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Schweiz, 1965

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Wir wohnten in einem kleinen Bauernweiler mit einer Handvoll Häusern, der ungefähr fünf Kilometer von einer Kleinstadt entfernt lag, weil mein Vater dort ein günstiges Zimmer gefunden hatte. Von hier fuhr er die diversen Baustellen an, auf denen er arbeitete. Zu dieser Zeit begann mein Vater ein neues Hobby: Er kaufte sich eine Modelleisenbahn. Schon in frühester Kindheit hatten mich Züge aller Art fasziniert, umso stolzer war ich, als ich zusammen mit meinem Vater eine ganze Anlage aufbauen konnte. Unsere Eisenbahn war für mich das tollste Spielzeug überhaupt.

Ich erinnere mich gut an meinen ersten Schultag in der Schweiz. Die Schule lag mitten in der Landschaft auf einer kleinen Anhöhe und die Schüler strömten aus den vielen Weilern der Umgebung herbei. Die Lehrerin empfing mich freundlich und zeigte viel Einfühlungsvermögen. Zunächst sollte ich mich vorstellen. Das tat ich natürlich in breitestem Wienerisch. »Der Ruedi hat einen anderen Dialekt als ihr«, sagte die Lehrerin zu meinen Mitschülern. »Bitte nehmt Rücksicht auf ihn. Schon bald wird er auch unseren Berner Dialekt sprechen können.« Ich fühlte mich wohl und akzeptiert. Schnell fand ich Freunde, deren Väter überwiegend als Bauern arbeiteten. Wir spielten Fangen, bauten uns aus Ästen und Zweigen ein Hüttchen am Waldrand und schlürften dort Pfefferminztee. Eine echte Idylle.

Leider war es damit bald wieder vorbei. Als ich sieben Jahre alt war, geriet mein Vater mit den Bauern in Streit. Sie beschuldigten ihn des Diebstahls. Er stritt die Vorwürfe ab und erklärte, er habe keinen Diebstahl nötig. Doch eine Zukunft an diesem Ort war nur noch schwer denkbar. Deshalb kam es ihm gerade recht, dass sein Chef ihn fragte, ob er zum weiteren Autobahnausbau in die Ostschweiz versetzt werden wolle. Mein Vater nahm das Angebot an.

Ein weiteres Mal hieß es umziehen. Aus der Idylle des Berner Oberlandes, wo ich mich sowohl in der Schule als auch mit meinen Freunden sehr wohlfühlte, ging es nun in den Kanton St. Gallen in der Ostschweiz.

Hier brach für mich eine Zeit des Leidens und der Zurücksetzung an. So warm mich meine Lehrerin im Berner Oberland in Empfang genommen hatte, so viel Kälte schlug mir in der Schule im Kanton St. Gallen entgegen. Ich weiß noch wie heute, wie unser Lehrer das Klassenzimmer betrat. Ein hagerer Typ, groß gewachsen, kühler Blick, bieder in braungraue Anzüge gekleidet, die Krawatte durfte niemals fehlen. Herr Steinbeis hieß er, und sein Name war Programm. Er hatte eine regelrecht fiese Art. Damals schrieben die Schüler noch mit Feder und Tinte, kurz bevor die Schulen auf die heute gängigen Füllfederhalter umstellten. Wenn wir Grundschüler uns beim Schönschreiben zu sehr verkrampften, traf uns sofort der strenge Blick des Lehrers. »Du machsch Chnötli, du schriebsch falsch!«, giftete er und schlug uns mit dem dreißig Zentimeter langen Vierkantlineal auf die Finger. Verständlicherweise fürchteten wir uns, wenn er mit seinem Lineal während eines Diktats in den Stuhlreihen auf und ab ging.

Vor allem auf die Ausländerkinder hatte er es abgesehen, denn er war Mitglied der Partei Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat (kurz NA), die mit rassistischem Gedankengut auffiel und 1967 schließlich einen Sitz im Nationalrat erringen konnte. Der unfreundliche Lehrer machte aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Er plagte uns Ausländer, wie er nur konnte, und er maß eindeutig mit zweierlei Maß. Die Italiener nannte er »Tschingge« 1 und meinte, dass sie am besten sofort in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollten. Er zog sie an den Ohren und haute sie auf den Hinterkopf. Dass die Schweiz ihre gut ausgebaute Infrastruktur vor allem den fleißigen Gastarbeitern zu verdanken hatte, kümmerte ihn nicht.

