Eltern geboren ist und deutsch als Muttersprache spricht . .“

„Trotzdem ist er, wie es seine Eltern und Grosseltern waren, russischer Untertan!“

„Da soll er auf die Kosaken pfeifen! Was deutsch ist, das gehört jetzt alles zusammen! Wir wollen ein einiges Deutschland! Und der Sascha will’s auch! Gerad’ der! Der will nicht zurückbleiben hinter uns anderen, bloss weil er ein zahmer Russ’ wär’. Ihr werdet noch was erleben!“

„Was sagt denn um Gottes willen Ihr Vater dazu?“

„Der Pappa? Der geht ja selber heut Nacht hinaus! Als freiwilliger Krankenpfleger während der Gymnasial-Ferien! Er muss auch was für’s Vaterland tun, sagt er! Na — wir auch!“ Der junge Mann lächelte schadenfroh und verbissen vor sich hin. „Wart’ nur, Alterle!“

„Da scheinen wir ja gerade noch zurechtgekommen zu in sein!“ sprach besorgt und gedämpft hinter ihnen der alte Deutsch-Russe zu seiner Frau. Sie gingen die Anlagen entlang — auf der mit Häusern besetzten Seite, der gegenüber sich eine breitschattende Platanen-Allee längs des Eisenbahndamms an den Kastanienhainen des Gaisbergs hinzog. Der Gymnasiast blieb vor einem offenen Haustor stehen.

„Da im ersten Stock wohnen wir!“ Er pfiff schrill auf zwei Fingern und schrie in die offenen Fenster hinauf: „Pappa! Da kommen Herrschaften aus Russland! Verwandte vom Sascha! . . . So! Ich muss springe, dass ich ins Museum komm’!“

Er lüftete seinen Strohhut und stürzte davon. Oben dröhnte die Treppe. Professor Hermann Ritter eilte den Besuchern entgegen. Kaum mittelgross, tief schwarz mit künstlerischem Knebelbart und leichtgelocktem Haar. Beleibt und beweglich. Die feurigen Braunaugen eines fünfundvierzigjährigen Jünglings unter der Brille. Der weiche, starke, helle Tenor seines Willkomms verriet den geübten Sänger des ,Bachvereins‘ und der ,Liedertafel‘ — neben dem Brotberuf des Schulmanns.

„Unverhoffte Ehre . . .“ Er nötigte die Gäste in sein Arbeitszimmer. Die Trippelsche Riesenbüste Goethe’s beherrschte mit olympischen Seheraugen den Raum. An der

Wand hingen Stahlstiche der Preller’schen Odyssee — der göttliche Dulder und über ihm der Herrscher im Donnergewölk, Zeus. Über dem Kanapé unter Glas und Rahmen eine grosse Photographie der Sixtina. Auf dem Flügel in der Ecke zerstreut die Noten: Schumann — Brahms — Beethoven . . . In dem schlichten, offenen, eichenen Bücherschrank ein Leuchten der Menschheit erhellenden Geister durch die Jahrtausende wie Hunderte von Kerzen am deutschen Weihnachtsbaum — von Plato bis Kant — von Euripides bis zu den Humboldts.

Der Professor hatte purpurne Flecken an den Fingern. Die kamen nicht von Blut, sondern von der roten Tinte, mit der er die blauen Klassenhefte korrigierte. Er schob geschäftig die Stösse von Heften von den Stühlen. Er machte das Kanapé frei, auf dem schon seine Krankenpfleger-Ausrüstung für heute Nacht lag: Eine graue Joppe. Eine Mütze und weisse Armbinde mit dem roten Kreuz. Er bat die Besucher, Platz zu nehmen. Er rieb sich aufgeregt die Hände. Er rief in melodischem Zweiklang nach seiner Frau: „Käthchen! . . Käth—chen!“ und stellte sie vor, als sie endlich in einer frischen Bluse und mit ordentlichem Haar erschien — etwas grösser als er — blond und blass — mager und mild — so selbstverständlich abgehetzt — so bescheidenverblüht — so gottergeben-zufrieden in ihrer kleinen Welt wie nur irgend eine deutsche Hausfrau. Nebenan lärmten die Kinder. Aus der Küche kam Kaffeegeruch. Die Sonne schien in den kleinen Raum, in dem der Geist siegreich aus Gips und billigen Bildern, abgenutzten Klaviertasten und zerlesenen Klassikern sprach, und vergoldete ihn mit ewigem, deutschem Leben.

Der Schulmann liess seinen Gästen nicht erst Zeit, das Gespräch zu beginnen. Er hub selber von dem an, dess das Herz voll war, mit freudig aufflammenden braunen Augensternen und über dem Knie verschlungenen Händen.

„Nun — so hat auch Sie die grosse Zeit nach Deutschland gerufen? Oh — es ist herrlich! Eine Lust zu leben! Die Geister erwachen! Hören Sie: Da draussen singen sie schon wieder das Lied der Lieder . . . Ja wahrhaftig: ,So lang ein Tropfen Blut noch glüht‘ . . .“

„Jede Nacht haben sie es vor unserem Hotel in Frankfurt gesungen. Man konnte nicht schlafen“, sagte Madame Melanie Gebauer nervös. Sie thronte entrüstet in ihrem weitgeblähten, grell violetten Taftkleid wie eine grosse verblühte Tulpenglocke auf ihrem Stuhl, atmete in kurzen Stössen im Panzer des Mieders, und fächelte der Puderschicht auf ihren erhitzten, regelmässigen, nichtssagenden Zügen Kühlung zu. Ihr Mann räusperte sich und versetzte in das verdutzte Schweigen des Professors mit seiner vorsichtigen, kaufmännischen Höflichkeit:

„Es ist doch nicht ganz so, Herr Professor! — was den Anlass meines Aufenthalts hier betrifft! Wir haben mit deutschen Dingen nichts zu tun! Wir sind Untertanen eines fremden Staates . .“

„Aber doch Deutsche . . . Deutsche!“

Der alte Deutsch-Russe überhörte es geflissentlich.

„Mögen Odessaer Damen, die hier in Heidelberg ansässig sind, sich in der Verwundetenpflege betätigen und auch sonst leidenschaftlich für Deutschland eintreten!“ sagte er. „Möge eine dieser Damen, wie ich höre, bereits als Ausländerin und geborene Wienerin das Eiserne Kreuz am weissen Band erworben haben! Mich geht das nichts an. Ich bin hier lediglich gemäss meiner Pflicht als Vormund meines verwaisten Neffen!“

„Soll ich den Sascha holen? Er ist in seinem Zimmer.“

„Einen Augenblick noch, wenn ich bitten darf! Unter uns gesagt: Herr Professor — ich möchte meinen Neffen morgen mit in die Schweiz nehmen!“

Professor Hermann Ritter zupfte erstaunt den malerischen Knebelbart. Er lächelte freundlich und begriffsstutzig.

„Ja — warum denn?“

„Nun — ehe der Sascha womöglich in das Kriegsgetümmel gerät, wenn die Franzosen hierherkommen!“

„Die Franzosen nach Heidelberg?“ Der kleine dicke Pädagoge schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe. Es schien, als sträubten sich ihm die Künstlerlöckchen um die angehende Glatze. Er faltete entsetzt die Hände über dem gerundeten Leib, auf dem die Weste sich in vielen Fältchen knitterte. „Ja — du liebe Zeit! Lesen Sie denn keine Zeitung? Wissen Sie denn nicht, dass wir gesiegt haben?“

„Bisher!“ sprach der alte Kaufherr knapp. „Und auch da . . . diese drei mörderischen Schlachten bei Metz waren schliesslich so gut wie unentschieden. Seit gestern oder vorgestern ist dort ein neuer, grosser Ausfall der Franzosen im Gang. Eine andere entscheidende Hauptschlacht scheint jetzt eben im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze, zu toben . . . Wer da schliesslich siegen wird . . . . .“

„Ja — wir doch!“ versetzte sanft und laut Frau Professor Käthchen Ritter, die bisher kein Wort gesprochen. Ihr vom Alltag müdes Gesicht übersonnte sich von einer gläubigen und glücklichen Hoffnung. Sie war schön in diesem Augenblick. Wie von Licht umflossen. Ein Mädchenzauber von einst blühte flüchtig auf.

„Da gucken Sie ʼmal meine Alte an! Die wird förmlich wieder jung!“ rief Professor Ritter triumphierend. „Wir alle werden jung! Die Welt wird jung! Die Zeit erfüllt sich.“

„In Frankfurt, von wo ich komme, hat man sehr gute Beziehungen zu Österreich!“ sprach Otto Gebauer bedächtig. „Das Eingreifen Österreichs in den Krieg gilt Eingeweihten nur noch als eine Frage von Wochen. Das Ministerium Potocki — in Wien . .“

„Der Polack wird unsern Herrgott auch nicht aufhalten! Und ich weiss, was unser Herrgott vorhat!“ Der Schulmann streckte enthusiastisch den kleinen, fetten Arm aus. „Der Heinrich Heine war ein Lump. Ich hab’ ihn gar zu gern! Und sogar der gottlose Schote hat’s prophezeit — aus Paris — aus seiner Matratzengruft heraus: ,Komme du bald — oh Kaiser!‘“

,,Eine internationale Familie wie die unsere — verzeihen Sie, wenn ich als ein prosaischer Bankier spreche — meine Familie, die überall in Europa: — in Wien — Paris — Lyon — London — enge verwandtschaftliche und zugleich damit geschäftliche Verbindungen unterhält . . .“

„. . Der Kaiser kommt . . . der Kaiser kommt . .“

„. . muss nach allen Seiten geradezu ängstlich neutral sein und hat Einblicke nach allen Seiten! Und diese Einblicke sagen mir mit einer geradezu unumstösslichen Gewissheit . .“ Der alte Odessaer Kaufmann sprach leise, als verkündete er ein Geheimnis, und unwillkürlich etwas feierlicher als sonst: — „und ich habe — im Vertrauen — meine gesamten, gerade jetzt für einen Finanzier doppelt entscheidungsvollen geschäftlichen Massnahmen darauf eingestellt: An Englands Missgunst und an Österreichs Rache für Sadowa wird, ehe der Herbst kommt, die Staatskunst des Herrn von Bismarck und die Feldherrnkunst des Generals von Moltke scheitern!“

„Ja — aber das deutsche Volk steht doch hinter dem Bismarck und dem Moltke!“ sagte Professor Ritter halblaut und erstaunt. „Sehen Sie denn nicht, dass bei uns ein Wunder geschieht? Sehen Sie denn nicht, dass alle Menschen leuchten? Es hat jeder einen hellen Schein ums Haupt! Es steht ein Licht vom Himmel über Deutschland! Jeder fühlt’s: Jetzt muss es werden! Jetzt oder nie! Und es wird! Das hört man in den Lüften singen! Das sind Stimmen von oben: Es wird! . . . Es wird! . . . . . Es stirbt keiner umsonst da draussen . . . .“

„Ja eben! Denken Sie an die Opfer!“

„Mein Ältester, der Adolf, kämpft schon draussen! Ich hab’ ihn selbst aus der Schulbank in der Prima geholt und hingeführt. Ich tät’ auch meinen Zweiten — der Sie hierhergebracht hat — gleich hinausgeben, wenn er nicht erst sechzehn wär’! Da darf ich nicht — so ungebärdig der Bub sich auch anstellt.“

„Nicht er allein!“ sagte der alte Odessaer beunruhigt . . . „Nach seinen Andeutungen scheint sogar mein Neffe Sascha von einem kriegerischen Geist angesteckt . . .“

„Der liegt jetzt in der Luft. Die Herzen brennen — die alten und die jungen — Herr Gebauer!“

„. . . von einem Kasernengeist angesteckt, der für einen künftigen jungen Grosskaufmann wie Sascha am allerwenigsten passt.“

„Ja — schliesslich muss er doch auch in Russland einmal dienen — so gut wie jetzt hier die jungen Leute!“

„Da sind Sie im Irrtum, Herr Professor!“ sagte der Kaufmann kühl. „Mein Schwager Kersting war Erblicher Ehrenbürger, und Sascha, sein einziger Sohn, ist es also auch durch Geburt. Die Erblichen Ehrenbürger geniessen bei uns in Russland die Adelsvorrechte. Und unter diesen, als eines der wichtigsten, die grundsätzliche Befreiung von jedweder Art von Dienstpflicht! . . Und statt dass der junge Mensch froh ist, weit vom Schuss zu sein . . . . Er braucht wirklich keine kriegerischen Lorbeern! Er hat sein Leben lang genug mit der Verwaltung seines immensen Vermögens zu tun!“

„Ist er wirklich so reich?“

„Ich kenne sein väterliches Erbe, denn ich verwalte es als Vormund!“ sagte Otto Gebauer. „Es ist enorm. Dies war ja, wie Sie wissen, Herr Professor, der Grund, weswegen ich ihn als Waise hierher zu Ihnen, ins Ausland und in einfache, gesunde, bürgerliche Verhältnisse brachte. Für einen elternlos heranwachsenden jungen Mann seines Reichtums sind die Verhältnisse da draussen im Osten bei uns einfach Gift! Die Frauen würden jetzt schon nach ihm angeln! Er wird sie noch früh genug kennen lernen! Ein Haufen Müssiggänger und Schmarotzer würde sich um ihn sammeln. Man würde ihn anborgen . . . ihm schmeicheln. Es ist meine Pflicht, ihn vor diesen Verlockungen und Verführungen zu bewahren, bis er erwachsen ist! Je früher er dann heiratet, desto besser! Und nun rufen Sie ihn bitte!“

Der Schulmann und seine Frau zogen sich zurück. Die deutsch-russische Familie war allein in dem kleinen, heissen Raum. Der Erbliche Ehrenbürger Otto Gebauer ging unruhiger hin und her, als es ihm sonst seine Würde als Kaufmann Erster Gilde und Mitglied der Odessaer Duma erlaubte. Er wehrte mit der Hand die schwarzsummenden Fliegen. Aber es war mehr, als scheuchte er schwarze Gedanken . . . . . .

