Читать книгу Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes - Rudolf Stratz - Страница 5

II

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Sascha! — Sascha! . . . Mein Gott — da sitzt dieser Unglückliche, als ob nichts wäre, am Sekretär und schreibt Briefe . . . Einen Liebesbrief natürlich . . .“

„Vielleicht!“ sagte Sascha Kersting nachlässig auf französisch, ohne den Kopf zu wenden. „Aber wenn, dann ist es eine höhere Liebe von einer Art, die Ihr hier in Frankreich nicht begreift! Im übrigen: verliere doch diese furchtbare Gewohnheit, mein Vetter, den Kopf durch die Türe zu stecken und mich zu allarmieren wie ein Feuerwehrmann! Wo brennt’s denn wieder in Lyon?“

„Ich mache dich darauf aufmerksam, dass in einer Viertelstunde die Wagen vorfahren! Papa befahl mir: Lade Sascha ein, pünktlich zu sein! Diese Russen trödeln ja immer!“

„Melde dem Oheim, mein Teurer: Man wird zur Stelle sein!“ versetzte Sascha träumerisch, den Blick ins Weite.

„Hoffen wir, Vetter Sascha!“ Der junge Raoul de Noutz schloss die Türe. „Man verspätet sich nicht, wenn Frankreich ruft . . . .“

Frankreich . . . . Das war der blaue Maienhimmel Frankreichs, der sich da, zwischen Rhone und Saône, über den Häusermassen der Innenstadt von Lyon wölbte. Das waren die weichen Lüfte Frankreichs, die eine linde Frühlingsbrise, vom fernen Mittelmeer her, in das mächtige, altväterisch-reiche Mahagonizimmer fächelte. Das waren die süssen Düfte Frankreichs, die ein Wind aus den blühenden Kastanien-Alleen des Platzes Belle-Cour da unten mitwehte. Das war das helle Lachen Frankreichs, das in dem sprudelnden Silber der Springbrunnen in der Tiefe plätscherte. Das alles sah winzig aus, von oben geschaut — die Wasserkünste — die Menschen — die Droschken. Denn das Zimmer, in dem Sascha Kersting am offenen Fenster sass, lag im sechsten Stockwerk des Hauses de Noutz an der Ecke der Rue de Victor Hugo. Sie waren alle hoch in den Himmel hinauf gebaut, an schachtähnlich engen, langen, schnurgeraden, totenstillen Strassen — diese Patrizierhäuser der grossen Seidenfabrikanten von Lyon. Dafür hatte man von diesem Eckzimmer einen weiten Ausblick über grüne Plätze und breite Kais und zahllose Brücken über die beiden Flüsse und, in der Ferne verschwimmend, immer neue Stadtteile — hoch am steilen Ufer jenseits der Saône ansteigend, kirchengekrönt, die Viertel des Volks der Weber — der Seidenweber von Lyon.

Sascha Kersting fuhr plötzlich auf und schrieb:

„Ich muss abbrechen, Katja! Frankreich ruft! Was willst Du? Man lebt in Frankreich! Par ordre du moufti — will sagen — des Onkel Ottinka! Was magst Du heute in Odessa treiben? Hier bei uns in Lyon ist heute grosse Parade — die erste seit drei Jahren. Seit der année terrible von 1870! Wer etwas auf sich hält, erscheint unter den Zuschauern. C’est indispensable — auch für mich. Ich störe dort nicht. Ich gelte hier nettement als Russe! Sie wundern sich, glaube ich, im Stillen, dass ich nicht Talglichter frühstücke! Jedenfalls schimpfen sie in meiner Gegenwart täglich so ungeniert über Deutschland, als wäre ich einer der Ihren . . .

Man wird es ja auch halb und halb, Katja! Die Gewohnheit macht da so furchtbar viel! Man lebt sich allmählich ein. Man versteht in Frankreich zu leben. Ich habe mich mit den Franzosen halbwegs ausgeföhnt. Es macht natürlich viel aus, dass ich hier — im Gegensatz zu dem Jahr vorher in Zürich — unter Verwandte kam und gleich Verkehr in der Welt fand. Unsere Clique junger Leute ist hier in Lyon berühmt! Nous donnons le ton! Mir kommt immer das Französisch in die Feder! Ich habe in den zwei Jahren meines. Aufenthalts hier nicht ein einziges deutsches Wort gesprochen. Und wenn ich Dir nicht alle vier Wochen solch einen Brief schicken dürfte, liebe kleine Mama, und mein Herz ausschütten, dann würde ich auch das Deutsch-Schreiben noch ganz verlernen . . .“

Der junge deutsch-russische Millionär stand auf und trat, sich zum Ausgehen musternd, vor den Spiegel. Ein neunzehnjähriger Dandy lächelte ihm etwas blasiert aus dem Glas entgegen. Dunkle, ein wenig schwermütige Augen, in dem lebendigen Antlitz eines sehr hübschen, sehr liebenswürdigen und sehr mit sich selbst zufriedenen Jünglings. Der erste Anflug eines schwachen schwarzen Bärtchens über dem weichen, verwöhnten Mund. Sascha Kersting fuhr sich mit der Hand über das dichte, brünette, von der Brennschere des Friseurs gelockte Haar, zupfte sich den Bausch der Atlasbinde zurecht, ordnete die zerfaserte, weisse Chrysantheme im Knopfloch und setzte sich, von einem Gedanken ergriffen und halb lachend, noch einmal an den Schreibtisch.

„Denk’ einmal — kleine Mama . . In aller Eile noch etwas wahnsinnig Komisches: Ich werde heute vormittag bei dieser Parade — durch ein glückliches Spiel des Zufalls — Mademoiselle Françoise Nezot präsentiert werden! Mademoiselle Françoise ist noch ein Kind von sechzehn — Noch nicht aus dem Kloster-Pensionat flügge. Du begreifst: Ich wandele — malgré moi — auf Freiersfüssen . . Man will mich mit dieser kleinen Heiligen verkuppeln. Natürlich nicht von heute auf morgen! Diese guten Leute von Lyon und Marseille sehen ein, dass wir beide noch zu jung sind. Aber man hat Zeit! Man trifft seine Vorbereitungen, um uns allmählich aneinander zu gewöhnen. Derlei machen sie hier in Frankreich von leichter und langer Hand. Durch Abbé und Notar. Ungefähr mit derselben Sentimentalität wie Dein Vater eine Seidenspekulation!. Dabei soll diese kleine Françoise in der Tat reizend sein! Also seien wir auf der Hut! Man kann sich auch an einer Altarkerze die Finger verbrennen!

Mein Gott — ich habe ja noch Zeit vor mir! Du bist doch auch jetzt schon Mitte der Zwanzig, Katja, und hast noch nicht gewählt. Gottseidank! Wenn Du erst einen Mann hast, kann ich ja nicht mehr wie jetzt alle vier Wochen meine Seele einsiegeln und von Lyon nach Odessa schicken! Dann hast Du Wichtigeres im Kopf als den armen kleinen Sascha! Dann habe ich gar keine Menschenseele mehr auf der Welt . . . .“

„Nun, mein Alter!“ Der junge Raoul de Noutz stürmte herein. „Fertig? Vorwärts! Auf das Feld der Ehre!“

Sascha Kersting lächelte ironisch. Der französische Vetter war so alt wie er. Neunzehn. Er hatte kein Pulver gerochen — 1870 — vor drei Jahren. Und gebärdete sich jetzt wie ein Tambour der alten Garde. Die beiden milchbärtigen, jungen Stutzen, der Deutsch-Russe und der Welsche, sprangen die turmartig hohen Steintreppen des Hauses de Noutz hinab. Zur ebenen Erde in der Flucht düsterer, von Reichtum überladener Empfangsräume, in die nie ein Sonnenstrahl fiel, hatte der Chef des Seiden-Welthauses Louis de Noutz seine Freunde um sich versammelt. Er war mager und breitschulterig für einen Franzosen. Er trug kurze graue Bartstreifen an den Ohren um das sonst glattrasierte, ehrbare und nüchterne Antlitz. Die würdevolle Haltung, der lange schwarze Schossrock, der hohe Kragen gaben ihm eine Ähnlichkeit mit einem Landgeistlichen.

Neben ihm der alte Mauduit, klein, mit schwarzen Kohlenaugen in der weissen Wolle des Bartgewirrs. Monsieur Touchants energische Mopszüge. Der schwarze Schnurrbart. Der goldene Zwicker. Das rote Bändchen der Ehrenlegion. Der gemessene, hochgewachsene Le Prieur mit seinen langwehenden, grauen Favoris — äusserlich eher ein Botschafter als ein Direktor vom Crédit Lyonnais . . . .

„Ich komme eben aus Wien!“ sagte er leise und eindringlich. „Mein Gott: das ist keine Börse mehr! Das ist ein Schlachtfeld . . . dieser schwarze Mai 1873! Das ist kein einfacher Krach mehr, meine Freunde.“ Er sprach es ,Krasch‘ aus. „Dieser Krasch übersteigt jedes vernünftige Mass . . Und dieser Krasch zieht immer weitere Kreise!“

„Gottseidank hat er auch schon dies satanische Berlin ergriffen!“ schrie Monsieur Touchant, der dickbäuchige Chauvinist. „Eh — dieser bluttriefende Kürassier von Varzin steht auf dem Trümmerhaufen seiner düsteren Heimat. Es herrscht Schrecken im Berlin der Pendülenräuber! . .“

„Geduld . . . Geduld . . .“

„Ah — Geduld, Vater Mauduit, mit diesen Wilden unter der Pickelhaube! Ich wünschte ihnen allen nur eine einzige Kehle und mich mit einem scharfen Rasiermesser als Barbier . . Ha . . . ha . . . !“

Das Schweigen umher war Beistimmung. Auch unter diesen alten bedächtigen Kaufherren. Der finstere, reiche Raum leuchtete schwefelgelb im Schein der Schadenfreude über den Krasch à Berlin. Sascha Kersting stand ziemlich teilnahmslos dabei. Er war diese täglichen Ausbrüche eines wütenden Deutschenhasses schon gewohnt. Sie gehörten zu Frankreich wie das Wasser in den Wein oder die Uhr unter den Glassturz auf dem Kaminsims. Und nun verkündete Seidengeraschel schon von ferne das Nahen der Damen. Sie segelten majestätisch mit langen Schleppen fegend herein wie die Fregatten. Hohe mit künstlichen Frühlingsblumen garnierte Hüte trugen sie zu dieser feierlichen Gelegenheit — mittelalterliche Halskrausen und Puffärmel, von der Taille ab umfangreiche, rauschende, farbige Stoffgebirge. Die bauschten sich nach hinten zu einem mächtigen, über Drahtgestell oder Lederkissen gewölbten Berg, der die Rückseite aller dieser jungen und alten Frauen von Welt in das Überlebensgrosse rundete. Der Cul de Paris blühte. Die Pariser Mode befahl es Frankreich und Europa.