Ich konnte mittlerweile recht gut Schweizerdeutsch sprechen, aber seinen Erwartungen konnte ich trotzdem nicht gerecht werden. Als ich wieder einmal nicht schön genug geschrieben hatte, schlug er mir mit voller Wucht auf die Fingerspitzen. Ein brennender Schmerz lähmte meine Hand. Aber noch mehr verletzten mich seine Worte: »Du bist zurückgeblieben! Du bist behindert!«

Behindert? Ich? Kinder können ohnehin nicht mit Sarkasmus umgehen, aber Herr Steinbeis meinte seine Diagnose ernst. Er wiederholte gegenüber meinen Eltern, dass ich offenkundig geistig behindert sei, da ich auch allgemein schlechte Noten hatte. Eine Farce eigentlich, aber meine Eltern waren erschüttert. Schließlich hatten auch sie als Ausländer Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, wenn die NA an Einfluss gewinnen sollte. Mein Vater schärfte mir ein: »Sei brav, damit wir nicht aus der Schweiz rausfliegen, wir wollen doch hierbleiben.« Das leuchtete mir ein. Mein Vater konnte hier die Familie besser versorgen und die Schweiz gefiel mir, deshalb wollte ich auch gerne hierbleiben, obwohl ich so unter dem Lehrer litt.

Tag für Tag musste ich mir Tiraden eines Lehrers anhören, der mich für minderwertig hielt, ebenso wie meine italienischen Mitschüler. Obwohl ich mir viel Mühe gab, kritisierte er mich ständig. In der zweiten Klasse stürzten meine Leistungen derart ab, dass ich begann, die Schule zu schwänzen. Besonders das Fach Mathematik bereitete mir Schwierigkeiten. Dass meine Schwäche im Umgang mit Zahlen einmal dazu beitragen würde, dass ich eine Bank überfalle, hätte aber wohl selbst Herr Steinbeis nicht gedacht.

Ich passte damals schlicht nicht ins System, war überfordert von dem, was verlangt wurde, und Herr Steinbeis war eher hinderlich als hilfreich. Ich schweifte in Gedanken oft sehr weit ab vom Unterrichtsgeschehen und träumte vom Opapa-Garten, vom Hof im Berner Oberland, an den ich so viele schöne Erinnerungen hatte. Ich schaute oft aus dem Fenster, bis ich – zack! – wieder einen Steinbeis’schen Zusammenschiss der übelsten Sorte bekam.

Heute weiß ich, dass die Pädagogen damals viel zu stark an Defiziten hingen und zu wenig auf die Ressourcen sahen. Wer ständig nur beschimpft und auf seine Schwächen reduziert wird, kann kaum eine selbstsichere Persönlichkeit entwickeln. Als heutiger ADHS-Coach gehe ich stark davon aus, dass bei mir wohl auch eine solche Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vorlag. Damals kannte man diese Diagnose noch nicht, ich galt schlicht als »Zappelphilipp«. Natürlich brauchen Kinder eine gewisse Strenge, aber diese sollte sich nicht durch Affekte, Wut- oder gar Gewaltausbrüche äußern, sondern durch Konsequenz und gleichzeitige Empathie. Kinder brauchen Leitplanken, um den richtigen Weg zu finden, aber wir müssen ihnen als Erzieherinnen und Erzieher, als Eltern und Lehrkräfte immer wieder bestätigen: »Ich hab dich gern, du bist ein tolles Kind und du hast gerade in diesem und jenen Bereich tolle Fähigkeiten.«

Auszubildenden rate ich, sich immer drei positive Eigenschaften über ein Kind zu merken, das sie betreuen. Wenn sie dann Kritik äußern müssen, sollten sie das Sandwichverfahren anwenden: Erst das Positive loben, dann das Negative ansprechen und mit einem Verbesserungstipp garnieren, um mit einem Hinweis auf das Positive zu enden. Der heranwachsende Mensch merkt so: Es geht um die Sache, nicht um mich als Person. Ich bin wertvoll, auch wenn ich nicht alles schaffe.

Ab der zweiten Klasse begann ich, mich zurückzuziehen. Ich fühlte mich als einsamer Wolf, begab mich gerne in Traumwelten und las viel. Vor allem faszinierten mich Geschichten von Verstoßenen, die sich durchkämpften und in der Welt durch ihre Kraft behaupteten. Das Buch »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler verschlang ich gleich mehrfach.