„Ça vient très mal à-propos“, versetzte er, gegen seine gemessene. Art etwas nervös und verdriesslich, „dass der Sascha sich hier sozusagen mit der Firma Bismarck und Moltke assoziiert!“

„Du hast ihn hierher ins Ausland getan!“ sprach die geborene Abasá und vervollständigte, in dem engen Korsett wider ständigen Luftmangel ringend, mit der Puderquaste den weissen Rauhreif auf der Nase.

„Konnte, meine Liebe, ein alter Kenner Europas wie ich ahnen, dass diese süddeutschen Staaten sich jetzt Preussen anschliessen würden? Vor vier Jahren um diese Zeit zausten sich noch die Bayern und die Preussen wie Katz’ und Hund! Und nun auf einmal — comme par une vertu magique dieses Herrn von Bismarck! — promenieren beide Arm in Arm gegen Frankreich!“

Die halbe Levantinerin zuckte die Achseln. Wie konnte man etwas gegen dieses göttliche Frankreich unternehmen?

„Mein Odessaer. Seiden-Import kommt doch aus Südfrankreich!“ Otto Gebauer ging immer hastiger auf und nieder, als triebe ihn eine unbestimmte Angst. „Unsere Handelsbeziehungen gehen nach dem Mittelmeer — nach Marseille! Unsere Bankverbindung ist der Crédit Lyonnais! Wir haben unsere nächsten Verwandten dort in Marseille und Lyon! Und hier begeistert sich inzwischen der gute Sascha in aller Unschuld gegen Frankreich . .“

„Gegen Frankreich . . .“, wiederholte Madame Gebauer empört und fächelte sich erschöpft Kühlung.

„Wir Odessaer haben weder im Norddeutschen Bund noch südlich des Mains geschäftlich das Geringste in Deutschland zu suchen! Wir sind — nettement — auf Paris — auf Lyon — auf Marseille angewiesen, wenn wir überhaupt Auslandsgeschäfte machen wollen, und so habe ich auch diesmal in dieser europäischen Krise disponiert!“ Der kleine graubärtige Handelsherr blieb stehen. Jetzt malte sich deutlich ein Ausdruck von Angst auf seinem Gesicht, das sonst in stiller, kalter und undurchdringlicher Verschwiegenheit sein Hauptbuch widerspiegelte. „Es ist merkwürdig, Melanie . . Wenn man die Deutschen hier so alle sieht — diese Stimmung — man bekommt förmlich Zweifel, wie der Krieg ausgeht . .“

„Der Sascha kommt gleich! Ich hab’ ihn aus dem Garten holen müssen!“ rief Professor Ritter durch den Türspalt und schloss ihn wieder.

„Danke, Herr Professor! . . Ja — dieser Krieg aus heiterem Himmel . . . Katja . . . Zupfe nicht immer an den Franzen von deinem Sonnenschirm . . . . wenn ich ausnahmsweise einmal ernsthaft von Geschäften mit Euch spreche . . .“

„Das ist auch das erste Mal, dass ich dich nervös sehe, Papa!“ sagte die junge Dame gelassen.

„Ich bin es nicht, Katjuschka!“ Ihr Vater setzte sich und wurde jetzt zusehends wieder ganz der körperlich kleine, geschäftlich grosse Kaufmann des Ostens, der seinen Kredit wie einen langen Schatten über die schwarze Erde Südrusslands und das Schwarze Meer bis in die Levante und in den Golf von Lyon warf. „Ich bin ganz ohne Sorge. Kaiser Napoleon hat unsern Zaren in der Krim gefchlagen: Er hat den Kaiser von Österreich in Italien geschlagen. Er hat den Kaiser von China geschlagen. Er wird also wohl auch noch diesen kleinen König von Preussen schlagen können!“

„Und dann . .“ Er klappte die Fingerspitzen zusammen und sah sinnend vor sich hin. „. . Dann stecke ich Sascha so bald wie möglich als Volontär zu unsern Verwandten, den Noutz in Lyon, damit er Frankreich lieben lernt!“

„Mög’ es Gott gefallen!“ sprach Madame Melanie seufzend, mit einem andächtigen Augenaufschlag, der halb dem Herrn im Himmel, halb Paris galt.

„. . . . Das heisst . . .“ Ihr Gatte nahm behutsam sein Wort wieder halb zurück. „Damit er vor allem auch den Lyoner Seidenhandel lernt! Mit der Liebe zu einzelnen Nationen darf sich der Sascha nicht befassen! Er muss lernen, dass ein Kaufmann überall auf der Welt Freunde hat — nämlich die Leute, mit denen er Geschäfte macht — und überall Feinde — nämlich die Konkurrenz! Die Konkurrenz kann er im eigenen Vaterland Tür an Tür haben und die Geschäftsfreunde in den fernsten Ländern! Es gibt da nur Geschäftsbeziehungen und Familienverbindungen, die die Geschäftsbeziehungen in glücklicher Weise ergänzen. A propos: Wie alt ist denn eigentlich diese kleine Françoise Nezot? Ist sie schon wieder bei ihren Eltern in Marseille?“

„Sie ist noch im Kloster!“ Madame Gebauer erwachte stürmisch aus ihrem Phlegma, da es um Heiratspläne ging. Das levantinische Blut lebte auf. Ein fernes Leuchten glomm in den dunklen mandelförmigen Augen. „Sie ist jetzt erst dreizehn!“

„Also noch ein Kind!“

„Das macht ja nichts, mein Freund! Das wäre ja gerade das rechte Alter für Sascha! Ach — ich erinnere mich noch, wie seine selige Mutter . . .“

„Ja. Meine Schwester war immer für die Partie . . .“

„. . und der alte Nezot schon vor fünf Jahren halb im Scherz und halb im Ernst auf die Verlobung ihrer Kinder zusammen anstiessen! Mein Gott ja . . Das Haus Nezot . .“ Die Odessaerin schlug bewundernd die Hände zusammen. „Das ist ein Wort.“

„Gewiss ist es eine der ersten Reedereien von Marseille,“ sprach ihr Mann leise und vorsichtig — so wie man an ganz grosse Geschäfte herangeht. „Man würde die Schiffahrtslinie nach Odessa und dem Kaukasus ausbauen! Die teuren Frachtraten bleiben in den Familien! Das gegenseitige Wechselgiro würde . . . .“

„Wenn ihr nur kuppeln könnt!“ sagte die Tochter vom Fenster her. Sie hatte bisher geschwiegen. Die Eltern drehten sich entrüstet nach ihr um. Katja hielt, mit einem leichten, müden Gähnen die Hand vor den Mund und meinte dabei, zwischen den Fingern: „Ich möchte ’mal wissen, wie das ist, wenn sich zwei Menschen heiraten und nicht zwei Firmen!“

„Ach du! Schäme dich! Zweiundzwanzig Jahre bist du mit Gottes Hilfe und hast noch keinen Mann!“

„Halb Odessa hat um dich angehalten!“ ergänzte ärgerlich der Vater. „Alle Nationen. Alle Branchen!“

„Warum hast du denn keinen genommen?“

Das junge Mädchen sah die Eltern seelenruhig aus ihren lebhaften braunen Augen an und zuckte die Achseln.

„Ja — wenn ich das wüsste . .“, sagte sie.

„Ich möchte nur wissen, auf wen du eigentlich wartest!“

„Ich auch, Mama!“

„Eine unglückliche Liebe hast du doch auch nicht!“

Katja Gebauer lachte hell auf.

„Seh’ ich so aus?“

Dann flog unvermittelt wie alles in ihrem Wesen — ein Schatten von Ernst über ihr schönes, bräunliches Gesicht und sie murrte finster:

„Ich wollte, ich hätte eine unglückliche Liebe! Dann hätte man doch wenigstens ’was! So hat man gar nichts! Es ist zu langweilig!“

„Jeden Tag könntest du deinen Vetter Pauluscha heiraten! Oder Maurice Sinai! Den jungen Presnjakoff! Eduard Wollbaum! . .“

„Mama! die hab’ ich ja alle schon längst heimgeschickt! Das Lager ist ausverkauft!“

Madame Gebauer unterbrach ihre Aufzählung der grossen Handelshäufer Odessa’s und seufzte:

„Ich weiss! Und der Sascha ist, leider Gottes, sechs Jahre jünger als du und kommt nicht in Betracht . .“

„Gib Acht! Ich glaub’, da erscheint er auf der Bildfläche!“

Die Türe zum Nebenzimmer öffnete sich. In dem sassen rund um den abgedeckten Esstisch die jüngsten Ritterschen Sprösslinge und andere Kinder und taten still und ernst, was alle Frauen und Kinder in Deutschland in diesen Sommertagen taten: Sie zupften Charpie für die Verwundeten. Mitten auf dem Tisch lagen die leinenen Lappen — zertrennte alte Hemden — zerrissene Taschentücher — ausgediente Bettlaken. Aus ihnen zogen die kleinen, mehr oder minder sauberen Finger emsig die einzelnen Fäden und schichteten sie zu hohen, lockeren weissen Haufen. Dazwischen klapperten die Stricknadeln der Frau Professor heftig an einem Liebessocken. An ihr vorbei war Sascha Kersting zur Schwelle gegangen und stand jetzt, die Türe hinter sich schliessend, ohne eine merkliche Freude des Wiedersehens zu heucheln, vor den Odessaer Verwandten.

„Nun — da seid ihr ja auch einmal!“ sagte er wenig liebenswürdig. Er kam nachlässig herangeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, und entschloss sich dann doch, die Rechte herauszuholen und sie ziemlich missmutig der Reihenach dem Onkel, der Tante und der Base zu reichen. Er war nicht sehr gross für seine sechzehn Jahre, schmächtig und ebenmässig gewachsen, mit dunklen Augen. Eine Strähne seines braunen wirren Haars hing ihm unordentlich in die Stirn. Es war in seinen halb trotzigen, halb verträumten Gesichtszügen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seiner schönen, um sechs Jahre älteren Cousine Katja — nur dass ihm schon der erste, schwache. Anflug eines Flaums über den spöttisch verzogenen Mundwinkeln dunkelte. Er liess die Hand Katja Gebauers als letzte los, sah sie ernsthaft an, indem er nach seiner Gewohnheit den Kopf heftig in den Nacken warf, und meinte dann prüfend, im Ton eines Frauenkenners:

„Na — du hast dich ja ganz gut herausgemacht — in den drei Jahren, seit wir uns nicht gesehen haben!“

„Wenn ich nur dir gefalle!“ sagte Katja.

Er nickte herablassend, in gewaltsam verhehlter Sorge, sich nicht von der grossen Cousine imponieren zu lassen.

„Doch! du kannst so bleiben! Du bist viel hübscher geworden, als ich dich in der Erinnerung hatte!“

„Gottseidank!“ Die junge Dame atmete aus tiefster Brust auf und legte erleichtert die Hand aufs Herz. „Das war meine Todesangst auf der ganzen Auslandsreise, was du zu mir sagen würdest!“

Sascha zuckte nachsichtig die Achseln zu dem Spott. Er wandte sich etwas ironisch den beiden alten Herrschaften zu. Er hob wieder das eigenwillige Kinn. Er hatte einen bald herrischen, bald versonnenen Mund, um den jetzt eine Gereiztheit zuckte. Er forschte ungeduldig.