„Man könnte eine Kaffeetasse hinten draufstellen . . .“, flüsterte Raoul de Noutz. Die gottlosen jungen Männer lachten. Und noch als die Landauer vorgefahren waren und die Damen einstiegen, meinte Sascha kopfschüttelnd zu dem jungendlichen Gaston Le Prieur:

„Ich möcht’ nur wissen, wie sie mit den Dingern überhaupt sitzen können . . .“

Die Wagen rollten. Menschen fluteten. Draussen zwischen Stadt und Festungsgürtel, leuchteten aus dem Grün des Frühlings, unter dem Blau des Himmels, weithin ins Land die mohnroten Hosen der Parade. Befehle gellten. Säbel blitzten. Die Hüte der Zuschauer lüfteten sich, die Damen verneigten sich vor der blau-weiss-roten Trikolore, die kleinen Knaben und Mädchen wehten mit Tüchern und Fähnchen, die Musik schmetterte nervenaufpeitschend die Marseillaise: „Auf Kinder Frankreichs! zu den Waffen!“

Sascha Kersting lehnte geistesabwesend, inmitten des Marschtritts und Hufgetrappels und Räderrollens der vorbeiziehenden Regimenter, an dem Wagen. Monsieur Touchant frug etwas scharf:

„Nun — mein junger Herr Russe — dies militärische Schauspiel scheint Sie nicht zu interessieren?“

„Wie sollte es?“ Der junge Odessaer Millionär zuckte nachlässig die Achseln. „Ich habe nicht gedient!“

„Ah — aber Sie werden! Oder sollte es Ihnen unbekannt sein, dass . . . .“

„Gewiss doch! Vom ersten Januar 1874 an wird auch bei uns in Russland die allgemeine Dienstpflicht eingeführt.“

„Nun wohl! Bisher wart Ihr Kinder des Adels und des bürgerlichen Reichtums von der Wehrpflicht befreit! Nun aber . . .“

„Ich bitte Sie: Ich werde doch keine Uniform tragen . .“, sagte Sascha phlegmatisch.

„Was heisst das? Ihr Name steht sicher schon in der Stammrolle!“

„Dann hat mein Vormund, mein Onkel Ottinka, auch dafür gesorgt, dass er wieder gelöscht wird.“ Der junge Mann unterdrückte ein Gähnen. „Ein Na — Tschai! . . Ein kleines Teegeld an den örtlichen Beamten . . .“

„Er kann Sie doch nicht verschwinden lassen!“

„Nun — und das Attest des Kreis-Arztes, dass ich taub bin? Stoctaub?“

„. . eines Arztes, der Sie nie gesehen hat?“

„Wozu braucht er mich denn zu sehen?“ frug Sascha naiv. „Er bekommt doch sein Schmiergeld!“

„Und wenn ein höherer Tschinownik die Liste revidiert?“

„Dieser Tschinownik nimmt doch erst recht! Onkel Ottinka wird ihm geben!“

„Ein merkwürdiges Land — Ihre Heimat! Es gibt dort doch schliesslich hohe Würdenträger . . Petersburger Senatoren — Generale . . .“

„Nun — dann schmiert man den General! Er liebt doch auch die Rubelchen!“

„Und Ihre Pflichten gegen das Vaterland, mein junger Herr?“

„Das Vaterland . .“ wiederholte Sascha Kersting zerstreut. Hinter ihm war ein Lärm. Zurufe: „Ah endlich . . . Je später der Tag, desto schöner die Gäste! . . .“ Eine dröhnende Stimme als Antwort. Ein schallendes Lachen: „Ich konnte nicht früher, meine Freunde! Die Geschäfte — die Geschäfte . . .“ Das war nicht mehr das philiströse, immer gedämpfte, immer gemessene Lyon. Dieses Trompeten in hellem, sächsisch-singendem Französisch — das war Marseille — See und Salz und Süden — Menschengewimmel — Mastengewirr — Lärm auf allen Gassen. Ein Händegeschüttel — ein Gelächter — ein Gedränge sofort auch hier, auf dem Paradeplatz, um Diagoras Nezot, den grossen Schiffsreeder. Wo er war, klein, stämmig, kugelrund, quecksilbern, aufkollernd — den grauen Spitzbart in dem roten, jovialen Gesicht — wo er war, da war Spektakel. Er schwenkte den Zylinderhut, den er heute statt der schiefen Hafenkappe trug. Er war — diesen peinlich respektabel gekleideten Lyonern zu Ehren — nicht so schlampig angezogen, wie er sonst da unten in Marseille zwischen Dampfern, Docks, Schuppen, Kranen herumlief. Er gab Sascha einen wuchtigen Seemannsschlag auf die Schulter.

„Siehe da: Der Letzte aus diesem grossen Hause Kersting! Ihr seid Spitzbuben — da hinten in Odessa! . . . Ihr betrügt des Teufels Grossmutter! . . Sind Sie auch solch ein Pirat wie Ihr Onkel Ottinka? Grüssen Sie ihn von mir — seinem getreuen, alten Freund in Marseille! — Nicolette!“ Er wendete sich an seine dicke Gattin. „Hier der Erbe der Firma Kersting! Mehr sag ich nicht!“ Er begrüsste, durch ein Lüften der Zylinderkrempe, ein dämmerndes Nubelgebirge fern im Osten. „Dies hier — tritt vor — ziere dich nicht — mein Jüngferchen — dies ist meine Einzige — das Kind Françoise — Fürchtet Euch nicht vor einander, meine Lämmchen! Gebt Euch die Patschhändchen, meine Kleinen! Hahaha!“

„Diagoras!“ mahnte die Gemahlin. „Der Herr Souspräfekt!“

Diagoras Nezot wandte sich geräuschvoll ab.

„Oh — zu Ihren Diensten! Wie es geht? Nun . . . man lebt! Wann der Stapellauf meines neuen grossen Dampfers stattfindet? Die Alsace-Lorraine gleitet in nächster Zeit von der Helling! Das stolzeste Schiff meiner Flotte! Es wird ein grosses Fest! Sie werden kommen? Zu viel Ehre, mein Herr Souspräfekt! Zu viel Ehre!“

Sascha und die kleine Françoise standen inzwischen wie durch Zufall ganz allein für sich. Er sah sie an. Es wurde ihm warm ums Herz. Wahrhaftig — noch ein Kind! Sie trug ein schlichtes, weisses Pensionsfähnchen. Einen eins fachen Schutenhut aus Stroh mit blau-weiss-rotem Band. Ein Medaillon mit einem Heiligenbildchen an einem Goldkettchen wie einen Talisman gegen die zu frühen Blicke der Männer auf der flachen, unschuldigen Brust. Sie war kaum mittelgross. Händchen und Füsschen wie bei einer Puppe. Sie hatte lange dunkle Wimpern und niedergeschlagene Klosteraugen. Sie hob die Lider, wenn man sie ansprach, mit einem schüchternen und erstaunten Lächeln, und zeigte dabei dichtstehende kleine weisse Zähne. Ihr Gesicht war klein — sehr weiss — viel weisser — ohne Puder und Schminke — als sonst bei Französinnen. Die Züge ganz zart und fein, so lieblich regelmässig geschnitten wie die einer Gemme. Es ging dem Jüngling vor ihr durch die Seele: Das ist gar nichts Französisches! Da ist nichts von den gezierten, runden Mäulchen, den beweglichen Nasenflügeln, den ewig amüsierten Mundwinkeln und den neugierigen Evaaugen dieser Rasse. Das ist ein Kunstwerk aus alter Zeit. Eine kleine Griechin. Ein scheues, kleines Wunder vom Mittelmeer. Aus Marseille, der alten Griechenstadt.

Sie waren beide befangen. Die Sechzehnjährige merkte, dass sie ihm, dem Neunzehnjährigen, gefiel. Sie wartete still, dass er sie anreden würde. Zu dumm: Er kam sich selber plötzlich wie ein halbwüchsiger Junge vor. Die Tünche einer weltmännischen Frühreife versagte vor dem zutraulichen Augenaufschlag der kleinen Nonne.

„Sie kommen aus dem Kloster, Mademoiselle Nezot?“

„Ja, mein Herr!“ Die Kleine hatte eine helle, seine Stimme. Sein Herz schlug heftiger.

„Sind sie gern dort?“

„Ach — die Mütter sind ja so gut zu uns!“

„Ist es nicht langweilig im Kloster?“

„Nein, mein Herr! Wir lernen, wir beten, wir singen, wir sticken, wir pflegen die Blumen . . .“

Er lachte belustigt.

„Möchten Sie nicht jetzt doch einmal allmählich in das Leben hinaus?“

Sie hielt rein seinen Blick aus wie den eines Bruders und sagte sanft:

„Wenn es an der Zeit ist, wird man mich in das Leben hinausführen, mein Herr!“

„Sie sind geduldig . . .“

„Ich hoffe es!“ Das weiche, glatte Gesichtchen lächelte harmlos. Er dachte sich: Sie verspricht, noch einmal viel hübscher zu werden, wenn erst Leben in diese kleine, entzückende Tanagra-Figur kommt.

Das 158. Infanterieregiment zog in roten Käppis und blauen Schwalbenschwänzen mit Trommelwirbel und Hörnergeschrei vorüber. Zurufe umher. Sascha und Françoise schwiegen, zwei verwirrte Kinder unter dem Baum der Erkenntnis. Er erschien sich lächerlich. Er warf sich das Fell des jungen Salonlöwen um. Er frug lässig, mit seinem Stöckchen wippend:

„Lieben Sie auch dies militärische Schauspiel?“

„Nein, mein Herr. Denn mein Vater liebt es nicht. Er sagt: Parade ist Krieg im Frieden! Und Krieg stört das Geschäft!“

„Ah — da erkennt man Euch Marseiller!“ rief erbost der Deputierte Touchant, der es gehört hatte. „Gerade so sprach vorhin Monsieur Sascha von seiner russischen Heimat. Ihr Seehändler seid alle gleich! Odessa und Marseille — das reimt sich. . .“

Es war ein bedeutungsvolles Schweigen umher. Zum Glück schmetterten eben, lichtblau vorbeireitend, mit gelben Helmen die Dragoner. Sascha versenkte sich andächtig in das stille, atmende Klosterbild vor ihm. Süsse, kleine Madonna . . . . So unberührt . . . Ein frommes Kind . . . .

„Nun kehren Sie wieder nach Marseille zurück?“ fragte er leise und traurig.

„Heute abend noch! Kennen Sie Marseille? Nein? So nahe und nie dort? Warum denn nicht?“

„Ich wusste ja nicht, dass Sie dort wohnen!“

Die Kleine schaute ihn unschuldig und fragend an, als verstände sie ihn nicht. Dann plauderte sie lebhaft weiter:

„Oh — Marseille ist schön! Nicht still wie Lyon! Die Strassen voll Menschen! Alle Menschen sind heiter. Sie lachen! Sie lärmen! Hören Sie nur Papa!“ In der Tat! Die Stimme des alten Nezot dröhnte drüben so laut über den Platz, als befehlige er ein Treffen der Parade. „Man hat in Marseille das Meer, mein Herr — die Schiffe — Man fährt über den Sonntag nach Algier hinüber, wenn man will . . .“

„Ich werde nächstens mal nach Marseille kommen!“ entschied Sascha.

„Das wird meine Eltern gewiss freuen!“ sagte das junge Kind sittig mit seiner sanften, klaren Stimme.