Wanja ist im ganzen Dorf als Taugenichts und Faulpelz bekannt. Er sondert sich ab und futtert Sonnenblumenkerne, bis er eines Tages genug Kräfte gesammelt hat, um auf einer lange vorbereiteten Wanderung die härtesten Prüfungen zu bestehen. Schließlich rettet er die Dorfbewohner vor einem schrecklichen Ungeheuer, wehrt sich gegen böse Räuber und alle Unbill dieser Welt, hebt einen Schatz und heiratet die Tochter des Zaren. Ein Ausgestoßener, der mit ungeheurer Stärke und Willenskraft beweist, dass ihn alle unterschätzt haben – darin fand ich mich wieder. Wanja, das war ich, das wollte ich sein!

Vor allem von meinen Eltern fühlte ich mich damals verlassen. Wenn ich eine schlechte Note bekam, schimpfte meine Mutter mit mir. Wenn ich eine Strafaufgabe machen musste und mein Vater davon Wind bekam, verprügelte er mich. Regelmäßig kam ich mit einer 1 oder 2 nach Hause, in der Schweiz die schlechtesten Zensuren. Ich wusste, dass mein Vater mich schlagen würde, deshalb machte ich auf dem Nachhauseweg viele Umwege, baute aus Lehm und Blättern einen Staudamm am Bach, verspätete mich um Stunden. Doch all das half nichts. »So, in die Stube mit dir!«, sagte mein Vater, wenn ich nach Hause kam. »Was hast du diesmal angestellt?« Er schloss die Tür, damit meine Geschwister mich nicht sahen, meine Schreie hörten sie trotzdem.

Leider war es für ihn mit ein paar gezielten Schlägen nicht getan. Mein Vater gab mir erst eine Backpfeife und beschimpfte mich: »Du bist ein Versager!« Dann redete er sich in Rage, schlug mich währenddessen immer wieder, boxte mich in meine Schulter, den Rücken und den Oberschenkel. Manchmal zückte er seinen Ledergürtel. »Bitte nicht, ich will mich bessern«, flehte ich. Aber es knallte einfach nur. Manchmal kam es mir vor, als arbeite er sich eine ganze Stunde an mir ab, aber es waren wahrscheinlich nur zehn bis fünfzehn Minuten. Danach verkroch ich mich ins Bett und fühlte mich unfassbar einsam.

»Du bist ein Versager!« Das brannte sich in mir während meiner Grundschulzeit ein.

Meine Schwester war eine hervorragende Schülerin, meine Eltern förderten sie nach Kräften. Ich hingegen fühlte mich als Nichtsnutz und zog mich in meine Welt zurück. Neben den Büchern waren das auch meine Modellflugzeuge. Ich konnte stundenlang in diese besondere Welt eintauchen. Vor allem Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg hatten es mir angetan. Wenn ich etwas Geld gespart oder zum Geburtstag bekommen hatte, zog ich sofort in den Spielwarenladen und besorgte mir ein neues Modell. Die Firma Faller verkaufte damals Bausätze aller möglichen Autos, Schiffe und Flieger. Die kleineren hatten eine Spannweite von zehn Zentimetern, die größeren wie das Space Shuttle mit mehreren Hundert Teilen maßen bis zu vierzig Zentimeter.

Wenn ich die Packung öffnete, stieg meine Freude ins Unermessliche. Aus einem Plastikrahmen schnitt ich die vorgestanzten Teile heraus. Die besonders filigranen Teile wie die Antenne, das zerbrechliche Fahrwerk oder die Fensterscheiben manövrierte ich in Engelsgeduld mit einer spitzen Pinzette aus dem Rahmen. Anschließend fügte ich die Teile nach einer Anleitung in stundenlanger Arbeit mit Spezialklebstoff vorsichtig zusammen. Später lackierte ich den Flieger, ich zog feine Linien und tupfte die Tarnfarben auf, unten Waldgrün, oben Himmelblau. Ich fügte die Hoheits- und Geschwaderabzeichen hinzu, bis schließlich das fertige Prachtexemplar vor mir stand.