„Wie denn, Onkel Ottinka? Pomiluite . . .“

„Du sollst in Deutschland deutsch sprechen, Sascha!“

„Karaschô!“ bestätigte er eigensinnig. „Was macht Ihr denn hier plötzlich? Mitten im Krieg?“

„Ich glaube, es ist unsere Sache, lieber Neffe.“

„Man kann Euch jetzt hier gar nicht brauchen! Man kann jetzt überhaupt keine Ausländer brauchen!“

„Du bist ja selber einer . . . Bitte . . Wir wollen hier geschäftlich und fachlich reden . . Du bist russischer Staatsangehöriger und, soviel ich wenigstens weiss, liegt Heidelberg nicht in Russland!“

Sascha Kersting sah den Onkel an. Sein hübsches Gesicht war missmutig. Er zuckte die Achseln und stellte sich, mit dem Rücken gegen die Anwesenden, die Hände wieder in den Hosentaschen, ans Fenster und schwieg verdrossen und schaute hinaus.

„Sascha . . . . . Du gefällst mir nicht . . .“

Es kam ein unbestimmter Laut als Antwort, aus dem man entnehmen konnte, dass das gegenseitig sei.

„Du bist malproper angezogen!“ tadelte der selbst peinlich korrekte, kleine Kaufherr. „Leider achtet man in Deutschland viel zu wenig auf diese Dinge.“

„Papa . . das soll doch genial sein!“ erläuterte Katja belustigt und besänftigend, „das darfst du ihm in dem Alter nicht übernehmen!“

Sascha fuhr herum und musterte sie wütend und wortlos. Sein Oheim mäkelte mit hochgezogenen Augenbrauen weiter.

„Deine Krawatte sitzt schief! Ein Rockknopf fehlt! Wo sind denn, um Gottes willen, deine Manschetten?“

Der Jüngling drehte sich zu ihm. Er lächelte jetzt auf einmal naiv-liebenswürdig. Er sah dadurch sehr hübsch aus. Es war eine schmeichlerische, weiche Art, sich träumerisch zu geben, wie es die Frauen lieben. Aber es wurde daraus — in der Ungleichmässigkeit seines Wesens — rasch ein spöttisches Mitleid mit dem geistig hinter der Zeit zurückgebliebenen Onkel vor ihm. Er brauste plötzlich leidenschaftlich auf:

„Es handelt sich jetzt nicht um scheppe Halsbinden, Onkel Ottinka, sondern um das grosse deutsche Vaterland . . .“

„Da haben wir’s!“ sprach Otto Gebauer entsetzt zu seiner Frau.

„und um die Franzosen zu verwichsen, brauchen wir keine Manschetten! die stören dabei nur . . .“

„Na — den habt Ihr ja hier gut untergebracht!“ sagte Katja gleichmütig zu den Eltern und streichelte den Familienpinscher auf ihrem Arm. Ihr Vater rang nach Luft.

„Was kümmert dich das deutsche Vaterland?“ schrie er Sascha an, in einer Anwandlung von Barschheit, die bei ihm selten war.

„Soll ich allein in der Ecke stehen, wenn alle an Deutschlands Einheit bauen? Ich hab’ keine Lust, hinter den anderen zurückzustehen!“

„Worin denn? In einer Sache, die dich gar nichts angeht? Das ist bei dir gar keine Begeisterung für Deutschland! Das ist einfach ein überspanntes und gekränktes, knabenhaftes Selbstgefühl!“

„Ich bin nicht gewohnt, der Zweite zu sein! Ich bin’s in Odessa nicht! Ich gehör’ dort zu den ersten mit meinem Geld — und in der Klasse hier gehöre ich auch zu den ersten — in den Zeiten wenigstens, wo ich mir Müh geb’ und etwas arbeit’, heisst das . . .“

,,Eben! ’mal bist du fleissig, ’mal nicht! Alles an dir ist sprunghaft. Auch dieser kindische Enthusiasmus . . .“

„Ich bin begeistert für Deutschland!“ rief Sascha Kersting. Sein Gesicht wurde blass und verklärte sich. Seine Augen wurden gross und leuchteten. Er hob sich feierlich in den Schultern. Er konnte vor Erregung kaum sprechen. „Ich will dabei sein, wenn Deutschland neu ersteht!“

„Lass doch die Redensarten!“

,,Redensarten?“ Der junge Mann hatte plötzlich wieder sein alltägliches Aussehen. Er schüttelte gottergeben den Kopf.

„Es lohnt sich nicht, vernünftig mit Euch zu reden!“ Ein verächtlich-verstecktes, geheimnisvolles Lächeln flimmerte um seine, vom ersten Bartanflug beschatteten Lippen. „Ihr kommt mir ja heute so ungelegen wie nur möglich auf die Bude! Aber vielleicht kommt Ihr gerade deswegen zurecht!“

„Zu was zurecht?“

Draussen auf der Strasse nahte sich ein betäubendes Geschrei. Sascha trat, ohne zu antworten, interessiert an das Fenster. Ein Haufen Jungen marschierte heran. Ein Halbdutzend von ihnen zog einen Handkarren, auf dem getragene Stiefel, Wäsche, Hosen, Kissen, Pferdedecken lagen. Die anderen liefen nebenher und tobten: Hurrah! Hurrah!

„Warum kreischt Ihr denn so, Ihr Bube?“ rief Sascha hinunter. Er konnte ganz gut pfälzisch.

„Ha — wir kreische halt . . .“

,,Is denn ’was Extra’s bassiert?“

„Nix! Wir hawwe Liebesgabe geholt . . bei den Bauern, drüwwe in Handschuhsheim . .“

„Da seht Ihr die Stimmung!“ Sascha Kersting wandte sich lachend in das Zimmer. „Die Bengel brüllen auf alle Fälle Viktoria! . . . . Erbarmen Sie sich, Frau Professor . . . Was ist denn los?“

Frau Käthchen Ritter war in heller Aufregung vom Flur hereingestürmt und prallte erschrocken zurück.

„Ah — ich hab’ gedenkt, mein Mann wär’ da . . .,“, entschuldigte sie sich. Zugleich trat schon der Schulmann, der ihre Stimme gehört hatte, hinter ihr über die Schwelle. Sie packte ihn am Arm und riss ihn, schluchzend vor mütterlichem Zorn, ans offene Fenster.

„Da guck’ hinunter, Hermann! da hast deine Tochter! Noch nit mehr wie dreizehn und nit zu regieren! Mit sellem Früchtche sind wir gestraft! Seit dem Mittagessen such’ ich’s Elsche wieder wie ’ne Stecknadel und sind’ sie nit! Und jetzt — da unten — da kummt mei’ Mamsellche mit dene Lausbube anmarschiert!“

Ihr Mann musste erst seine Brille aufstülpen und blinzelte aus seinen feurigen Braunaugen unsicher auf die tobende Schar. Frau Käthchen weinte hellauf.

„Der Neckarschleimer da, der am wildesten schreit und springt — das ist das Elsche! Sie hat sich wieder heimlich die Hose vom Karlche angezogen und is als Bub ’naus in die Welt . . . . Siehst sie noch nit, Hermann? der Bub, der wo alleweil im Rinnstein Rad schlägt und mit den Beinerche in der Luft zappelt — das is dei’ Tochter!“

Der Professor flog beleibt und behende mit flatternden Rockschössen die Treppe hinab. Sascha lächelte amüsiert. Er war hier in der Bürgerfamilie der grosse junge Herr, der die Sache manchmal als Menagerie betrachtete.

„Das Elsche ist ein Maladjétz!“ erläuterte er den deutschrussischen Verwandten. „Ein verfluchter, kleiner Taugenichts! Ein fixes Mädel! . . . Da bringt der Papa den Ausreisser!“

Hermann Ritter beförderte seine Tochter erbost am Schlafittich die Treppe hinauf, indem er sie zugleich erzieherisch mit der flachen Linken auf die behoste Kehrseite klapste. Im Wohnzimmer pflanzte er sie hin. Das Elsche stand atemlos da, in ihren Bubenhöschen, dreizehnjährig, lang, mager wie ein Hering. Semmelblond. Eine Stupsnase und zwei lustige, hellbraune Augen in dem hübschen Gesichtchen. Sie stemmte die roten Händchen in die Seite und schaute die Eltern erhitzt und unbefangen, freundlich fragend, an.

„Der grösste Gassebub’ von Heidelberg!“ Die Mutter riss ihr erzürnt die Mütze vom Kopf. Ein gerolltes Rattenschwänzchen von Zopf kam zum Vorschein und fiel mit dem zerkauten Ende über die hageren Schultern. „Ich möcht’ nur wissen, wie ich zu der Tochter komm’!“

„Ich war doch nur mit den Buben in Handschuchsheim!“ sagte das Elsche weinerlich. Sie hatte eine feine, helle, unschuldige Kinderstimme.

„In Hose! . . Ja — schämst dich denn gar nit, du Malefizkrott?“

„Sonst hätte mich doch die Bube nit mitgelasse! ,Kleine Mädche sind Rindviecher;’ — sage sie als! Ich hab’ doch trommele müssen, Mamma! ’s kann’s keiner von den Buben! Vor jedem Haus habe wir so lang getrommelt, bis die Bauern ’was für die Verwundeten hergegebe habe.“

Die Wangen der Kleinen glühten vor Eifer. Der Vater war halb besänftigt.

„Marsch! Zieh dir jetzt eine Christenkleidung an!“ sagte er und schob sie zur Tür hinaus. „Entschuldigen nur die Herrschaften die Störung! Komm’, Käthchen!“

Das Ehepaar verschwand. Sascha war wieder mit den Verwandten allein. Er wartete, mit einer müden Ergebung, an die Wand gelehnt und zur Decke starrend, ob die Besucher nicht jetzt auch den Rückzug antreten würden, und frug dann, als seine Hoffnung sich nicht erfüllte, ironisch:

,,Na — Onkel! Was macht denn der Frankenkurs?“

„Sascha — ärgere nicht mutwillig deinen Onkel mit Geschäftsverlusten!“ rief Madame Gebauer zürnend.

„Der Frankenkurs . . . . lieber Neffe . .“ Der Kaufherr räusperte sich trocken. „Nun . . Soviel weisst du von Geschäften, dass Nostro-Forderungen auf dem Pariser oder Lyoner Platz zurzeit notleidend sind. Verluste im Geschäftsverkehr mit Frankreich sind im Augenblick unvermeidlich, solange sich nicht das Kriegsglück endgültig auf Seiten Napoleons wendet!“

„Na — Onkel Ottinka — da wirst du noch dein blaues Wunder erleben!“

„Von diesem Ausgang der Affaire bin ich überzeugt. Die Folge wird in den nächsten Jahren eine stürmische Belebung des französischen Markts und damit auch unseres Geschäfts mit Lyon sein. Du, Sascha, wirst dort davon in erster Linie profitieren!“

„Päh!“

„Einen klaren Kopf bewahrt in solch aufgeregten Zeiten nur der Neutrale am dritten Ort! . . Hm . . . Wir sind nämlich auf dem Wege in die Schweiz . . .“

„Wann fahrt Ihr denn? Heute Abend noch?“ erkundigte sich Sascha angelegentlich. Er näherte sich und wurde unversehens ein recht freundlicher und umgänglicher, um die Verwandten liebevoll besorgter Neffe.

„Erst morgen früh!“

„Das ist doch immer das russische Getrödel!“ Der enttäuschte junge Mann warf einen ungeduldigen Blick zum Himmel. „Was wollt Ihr denn hier in Heidelberg? Niemand rief Euch! Fahrt doch! z’ bogóm!“

„Ich warte bis morgen . . .“

„. . z’ bogóm! . . z’ bogóm!“

„um dir Zeit zu lassen, Sascha, deinen Koffer zu packen! Denn du wirst uns auf der Reise begleiten.“

„Fällt mir nicht ein!“ sagte Sascha gleichmütig, fast im selben Atem, als hätte er es schon erwartet.

„Warum nicht!“

„Ja — wie denn?“ Der Neffe machte eine lebhafte und unbestimmte, Arbeitsüberhäufung und Verantwortung andeutende, russische Bewegung mit den Händen. „. . weil ich hier zu tun habe!“

„Es sind Ferien!“

„Es gibt höhere Pflichten!“ belehrte scharf der junge Mann, stehend von oben herab den vor ihm sitzenden Onkel Ottinka. „Das weisst du bloss nicht, weil Ihr in Odessa ausser der Weizen-Notierung keine Ideale kennt!“

„Odessa ist deine Vaterstadt! Wir, deine Verwandten, sind dort die angesehensten Leute . . .“ Der kleine Ehrenbürger machte einen Versuch, energisch zu werden. „Wie kannst du dir erlauben, du junger Bube . . .“

,,Also lassen wir Odessa!“ Der junge Mann beschrieb nachgiebig, eine Hand halb in der Hosentasche, mit der anderen einen Kreis in der Luft, so ungefähr um Europa herum, „sagen wir überall in unserer Welt, wo man an’s Geld denkt — ob das nun Lyon heisst oder London oder Wien — überall sind wir hoffnungslos die gleichen Leute . . . Es ist ja total wurscht, ob wir uns in Rubel oder Gulden oder Pfund Sterling umrechnen — wir liegen alle ganz egal mit der Nase am Boden . .“

„Hast du je deinen Onkel in solch einer unpassenden Stellung gesehen?“ rief Madame Melanie Gebauer empört. Der Neffe beachtete ihr fremdartiges Deutsch so wenig, als hätte das Schosshündchen gekläfft. Er belehrte überlegen lächelnd und vertraulich den alten Grosskaufmann, während doch schon wild die Schwärmerei in seinen braunen Augen aufstieg.