„Und Sie, Fräulein Françoise?“

Die kleine Klosterfrau lächelte nur zur Antwort. Zum ersten Mal waren da ein paar Grübchen von Mutwillen in den feinen Zügen. Dann streckte sie die zarten zehn Fingerchen aus und wich erschrocken, mit einem halben Aufschrei zurück, sodass sie beide sich berührten. ,,Oh Gott — Man wird uns doch nicht hier über den Haufen galoppieren!“

„Keine Sorge!“ Sascha Kersting benutzte die Gelegenheit. Er schlang in dem Aufschrei und der Flucht umher, den Arm um sie, und hielt sie schützend fest. Françoise Nezot schmiegte sich, mit halboffenem, rotem Mund, wie ein gescheuchtes Schäfchen an seine Brust. Niemand achtete auf die Zwei. Der Donner kam heran und brauste haarscharf an den Zuschauern vorüber. Die siebenten und zehnten Kürassiere ritten das grosse Schlussund Schaustück der Parade. Die Attacke in Karriere. Die Hufe dröhnten, die Helmkämme flatterten. Dann gellten alle Trompeten: Halt! Die Reiterwogen standen in langen, schimmernden Linien. Gerührtes Händeklatschen. Man brach auf. Sascha Kersting gab der kleinen Françoise träumerisch die Hand. Sie nahm sie sittig, mit einer leisen Abwehr, als habe sein Lächeln ihren Klosterfrieden versengt. Auf ihrem weissen, unbeschriebenen Gesicht wohnte der tiefe unschuldige Ernst eines Kindes. Er dachte sich: Es ist wahrhaftig eine kleine Heilige. Zugleich scheute neben ihnen das Pferd eines Wachtmeisters. Der Reiter plumpste zu Boden. Er tat sich nichts. Aber es sah komisch aus, wie der dicke Krieger verdutzt dasitzend um sich starrte.

Und sie — die kleine Françoise — platzte mit den Anderen heraus. Lachte, wie nur eine Sechzehnjährige lachen kann. Bog sich vor Heiterkeit. Der übermut sprühte aus ihren Augen. Die frommen Lippen kicherten. Das spitzbübische Gesichtchen zuckte vor Entzücken. Und nun, wo aus dem Klosterschrein ein reizendes kleines Weib heraustrat und dies heilige Kind sich zu Blut und Leben wandelte, war es für Sascha Kersting ein Schicksals-Augenblick, und es wurde ihm eng und weit ums Herz, und er stieg wie ein Nachtwandler am Mittag zu den de Noutz in den grossen Familien-Landauer.

Und in seiner Eckstube oben in Lyon kritzelte er heftig als Schluss des Briefs an die Cousine in Odessa:

„Eben komme ich von der Soldatenspielerei zurück. Du — Katja — das ist eine schöne Geschichte! Also ich bin drum und dran, mich in diese junge Françoise zu verlieben! Wenn Du sie sähst, würdest Du meine Ekstase begreifen! Das alles — bei Françoise — ist noch ein holdes Wunder der Zukunft. Das Alles hat sich noch nicht erschlossen. Diese kleine Seele träumt noch. Diese zarte Knospe ist noch eingerollt in Winterfrost — Werde ich nicht ganz poetisch? — Das Alles ist noch nicht — das wird erst — das ahnt erst — das verspricht — das will zum Licht — zu mir! . . Ja! — Ja! . . Ich gefalle ihr. Ich weiss es — Ich sah es an ihren sanften Augen . . .

Der Erste zu sein — auch geistig — einer Frau — Sie aus dem Pflanzenstand zum freien Menschentum emporzuführen — Oh — mon amie — sodass solch holdes Geschöpf dies zweite Leben unsereinem verdankt — ganz ein Werk meiner Hände — von mir geformt — mein Eigentum im schönsten Sinn . . . Wer könnte sich eines solchen unberührten Schatzes rühmen? Ich schliesse. Ich sehe schon Dein gewisses Lächeln. — Hélas! — Ich kenne Dich, Katja! Lies diesen Brief. Oder lies ihn nicht. Mache daraus, was Du willst. Dieser Brief gehört Dir. Dir muss ich alles schreiben, liebe kleine Mama! In diesem Brief fliegt meine Seele auf einen Sprung zu Dir nach Odessa. Nimm sie gut auf! Ewig Dein Sascha!“

Der junge Deutsch-Russe rannte die sechs Stockwerke hinunter und warf den Brief an Katja Gebauer selbst in den Kasten. Das Schreiben nahm seinen Weg gen Osten. Es war ein glühend heisser bessarabischer Maitag, als der Postsack, in dem es reiste, in Odessa eintraf.

Die, an die es gerichtet war, schwamm gerade in dieser Vormittagsstunde weit draussen vor der Stadt am Villenstrand im Schwarzen Meer, zusammen mit ihren Cousinen, den beiden Malbasá, der Presnjakowa, Fräulein Wollbaum, Mademoiselle Makri, Natalie Kobeko. Es war wie eine Herde grosser farbiger Fische — Goldfische alle — Töchter der internationalen Finanz von Odessa, die sich da schwimmend, spritzend und lachend tummelten. Katja Gebauer trug einen purpurnen Badeanzug mit purpurner Kappe. Er leuchtete aus dem tiefen Blau der Wogen. Dazu das Weiss der Arme und der Füsse. Man konnte die Glieder ruhig aus dem Wasser heben. Das Nass des Schwarzen Meers war so schwer, so salzgesättigt, dass es elastisch den Körper trug, wenn man windgeschaukelt auf dem Rücken liegend, über sich den stürmenden weissen Wölkchenflug am blassblauen Himmel sah. Katja Gebauer’s schönes, längliches, bräunliches Gesicht blinzelte träumerisch in den Schaumkämmen, als läge sie im Bett. Weisse Möven schrieen klagend über ihr. Abwechselnd stieg und schwand im Spiel der Wellen die nahe niedere Küste und wuchsen und sanken draussen, fern am Horizont, die schwarzqualmenden Schlote einiger grosser Dampfer. Eine Herde Delphine schnitt mit dunklen Kämmen in pfeilschnellem Tauchschwung durch die Fluten.

Ein Schwall Seewasser sprühte Katja in das selbstvergessen an Licht, Luft, Sonne, Sein hingegebene Antlitz. Sie prustete, leckte sich das Salz von den Lippen, hob die dunklen, glänzenden Augen: drüben schnalzten noch ausgelassen die Schweinsfische und überschlugen sich triefend in der Luft. Aber die menschlichen Tummler hatten das Ufer aufgesucht. Vor den Badehüttchen, von denen Holztreppen zu den Gärten der einzelnen Choutors, der Sommer-Landsitze der Grosskaufmannschaft, hinaufführten, leuchteten farbige Punkte.

Katja schwamm der Küste zu, landete vorsichtig, um nicht vom Prall der Brandung an eine der kleinen Klippen unter Wasser geworfen zu werden, und stieg ein paar Minuten später mit ihrer Freundin, der geschiedenen Kobeko, zum Akazien- und Tamariskenpark des Choutor’s Gebauer empor. Die beiden Damen trugen Strohschuhe und hatten lange Bademäntel umgeworfen. Es lohnte sich nicht, sich umzuziehen, für den kurzen Weg. Man musste zuhause ja doch gleich nach dem Seebad in eine Wanne voll Süsswasser steigen, um die prickelnde Salzkruste auf der Haut abzuspülen.

„Also — ich lasse ihn dir, Katja!“ sagte die schöne Russin unterwegs aufgeregt auf deutsch.

„Wen denn? Den alten tatarischen Gärtner da? Oder den Iswoschtschik dort vor der Türe?“

„Er kommt! Aristide Murussi kommt! Er kommt ganz bestimmt heute zu Euch zum Frühstück!“

„Wenn er kommt, kommt er wegen dir, Natuschka! Man kennt ihn doch! Er will mit dir sein Verhältnis fortsetzen!“

„Und ist das gut? Ist das schön?“ Die reizende Russin mit den Rehaugen und dem unschuldigen, naiven Kindergesicht blieb beschwörend stehen. „Ich habe schon Verhältnisse genug gehabt — Katja — meine Taube . . .“

„. . . und wirst noch mehr haben!“

„. . . wenn Gott mich straft — ja!“ sprach schicksalsergeben die Schöne und wickelte sich gegen die Männer fester in ihren Bademantel. „Es kommt auf einen nicht an! Nimm ihn nur! Du hast meinen Segen!“

„Du weisst doch, Schatz, dass ich keine Verhältnisse habe und nie gehabt habe!“ Katja pflückte sich zerstreut im Gehen einen Zweig mit weissen Akazienblüten und fächelte ihn vor der Nase und atmete den süssen Duft.

„Bei der heiligen Dreifaltigkeit: nein! . . Aber würde Murussi denn mich heiraten? Wer heiratet denn mich?“ frug die Russin sittlich empört. „Eine Frau von meinem Ruf? . . . Hier gewiss nicht mehr! Ich muss zur Herbstsaison einmal hinüber in die Krim . . . Vielleicht, dass da . . . Diese Moskauer haben eine breite Brust . . . Sie sind nachsichtig . . Sie können ’was vertragen! . . . Aber dich will Aristide Murussi heiraten! Ich muss es doch wissen! Er frug mich doch um Rat! Meine Antwort war: ,Katja — nur Katja!’ “

„Danke!“ sagte Fräulein Gebauer gefühllos.

„Glaube doch mir — einer unglücklichen Frau, mit der die Männer spielen!“ Die schöne Madame Kobeko machte halt und tippte der anderen seelenvoll mit dem rosigen Zeigefinger auf die Brust. „Murussi sieht selbst ein, dass das nicht so weiter geht mit den Frauen und dem Spiel! Die Familie hat sich ins Mittel gelegt. Er hat bereits die Zigeunerinnen fortgejagt. Er ist jede Nacht schon um ein, zwei Uhr zuhause. Er bereut. Er geht vor Anker! Nun — er ist ja auch schon fünfunddreissig! Du zehn Jahre jünger. Er passt so gut zu dir . . .“

„Findest du . .?“

„Wie man über einen derartig schönen Mann auch noch lachen kann!“ sagte die Slawin mit einem Augenaufschlag gen Himmel. Sie fasste stürmisch die Freundin am Arm und beschwor sie. „Denken wir praktisch, meine Liebe: Hat es seit Jahrzehnten einen Freier von diesem Reichtum gegeben? Einen Mann mit einem Palais in Paris — einer Villa in Rom, einem Schloss an der Riviera, einem Königreich an Gütern bei uns da hinten in der Steppe . .? Dieser Mann kommt zu dir . . . zu dir . . .“

„Zwicke mich doch nicht so, du abscheuliche Katze . . .“

„Doch. Ich zwicke dich, bis du Vernunft annimmst! . . . Beliebe: Ein Mitglied aller internationalen Klubs . .“

„Was habe ich davon?“

„. . . Ein Rennstallbesitzer. Ein Elegant, der selbst auf den Boulevards Aufsehen erregt. Ein Mann der grossen Europäischen Welt — Man hat ihn in Monte Carlo Arm in Arm mit Petersburger Grossfürsten gesehen!“

„Das sagt ja auch genug“, ergänzte Fräulein Gebauer ungerührt. „Ein Don Juan — Ein Spieler — Nun — seien wir offen: Ein Taugenichts!“

„Deswegen soll er dich ja heiraten!“ schrie die schöne Kobeko verzweifelt. „Du bist eine Deutsche!“

„Wenigstens halb . .“

„Du hast Energie! Du hast kühles Blut . . .“

„Oh gar nicht . . .“

„Dann hast du Selbstbeherrschung! Um so besser! Du bist sehr schön! Du wirst ihn zähmen! . . .“

„Ich bin ja sehr geschmeichelt, dass Herr Murussi am Ende seiner galanten Laufbahn gerade mir das Schnupftuch zuwirft!“ Die Deutsch-Russin zuckte die Achseln. „Aber trotzdem . . .“

„Nie in deinem Leben, mein Augapfel, bietet sich dir wieder dieser grosse russische Haupttreffer unserer Zeit! Bete, dass Gott dich erleuchtet! Nun — da hat man Briefe für dich!“

Herr Geiger, der zweite Buchhalter des Hauses Gebauer, ein rotblonder, blauäugiger Reichsdeutscher, war mit dem Droschkenkutscher, den Katja vorhin gesehen, aus der Stadt gekommen. Er überreichte ihr lächelnd einen Brief.