,,Euch fehlt nämlich ganz einfach der Sinn für das Höhere! Sieh’ mal, wie die Katja sich bei meinen Worten aufrichtet und die Ohren spitzt . . . Die Katja ist, scheint’s, auch meiner Meinung!“

Das junge Mädchen nickte lebhaft, mit einem gespannten Zug um die halboffenen, roten Lippen. Ihr Vetter schrie auf einmal los, helle Kehllaute und unvermittelte Basstöne der Leidenschaft in der noch unausgeglichenen, halb Knaben-, halb Mannes-Stimme. Er schnaubte den alten Herrn vor ihm an, dass der erschrocken zurückfuhr:

„Wir können ja auch gar nichts tun als Geld machen! Denn wir dürfen ja gar nichts anderes machen. Denn wir sind ja überall auf der Welt nur zu Gast. Wir dürfen froh sein, dass wir nicht überall ’rausgeschmissen werden!“

„Wir?“ frug der alte Ehrenbürger entsetzt.

„Ja. In Russland sind wir Deutsch-Russen und müssen tun, was die Russen wollen! Und in England sind wir Deutsch-Engländer und müssen tun, was die Engländer wollen — und in Frankreich — Deutsch-Franzosen gibts’ ja gar nicht! — und wir kriegen in Paris und Lyon das Kunststück doch fertig!“

„Unsere französischen Verwandten, mein Lieber, sind Firmen ersten Ranges!“

„Weil wir nichts Ganzes sind. Deswegen kommen wir zu nichts — im höheren Sinn — meine ich — Uns fehlt das Beste! Dal Guck! Die Katja weiss das auch! Die springt auf und klatscht in die Hände! . . . Die Katjinka — das scheint mir der einzige vernünftige Mensch unter Euch!“

„Katja . . setz’ dich!“ sprach Madame Gebauer leidend.

„Die Deutschen hier in Deutschland tun eben jetzt selber, was sie wollen!“ schrie Sascha, mehr zornig als begeistert. „Der Bismarck zeigt’s ihnen, wie man’s macht! Und ich bin ein Deutscher! Und ich mach’ mit!“

„Um Gottes willen!“ stöhnte die geborene Abasá.

„Tante — du stammst von den Wilden! Du kannst überhaupt nicht mitreden!“

„Hast du’s gehört, Otto? — Ah — je m’évanouis!“

„Er hat doch ganz recht, Mama!“ rief Katja, die Tochter, dazwischen. „Wir haben doch von deiner Seite nicht nur Levantinerblut — sondern auch von russifizierten Tataren-Fürsten — da irgendwo hinterm Don . . wo die Welt ein Ende hat . .“

„Es gibt Wunder in der Welt!“ rief der Jüngling stürmisch. „Die stehen nicht in Euren dummen Hauptbüchern! An die Wunder muss man glauben! Sonst wird einem das Leben zu langstielig! Auf die Wunder von oben muss man warten! . . . Gelt — Katja — So was Feierliches spürst du manchmal auch? Schaut nur, wie ihre Augen leuchten . .“

„Katja . . du hältst den Mund!“

„Ich brauche ja gar nicht zu sprechen, Papa!“ sagte die junge Odessaerin. „Der Sascha tut’s ja schon! Der redet mir aus der Seele!“

„Als ob du dich je für die deutsche Einheit interessiert hättest, Katja!“ ächzte die Mutter.

„Nein. Gewiss nicht. Davon versteh’ ich nichts. Das meint der Sascha auch gar nicht! Er meint nur, dass überhaupt etwas über uns ist!“

„Ganz recht, Cousine! . . Du bist ein Mädchen! Du könntest ja doch nicht für Deutschland kämpfen. Deine Wunder werden von anderswo kommen! Aber ich bin ein Mann! Ich . .“

„Sechzehn Jahre bist du alt! Ein dummer Junge bist du . .“

Sascha Kersting wurde plötzlich wieder gelassen und nachsichtig. Er nickte dem Oheim zerstreut zu.

„Fahre nur in die Schweiz, Onkel! Da gehörst du hin! Du bist kein deutscher Mann.“

„Ich bin Bankier in Odessa!“

„Ja. Da kannst du ja auch schliesslich nichts dafür!“

„Danke du deinem Schöpfer täglich auf den Knien, dass dir dein Vater eines der grössten Vermögen von Odessa hinterliess!“

„Ich finde es ja auch recht angenehm!“ sagte der junge Mensch nervös. „Aber ich habe jetzt keinen Sinn dafür! Das ist doch nur die Grundlage, Onkel Ottinka! Der Ausgangspunkt! An dem . . .“, er machte eine bedauernde Schulterbewegung, „trennen sich unsere Wege! . . Viel Vergnügen in der Schweiz! . . Adieu, Katja! du hast mir kolossal gefallen!“

„Du wirst hier im Zimmer bleiben . . .“ befahl der Oheim.

,,Auf Wiedersehen!“ Sascha öffnete die Flurtür.

„. . und es nicht verlassen, bis wir zu Ende sind!“

„Da swidanje!“ sagte der Neffe gleichgültig und höflich und drückte die Türe hinter sich ins Schloss. Draussen flog er, im Vorbeiflitzen die Mütze vom Haken reissend, den Gang entlang, ehe der Onkel etwa Miene machte, nachzukommen! Draussen auf dem Treppenabsatz lauerte, wie ein kleiner Indianer auf dem Kriegspfad, das Elsche. Sie trug jetzt Jungmädchenkleidung. Ein Jüngferchen in zu kurzem Rock, der einen langen dreieckigen Riss aufwies und die Storchens beine bis zum Knie zeigte. Die Stiefelabsätze waren schief getreten. Ein Strumpf über die blosse Wade gerutscht. Sascha beugte sich zu dem Ohr der erwartungsvoll, in glühendem Tatendrang, zu ihm aufschauenden kleinen Vertrauten.

„Horch, Elsche! Also wir können nicht erst übermorgen auskneifen — auf den Kriegsschauplatz hinaus — dein Bruder und ich so wie wir’s vorhatten — wenn dein Vater heut’ abgedampft ist und die Luft rein! Der Albert und ich müssen heut’ schon weg — wie’s auch geht! Sonst heimst mich mein Onkel ein!“

„Ei — mir könnt’ doch der alte Stockfisch den Buckel ’naufsteige!“ meinte die Dreizehnjährige geringschätzig.

„Ich bin doch Ausländer, Elsche! Ich bin doch minderjährig! Wenn er auf die Polizei läuft und an den russischen Konsul in Karlsruhe telegraphiert, riskiere ich, dass ich ausgewiesen werde und mit ihm in die Schweiz hinüber muss! Also, Elsche: Jetzt besorgst du bis zum Abend Knackwürste, Brot, harte Eier für unterwegs . . . Geld hast du ja!“

„Ich hab’ doch heimlich mei’ Sparbüchs’ zerschlage!“ sagte das Kind glücklich. „Drei Gulden und einundfünfzig Kreuzer. Das gehört alles für Euch!“

„Für den Albert! Ich hab’ ja! Aber wir brauchen Mittel, um uns als Kriegsfreiwillige auszurüsten! Du musst uns heute überall zur Hand gehen!“

„Ja . . Ja . . .“

„Du mussst Posten stehen, wenn wir uns aus dem Haus schleichen und unauffällig vorher ein paar Einkäufe besorgen. Eine Feldflasche . . und eine Karte von Frankreich — sag’, es gehörte für deinen Vater . . .“

„Ja . . ja . . Ich bin nit so dumm, wie ich ausschau’!“ beteuerte das Elsche.

„Und jetzt muss ich nur schnell den Albert . . . hast du ’ne Ahnung, wo der Albert steckt?“

„Im Museum!“

,,Da spring’ ich gleich hin . .“

Sascha Kersting rannte durch Heidelberg. Rotgelbe Fahnen hingen aus den Häusern in den sonnigen Anlagen und in der finstern Plöck. An deren Ende träumte das alte, winklige Gymnasium im Sommerschlaf mit geschlossenen Läden. Grau ragte das mittelalterliche Gemäuer des Hexenturms aus seinem Hofe, der schattige Garten der Museumsgesellschaft schloss sich unmittelbar an. Im grossen Saal zur ebenen Erde, in dem im Winter die Honoratioren das Tanzbein schwangen, sass, an der Quertafel im Hintergrund, die Grossherzogin Luise von Baden, die Tochter König Wilhelms, mit ihrem Stab von Damen. Die Damen rechneten, schrieben, sortierten, packten die Liebesgaben. Liebesgaben lagen in Haufen auf allen Tischen des Saals vor der Menge quittierender junger Mädchen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von Bürgern und Bauern, Professoren und Stadtvätern, Ärzten, Krankenschwestern, Gymnasiasten. Ein Gedränge Tür aus, Tür ein. Es dauerte eine Weile, bis der junge Kersting seinen Mit-Pennäler Albert entdeckte. Er zog ihn mit sich hinter ein Gebirge von weissgezupfter Charpie, das sich mannslang und halb mannshoch auf einem Nebentisch türmte, und erstattete ihm flüsternd Bericht: Der Onkel aus Odessa verrückt . . Die Schweizer Gefahr morgen unabwendbar . . Also Flucht auf den Kriegsschauplatz absolut noch heute nötig — als blinde Passagiere . . . mit dem grossen Militärzug, der jeden Abend um zehn Uhr von Würzburg kam und nach Frankreich weiterging.

„In dem Zug hockt ja heut’ mein Pappa, Sascha!“

„Der merkt doch nichts!“ sagte der junge Deutsch-Russe trocken. „Im Gegenteil . . das trifft sich ja gerade zum Händefalten gut: Heute können wir ohne Aufsehen abends aus dem Haus! Wir tun so, als ob wir deinen Vater zum Zug begleiten! Und wenn er erst drin sitzt, verstecken wir uns hinten in einem von den Güterwagen!“

„Aber das fällt doch auf, wenn wir von seinem Wagenfenster weggehe, eh’ der Zug abfährt!“

„Dazu ist das Elsche auf der Welt! Das Elsche ist pfiffig!“

„Die Krott hat’s fauschtdick hinter den Ohren!“ bestätigte ihr Bruder.

„Das Elsche muss gesprungen kommen und sich atemlos stellen und recht hell freischen, mein Onkel Ottinka sei draussen in einer Zweispänner-Chais’ vorgefahren und brächte im letzten Moment noch ’nen halben Zigarrenladen als Liebesgaben für draussen mit — und du und ich — wir sollten nur rasch helfen, die Kisten voll Stinkadores an den Zug schleppen! . . Nun — und wir traben davon — bis hinten an den Zug“, der junge Millionär lächelte nachlässig, während er mit dem Pfälzer Bürgersohn auf den Paradeplatz hinaustrat, „und drücken uns auf französisch nach Frankreich! Voilà!“

„Was dir alles beifällt . .“, sprach der Albert bewundernd.

„Les affaires sont les affaires!“ Sascha zuckte etwas blasiert die Achseln. „Das muss man in den Fingerspitzen haben, wie man die grossen Geschäfte in einer leichten Manier abwickelt! Ich muss jetzt nur aufpassen, dass mein Onkel Ottinka nichts ahnt! Er ist beschränkt — aber nicht eigentlich dumm!“

„Da hinten komme deine Leut’ schon anmarschiert! Alle drei!“

„Vater, Mutter und Tochter!“ Sascha runzelte die Stirn. „Hat der liebe Vormund doch richtig meine Spur gefunden! In seiner Art ist der alte Knabe ganz gerissen! Pascholl, Albert — bis zum Abend! Ich werde jetzt meinen teurer Verwandten mit Liebreiz begegnen! Schade, dass ich morgen ihre Gesichter nicht sehen kann!“

Er schlenderte der Familie Gebauer träumerisch, mit einem liebenswürdigen Lächeln, entgegen. Seine weichen Züge mit den dunklen, halb versonnenen, halb spöttischen Augen waren in diesem Moment sehr hübsch und gewinnend. Er lüftete die Mütze und frug teilnehmend:

„Ist dir so heiss, Onkel Ottinka?“

„Über dich erhitze ich mich, mein Lieber! Du hast die Manieren eines Tataren! Du vergisst, wer ich bin! Man läuft nicht aus dem Zimmer, während ich noch rede . .“

„Aber wir sind ja schon ganz d’accord!“ sagte der junge Mann leise und schonend, als spräche er mit einem Kranken.

„Wie denn? Du hast dich geweigert, in die Schweiz zu fahren!“ „Ich bin jetzt anderer Meinung!“ Sascha studierte über den Kopf des alten Herrn hinweg gedankenlos ein paar weisse Sommerwölkchen am blauen Himmel. „Also reisen wir denn! Winowát! Ich war schuldig! Verzeih!“

„Ist das dein Ernst?“ frug Otto Gebauer zögernd und ging langsam mit den Seinen weiter. Sascha schien entrüstet. Er nahm die verwöhnt-sichere Haltung irgend eines der jungen Saxo-Borussen an, die er mit ihren weissen Stürmern alltäglich in den Anlagen, auf dem Weg zum Riesenstein, ihrer Kneipe oben im Bergwald, beobachtet hatte, bis das ganze Feudalkorps jetzt gen Paris gezogen war.

„Ich darf bitten, nicht an meinem Wort zu zweifeln!“ zischte er zwischen den Zähnen mit einer unheimlichen und unrussischen Schneidigkeit, die ihm selber imponierte, und dachte sich dabei: Für die deutsche Sache darf man seinen Onkel mit gutem Gewissen düpieren! — Dann lenkte er mit einer flüchtigen Handbewegung, in einen leichten, weltmüden Ton ein. „Wenn Ihr im ,Prinz Karl‘ abgestiegen seid — hier — durch diese stänkerigen Gässchen ist es näher!“

„Nun — das ist ja wunderschön, dass du dich besonnen hast!“ versetzte der Odessaer Kaufherr. Er verriet keine Spur von Misstrauen. Aber er schwieg dann auf dem kurzen Weg bis zu dem alten Gasthof am Markt. Am Eingang blieb er stehen und erklärte streng:

„Ich möchte dein Ehrenwort, dass du bereit bist, Heidelberg zu verlassen!“

„Mein Ehrenwort!“ sagte Sascha aus voller Überzeugung.

„. . und zwar morgen!“

„Wenn es sein soll, auch schon heute!“

,,Gut! dann bin ich beruhigt! . . . Auf Wiedersehen heute Abend. Nun kommt ins Hotel!“

Otto Gebauer wandte sich zu seinen Damen. Die geborene Abajá suchte, sich fächelnd, mit zerfliessendem Puder auf dem Gesicht, den Schatten der Hotelhalle und erfüllte deren Kühle mit einer strömenden Wolke von Parfüm. Die Diamanten glitzerten ihr, in der Dämmerung des Inneren, an Ohren, Hals und Fingern. Sie schnappte nach Luft. Ihr Neffe Sascha bemerkte jetzt, dass sie allein diese Wohlgerüche Arabiens verbreitete. Katja draussen trug auch, nach russischer Sitte, viel zu vielen und zu reichen Schmuck für ein junges Mädchen. Aber um sie wehte jetzt nur reine Sommerwärme — ein Hauch von Jugend und Leben. Sie stand, schlank und elastisch mit der enggeschnürten Taille aus den violett gestreiften, weissduftig weit um sie geblähten Stoffmassen des Rocks wachsend, und beschattete das schöne, längliche, bräunliche Gesicht mit dem langgefranzten Schirm. Zwischen den losen, windbewegten Schäferlocken dunkelten weltschmerzlich, fremdartig wie ein Widerschein von fernen Meeren und Ländern die grossen Mädchenaugen.

„Katja . . wir warten auf dich . .“

„Bei Euch ist es ja langweilig hier im Hotel!“ sagte die junge Dame mit einer lauten und hellen Stimme offen zu ihren Eltern. „Ich werde mit Sascha etwas spazieren gehen!“

Sie frug nicht erst um sein Einverständnis. Sie war gewohnt, dass ihre Umgebung ihr gehorchte. Sie verabschiedete mit einem Kopfnicken Vater und Mutter und schritt an der Seite des Vetters an den Neckar hinunter und über die Brücke weiter auf das Neuenheimer Ufer.

Jetzt, wo die Sonne mählich am Himmel sank, begann die mächtige Schlossruine über der Stadt lebend zu leuchten. Ihr roter Sandstein sog die blutigen Strahlen von Westen in sich. Das zerschellte Pfalzgrafenschloss glühte wie im Grimm gegen die, die es vor zweihundert Jahren mit der Mordbrenner-Fackel zerstört — flammte an diesem heissen 2. September von 1870. hinüber — über den Rhein — nach Frankreich . . . . .

Die Beiden unten am Neckar — die junge Weltdame und der Gymnasiast — schlenderten und betrachteten das ewig heitere Landschaftsbild Alt-Heidelbergs im Abendfrieden. Katja Gebauer frug:

„Du fühlst dich also wirklich ganz in Deutschland daheim?“

„Wie sollte ich?“ widersprach der junge Deutsch-Russe schroff. „Es gibt ja gar kein Deutschland! Du sindest auf der Landkarte Öfferreich! Du findest Preussen mit dem Norddeutschen Bund. Du findest dazwischen noch einige Königreiche und Grossherzogtümer, die ratlos herumirren, wie in Russland Menschen, die ihren Pass verloren haben! Kann man eine Rumpelkammer lieben? Einen Rattenkönig? Eine allgemeine Konfusion? Was ist denn zum Beispiel dies ganze Baden? Ein Gouvernement bei uns in Russland ist grösser! Es ist ja lächerlich!“

„Nun also . . .“

„Nein! Man liebt die Zukunft. Die Zukunft wird die Einigung Deutschlands bringen! In diesem künftigen Vaterland — beliebe, das zu begreifen, Katja — da bin ich daheim!“

„Papa meint, die Einigung Deutschlands: c’est une fantaisie!“

„Was weiss denn Onkel Ottinka davon? Von der Devise kurz Paris versteht er ’was und von Diskontierung von Rimessen durch den Crédit Lyonnais. Von heiligen Dingen soll solch ein alter Geldschrank wie er die Finger lassen! Sieh’ mal: Wir sind doch deutsch! Wir reden doch deutsch! Wir stammen von Deutschen!“

„Aber wir leben in Russland!“

„Wer ist denn Russland? Russland ist für uns eine Einrichtung, Geld zu verdienen — tun wir ja auch — und ist es immer gewesen! Nie werden die Russen uns für ihresgleichen halten! Sie lachen manchmal über uns Deutsche. Sie bewundern uns sehr oft. Sie hassen uns zuweilen. Aber immer sind wir für sie von fremdem Blut!“

„Du hast’s noch gut!“ sagte Katja. „Du stammst noch einfach und ehrlich allerseits von Deutschen. Aber in mir spukt so ein Tataren-Khan, der bei der Verjagung der Goldenen Horde aus Verzweiflung orthodox wurde — und als Pendant ein zweiter Urgrossvater, der wie es scheint, eine Art besserer griechischer Seeräuber war! Man hat schon eine tolle Ahnenreihe!“

„Dafür bist du von Vaterseite gut deutsch!“

,,Schon . . Aber dieser italienische Salat von Nationalitäten verträgt sich nicht in mir! Das ist, als wenn man zuviel Verschiedenes durcheinander gegessen hat. Die ganze Gesellschaft rebelliert und rauft miteinander, ’mal ist der eine oben, ’mal der andere. Darum bin ich so ein unsteter, ungleichmässiger Mensch. Ich möchte immer ’was anderes — und das gibt’s auch — aber wo . . .? Ich warte immer auf etwas — und weiss nicht ’was — und dann bin ich unzufrieden — mit mir und der Welt . . . Eigentlich hat man doch alles — Es ist zu dumm . . .“

„Ja. Wir haben es nicht leicht, Katja . . .“

„Gott . . . . überhaupt! Aber du bist noch viel zu jung! Du verstehst das nicht! Warum erzähle ich dir eigentlich das alles?“

„Weil ich es eben doch versteh’, Katja . . .“

„. . . aber vorhin hast du mir so gefallen . . . wie du dich hinstelltest und dick tatest mit deinem deutschen Vaterland . . . Es ist doch wenigstens ’mal was anderes . . .“

„Nicht wahr? . . .“

„Etwas Höheres . . . . über uns hinaus . . . statt, dass wir uns in Odessa für eine Getreideschwänze begeistern und die neueste Pariser Mode und die letzten Abenteuer der schönen Madame Kobeko und den Klatsch auf dem Boulevard Richelieu!“

„Ich weiss nicht, ob ich je ein Vaterland krieg’! Du bist viel besser daran, Katja! Du kannst es bestimmt kriegen und dich von deinem Tataren und Levantiner in dir befreien!“

„Wie denn . .?“

„Herrgott. Durch deinen Mann! Sein Vaterland ist deins! Er gibt dir ein Vaterland!“

„Pah! In Odessa! Sascha’chen: Wir kennen doch Odessa! Da gibt es doch nur ein grosses Vaterland: Das ist der Rubel!“

„Du kannst doch auch ins Ausland heiraten!“

„Ach so . . . ja . . .“, sagte Katja Gebauer. „Das ist richtig. Ich hab’ natürlich auch schon oft daran gedacht . . .“ Sie überlegte. „Wenn schon . . . dann möchte ich eigentlich am liebsten einen Engländer zum Mann! . . . Aber unter diese fischblütigen Leute pass’ ich wieder nicht hinein — wenn ich so meinen Tag hab’ — was sie die blauen Teufelchen nennen — wenn es einem ohne Grund in allen Fingerspitzen kribbelt . . .“

Sie gingen weiter. Katja Gebauer blieb bei ihren Heiratsgedanken. Sie sah schwermütig schön aus, vom Abendschein vergoldet, wie sie, im leisen Rauschen und Wispern der weissen Reifenglocke um die schlanken Hüften, auf ihre schmalen, weissen Schuhe niederschaute und die langen, dunklen Wimpern, nonnenhaft vor der bösen Welt in den Schultern schauernd, langsam wie einen Schleier über die Augen sinken liess.

„Französin möcht’ ich nicht werden! Die sind mir viel zu fidel! Was mach’ ich denn da in meinen ernsten Stunden? Ich hab’ viele, Sascha! . . . Viel zu viele! Russin bleiben . . .? Wenn’s schon sein muss — in Gottesnamen . . . Österreicherin?“ Ihre Züge belebten sich plötzlich kindlich. „Österreicherin wär’ ja auch ganz nett! Gott — das könnt’ ich jetzt auf dem Rückweg in Wien in drei Tagen haben!“

„Über’s Knie brechen muss man so ’was auch nicht!“ sagte der Sekundaner altklug und eifersüchtig auf eine Menge unbekannter junger Männer in ganz Europa.

„Wie er einen strafend anguckt!“ Die junge Odessaerin lachte harmlos. „Hast du deine Schulaufgaben schon gemacht, Sascha?“

„Erstens sind Ferien! Und zweitens bin ich kein Schulknabe mehr!“

„Sei froh, dass du’s noch bist!“

Sascha Kersting musterte die Cousine mit leuchtenden Augen, als hätte er eine glänzende Idee.

„Weisst du ’was!“ sagte er freudig entschlossen . . . „Ich werde mich in dich verlieben!“

„Untersteh’ dich, du Wickelkind!“

„Ich bin schon mitten dabei!“

„Heile — heile — Segen!“ Fräulein Katja Gebauer streichelte ihm tröstend wie einem hingefallenen Kind den Arm. „Das Weh-Wehle geht vorüber!“

„Dann hab’ ich doch ’was zu tun!“ meinte der kleine Vetter eifrig. „Das lohnt sich doch! Hier — die Mädels aus der höheren Töchterschule — na — das ist ja mordend langweilig! Nichts für mich! — entre nous! — Kleine Provinzlämmchen! Sie blöken nur und halten still, wenn man sie küsst!“

„Hast du schon Übung drin?“

„Hingegen du! . . . Das ist eine andere Klasse . . .“

Er sprach plötzlich von hoher Warte, als blasierter junger Mann von Geschmack zu der jungen Weltdame neben ihm, und nickte strahlend, . . „Hör’ mal . . . Du . . . Es fängt schon an! Ich verlieb’ mich wirklich . . .“

„Das wird ja nett, wenn wir zusammen in die Schweiz fahren!“

,,Eben! Ich bin so in einer Art Abschiedsstimmung! Ist dir auch manchmal so sonderbar unwahrscheinlich ums Herz, Katja? . . und du meinst, alles herum ist gar nicht wirklich . . so wie jetzt bei dem Sonnenuntergang? . . sondern es ist etwas anderes dahinter . . . . was man nicht begreifen kann? . . . weil man bloss ein Mensch ist und sein Leben träumt?“

„Schau’ mich nicht so an!“

„Wenn ich doch in dich verliebt bin, Katja!“ sagte Sascha traurig.

„Schaf!“

„So . . so . . kolossal verliebt . . Ach — das ist wunderschön . .“

„Das geht, scheint’s, schnell bei dir!“

„Ja. Aber so noch nie!“

Katja Gebauer klappte ihr weisses Schirmchen zu, denn die Sonne sank in einem blutigen Luftmeer über der Rheinebene.