„Aus Lyon!“ sagte er, mit dem Gesicht eines Mannes, der weiss, dass er etwas Angenehmes bringt, und Katja Gebauer nahm rasch und freundlich nickend das Schreiben, küsste die Kobeko und lief, den Bademantel über die weissen Knöchel schürzend, hinauf in ihre Zimmer des weitläufigen Landhauses, während Herr Geiger bei dem Chef der Firma eintrat.

Der sonnenüberflutete Raum war, im Geschmack eines englischen Cottage, mit Chippendale-Möbeln ausgestattet. In der Mitte wippte ein Schaukelstuhl auf dem kostbaren kaukasischen Teppich. Otto Gebauer sass darin. Der alte Grosskaufmann war von Kopf zu Fuss blendend weiss, wie ein Europäer in den Tropen, gekleidet. Weiss rahmte auch der kurze Rundbart das feine, gefurchte Gesicht mit dem goldenen Zwicker. Nervös gereizt schaukelte sich der nüchterne Handelsherr und sog stossweise an einer schon erloschenen Havannah zwischen den Fingern. Er fuhr den mit leeren Händen eintretenden Buchhalter an:

„Wo haben Sie die heute eingelaufene Geschäfts-Korrespondenz?“

„Es ist heute russischer Feiertag . . .“

„Das weiss ich! Es ist jeden dritten Tag russischer Feiertag. Deswegen konnten Sie doch wenigstens die Auslandsbriefe . .“

„Herr Gebauer hatten nichts davon gesagt . . .“

,,Dann sage ich es jetzt!“ rief — heftig wider seine Gewohnheit — der alte Erbliche Ehrenbürger und schlug ärgerlich mit der flachen, rechten Hand aufs Knie. „Haben Sie Ihren Iswoschtschik draussen? Karaschô! Fahren Sie sofort in die Stadt zurück und bringen Sie mir wenigstens den Brief aus Wien — von Tschereuth und C. — falls er angekommen ist! Das Andere mag in Gottesnamen bleiben!“

„Man hat ewigen Verdruss mit seinen Leuten“, wandte er sich dann, nachdem der von ihm Angerüffelte ängstlich die Türe hinter sich geschlossen, an seinen Schwager Malbasá, den Bruder seiner Frau, der schweigend am Fenster sass und im ,Odesski Listok‘ die Auslandkurse studierte. Der Weizengrosshändler war ein grosser, etwas plumper Mann mit breiten Händen, dessen bartlosem, sackigem und grobem, schläfrig-schlauem Gesicht die leicht geschlitzten Augen etwas Tatarisches, etwas von Asien gaben. Eugen Malbasá rollte Tabak aus seiner Tulabüchse in das Seidenpapier, wickelte es, leckte es zu und versetzte, während er die Papyros anzündete, langsam mit tiefer Stimme auf russisch:

„Warum bist du in solcher Sorge wegen eines Briefes aus Wien?“

„. . wo ein Krach die Börse verwüstet, wie ihn die Welt seit ihrer Erschaffung bis zu unserm Jahre des Heils 1873 nicht erlebt hat . . .“

,,Wozu die Aufregung auf deine alten Tage? Du springst in die Höhe wie eine Heuschrecke in der Steppe!“ Malbasá streifte träge die Asche in die Elfenbeinschale aus sibirischem Mammuth. „In diesen alten Wiener Patrizier-Familien wie den Tschereuths steckt Reichtum seit Generationen. Der Vetter Leopold ist ein Geschäftsmann von vorsündflutlicher Vorsicht! Was sollte ihm also viel passieren?“

„Daran ist kein Zweifel, dass das Bankhaus Tschereuth den Sturm übersteht!“

„Nun also! Warum erhitzt du dich? Es ist schon heiss genug heute!“ Der Kellerbass des Schwagers wurde immer langsamer, immer tiefer. Er trocknete sich mit dem Tuch die Schweissperlen auf der niederen, von einem beinahe kahlgeschorenen Grauschädel überwölbten Stirn. „Du selbst, Ottinka, hast gar keine Geschäftsverbindungen mit Wien . . .“

„Nicht eine Kopeke!“

„Also lasse dort die Toten die Toten begraben!“ Eugen Malbasá sprach es mit seiner tiefen Stimme und stand auf, um sich zu verabschieden. Otto Gebauer begleitete ihn bis zu seiner Equipage. Er sah dem Schwager müde nach. Dann trat er in die Halle zurück. Seine Tochter kam die Treppe herunter, in einem luftig wehenden, weissen Sommerkleid, ganz einfach und ländlich, mit natürlichen schlanken Hüften, ohne alle rückwärtigen Auswüchse der Pariser Mode. Sie schwenkte einen Brief in der Hand.

„Sascha hat aus Lyon geschrieben, Papa!“ meldete sie.

Der alte Kaufmann schrak zusammen.

„Etwas Besonderes?“ frug er dann dumpf und starrte geistesabwesend vor sich hin.

„Nein. Wie gewöhnlich! Das heisst: im Gegenteil: Nicht wie gewöhnlich! Verliebt ist der Sascha ja im Handumdrehen . . Sein Herz ist wie die Steppe im Herbst . . . Man braucht nur ein Streichholz hinzuhalten, und sie brennt lichterloh! Aber diesmal seid Ihr die Brandstifter — hier und in Marseille — das erschwert den Fall . . . Komm’ mal da ’rein, Papa. Ich muss dir ins Gewissen reden!“ Und als sie den alten Herrn in sein Arbeitszimmer gedrängt hatte, fuhr Katja vorwurfsvoll, immer auf deutsch, mit eindringlicher Zungengeläufigkeit fort:

„Papa! . . Es sind doch noch beides Kinder! Das gäbe ja die reine Puppenhochzeit . . . Sascha und diese kleine Nezot! . . . Was kuppelt Ihr denn da wieder zusammen?“

„Mein Kind: Je früher ein junger Mensch . . .“

„Nein! Nein! Nein! Ein Mensch muss selber über sich entscheiden! Das kann der Sascha noch gar nicht! Dafür ist er viel zu jung! Ihr dürft ihn nicht in die Ehe schmeissen wie den Mops ins Wasser! Ich dulde das einfach nicht!“

„Ich möchte nur wissen,“ der Kaufherr entzündete umständlich, mit zitterigen Fingern, die erloschene Havannah . . ., „ich möchte nur wissen, was dich das angeht!“

„Ich vertrete doch Mutterstelle an ihm!“ rief Katja Gebauer triumphierend und empört. „Er hat doch sonst Niemanden auf der Welt — der arme kleine Kerl! Man muss ihn gegen uns schützen — ich meine uns Frauen — bis er gross ist und sich selber wehren kann. Statt dessen kommt Ihr und treibt ihn ins Garn, bloss damit die Frachtrate Marseille—Odessa und die Rimessen Odessa—Lyon in der Familie bleiben! Ach — ich kenne Euch doch! Schämt Euch!“

Otto Gebauer hatte sich müde hingesetzt.

„Du solltest dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten kümmern!“ sagte er. „Du bist jetzt mit Gottes Hülfe fünfundzwanzig Jahre alt und noch nicht vermählt! Das, meine Liebe, ist eine Schande!“

„Ja. Für die jungen Männer hier! Gewiss!“

„Worauf wartest du? Andere haben in deinem Alter einen Mann und drei Kinder . .“

„Und den vierten Liebhaber . . .“

„Das muss nicht sein!“

„Das ist aber meistens so! Warum? Weil Ihr zwei Hauptbücher zusammen einsegnet! Nachher folgt natürlich Jeder und Jede dem Zug des Herzens. Ich finde diese Seitensprünge in den Ehen nicht einmal so unmoralisch wie diese Ehen selber! Aber ich werde deswegen den Propst der lutherischen Kirche Südrusslands nicht bemühen. Da verlass’ dich drauf . .“

„Diese petites liaisons und faux ménages sind durchaus nicht nötig!“ sprach der Ehrenbürger gereizt. „On peut faire bon ménage, Katja! . . Man kann in ungetrübtester Ehe leben! Man muss nur den Rechten heiraten!“

„Wo ist er, Papa?“

„Glaubst du, ich hab’ ihn hier in der Tasche?“ brauste der alte Herr auf. „Du hast doch weiss Gott die Wahl in der ganzen Welt!“

„Aber mein Mann ist nicht von dieser Welt!“ sagte Katja. „Ich meine von unserer Welt! Die ist scheinbar gross und doch betrübend eng. Es sind überall in Europa dieselben Menschen. Sie sind langweilig.“

„Bildest du dir denn ein, du könntest mit einem Mann in kleinen Verhältnissen glücklich werden?“

„Nein. Niemals. Dazu habt Ihr mich viel zu blödsinnig erzogen!“

„Katja . . . . .“

„Uns alle! Die Anderen merken es nur nicht so wie ich! Wir sind Luxus-Artikel! . . Aber ich bin innerlich ernster wie die anderen! Und das sag’ ich dir, Papa: Eh’ ich einen Mann heirate, den ich nicht liebe und mich nachher mit einer Garnitur Cicisbeo’s tröste — eher bleib’ ich ein melancholischer freier Vogel und heirate überhaupt nicht!“

„Erwäge — prschaluite — dass du mein einziges Kind birt!“

„Nun eben!“ Das junge Mädchen zuckte die Achseln. Ihr schönes, bräunliches Gesicht hatte sich in Unmut gerötet. Sie strich sich ärgerlich, mit einem Blick in den Spiegel, die glänzenden dunkelbraunen Haare an den Ohren glatt. Es war eine heftige Bewegung der dünnen, erhobenen Arme. „Hungern werde ich ja nicht im Leben! Für mich ist ja gesorgt.“

Der Vater schwieg eine Weile und sah mit gefalteten Händen vor sich hin. Dann räusperte er sich mit einem Entschluss:

„Katja . . . Heute Mittag . . in einer halben Stunde kommt Herr Murussi.“

„Ich weiss . .“, schrie Katja erbittert und lief im Zimmer auf und ab. „Aristide Murussi kommt seit einiger Zeit so ziemlich jeden Tag . . .“

„Das hat doch etwas zu bedeuten, mein kleines Schaf! Ganz Odessa spricht schon darüber!“

„. . weil Euer tout Odessa nie etwas Vernünftiges im Kopf hat, sondern nur Klatsch und Weizenpreise!“

„Murussi hat seine Lebensweise geändert . .“

„Höchste Zeit war’s!“

,,Er vermeidet seinen bisherigen Verkehr . . .“

„Ja. Er hat seine Tänzerin beurlaubt!“ sagte Katja zerstreut und wegwerfend und ordnete sich wieder vor dem Spiegel die Frisur. „Ich weiss nicht: Ich fand die Person nie so berückend . . Die Männer haben ja ’nen verdrehten Geschmack . . . .“

„. . . auch wenn sein Auge auf dich gefallen ist . . . Katja? Nun überlege doch ’mal . .“ Der alte Grosskaufmann erhob sich langsam. „Wir sind eine der ältesten und reichsten Familien von Odessa. Aber gestehe selbst: Was ist eine Firma Gebauer gegen einen Murussi?“

„Nichts . . Nichts . . Nichts!“ rief Katja laut und lachend.