„Du bist sechzehn!“ sagte sie. „Man muss deinem Alter viel zu Gute halten! Ich könnte ja beinahe deine Mutter sein!“

„Ganze sechs Jahre bist du älter!“

„Das ist in diesen Jahren eine Riesenzeit!“

„Ist es nicht!“ Sascha seufzte. „Aber du kannst nicht hindern, dass ich mich in dich verliebe!“

„Ja, lerne nur lieben . .“ Die junge Deutsch-Russin blinzelte in die Sonne, in einer Anwandlung von Odessaer Leichtlebigkeit. „Du bist noch furchtbar unwissend — wenn du auch so tust — und dabei begabt . . . Aber wähle bitte nicht gerade mich!“

„Ach . . Das Leben ist so langweilig . . . Weisst du . . Ich muss was vorhaben! Ich habe sonst manchmal einen Ekel am Leben.“

„Das sind alles deine sechzehn Jahre.“

„Wozu ist man denn eigentlich auf der Welt? Keine Eltern — keine Geschwister . . kein Vaterland — nur Geld . . blödsinnig viel Geld . . . und noch blödsinnigere Verwandte . . . .“

„Du bist ein kleiner Schmeichler, Sascha!“

„Kurz: Das Leben ist nicht der Mühe wert!“

,,Den Weltschmerz kenn’ ich! Das gibt sich, Kind!“

„Man muss dem Leben einen Inhalt geben! Einen grossen Entschluss! Heute noch! Du wirst sehen, dass ich kein Kind mehr bin!“

„Was hast du denn für eine Dummheit vor?“

Sascha antwortete nicht. Er sah der schönen Cousine tief und ernst in die Augen.

„Wirst du auch ein bisschen an mich denken?“ frug er dann leise. „Wo ich dich doch so sehr liebe?“

„Nun also mal im Ernst!“ Die grosse schlanke junge Dame nahm schwesterlich im Gehen seinen Arm unter den ihren. „Höre, my little cousin: Zwischen einer Frau von zweiundzwanzig und einem Knaben von sechzehn kann es keine Liebe geben! Verstehst du? Das sind nur die ersten heimatlosen Schwingungen deines Herzens!“

„Also Hass?“ rief Sascha tragisch.

„Zwischen Vetter und Base?“ Katja lachte. „Nein: Freundschaft! Wir wollen Freundschaft schliessen, mon petit! Jetzt sind wir zusammen in der Schweiz. Und nachher darfst du mir schreiben, wie dir’s um’s Herz ist, und ich schreibe dir.“

„Auch wie es dir um’s Herz ist?“

„Von mir ist nicht die Rede! Ich bin dazu viel zu alt und vernünftig. Und auch nicht interessant genug! Ich bin ein Flederwisch. Ein unstetes Geschöpf. Ich suche und suche . . . Ich komme mir manchmal so furchtbar alt vor . . . .“

„Liebe Grossmama . . .“

Katja gab ihm schmerzlich lächelnd einen Klaps.

„Dich werd’ ich schon noch bemuttern! Also auf gute Freundschaft!“

„Einen Kuss darauf!“

Sie standen an dem einsamen Wirtshaus „Zum schwarzen Schiff“ am Neckarufer. Niemand war in der Nähe. Katja beugte sich vor und küsste den Vetter langsam nach russischer Art auf die Stirne. Ihn durchschauerte die Berührung des warmen Frauenmunds.

„Das ist kein weltlicher Kuss!“ erklärte sie. „Das ist ein Weihekuss fürs Leben! Sascha . . . Sascha . . . Ich fürchte, dein Leben werden die Frauen sein! Du siehst mir ganz danach aus! Nun komme . . . Wir wollen zur Fähre da hinunter und nach Heidelberg, zurück!“

Am andern Ufer winkte sie einer da haltenden Droschke.

„Ich werde den Fuhrmann nehmen und ins Hotel fahren!“ sagte sie schnell. „Auf Wiedersehen nachher!“

Sie stieg ein. Es schien, als hätte sie Eile, von dem kleinen Vetter wegzukommen. Er blickte ihr, verzückt und wehmütig lächelnd, mit einem glücklichen Schimmer in den Augen, nach und bummelte dann, versonnen wie ein Mondscheinwandler, seiner Wohnung zu.

In Heidelberg war immer Lärm und Leben. Am Feierabend erst recht. Die Kinder zeterten. Die Hunde kläfften. Die Fuhrleute knallten. Die Räder rasselten. Die Luft dämmerte in Glut und Staub. Der Sommerabend war drückend schwül. Die Gassen wimmelten schwarz von Menschen. Die Erregung der Zeit zitterte unsichtbar über ihnen. Sascha Kersting schob sich nachlässig durch die stehenden, schwatzenden, erhitzten Gruppen. Er lächelte, in Gedanken schon vor Paris und heute hier schon heimlich ein

Held, mitleidig über die wichtigen Mienen der Spiesser. Vom Bahnhof kamen zwei, die nicht Philister waren: Ein höherer württembergischer Offizier und ein preussischer Johanniter, Eine Dame der Gesellschaft eilte in wippender Krinoline quer über die Strasse auf sie zu. Ihr Gesicht zeigte atemlose, verhaltene Spannung. Der Sekundaner vernahm, wie sie leise frug:

„. . Nun?“

„Pscht . . . Exzellenz . . .“

„Neues?“

„Es liegt etwas in der Luft . . . seit gestern . .“

„Ich weiss . . Ich weiss . . .“

„Aber noch keine amtliche Nachricht . . .“

„Graf . . Mir können Sie doch . . .“

„Es ist so ungeheuer . . . Man wagt es nicht auszusprechen . . aus Furcht, es zu verscheuchen . . . Die nächsten Stunden müssen ja Gewissheit bringen, Exzellenz!“

Sascha Kersting hatte es nur halb gehört. Er dachte sich zerstreut: Wahrscheinlich haben wir wieder irgendwo gesiegt! Wir siegen ja immer! Aber nun wartet gefälligst mit dem weiteren Siegen, bis ich draussen bin und mithelf’! Er stieg die Treppe zur Ritter’schen Wohnung empor. Oben, im offenen Vorderzimmer, stand der Professor, tiefbrünett, wohlbeleibt, feurig-fremdartig und abenteuerlich wirkend in seiner schon angelegten Krankenpfleger-Ausrüstung. Nur die goldene Brille erinnerte noch an den Schulmann. Hermann Ritter liess sich eben von seiner Frau die Genfer Binde um den Arm heften. Er sang dabei tatenlustig mit seinem schönen, weichen, hellen Tenor das neue Kutschke-Lied: „Was kraucht dort in dem Busch herum? — Ich glaub’, es ist Napolium!“

Vom Vorplatz musterte der junge Mann seinen begeisterten Mentor drinnen melancholisch und vielsagend lächelnd und dachte sich: Du wirst dich wundern, wenn du plötzlich in dem Sterbenden draussen, über den du dich beugst, mich erkennst . . . .

Dann tauchte aus dem Zwielicht eine kleine Gestalt neben ihm auf: Das Elsche! Es war alles für die Flucht besorgt! Die Sparkass’ leer!

„Jetzt könnt Ihr unscheniert wedder die Turko’s!“ wisperte die Kleine aufgeregt. „Herrgott — wenn ich bloss e Bub’ wär’! Die Bube habe ’s ’mal gut!“

„Und weisst . . .“, die Dreizehnjährige schlich fiebernd neben ihm den Gang entlang und öffnete ihm seine Kammertüre. „Ich tät’s jetzt mache wie der Albert nebenan und mich hinlege und e bissche penne . . . Ihr müsst Kräfte sammle! Heut’ Nacht habt Ihr’s nit kommod’ im Güterwage! Und morge müsst Ihr vielleicht schon kämpfe! Es is doch so e mordsgrosse Schlacht drausse . . sagen alle!“

„Aber weck’ mich zur rechten Zeit!“ Der junge Mann warf sich aufs Bett und gähnte. „Ich verlass’ mich drauf!“

„Ich weck’ dich! Da beisst kei’ Maus e Fädle ab!“

Das Kind schloss vorsichtig die Türe. Und Sascha Kersting schloss die Augen und schlief ein.

Es war ein unruhiger Schlummer. Wirre Träume. Ganz verrückte. Die Cousine Katja war auf einmal auf dem Schlachtfeld für Deutschland gefallen! Er, der Sascha, trug sie eigenhändig weg. Sie war federleicht wie ein Kind. Und da war irgendwo der Professor. Krankenpfleger. Mit der Binde am Arm. Eigentlich spielte das alles übrigens daheim in Heidelberg. Da lag die Katja, drüben in der guten Stube von den Ritters, und war tot. Das heisst: Das war jetzt der grosse blaue Salon in dem einstigen Elternhaus auf dem Alexander-Prospekt in Odessa, an der Ecke des Basars, und die Katja war weg, und der selige Vater kam rasch herein und war sehr unruhig, und draussen schwoll ein furchtbarer Lärm. Russland war sonst immer so still. Die Russen machten keinen Spektakel. Nur, wenn sie, alle zehn Jahre einmal, in Odessa die Juden totschlugen! Das war der Pogrom — ein Erinnerungsbild aus Sascha’s Kinderjahren — ein unbestimmtes Brausen auf den Gassen — tausendstimmige Rufe — gellende Aufschreie . . Urrahá! . . Urrahá! . . Das Schlachtgeschrei plündernder Muschiks . . Lasse mich doch! Du siehst doch! Ich bin kein Hebräer . . . .

Sascha Kersting murmelte es unwillig im Traum. Aber es zupfte ihn etwas beharrlich weiter am Ärmel, und er schlug schlaftrunken die Augen auf und sah vor sich das Elsche stehn und schaute dann auf seine Taschenuhr und frug verwirrt sich aufsetzend:

„Was geht denn dir bei? Ich hab’ ja noch kaum eine halbe Stunde geschlafen . . .“

Aber das Kind rüttelte ihn wild weiter, um ihn ganz wachzukriegen! Und sonderbar: Das Toben des Pogroms draussen war geblieben. Wie Meeresrauschen drang, durch die offenen Fenster, von unten ein ungeheueres Stimmengewirr in das halbdunkle Zimmer — aber keine Laute der Wut — der Angst — keine wilden Heultöne Betrunkener — Es klang wie ein Jauchzen und Jubeln — helle Rufe von Frauen — glückseliges Massengeschrei von Kindern . . . Es flutete herein . . . Es füllte den Raum. Sascha Kersting sprang vom Bett. Schaute sich ungläubig um.

„Was ist denn los?“ frug er. Und die Kleine meldete, am ganzen Körper zitternd:

„Sie haben den Napoleon mit seinem ganzen Heer gefange!“

Der junge Mann legte ihr kopfschüttelnd die Hand auf den Flachsscheitel.

„Gelt — du bist verrückt geworden?“

„Aber sie sage ’s doch alle . . .“, verteidigte sich das Elsche atemlos. „Gestern. Bei Sedang!“

„Es ist doch nicht der erste April, Kind!“

„Es kumme gleich doch Extrablätter ’raus! Sie schlage ’s doch schon bald an den Strassenecken an . . .“

„Hurrah! — Hurrah!“ brauste es von unten, von der Strasse. Sascha Kersting legte die flachen Hände an die Schläfen und starrte das Elsche Ritter an. Die warf sich in die Brust und nickte stolz zu ihm hinauf.

„Wir haben den Napoleon gefange! Gell — Alterle — do guckschte!“

Zugleich stürzte ihr Bruder, der Albert, von nebenan herein, Tränen in den Augen. Wütend. Er schmiss sich auf einen Stuhl und feuerte seine Kappe mitten auf den Fussboden.

„Das kommt von dem Getrödel, dass wir gewartet habe, bis der Pappa weg ist!“ knirschte er. „Jetzt komme wir zu spät! Sie haben den Napoleon schon! Der Krieg is gar!“

„Wer weiss . .“

„Meinst du?“ Albert Ritter schnellte wieder hoffnungsvoll auf die Füsse.

„Wer weiss, ob es wahr ist!“

„Sascha: du bist doch ein Rindvieh! Da guck doch hinaus auf die Strass’! Glaubst, die Leut’ wäre ohne Grund alle so närrisch geworde? Horch nur, wie sie kreische und lache!“

,,Ach — die Leut’ — die viele Leut’!“ Das Elsche verschlang bewundernd die mageren roten Kinderhände über dem fleckigen Schürzchen. „So viel Leut’ hat’s ja gar nit in Heidelberg!“

„Schau’, wie sie sich in die Arme falle — da unten — Leut’ — die sich gar nicht kenne! Guck: der alte Herr da — mit dem weissen Haar — nimmt sein’ Deckel ab und betet auf offener Strass’. Und die Dame da drüben — die müsse sie hebe — so heult sie gerad’ drauf los!“

„Alle Kirchenglocke läute!“ schrie das Kind begeistert. „Oh mei’! Die Leut’ . . . Die arg viel Leut’!“

Die Promenade unten war, im Laternenschein, ein verschwimmendes Gestrudel von Köpfen. Ein Gewirr von Stimmen. Ein Geschrei: Hurrah! Hurrah! Etwas Weisses blinkte auf. Ein Stück Papier. In der Hand eines vierschrötigen älteren Herrn mit groben, klugen, graubärtigen Zügen. Er kletterte schnaufend auf einen Prellstein an der Ecke. Um ihn hoben sich Arme und winkten zur Ruhe:

„Do horcht hin, Ihr Männer!“

„Wer is denn Seller?“

„Der Niethammer! Der Fabrikant aus Mann’em! Der Niethammer steht immer früher auf wie die andere! Der hot’s schon schwarz auf weiss!“

Adam Niethammer räusperte sich, warf einen Blick über die still werdende Menge und las, das Papier unter der Laterne fern von den weitsichtigen Augen haltend, aus dröhnender, breiter Pfälzer Brust:

„Der Königin Augusta in Berlin.