„Also gut . . .“

„Aber ich bin keine Firma, Papa, sondern ein Frauenzimmer! Sogar ein höchst lebendiges! Das wehrt sich! Ich steche um mich wie ein Skorpion!“

„Niemand wird versuchen, dich zu zwingen, Katja!“ Der kleine Handelsherr trat dicht vor die grosse, schöne Tochter hin. „Es soll ja nur zu deinem eigenen Besten sein. Ich hab’ dich doch lieb, mein Kind! Ich möchte nicht, dass du, wenn wir einmal tot sind, Jahrzehnte lang als verdrehte alte Jungfer mit einem Gefolge von Schosshunden und Dienerschaft Europa unsicher machst . . .“

„Nette Perspektive!“ sagte Katja gähnend.

„Nun liegt jetzt etwas — etwas ganz Märchenhaftes in der Luft! Nie wieder bietet sich dir eine derartige Riesenpartie . .“

„Ja — wie ist der Unglücksmensch nur gerade auf mich verfallen?“ frug sich Katja kopfschüttelnd, den Blick am Boden, und zog mit der Fussspitze das Muster des Tifliser Teppichs nach.

„Die Murussi stehn turmhoch über unserer Klasse! Du würdest eine der ersten Frauen von Europa . . . denke doch nur . . .“

„Ich denke mir die Märchenprinzen ein bisschen anders, Papa,“ Fräulein Gebauer hob unwillig das Haupt, „als so stark ramponierte Pariser Ware — mit diversen Sprüngen und Beschädigungen vom Cabinet-Particulier und dem Spieltisch und hinter den Kulissen! Ich käme mir einfach dumm vor, wenn mich, in den Champs-Elysées an seiner Seite, eine von diesen Lebedamen im Vorbeifahren nachsichtig mustert, als wollte sie fragen: Nun — gefällt dir mein ehemaliger Kleiner?“

„Katja! Sei nicht frivol!“

„Das sind wir ja alle hier! Und bei mir ist es doch nur äusserlich! Das weisst du doch! . . Man muss ja den Ton mitmachen. Sonst gilt man ja für eine Gans! Ach — und ich hab’ manchmal so eine Sehnsucht nach etwas ganz Reinem — das von einem Mann ausgeht — und Wahrem und Starkem . . . . Es muss doch irgendwo auf der Welt einen solchen Mann geben . . .“

„Katja — verscherze über diesen Träumereien dein Glück nicht! Es kehrt nicht wieder. Es entscheidet sich vielleicht schon bald! Es herrscht ein allgemeines Vorgefühl, als ob Aristide Murussi vielleicht schon heute . . .“

„Dann ist’s wenigstens überstanden!“ sagte Katja kurz. „Ich werde ihm schon eine Antwort geben! Und nun genug davon, bitte! Revenons à nos moutons! . . . Ich meine Sascha! Ich bemuttere ihn! Ich werde nicht leiden, dass die Seeräuber in Marseille dies Kind kapern! . . . Sascha ist doch überhaupt jetzt lange genug in Frankreich gewesen! Französisch spricht er wie Wasser. Die Seiden-Branche hat er inne. Was tut er denn noch dort?“

„Wo sollte er hin?“

„Gott — hierher, Papa! In seine Vaterstadt Odessa!“ Katja sprach es verwundert . . . „Das ist doch das Natürlichste von der Welt! Wo wir sind — seine nächsten Verwandten — und du dabei noch sein Vormund, und wo er sein Vermögen hat! In ein paar Jahren wird er ohnedies einundzwanzig und mündig und muss nach Odessa kommen, um sein Vermögen von dir zu übernehmen!“

„Er wird jetzt nicht hierher kommen! . . . Ich verbiete es . . .“

„Um Gotteswillen, Papa . . . Man könnte sich ja vor dir fürchten? . . . . Warum schreist du denn auf einmal so? Warum haust du mit der Faust auf den Tisch?“

„Ich verbiete dir, ihm zu schreiben, und ihm etwa einen solchen Floh ins Ohr zu setzen! . . . Man kann ihn jetzt hier nicht brauchen! Verstanden!“

„Aber Papa — Was ist denn in dich gefahren? So kenne ich dich ja gar nicht! . . Du bist ja ganz bleich . . . Bloss wegen Sascha . . . .“

„Sascha soll in Lyon bleiben! . . . Er ist dort sehr gut aufgehoben! . . . Ich will ihn hier durchaus nicht sehen!“

„Setze dich doch! Die Knie zittern dir ja . .“

„. . . dass er mir ja nicht auf die Idee kommt, hierher zu reisen . .“ Otto Gebauer nahm mühsam Platz. „Bestelle ihm das von mir . . . .“

„Da werde einer daraus klug . . .“

„. . . und du mische dich nicht in Dinge, die sich nichts angehen! Wenn Sascha diese Mademoiselle Nezot heiratet, dann ist es das Beste für ihn . . . das Beste. . . Schweig! . . .“

„Papa . . .“

„Schweig!“ schrie Otto Gebauer mit einer Stimme, dass die Tochter erschrocken zwei Schritte zurücktrat und ihn kopfschüttelnd mit verschlungenen Händen ansah. Endlich hub sie ruhig an:

„Papa . . . Ich wollte dir nur sagen, dass es geklopft hat!“

„Ach so!“ Der alte Grosskaufmann machte eine müde und verstörte Bewegung mit der Hand über die feuchte Stirn. Sein Gesicht war verfallen. ,,Herein!“ Er drehte sich nicht um. „Was ist denn los?“ frug er mechanisch.

,,Herr Geiger ist gekommen!“ meldete Katja und verliess, mit grossen, ratlosen Augen, halb auf den Fussspitzen wie in einem Krankenzimmer, den Raum, in dem der rotbärtige Reichsdeutsche sich seinem Chef näherte:

„Der Brief aus Wien, von Tschereuth und C., lag bei der Auslandspost! Hier ist er!“

„Geben Sie her!“

„Haben Herr Gebauer noch Befehle?“

„Nein! Sie können nach Odessa zurückfahren!“

Der Buchhalter war gegangen. Otto Gebauer hielt das Schreiben aus Österreich in der Hand. Es war ein Privatbrief, mit dem Vordruck des Absenders: ,Leopold Edler von Tschereuth, K. K. Kommerzienrat‘ vorn auf dem Umschlag, hinten sorgfältig dreimal mit dem Wappen des schon vor mehr als zwei Menschenaltern, unter dem guten Kaiser Franz, geadelten Wiener Patriziergeschlechts gesiegelt — dem schreitenden Lämmlein mit dem Passionskreuz auf dem Rücken.

Der alte Herr holte Atem. Setzte den Zwicker auf. Öffnete und las:

„Mein lieber Vetter Otto!

„Nein! Ich kann nicht. Ich muss es, im Verfolg meines Letzten vom 20. April 1873, mit der vollkommenen Offenheit wiederholen, wie die derzeitigen betrübten Zustände unseres Wiener Geldmarkts sie mir einem Verwandten und Geschäftsfreund gegenüber zur unabweislichen Pflicht machen.

„Als die Schlacht von Sedan vor drei Jahren Deine auf einen Sieg der Franzosen basierten finanziellen Dispositionen störte, zögerte ich nicht einen Augenblick, Dir in diesen plötzlichen geschäftlichen Schwierigkeiten mit namhaften Kapitalien beizuspringen. So ging diese Krisis ohne Erschütterung Deines Credits vorbei. Deine Firma ist heute so gut wie jemals!

„Aber hier in Wien haben wir dafür jetzt an der Börse einen grossen Krach. An ein Bankhaus wie das meine reicht er nicht heran. Ich habe mich von vornherein von diesem wahnsinnigen Haussetreiben ferngehalten und seit Monaten die Creditgewährung auf das Knappste eingeschränkt. So kann ich ruhiger schlafen als andere. Aber ihre letzten Kapital-Reserven aufbieten muss jetzt jede Firma — sei es auch nur, um wankende, befreundete Häuser zu stützen.

„Du, mein lieber Otto, hast in den drei Jahren Zeit gehabt, Dich zu erholen, und nach allem, was ich höre, geht der Seidenhandel augenblicklich flott. Unter diesen Umständen muss ich, in dieser erschreckenden hiesigen Krisis, unbedingt und unumstösslich darauf bestehen, mein geliehenes und ordnungsgemäss gekündigtes Kapital bis ultimo hujus durch Prima-Aufgabe auf Paris oder London — nicht auf den zurzeit notleidenden Wiener oder Berliner Platz — zurückgezahlt zu erhalten. Sollte diese Vergütung in den nächsten Wochen nicht erfolgen, so würdest Du mich in die unangenehme Notwendigkeit versetzen, persönlich nach Odessa zu kommen und weitere Aufklärung zu verlangen. Grüsse Deine Damen, auch von den Meinigen. Dein getreuer, alter, bald siebzigjähriger Vetter

Leopold.“

Draussen, an der Vorfahrt zum Choutor, klapperten in kurzen Abständen Hufschläge auf dem Kies. Das Rollen der Wagen hörte man nicht. Die Gummiräder federten lautlos. Die Gäste kamen aus dem fernen Odessa, aus den nahen Datschen, zum Frühstück. Manche Nachbarn hatten es nur über die Strasse. Aber zu Fuss ging kein echter Odessaer. Otto Gebauer kümmerte sich nicht um seine Hausherrnpflichten. Er zerpflückte den Wiener Brief in winzige Schnitzel und streute sie in den Papierkorb und schreckte scheu, wie auf einem Verbrechen ertappt, zusammen, als die Türe aufflog und seine Frau mit dem wilden, rosaroten Farbenglanz einer schwunghaft gerafften, gefältelten, bebänderten, mit Spitzen überladenen Robe den Rahmen füllte.

Die geborene Malbasá irrlichterte von Diamantengefunkel. Sie war ausser Atem und heftig geschnürt. Im Hintergrund ihrer umfangreichen Irdischkeit prahlte als krönender Auswuchs der Cul de Paris. Schnurrbartschatten gaben unter der dicken weissen Puderschicht ihren leeren Zügen mit den Spuren einstiger Schönheit etwas Ungewöhnliches und Östliches. Trotzdem wirkte sie hier in Halb-Asien unter Tataren, Popen, Kaftan-Juden und Levantevolk mehr als Dame, europäischer als draussen im Ausland. Sie wedelte sich heftig mit dem parfümierten Taschentuch Kühlung. Der Raum füllte sich sofort mit allen Wohlgerüchen Arabiens.

„Ottinka! Beliebe! Man wartet!“

„Auf mich?“ Der Kaufherr stand müde auf.

„Wie denn? Auf Murussi! . . . Hast du mit Katja gesprochen? Ja? Nun — und? . .“ Madame Gebauer fächelte sich gespannt und erregt. „Hat sie endlich ihre Maske fallen lassen? Was sagst du? Sie war schonungslos ehrlich wie immer? . . . Ottinka . . . du alter Träumer . . .“

„Ich wollte, ich träumte . .“, sagte Otto Gebauer in Gedanken und liess den letzten Papierfetzen in den Korb fallen.