Vor Sedan, den 2. September ½2 Uhr nachmittags.

Die Kapitulation, wodurch die ganze Armee in Sedan kriegsgefangen ist, ist soeben mit dem General Wimpfen geschlossen.“

Alles stumm. Die Masse atemlos. Die starke Stimme:

„Der Kaiser hat sich selbst mir ergeben . . . Seinen Aufenthaltsort werde Ich bestimmen . . . .

Welch eine Wendung durch Gottes Führung!

Wilhelm.“

Noch Stille. Eine Sekunde lang. Der Schauer der Weltgeschichte über der dunklen Menge. Und dann aus dem hellerleuchteten Fenster im ersten Stockwerk ein Ruf. Vom Lichtschein der Lampe umflossen stand da, allen sichtbar, die Samaritermütze schräg auf dem Kopf, der Professor Hermann Ritter. Er riss die Kappe ab. Er schwenkte sie. Er jubelte, mit seiner schönen, schwingenden Tenorstimme, die wie ein schmetternder Trompetenstoss die Nacht durchschnitt:

„Hoch Deutschland! Hoch das geeinte deutsche Vaterland!“

Und über dem jauchzenden Massen-Aufschrei, der unter seinen Worten unten aufdröhnte, wie der Donner nach dem Blitz, flammte noch einmal sein gläubig bebender Tenor.

„Nichts kann die deutsche Einheit mehr aufhalten! Hoch das neue heilige Reich deutscher Nation!“

Der kleine, beleibte Schulmann in Kriegstracht trat in das Zimmer zurück. Er liess die Arme sinken. Grosse Tränen liefen ihm, unter der goldenen Brille, über das begeisterte Gesicht. Er schaute, durch den weissen Schleier, zu der weissen Stuckdecke empor. Er schlug die nassen, feurigen Augen auf. Sein Herz hämmerte es, was seine Lippen nur leise beteten: „Komme du bald, oh Kaiser! . . . . . . .“

Die beiden Sekundaner, der Sascha und der Albert, waren unten auf der Strasse — sie wussten selbst nicht wie. Sie hatten das Gefühl: sie gehörten da hinaus — unter die anderen. Alles gehörte jetzt zusammen in dieses Brausen — diese Brandung — diese Menschenwogen durch die Gassen. An allen Häusern waren alle Fenster hell. An allen Fenstern standen Leute und winkten und riefen hinunter und die Damen wehten mit Tüchern. Wagen mit fähnchenschwingenden Kindern fuhren im Schritt durch das Gewühl.

Aus dem Seitenschiff der Providenzkirche fiel Lichtschein. Der Kirchenrat selber sperrte das Gotteshaus auf. Die Frau Pfarrerin schleppte einen Arm voll Kerzen, und die Leute strömten hinterher, und die ersten Orgelklänge schwollen durch das Helldunkel, und oben vom Turm dröhnten die Glocken, und St. Peter und Heiliggeist antworteten mit ihren ehernen Klöppeln, und von der Jesuitenkirche läutete es zum Sternenhimmel empor. Und drüben auf dem Marktplatz neben dem Hotel „Prinz Karl“ stand die Menge Kopf an Kopf vor dem Rathaus. Von dem hingen grosse badische Fahnen, und Stadtväter standen auf dem Balkon und sprachen hinunter zu dem Volk. Und wieder wuchs aus dem Hurrah, alles überrauschend, tausendstimmig die Wacht am Rhein. Ein Zug formte sich — weiter die Hauptstrasse entlang — nach dem kleinen Grossherzoglichen Palais am Karlsplatz. Sascha Kersting marschierte mit und sang — in einer Art glücklicher Betäubung — Arm in Arm rechts mit dem Albert — links mit irgend einem jungen Mann aus dem Volke. Einer unter vielen — ein Stück des grossen, heiligen Ganzen, in einem Gefühl, das in ihm, dem hochmütig-isoliert aufgewachsenen, den Hebräer, den Muschik, den Hafenarbeiter, den Tataren verachtenden Patriziersohn von Odessa erst allmählich in diesen Jahren in der Fröhlichen Pfalz aufgegangen: in dem Gefühl, zu einem Volk zu gehören und mit ihm eins zu sein — und jetzt den Stolz und Jubel eines Volkes als Gleichberechtigter zu teilen.

Da hörte er — in Schritt und Tritt marschierend und begeistert singend — vom Hotel „Prinz Karl“ her eine Mädchenstimme: „Sascha! Sascha!“ Der. Umriss einer Modedame mit wespendünnem Oberkörper und weitgewölbter Rockrundung hob sich weiss, mit dunklen Querstreifen, von der Helle der Hotelhalle ab. Die Cousine Katja stand da. Beugte sich vor. Rief ihm zu:

„Sascha! Du lebst im Traum! Du läufst ja am Hotel vorbei!“

Wohl oder übel musste er seine Kameraden loslassen und zu ihr treten. Das schöne Gesicht der jungen Deutsch-Russin zeigte ernstlichen Unmut.

„Bist du der Zar?“ sagte sie aufgeregt. „Bist du der Gouverneur. — dass du Papa warten lässt? Man hat dich auf acht Uhr zum Tee geladen. Und jetzt ist es beinahe neun!“

„Da denken diese Menschen wirklich in diesem Augenblick an’s Teetrinken . . .“, Sascha Kersting sah die Odessaer Cousine träumerisch an. Sie war doch sehr schön. „Habt Ihr denn Watte in den Ohren? Wisst Ihr denn nicht, was passiert ist?“

„Ja gerade . .“ Katja Gebauers längliche, bräunliche Züge waren unruhig. „Ich weiss nicht, was mit Papa los ist! So hab’ ich ihn noch nie gesehen! Er ist wie vom Donner gerührt, seit das Extrablatt kam . . . Er sitzt einfach da . . .“

„Das werden heute manche Leute in Europa!“ Sascha lächelte mit der Überlegenheit des jungen Weltkenners. Ich hab’s deinem Vater ja gleich gesagt! Der alte Herr war einfach verbohrt und hat auf den Sieg Napoleons spekuliert! Er hat sicher einen Haufen Wechsel auf Frankreich im Portefeuille, die er jetzt im Café Fanconi in der Deribassowskaja, bei Euch in Odessa meistbietend versteigern lassen kann! Voilà l’affaire! Nitschewo! Eure Firma kann schon einen gehörigen Puff vertragen!“

„Das natürlich! Er spricht mit Mama und mir nie von Geschäften! Er antwortet uns jetzt überhaupt nicht auf unsere Fragen! Vielleicht, dass du mehr Chance hast! Komm herein!“

Im Hotelzimmer sass Otto Gebauer beim Tee. Er hielt die Tasse halbwegs zwischen dem weissen Tischtuch und seinem grauen Vollbart unbewegt in der Luft und starrte über ihren Rand weg leer in die Ferne. Über sein feingefurchtes Gesicht zogen sich, von den inneren Augenwinkeln herunter zum verbissenen Mund, zwei fremdartige, ihn viel älter machende Falten, die sein Neffe bisher nicht an ihm gesehen.

„Guten Abend!“ sagte Sascha forsch und laut. „Na — wer lacht jetzt?“

Der alte Herr drehte ihm den Kopf zu und blieb stumm. Sascha näherte sich ihm.

„Also ich bin stolz! Ich hab’ ja so recht behalten! Ich hab’ an die gute deutsche Sache geglaubt! Und gleich darauf hat unser Herrgott auch schon ein Einsehen!“ Er schaute in dem matt von einer grossen Petroleum-Lampe erhellten Raum umher. „Ja — freut Ihr Euch denn eigentlich gar nicht?“

Die beiden Damen schwiegen mit besorgten Mienen. Der alte Handelsherr versetzte trocken, in einem gepressten und schluckenden Ton:

„Und was jetzt aus der französischen Rente wird . . .“

„Die mag purzeln . . . bis ins Aschgraue!“ rief Sascha glühend und begeistert. „Wird sie auch! Das gehört sich jetzt so!“

„Und die furchtbare Rückwirkung auf die Geschäfte in Odessa, du dummer Junge . . .“

Dies ,du dummer Junge‘ jetzt eben, wo er sich in kommendem Todesernst als Germanen-Jüngling fühlte — das brachte Sascha Kersting aus dem Häuschen.

„Das ist ja die allgemeine Bêtise — bei Euch in Odessa . . . .“ schrie er wütend.“

„Sascha — sei gefälligst nicht ungezogen gegen Papa!“

Er kümmerte sich nicht um Katja’s Zwischenruf. Er stiess zornig weiter heraus:

„Das ist ja das Verfluchte. — weswegen man dort zu nichts Rechtem kommt — zu nichts Höherem — weil Ihr keinen Schimmer von was Höherem habt! Immer ventre par terre! Immer der Rubel oder die Rente in Paris oder sonst ’n Dreck! An einem Abend wie heute . . .“

„Ja — nenne nur dein mühsam von deinem Vater und Grossvater erworbenes Vermögen einen Dreck!“ sprach der Oheim leise und langsam, mit sehr matter Stimme. „Ohne diese vielen Rubel, mein Lieber, was wärst du dann? Was ist denn ein Mensch ohne Geld? Nichts!“

„Schreib’ es dir nur hinter die Ohren!“ bekräftigte aus dem Hintergrund die geborene Abasá laut und tief.

„Was würde denn aus dir ohne dein Geld? Ein Kommis, den man am Ersten wegjagt! Vielleicht würdest du nicht einmal dazu taugen — in deiner verträumten Art! Du müsstest dich auf der Steppe, bei den Kolonisten, als Drescher verdingen oder als Dwornik auf der Datsche!“

„Ich seh’ dich förmlich Kohlensäcke unten im Hafen tragen, mit einem alten Sack überm Kopf als einzige Bekleidung!“ ergänzte Madame Gebauer strafend.

„Ich sehe mich in allernächster Zeit ganz anders!“ sagte der junge Mann spöttisch. Sein Oheim blickte ihn einen Augenblick scharf an und machte dann eine müde, verabschiedende Handbewegung, während er in sich zusammengesunken dasass. „Bitte geh’ jetzt! . . . Auf morgen um acht! . . Ich bin heute ausser Stande, mich mit einem unreifen jungen Menschen deiner Art herumzustreiten!“

„Ich lasse mich mit Wonne hinausschmeissen!“ Sascha verbeugte sich oberflächlich. „Diese Luft hier im Zimmer erstickt einen ja. ’Nacht, Katjuschka!“

,,Du — Ich heiss’ Katja — ohne zärtliche Verkleinerung!“ ,,Gute Nacht, Katinka! . . . Nacht . .! Nacht!“

Sascha Kersting rannte tatendurstig davon. Er lief durch die engen finsteren Gässchen der Altstadt hinter dem Hotel, auf denen es heute zwischen den sonst so stillen, niederen Häusern von Leuten summte und wirrte, als ob die Bienen schwärmten. Aber man kam doch rascher vorwärts als in dem Gewühl der Hauptstrasse. Er stürmte an lärmenden, menschenüberfüllten Wirtschaften vorbei hinaus auf die Anlagen. Er nahm drei Treppenstufen auf einmal empor zur Ritterschen Wohnung. Die war leer. Der Professor hatte das Kanonenfieber. Er war, schon lange vor der Zeit, in voller Ausrüstung nach dem Bahnhof abgerückt. All die Seinen mit ihm. Nur das Elsche hütete das Haus. Der junge Mann machte sich eilig, mit hämmerndem Herzen, feldfertig. Er steckte den kleinen Revolver in die rechte Hosentasche, Knackwürste, Wasserweck und harte Eier in die linke, die Feldflasche in den Rock, die Karte von Frankreich in die Weste.

„Also, Elsche: Auf dich verlass’ ich mich . . . Du verpetzt uns nicht . . .“

„Und wenn sie mich in den Neckar schmeisse — ich halt’s Maul!“ rief das Kind.