„Selbst Gottes Allmacht“, sprach asthmatisch seine beleibte Gattin Melanie, „kann kein so verrücktes Mädchen schaffen, dass es nicht innerlich tanzt und springt, bei der Aussicht, Madame Murussi zu werden! Dies, mein Freund, geht gegen die Natur! Ah — unsere Katja ist nicht dumm! Sie weiss, was sie will! Verneigen wir uns vor ihrem natürlichen Instinkt! Sie stellt sich spröde — das Kätzchen — weil alle Anderen mit beiden Händen zugreifen würden, und sie wohl weiss, dass es gerade der Gegensatz ist, der auf blasierte Männer wirkt! Bitte! . . Bitte!“ Sie spreizte gereizt die reichberingten Finger. „Mit Männern weiss ich Bescheid . .“

„Gewiss, meine Liebe.“ Der alte Herr nickte gottergeben.

„Die Männer machen mir nichts vor! Euch kenne ich!“

„Niemand, Melanie, im Zimmer widerspricht!“

,,Euer Gnaden!“ Der deutsche Diener, ein Bauer aus einem der schwäbischen Kolonistendörfer draussen in der Steppe, meldete es herbeieilend mit dem rauhen tiefen. Stimmenklang eines Deutsch-Russen der niederen Stände. „Herr Murussi kommt!“

Die weisse Staubwolke auf der Strasse näherte sich viel geschwinder als die anderen Wagen bisher. Sie schoss dahin. Zwei galoppierende Gäule, rechts und links, rissen mit auswärts gestellten Köpfen das leichte Gefährt über Steine und Löcher. Zwischen ihnen schnellte ein Orloff-Rappe die Vorderbeine in unwahrscheinlich flinkem, scheinbar mühelosem Trab. Sein langer, seidener Schweif flog. Der graue Wotansbart des Kutschers, wehte. Der Kranz von Pfauenfedern auf feiner Mütze flatterte. Breithüftig, unförmlich auswattiert lenkte der alte Russe, auf dem Bock vorgebeugt, mit abgespreizten Ellbogen, die sausende Troika haarscharf um die Krümmung der Vorfahrt und brachte sie mit einem unsichtbaren Ruck zum Stehen. Der finstere riesige Leib-Tscherkesse in kaukasischer Tracht, der neben dem Kuticher sass, sprang vom Bock. Die Dienerschaft stürzte heraus. Je vornehmer der Gast, desto wilder, nach russischem Brauch, die Beflissenheit. Aristide Murussi fühlte den langen, weissleinenen Staubmantel und die weisse Schirmkappe weggerissen. Zwei Stubenmädchen knieten rechts und links und wedelten mit dem Flederwisch die bestaubten Lackschuhe blank. Ein Greis hockte und bürstete den Staub von den glockenförmig weiten Beinkleidern, die ebenso wie der lange, scharf in die Taille geschnittene Glockenrock ein eigentümliches, sterbendes Violett zeigten. Ein Tatar haschte nach den Handschuhen. Der schwäbisch-russische Diener öffnete feierlich die Türe und liess den ungekrönten Steppenkönig eintreten.

Murussi lächelte dabei schüchtern und unsicher. Er war immer etwas verlegen. Er blieb so bescheiden an der Schwelle stehen, als sei er der Hauslehrer. Er legte mit einer leichten, fast frauenhaften Anmut, den Kopf ein wenig auf die Seite, während er sich, befangen wie ein junges Mädchen unter fremden Blicken, gegen die Anwesenden verneigte. Er hatte eine schmächtige, zierliche Gestalt. Auffallend kleine Hände und Füsse. Sein Gesicht besass die gelbliche blutleere Farbe, die klassische, tote Regelmässigkeit, die schönen grossen dunklen Glasaugen der Wachsköpfe in den Schaufenstern der Haarkräusler. Er trug einen kleinen aufgedrehten schwarzen Schnurrbart über dem weichen kleinen Mund, und das glänzend schwarze, fest anliegende Haar nach Lämmchenart in der Mitte gescheitelt.

Er näherte sich schweigend und ehrerbietig Madame Gebauer und führte ihre Rechte an seine Lippen. Er begrüsste ebenso stumm und respektvoll die anderen Damen. Er ging herum und schüttelte jedem der Herrn angelegentlich und heftig die Hand — auch denen, die er noch gar nicht kannte, — so wie ein weltfremder Prinz, den man gelehrt hat, gegen jedermann leutselig zu sein und niemanden durch Übersehen zu kränken. Dann reichte er schwach lächelnd Katja Gebauer den Arm zu Tisch.

Auch hier sprach er nur spärlich und leise ein paar alltägliche Worte. Der Staub . . . Das neue Variété-Programm in der Sobranje — Das Konzert im Alexanderpark — die Wärme des Meerwassers. Der jüngste Makrî, der still in seiner grünen Gymnasiasten-Uniform unten am Tisch futterte, hätte es ebenso gut äussern können. Wenn man Aristide Murussi näher ansah, merkte man, dass er gelebt hatte. Es waren blaue Schatten des nächtlichen Spielers unter den Augen, seine Linien an den Schläfen des Fünfunddreissigjährigen. Das Haar am Wirbel zu einer Pariser Tonsur gelichtet. Auch sein schnelles, lispelndes Französisch war ein Echo der Boulevards.

„Man verschickt mich morgen nach Sibirien, Maurice!“ sagte er, auf eine Frage des jungen Sinai. „Ich muss auf mehrere Wochen in das Donez-Becken — vielleicht noch weiter . . . bis an den Don.“

„Was machst du denn da, mein Kleiner?“

„Es ist der reine Jahrmarkt da unten — eine Menagerie“, schrie der junge Malbasá über den Tisch. „Kosaken — Armenier — Schwaben — Herrenhuter — Tataren — Tschinowniks — Mennoniten — Dromedare — wilde Hunde — Katzerlaken — Flöhe . . . Fahre lieber nach Paris!“

„Man verlangt mich jedoch im Osten, Pauluscha.“ Der Krösus sprach es unruhig und scheu und schaute dabei unsicher seitwärts, nach dem Fenster. „Es sind da diese Bergwerke . . . die vielen Fabriken . . . die Ländereien . . . Es wurde die neue Bank gegründet . . . Ich bin jahrelang nicht dort gewesen . . . Diese Direktoren sind unbequem. Sie verlangen, dass ich mich einmal zeige . . . besichtige . . Unterschriften leiste . . . Was willst du machen? . . . Ich bin in der Hand dieser Franzosen und Deutschen und Engländer . . .“

Aristide Murussi brach ab und blickte auf das Tischtuch, in der offenbaren Reue, schon zu viel von seinen Reichtümern geredet zu haben, obwohl an der ganzen Tafel um ihn herum ausnahmslos wenigstens einfache Rubel-Millionäre sassen. Einer von ihnen, der Deutsch-Russe Wollbaum, ein grosser, ruhiger Mann mit dem Sonnenbraun des eifrigen Sumpf- und Steppen-Jägers meinte:

„Es ist ein wahrer Segen, wenn Sie einmal nach dem Rechten sehen und nicht immer im Ausland leben! Man bestiehlt Sie notwendig an allen Ecken und Enden, Murussi!“

„Dazu ist er doch auf der Welt!“ rief die schöne Madame Kobeko mit ihrem naivsten rehäugigen Unschuldsgesicht. Sie konnte sich diese Offenherzigkeit erlauben. Sie galt für seine letzte Geliebte. Und in dem zustimmenden Schweigen umher lag etwas wie ein allgemeines Einverständnis, dass Aristide Murussi einer der unnützesten Kostgänger Gottes sei — selbst an dem Massstab einer halben Levantestadt wie Odessa gemessen. Die hübsche Presnjakowa beugte sich über den Tisch vor und zeigte ihre weissen Zähne.

„Verteidigen Sie sich doch, Herr Murussi!“ lachte sie in ihrem russisch gefärbten Französisch. „Reden Sie! Man wartet! Warum sprechen Sie nicht mit Katja? Katia sitzt neben Ihnen!“

„Katja ist selber stumm wie ein Seebutt!“

„Katja denkt an ihren Sohn!“ verkündete Mademoiselle Sinai. „Sie hat nämlich einen Sohn!“

„Fräulein Sinai — Ich möchte doch bitten . .“, sagte der alte Gebauer trocken. Ausser ihm fand niemand etwas an dem Scherz.

„Jawohl! Einen bereits neunzehnjährigen Sohn! Sascha Kersting in Lyon! Was? Sie wäre seine Cousine? Nein! Sie ist seine Mutter! Er darf nichts ohne ihre Erlaubnis tun! Er darf keine Geliebte haben — der arme Junge . .“

„Natürlich darf er!“ Katja Gebauer zündete sich zwischen zwei Gängen eine Papyros an und rauchte. „Er soll sogar! Er soll sich nur die Hörner ablaufen! Er hat schon zwei, wie es scheint, ganz reizende, kleine französische Frauen gehabt!“

„Du bist gut!“ rief die Kobeko sittlich entrüstet. „Und du selber? Hast du einen Geliebten? Nein! Sie hat keinen! Hatte nie einen! Andere aber . . .“

„. . . Bloss heiraten soll er nicht!“ Katja blies den Rauch durch die feinen Nasenflügel. „Denn das ist Unsinn!“

„Heiraten ist Unsinn?“ Die Damen schrieen und lachten. Aristide Murussi sass schwermütig und schweigend, mit einem weichen leidenden Gesichtsausdruck. Natalie Kobeko tauchte den rosigen kleinen Finger in ihren Champagnerkelch und spritzte Katia ein paar Sektperlen ins Antlitz.

„Warte nur, du Nonne!“ meinte sie dabei augenzwinkernd. „Auch Sebastopel musste schliesslich kapitulieren!“

Katja wischte sich zerstreut die eisigen Tropfen von der Wange und tat, als hörte sie nicht auf die Klein-Russin, sondern auf die alten Herren oben am Tisch, die sich über die unhaltbaren Zustände in einem der Schwarze-Meer-Häfen unterhielten. Cherson oder Batum oder . . . kurz: es gab da einen zweiten Zolldirektor, einen Balten, der nicht stahl! Einfach nicht stahl. Er liess sich nicht bestechen. Man konnte sich nicht mit ihm einrichten . . . Er störte direkt das Geschäft . . .

„Aber so sind diese Deutschen!“

„Wir werden noch auf reichsdeutsche Zustände kommen!“ sagte, sich mit den anderen vom Tisch erhebend, der Grossindustrielle Makrî, schwarz wie ein Neapolitaner, ein auffallend hässlicher Mann. „Nun — wie ist es mit einer Partie Billard?“

Die jungen Leute räkelten sich auf der schattigen Gartenveranda, rauchten, schwatzten deutsch, französisch, russisch, wie es kam. Die Damen klatschten leise und fieberhaft miteinander, die Herren sagten ihnen mit toternsten, ehrerbietigen Gesichtern Zweideutigkeiten in die Ohren, sie kicherten und Klapsten strafend mit dem Fächer, ihre Verehrer lachten. Maurice Sinai, der Führer der Odessaer Goldenen Jugend, gab plötzlich ein Zeichen, zu schweigen, und verkündete geheimnisvoll:

„Dort drüben promenieren Murussi und Katja!“

Ein allgemeines „Ah!“

„Dort, wo die Heuschrecken fliegen — ganz am Ende des Parks . . . Bereiten wir unsere Glückwünsche vor . . .“

„Oder unser Beileid an Murussi, Maurice!“ Die schöne Madame Kobeko blinzelte träge wie eine Katze in die Ferne.