„Du kommst auf den Bahnhof hergesprunge und rufst, mein Onkel wär’ da — aber erst kurz bevor der Zug abgeht!“

„Der Zug ist schon vorbeigekomme! Er hält auf dem Bahnhof. Der Pappa hockt sicher schon drin! Mach’ hurtig, dass du hinkommst!“

Hermann Ritter sass in einem Wagen dritter Klasse des endlosen Zugs. Um ihn im Abteil noch drei Kollegen vom Gymnasium, angehende Samariter wie er. Die bebrillten; gefürchteten Schulgewaltigen schienen dem Sekundaner komisch verändert und fremdartig, kaum wiederzuerkennen in ihrer gleichmässigen, grauen Krankenpflegertracht. Er stand neben dem Albert draussen auf dem Bahnsteig in vielköpfigem Gedränge all der Familienmitglieder, Gross und Klein, bis zum Nesthäkchen und Kindermädchen, die dem ausreisenden vierblättrigen Kleeblatt von Professoren das Geleit zum Bahnhof gaben. Der ganze Bahnhof brauste, nächtig dunkel, von gelben Gaslaternen Punkten durchflimmert, vom Stimmengewirr des Menschengewoges. Hurrah!

— klang es aus den Wagen. — Hurrah! hallte es auf dem Bahnsteig. Sedan . . . . Sedan . . .

„In Frankfurt stehe die Leut’ zu viele Tausenden, Kopf an Kopf, auf der geil!“ verkündete ein Reisender, der vom Main-Neckar-Bahnhof kam. „Do hat’s welche drunter — die bringe unscheniert ein Hoch auf den König Wilhelm nach dem andern aus . .!“

In Frankfurt, dem preussenhassenden — Eine Bewegung lief durch die Gruppe umher. Hier in Süddeutschland wusste man, was das hiess . . . In Frankfurt, wo in manchen Patrizierfamilien das Wort ,Bismarck’ bei Tisch nicht ausgesprochen werden durfte . . . .

„Wirklich? . . Hoch auf den König von Preussen?“ frug einer zweifelnd.

„Auf den Kaiser von Deutschland — du Rindvieh!“ rief der Reisende und kletterte in sein Abteil. Es durchschauerte Sascha Kersting. Er blickte verstohlen auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. Neben ihm raunte der Albert:

„Also jetzt pass’ auf wie ein Schiesshund! Wir laufe auf den Ausgang zu und hinten um den Zug herum und steige fix drüben, auf der dunklen Seite, in den vorletzten Wagen — da wo die Pferdeköpf’ ’rausgucke! Die badische Dragoner helfe uns! Die haben’s mir versproche! Die verstecke uns unter dem Stroh!“

„Ich komme eben aus Karlsruhe!“ meldete ein Herr aufgeregt seinen Freunden und allen umher, die es hören wollten. „Die Strassen schwarz! Alles geht nach dem Schlossplatz! Sie tragen Leut’ auf den Schultern voraus! Die schreien und verlangen die deutsche Einheit und das deutsche Reich . .“

„Und wir kommen hinaus, wenn alles vorbei is!“ knirschte flüsternd der Albert. Sein Vater mahnte aus dem Abteil zu dem jungen Kersting hinunter.

,,Steck’ nur als ’mal in den Ferien die Nase in die Algebra! In den Differential- und Integral-Rechnungen — klagt der Kollege Gärtner da — bist du noch arg zurück!“

„Gewiss doch!“ sagte der junge Deutsch-Russe zerstreut. Herrgott — wo blieb denn das Elsche? Noch zehn Minuten — noch fünf — Er wechselte einen besorgten Blick mit seinem Genossen. Da hörte er eine helle, durchdringende Kinderstimme:

„Lasse Sie mich durch! . . Lasse Sie mich um Gotteswille durch! Es bressiert!“ Es arbeitete sich etwas mit spitzen Ellbogen durch das Gedränge. Ein bildhübsches Kindergesicht mit Kecker. Stupsnase und zerzaustem Flachshaar tauchte auf. Spitzbübisch glänzten die blanken, hellbraunen Augen. Ein mageres, rotes Fäustchen winkte wild.

,,Sascha — spring! Dei’ Onkel is da — der Russ’! Er hat die ganze Chais’ voll Zigarre! . . . Helf’ ihm trage! Der Albert auch!“

Ihr Bruder hatte sich schon im Laufschritt in das Gewühl gestürzt. Sascha Kersting hinterher. Ein paar dicke Männer versperrten ihm den Weg. Er musste um sie herum. Er kam von dem Albert ab. Er dachte: Hoffentlich wartet et hinten am Zug. Der Zug nahm kein Ende. Da . . Gottseidank . . kam der Schlusswagen . . . Gewonnenes Spiel, wenn man um den herum in das Dunkel getaucht war! Dann hatte man den Geist des Onkels nicht umsonst beschworen . . .

Seinen Geist . . .?

„Oh . . pardon!“ sagte Sascha Kersting und wollte flüchtig weiter, ohne den alten Herrn erst anzusehen, der ihm durch Ungeschick plötzlich in den Weg getreten war. Da fühlte er sich am Ärmel festgehalten. Er drehte sich um. Er prallte zurück.

„Himmelherrgott — Onkel . . !“ keuchte er.

„Wo willst du hin?“

„Das geht dich einen Dreck an!“ Sascha versuchte wütend sich loszumachen. Aber der alte Herr liess nicht locker.

„Mich, deinen Vormund? . . . Ich bin vielleicht dumm! Aber so dumm, wie du glaubst, doch nicht! Du hast mir schon den ganzen Nachmittag nicht gefallen! Vorhin im Hotel noch weniger! Ich habe mich, trotz meiner eigenen Sorgen, entschlossen, lieber einmal selber hier nachzusehen . . .“

„Gib mich jetzt frei, oder es fetzt ein Unglück!“

„Du wirst mir sagen, was du vorhast!“

„Päh! Und wenn ich es nicht tu’ . . .“

„. . . so rufe ich die Gensdarmen!“

Einer der Gensdarmen am Bahnhofseingang war schon misstrauisch herangetreten. Der alte Grosskaufmann wandte sich atemlos an ihn, während sich rasch eine Menschengruppe um sie sammelte.

„Herr Isprawnik — ich weiss nicht, wie ich Sie in Deutschland nennen darf . . . Dieser junge Mensch ist Waise . . . Mein Mündel . . . Ich bin für ihn verantwortlich . . Er zählt sechzehn Jahre und will dabei heimlich, fürchte ich, hinaus ins Feld!“

Der Wachtmeister war ein Mann der Praxis. Er fasste Sascha Kersting ohne weiteres in die Taschen und beförderte deren Inhalt an das Licht der Gaslaterne.

„Knadwürscht’? Um zehn Uhr nachts? E Feldflasch’? No . . no! E Kart’ von Frankreich? Gud emoll . . . E Schiessprügelche? . . . Du liebe Zeit . . .“ Er schüttelte väterlich den schnurrbärtigen Kopf. „Dees müsse Sie sich aus dem Sinn schlage! Frankreich is kei’ Kindergarte! So junge i Bürschche kann man draussen nit brauche!“

„Wollen Sie aus meinem Pass hier ersehen,“ sagte Otto Gebauer, „dass ich kaiserlich russischer Untertan bin! Mein Neffe hier ist es auch . . .“

„Sind Sie russischer Staatsangehöriger?“

„Ja“, versetzte Sascha Kersting trotzig.

„. . und ich brauche einen höheren örtlichen Beamten wie Sie nicht erst darauf hinzuweisen,“ fuhr der alte Odessaer leise und höflich fort, „dass die Teilnahme eines jungen Ausländers am Krieg die peinlichsten politischen Folgen nach sich ziehen müsste . .“

„Das hätt’ sich der junge Mann aber auch selber sage könne . . .“, meinte der Gensdarm strafend, „. . wenn einer halt schon emal e Russ ist . . .“

„Er sagt es sich eben leider, wie Sie sehen, nicht! Ich habe keine Autorität über ihn! Ich bitte Sie, Herr Viertelsmeister, ihn mit mir in seine ganz nahe gelegene Wohnung zurückzuführen.“

Die Drei waren langsam in die Nacht hinein verschwunden. Der Zug war abgefahren. Auf dem Bahnhof stand, die Hände in die Seite gestemmt, das Elsche kampflustig wie ein kleiner Gickelhahn vor der entsetzten Familie.

„Ätsch — den Sascha habt Ihr! Aber den Albert nit! Ich sag’s nit, wo er hin is, Mamma!“ Sie stampfte mit dem Fuss. „Um’s Totschlage nit’. Ich bin tapfer! Da könnt Ihr mit mir mache, was Ihr wollt!“

„Wart’ nur, wenn wir daheim sind!“

„Ich sag’s nit! Ich hopps’ lieber aus dem Fenster ’nunner! Wenn ich e Bub’ wär’, wär’ ich auch gleich mit!“

Die Augen der Kleinen glänzten fanatisch. Die Mutter trocknete sich aus den ihren ein paar Tränen.

„Fürchten könnt’ man sich vor dir!“ sprach sie bekümmert. „Ich weiss nicht, wie ich zu so einer wilden Krott’ als Tochter komm’! . . . . . .“

Sascha Kersting lag in seinem Zimmer angekleidet auf seinem Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben. Er schluchzte. Sein Körper zuckte. Die Fenster waren geschlossen. Das Pennälerstübchen mitternächtig still. Im Schein des Studierlämpchens sass Katja in Hut und einem langen, mantelartigen, weissen Abendschal, geduldig wie eine Krankenpflegerin, auf dem löcherigen Strohstuhl neben seinem Lager. Sie neigte sich vor und strich ihm mütterlich die wirren Haare aus der Stirn.

„Nun hast du genug geweint“, sagte sie leise. „Nun musst du einmal aufhören.“

Aber er flennte weiter. Er war gebrochen. Sie streichelte ihn. Sie flüsterte ihm ins Ohr:

„Kopf hoch, Sascha! Sei ein Mann!“

„Ich darf ja noch kein Mann sein . . .“, kam es erstickt aus den Kissen. „Ich darf ja noch nicht kämpfen! Wie einen dummen Bub schaffen sie einen vor allen Leuten heim!“

„Dein Onkel Ottinka meinte es gut mit dir!“

„Ich mag keinen Onkel Ottinka haben! Ich hab’ keine Eltern! Ich hab’ keine Geschwister! Ich hab’ kein Vaterland! Ich hab’ nichts . . Nichts . . . Nichts . . .“

„Deswegen bin ich ja zu dir gekommen, Sascha!“ sprach Katja Gebauer sanft. „Damit du einen Menschen um dich hast! Siehst du — da sitze ich — schon seit Stunden — und rede dir gut zu . . Ich möcht’ dich so gerne trösten, Sascha . . . Ein bisschen ist es mir doch schon gelungen . . — nicht wahr?“

„Ach — du weisst nicht — was das heisst: so allein . .“

„Ich bin da. Da hast du jemanden, wenn es auch nicht viel ist!“ Sie nahm behutsam seine schlaff herabhängende Hand. „Da hast du ein ganz klein wenig Ersatz für deine Eltern! Da hast du eine Art Mama!“

„Aber eine recht junge . . .“, weinte es in den Kissen.

„Ach . .“ Katja stand langsam auf. Sie war blass und lächelte seltsam. „Manchmal fühlt man sich so alt — manchmal so jung . . . . ich muss jetzt gehen, Sascha! Komm — gib mir die Hand! Sei tapfer!“

„Wenn ich nicht in den Krieg darf . .“ Der kleine Vetter richtete sich verstört empor. Sein Antlitz war erhitzt und verweint. Er sah durch die feuchten Augen und nassen Wangen knabenhaft aus.

„Du hast das Leben vor dir! Wenn man es recht versteht, ist es schliesslich auch eine Art Krieg! Sonst hat man es nicht gelebt — wenn es einem nur immer gut geht! Gute Nacht, Sascha! Wir wollen unser Leben lang Freunde sein! Dann bist du nie ganz allein!“

„Bloss Freunde?“

„Kind — ich bin doch gegen dich ein Methusalem! . . Die Liebe,“ Katja Gebauer legte ihm behutsam die flache Hand aufs Herz, „die verpacken wir vorläufig noch fest in Watte und warten! Die Zeit wird schon kommen! Bei dir gewiss!“

„. . . . wo die Frauen gut zu mir sind?“ Sascha frug es immer noch halbweinend. „Nicht bloss so . . so schwesterlich wie du?“

„Gut oder böse . . Oder beides . . . So wie wir selber sind.“

„. . Oder wie Ihr uns seht und wollt!“ fügte Katja, sich zur Türe wendend, hinzu. „So werden wir! Das verstehst du noch nicht, kleiner Sascha! Gute Nacht! Weine nicht! Deutschland siegt!“

„Ja. Deutschland siegt!“ Sascha Kersting sass trübe auf dem Bett, die Hände verschlungen. „Aber ich darf ja nicht ein Deutscher sein . . . .“

Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes

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