„Wie denn das? Katia verdiente ja Prügel, wenn sie . .“

„Ich kenne ihre eigensinnige Haltung . . . . mit dem Kopf im Nacken! . . . Das ist kein gutes Zeichen.“

„Jetzt verschwindet das Paar im Akaziengebüsch!“

„Also ich . .“, begann, mit unverhohlenem Neid, die hübsche Presnjakowa und hielt inne.

Diese Akazien schloffen den Choutor Gebauer ab. Gleich dahinter dehnte sich unvermittelt, flach wie eine Tenne, unendlich die Steppe. Jetzt, im Frühjahr, wogte sie in leuchtendem Grün. Die heisse Luft flimmerte darüber. Es war da kein Baum mehr, kein Strauch zu sehen. Nur drüben, hinter der Grossen Fontäne, die Zwiebelkuppeln eines orthodoxen Klosters, und in der Ferne — ein ungewohntes Bild im Heiligen Russland — der lange, spitze lutherische Dorfkirchturm der schwäbischen Kolonie Klein-Liebenthal.

„Aber nein, Katja!“ sagte Murussi gedämpft, mehr noch weinerlich und bekümmert als innig. „Ich liebe Sie wirklich!“ „Sie haben schon viel geliebt.“

„Anders, Katja. Anders. Mein Gott — Was waren denn das für Geschichten? Reden wir nicht davon!“

Katja Gebauer blieb stehen, schaute ihn offen an und frug:

„Warum muss ich’s denn gerade sein?“

„Hören Sie doch, was man Ihnen sagt: Ich liebe Sie! Ich gebe es Ihnen seit einem Vierteljahr zu verstehen! Ganz Odessa redet von nichts Anderem . .“

„Die Gesprächsstoffe Odessa’s werden auch schwerlich auf die Nachwelt kommen!“

„Was bin ich denn für ein Mensch?“ meinte, ohne auf ihre Antwort zu achten, Aristide Murussi eifrig im Weitergehen . . „Tauge ich zu etwas? Bin ich ein nützliches Glied der Gesellschaft? Nein! . . . Mein Leben waren Dummheiten! Ich war, Katja, in den Händen schlechter Frauen! Seit meinem siebzehnten Jahr hat man mich verdorben . . . .“

„Jetzt sind Sie doch allmählich alt genug, Herr Murussi!“

„Ich werde, wenn ich altere, erst die grösste Dummheit machen!“ Der verlebte Steppenkrösus zog angstvoll die Brauen hoch, unter denen die schönen, weichen Augen traurig wie die eines schwermütigen Tiers dunkelten. „Wer wird mich schliesslich einfangen? Eine italienische Sängerin! Eine Tänzerin des Petersburger Ballets! Irgend eine von diesen Gottlosen! Sie sind raffiniert — diese Sünderinnen! Sie sind stärker als ich! Ich kenne mich: Gott hat mich schwach geschaffen!“

„Was kann ich dafür?“

„Sie, Katja, sollten mich vor diesem Schicksal bewahren, der Mann einer Unwürdigen zu werden!“ Er suchte im Gehen ihre Hand zu ergreifen. „Jeder, der es gut mit mir meint — meine Familie — Alles redet mir zu . . . Begreifen Sie: Ich muss, wenn ich mich in den Schutz einer Frau flüchte, ungefähr in meiner Welt bleiben. Es gibt da Frauen genug. Aber unter diesen Frauen sind Sie ein weisser Rabe. Sie sind anders wie die Anderen, Katja! Jeder weiss es. Jeder achtet Sie! Leichtsinnige Elstern wie die Kobeko, bessern sich durch Ihren Verkehr. Katja — Sie glauben ja gar nicht, was mich diese Frau zuletzt ennuyierte. Ich war froh, als ich sie los war. Sie hat ja keine Seele. Eine Puppe. Buntbemalt, mit Baumwolle gestopft. Ach — diese Sperlinge alle . . . Sie, Katja — sind ruhig. Sie sind rein. Sie sind klar . . . Gott schenkte es Ihnen! Sie sind seine Gnade uns Sündern schuldig . .“

„Sehen Sie . . die Fata Morgana . .“ Katja’s weisse Hand wies in die Weite. Unendlich dehnte sich die Schwarze Erde Südrusslands. Violetter Dunst umschleierte den Horizont. Dicht darüber schwammen grosse Segelschiffe in der milchig-trüben, fahlblauen, unbewegten Luft.

„Nun — lassen wir das! Wir kennen es . . .“

„Es ist merkwürdig — beinahe unheimlich: Diese Schiffe sind kein Spiegelbild von Schiffen draussen auf dem Meer! Es sind wieder — wie neulich — dicke, schwere Ostindienfahrer aus dem achtzehnten Jahrhundert.“

„Gut denn! Gott will das so! . . . In welcher Gesellschaft war ich, Katja? Nichtswürdige umgaben mich. Auch unter den Männern. Ich hatte keine Freunde! Sie, Katja, haben das Talent zur Freundschaft — auch zu Ihrem künftigen Mann — Sie verstehen so vieles . .“

„Bloss mich selber nicht!“ sagte Katja.

„Sie sollen mein Freund werden! Bisher hatte ich Freundinnen. Pfui. Mir ekelt vor dieser Welt! Sie sollen zugleich meine Frau und meine Freundin sein. Sie sehen: Ich rede gar nicht als ein sehr reicher Mensch, sondern als ein sehr armer Mensch, der Hülfe benötigt . .“

„Sie sind sich über Ihren Zustand merkwürdig klar, Herr Murussi!“

„Ich bin verbraucht. Ich bin blasiert. Ich bin übersättigt.“ Aristide Murussi fing beinahe an zu weinen. Er rang kummervoll die Hände. „Ich sage das alles! . . Ich treibe dem Abgrund zu. Ich bin — gestehen wir es uns, Katja — ein grässlicher Mensch. Ich werde an mir zu Grunde gehen, wenn ich mich nicht an einem anderen Menschen aufrichte. Da sind nun Sie! Sie sind auch nicht mehr ganz jung . . .“

„Nein. Fünfundzwanzig.“

„Sie haben sich bisher Ihre Wahl vorbehalten. Sie haben schonungslos Körbe ausgeteilt. Sie haben sich für etwas Besonderes im Leben aufgespart. Nun — hier stellt Ihnen das Leben eine Preisaufgabe wie von der Akademie der Wissenschaften in Petersburg, einen von Haus aus nicht schlechten, armen Sklaven Gottes zu retten, dem Reichtum, schlechte Erziehung und schlechte Gesellschaft zum Verhängnis wurden! Sie können da so viel Gutes stiften wie eine Heilige! . . Meine Familie meint das auch! Katja — heben Sie mich Unglücklichen aus dem Schlamm! Seien Sie meine Wohltäterin!“

Mit süssem Duft füllten die Akazien die glühende Luft. Ringsum war das grosse russische Schweigen. Leuchtend kornblumblau und meergrün, ein flimmerndes Juwel, flatterte drüben der Märchenvogel der Steppe, die Mandelkrähe, und verflog. Katja sagte ruhig:

„Sie kennen die Frauen, Herr Murussi! Sie berechnen sich ganz genau, dass eine unserer besten Eigenschaften und gefährlichsten Schwächen das Mitleid ist!“

„Wollen wir zum Grab meiner Eltern gehen? Ich werde die Hand über die Photographien auf dem Grab legen und schwören, dass ich es ehrlich meine!“

„In diesem Augenblick — das glaube ich! Aber wie lange? Sie sagen selbst: Sie sind schwach!“

„Sie sollen meine Stärke sein! Mein Gott — Wem allem brauchte ich nur zu winken: Russinnen, Deutschen, Französinnen — nein ich komme zu Ihnen . . .“

„Überlegen Sie doch: Wir Gebauer sind — gegen Sie — einfach arme Millionäre . . .“

„Meine Familie empfängt Sie mit offenen Armen! Sie dankt es Ihnen, wenn Sie mich retten! Wollen Sie einen lebenden Leichnam aus mir machen? In Paris gibt es im Klub solche geschminkte, siebzigjährige Fossile! Menschen, die ihr Leben vergeudet haben und nur noch herumgehen, weil sie nicht wissen, dass sie längst tot sind. Soll man von einem solchen Gespenst auch einmal sagen: ,C’était le beau Murussil’? Durch Ihre Schuld?“

„Trotz alledem,“ sagte Katja, „sehe ich nicht ein, warum ich mich gerade opfern soll! Ich bin doch keine barmherzige Schwester, Herr Murussi! Ich bin doch auch ein Kind dieser Welt!“

Aristide Murussi’s glattes, mattes und melancholischschönes Antlitz war überhaupt keines eigentlichen wechselnden Ausdrucks fähig. Es verharrte ein für allemal in seiner bleichen, wachsgeformten Regelmässigkeit. Trotzdem glitt jetzt ein Schatten von Unruhe, von Leben darüberhin. Er schaute Katja forschend und traurig ins Gesicht und schwieg. Plötzlich versetzte er leise:

„Ich werde Sie jetzt nicht fragen, ob Sie meine Frau werden wollen. Denn Sie würden mich abweisen. Ich sehe es Ihnen an.“

„Ja.“

„Deswegen stelle ich diese Frage nicht und habe auch keine Antwort darauf empfangen, Katja! Sondern ich habe nur eine Bitte an Sie: Wenigstens wollen wir vorläufig Freunde werden . . . Das dürfen Sie mir nicht abschlagen. Denn es ist ein gutes Werk . . . .“

„Es gibt ja keine solche Freundschaft, Herr Murussi!“

„Sie bemuttern diesen kleinen Vetter in Lyon — Sie halten ihn vor unüberlegten Streichen zurück. Nun — was Ihnen bei diesem Kind recht ist — Seien Sie meine Schwester, Katja! Meine barmherzige Schwester! . . Lesen

Sie in meiner Seele . . Tadeln Sie mich . . Weisen Sie mich auf den rechten Weg! Ich werde Ihnen die Hände küssen . . .“

Den kleinen Sascha hat die böse Welt noch nicht verdorben!“ sagte Katja und lachte, während sie beide langsam nach dem Haus zurückgingen. „Er ist leichter zu erziehen, als Sie es wären, Herr Murussi! Ich fürchte, das ginge über meine Kräfte!“

„Überlegen Sie sich meine Bitte!“ Aristide Murussi blieb noch einmal, mit einer geschmeidigen Schulterbewegung, stehen. „Ich habe mich entschlossen! Ich trete diese unglückliche Reise nach dem Don sofort an! Ich finde noch gerade den Zug! Ich werde dort in Asien oder Halbasien stets an Sie denken. Ich bin ein Spieler — leider Gottes! Eben deswegen setze ich nicht alles auf einmal aufs Spiel. Ich werde, sobald mich meine Direktoren freilassen, zurückkehren. In ein paar Wochen sieht man mich wieder in Odessa! Dann werde ich meine Frage an Sie wiederholen . . Entschuldigen Sie mich bei Ihren Eltern! Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mich zu verabschieden. Ich werde um das Haus herumgehen und wegfahren!“

Der Orlofftraber schleuderte seine Vorderbeine! Das Pfauenspiel auf der Kutschermüsse wirbelte im Wind der Fahrt. Eine Staubwolke. Fort . . . Katja Gebauer atmete auf und trat in das Haus. Es war da zur Rechten ein Wartezimmer für Kleinbürger, hebräische Kommissionäre, Stadtsoldaten und derlei. Abgewetzte, rot, grün und golden lackierte russische Bauernstühle mit geschnitzten Pferdeköpfen als Lehnen standen in einer Reihe an der Wand. Es roch scharf nach Schafpelzen, Stiefeltran und Leder, obwohl niemand in dem Raum war als Otto Gebauer selbst. Er hatte seine Freunde in der anstossenden Zimmerflucht im Stich gelassen. Man hörte durch die geschlossene Tür das Klappern der Billardbälle und gedämpftes Gespräch.

„Ich sah dich kommen!“ sagte er erregt und leise zu der Tochter. „Nun? . . . . Warum zuckest du die Achseln? Warum antwortest du nicht? Was hat sich entschieden?“

„Nichts! . . Bitte gib’ mir doch ’mal eine Papyros . . Ich hab’ meine irgendwo . . Danke!“ Katja zündete sich eine Zigarette an und versetzte zwischen den ersten Zügen: „Ich kann doch nicht helfen! . . . Es ist immer noch in der Schwebe: Er begriff, dass seine Aktien nicht gut standen. Er liess es nicht erst darauf ankommen. Er reist jetzt eben in den Osten. Aber er kommt wieder. In ein paar Wochen!“

In den Augen des alten Kaufherrn leuchtete ein Hoffnungsschimmer auf.

„Und dann, Katja?“

„Nun . .“ Katja streifte die Asche ab. „Es ist die alte Leier.“

„Du hast Zeit zu überlegen, was du . . .“

„Ich weiss jetzt schon, was ich ihm sagen werde: Natürlich ,Nein‘!“

„Den ganzen Vormittag hat es gestern im Poltawaschen Gouvernement geregnet!“ sprach nebenan Eugen Malbasá mit tiefer Stimme.

„Zwei Stunden nur! Ich habe hier die Depesche!“

Die alten Millionäre ereiferten sich. Denn wenn es glücklich einmal in der Steppe regnete, regnete es Gold. Jeder Tropfen wurde zu einem gelben Weizenkorn auf den tageweiten Getreideflächen der Schwarzen Erde.

„Denkst du denn gar nicht an deine Pflicht?“ frug halblaut in dem Bauernzimmer. Otto Gebauer seine Tochter.

„Gewiss doch! Pflichten hat man vor allem gegen sich selbst.“

„Ein Mädchen hat die Pflicht zu heiraten! Es ist ihre Aufgabe im Leben!“ Der alte Herr fasste plötzlich mit einem jähzornigen Griff die Hände Katja’s.

„Nu — Papal Du quetscht mir ja die Finger . . .“

„Ich bestehe darauf, dass du . . .“

„Wo nimmst du denn auf einmal die Kraft her? . . Autsch doch!“

„Ich bestehe darauf, dass du Murussi nimmst . .“

„So lass mich doch los!“ Katja blies sich auf die rotangelaufenen Nägel . . . „Schlage mich doch lieber schon gleich! Ich bin ganz starr! Papa — was ist denn mit dir?“

„Verzeihe! Ich bin zu weit gegangen! Ich sehe ein!“ Der Erbliche Ehrenbürger setzte sich matt auf einen der bunten Bauernstühle. „Aber ich werde alt! Ich habe Sorgen, die man mir abnehmen muss. Ich brauche einen Schwiegersohn im Geschäft.“

„Papa — nun sage ’mal selber,“ Katja rauchte, „glaubst du im Ernst, dass Aristide Murussi sich jemals bei dir als junger Mann im Kontor nützlich machen würde?“

„Es handelt sich nicht um Hülfe bei der Arbeit, mein Kind! Da finde ich Leute!“ Der alte Herr sprang wieder auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. „Es handelt sich um Kapital! Ich brauche Kapital . . . . . .“

„Du?“ Katja riss die Augen auf. „Das ist das Neuste!“

„Du bist vernünftig genug, darüber zu schweigen!“

„Na — ich werde doch nicht unsere Geschäftsgeheimnisse auf dem Boulevard Richelieu ausschreien!“ sagte die Tochter gleichmütig.

„Es weiss es niemand ausser dir in Odessa . . . . und . .“ Otto Gebauer kämpfte mit sich, warf einen vorsichtigen Blick nach der Nebentüre und murmelte nur noch: „Und mein Vetter Tschereuth in Wien . . . . .“

„Was hat denn der Onkel Leopold damit zu schaffen?“ frug Fräulein Gebauer verwundert. Sie sass gelassen und etwas gelangweilt auf dem harten Bauernstuhl und dehnte den schlanken Körper nach rückwärts, die Hände über dem dunklen Haarknoten des Hinterkopfes verschlungen, die Papyros schief im Mundwinkel.

„Meinen Sie mit ,Cif’!?“ frug es nebenan.

„Ja. Ich werde Ihnen die Konnossemente schicken . . . Wie? . . . Aber ich bitte Sie: Man braucht doch bis dahin noch keine Eis-Klausel.“

„Was das meinen Vetter Leopold angeht?“ sprach Otto Gebauer gedämpft. „Er hat mir von heut auf morgen ein gewisses Kapital gekündigt!“

„Das würde ich doch nicht so tragisch nehmen!“ sagte die geschäftskundige Tochter.

„Ich kann es ihm so Knall und Fall nicht wiedergeben . .!“

„Das kommt doch in den besten Familien vor! Haben wir doch schon alles erlebt, Papa! Da wartet der Onkel eben ein Weilchen!“

„Das tut er diesmal nicht! Er drängt — wegen des Krachs in Wien!“

„So lass’ ihn doch treten! Was soll er denn machen?“

„Er kommt nächstens persönlich nach Odessa!“

„Und wenn er da ist, schreit Ihr erst eine Stunde aufeinander ein — dann rechnet Ihr zusammen still eine Stunde — und dann fahrt Ihr Arm in Arm in den Alexanderpark soupieren! Kenn’ ich doch!“

,,Diesmal, Katja, ist das anders!“

„Wieso?“ Katja Gebauer zuckte als praktischer Kaufmannssprössling die Achseln. „Sehr viel hat dir Onkel Leopold sicher nicht geborgt. Dazu ist er viel zu altmodisch und behutsam.“

„Nein. Sehr gross ist der Posten nicht!“

„Na also gibst du ihm einen Wechsel und zahlst in drei Monaten. Wenn Onkel Leopold besonders misstrauisch ist, will er vielleicht dein Hauptbuch sehen. Nun — dann zeigst du ihm eben in Gottesnamen schwarz auf weiss, dass du nicht so aus heiler Haut . . .“

,,Ich zeige ihm mein Hauptbuch nicht! Was schwatzest du da von Dingen, von denen du nichts verstehst! Du bist albern wie eine Trappe, Katja . . .“

„Na — Hör’ mal, Papa . . . .“

„Mein Hauptbuch zeigen? Onkel Leopold? Diesem Krämer? Bist du denn verrückt? Schweige! Was rede ich auch mit einem dummen Mädel über solche Sachen . . . .“

„Du . . Papa . . .“

„Was schaust du mich denn so an?“ Otto Gebauer wich vor der Tochter zurück, die mit grossen Augen auf ihn zutrat. Sie folgte ihm. Sie frug zwischen den Zähnen:

„Papa . . . . Steckt da nicht noch am Ende ’was dahinter?“

„Ich verbiete dir, Katja . . . .“

„Du bist so ganz anders als sonst! . . Das kommt ja sonst gar nicht vor, dass du mich anschreist, als sei ich der Dwornik! Ich habe auf einmal Angst, Papa . . . .“

„Beruhige dich . .“

„. . . . als ob da noch etwas im Hintergrund wäre . . . Mehr . . Irgend ein Geheimnis . . . .“

„Man soll eben mit Frauen nicht über Geldsachen sprechen!“ sagte Otto Gebauer trocken. Er war jetzt ganz der alte nüchterne Kaufherr. „Ihr habt einen zu unruhigen Kopf für Handelsbücher und Zahlen. Gleich phantasiert Ihr! Geh’ jetzt, Katja! Es eilt ja nicht. Das hat alles noch Wochen Zeit.“

Katja blickte den Vater zweifelnd an. Dann schwand langsam die Unruhe von ihren schönen Zügen.

„Komisch wie einem plötzlich so eine planlose schwarze Ahnung aufsteigt“, meinte sie unsicher. „Verzeih’ — es war ja dumm von mir! . . Du warst nur plötzlich wie ausgewechselt . .“

„Ich bereue selbst diese Unfälle von Gereiztheit, Kind, die ich früher nicht kannte! Es sind die Nerven bei mir. Die sind krank. Es lastet zu viel auf mir! Nun gib mir einen Kuss, meine gute, alte Katja, und sage mir, dass du mir nicht böse bist.“

,Ach . . Papa . . Zürne du nur nicht mir . . .“ sprach Katja weich. Vater und Tochter küssten sich. Dann ging sie beruhigt aus dem Zimmer und die Treppe hinauf in ihre Gemächer.

„Mein lieber kleiner Sohn Sascha!“ schrieb sie da hastig. „Ich überlasse die beau monde von Odessa unten im Garten ihrem Schicksal und schicke Dir so rasch wie möglich, durch einen Boten zum Abendzug ins Ausland heute, diese Zeilen, damit Du sie noch rechtzeitig vor der Schiffstaufe in Marseille kriegst und Dich nicht dort leichtsinnig an Dein alleineustes Flämmchen verplemperst!

„Du bist erst neunzehn Jahre, mein Saschachen! Da ist die Liebe noch ein Strohfeuer und noch nicht das stille Herdfeuer der Ehe und noch weniger — Gott behüte! — das Flammenmeer der grossen Liebe. Oder Gott gebe — Ich weiss wirklich nicht, was man sich wünschen soll. Für ein Kind wie Dich ist es jedenfalls noch nichts.

„Anders ist das ja bei einem alten Fräulein wie mir. Gerade heute. Du — ich hätte heute eine der reichsten Frauen Russlands werden können! Aber ich sage Dir, Sascha: Heilige Dein Herz — so wie ich vorhin ,nein‘ gesagt habe — Lebe die Liebe . . Wart, bis sie wirklich kommt! — und so lang sie nicht da ist, lebe ohne die Liebe — die Natur hat ja offenbar deswegen für Euch Männer kleine Nebenkammern des Herzens geschaffen, so wie es im Morgenland Nebenfrauen gibt — aber fülle die grosse Leere innen im Herzen nicht mit einem unwürdigen Ersatz — so wie wenn ich mich heute für Geld, für viel Geld verkauft hätte, oder wie wenn Du in Deiner Unschuld den Nezots ins Garn schwimmst. Denn sie wollen nur Dein Geld — Dein vieles Geld. Ob das Klosterpüppchen den Fischzug selber mitmacht, weiss ich nicht. Aber alle anderen dort — glaube mir — halten das Netz! Sei vernünftig, mein Kindchen — ich beschwöre Dich, schwimme ihnen lachend davon! Lasse Dich nicht einfangen — nicht von den Marseillern und nicht von Deinem viel zu heissen Herzen, und kränke nicht Deine besorgte, arme kleine Mama!“

Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes

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