Ich genoss das Gefühl tiefer Zufriedenheit, wenn ich wieder ein neues Flugzeug fertiggestellt hatte, »Stukas«, die Sturzkampfflugzeuge vom Typ Ju 87, Messerschmitt-Jagdflugzeuge oder auch größere Bomber. Mit meinen eigenen Händen hatte ich etwas geschafft! Das gab mir Selbstvertrauen. Mein Lieblingsflugzeug war die britische Spitfire, von der ich gleich mehrere Modelle in verschiedenen Größen hatte. Sie war für mich die Vollendung eines Flugzeugs, die geschwungenen Linien ließen das Modell so aussehen, als sei es aus einem Guss. Britisches Design at its best.

Während ich das Modell in der Hand hielt, stellte ich mir vor, selbst im Cockpit zu sitzen und in 8 000 Metern Flughöhe die wolkenlose Freiheit zu genießen. Auch die militärische Stärke zog mich an. Einmal den engen Räumen dieser Welt zu entfliehen und mich selbst mit eigener Stärke zu beweisen, das war mein großer Traum.

Mein Vater arbeitete nach seiner Stelle im Straßenbau als Mechaniker bei der Swissair, der stolzen Airline der Schweiz. Manchmal nahm er mich mit in die Werft und ließ mich die großen Flieger bestaunen. Dafür liebte ich ihn. Doch immer wieder hatte ich auch unter seinen Wutausbrüchen zu leiden. An einen der schlimmsten erinnere ich mich noch sehr gut.

Ich weiß nicht mehr, was seine Tirade ausgelöst hat. Vielleicht hatte ich wieder eine schlechte Note nach Hause gebracht, vielleicht hatte ich nicht aufgeräumt. Manchmal brachte er seinerseits den Arbeitsfrust mit nach Hause und ließ seine schlechte Laune an mir aus. Jedenfalls stand mein Vater an diesem Tag in meinem Zimmer und schimpfte sich in Rage. »Du Nichtsnutz! Du kannst nichts! Du bist faul!« Solche Vorwürfe musste ich mir oft anhören. Ich verzog mich sofort in meine Bettecke, in der Hoffnung, seinen Schlägen zu entgehen. Tatsächlich prügelte er mich diesmal nicht. Etwas viel Schlimmeres geschah. Mein größter Schatz erweckte seine zornige Aufmerksamkeit: meine Modellsammlung!

Er brüllte, ging zu meinem Büchergestell und zertrümmerte meine Flugzeuge. Zusammen mit den mühsam aufgebauten Modellen zerbrach eine Welt in mir. Normalerweise schluckte ich meine Tränen hinunter, doch dieser Schlag des Vaters tat mehr weh als alle Tritte und Ohrfeigen, die er mir bisher verpasst hatte. Ich heulte und heulte, während ich auf dem Boden saß und mit zitternden Fingern erfolglos versuchte, die zerbrochenen Plastiksplitter wieder zusammenzusetzen. Ich hatte mit meinen eigenen Händen etwas geschaffen, auf das ich stolz war. Und mein Vater hatte es mir wieder genommen. Ich war nicht einmal wütend, sondern ich war zutiefst verletzt. Ich wünschte mir, er hätte mich windelweich geschlagen, statt meinen Stolz zu zerstören.

Und nicht nur das: Mein Vater, der an den großen Fliegern herumbastelte, war mein Vorbild. Und nun hatte er meine Gehversuche im Kleinen mit einem Faustschlag zermalmt.

In der dritten und vierten Klasse hatte ich glücklicherweise einen sehr viel besseren Lehrer. Das Fach Mathematik bereitete mir weiterhin Schwierigkeiten, aber Herr Widmer zeigte Verständnis für mich und er konnte uns Kinder für den Schulstoff begeistern. Besonders im Geschichtsunterricht hingen wir an seinen Lippen. Wenn er vom Mittelalter erzählte, von Burgen, Königen und Schlachten, fühlte ich mich hineinversetzt in eine längst vergangene geheimnisvolle und beeindruckende Zeit. Ich stellte mir vor, wie ich als Ritterknappe durch die Gegend zog, um ein Abenteuer nach dem anderen zu erleben und mit dem Schwert in der Hand für Gerechtigkeit zu sorgen.

Stattdessen brachte ich durch meine Experimente Menschen in Lebensgefahr. In unserer Kleinstadt hielt ich mich gerne am Bahnhof auf und sah den Eisenbahnen beim Rangieren zu, wie schon früher im Opapa-Garten. Um die großen Lokomotiven in der richtigen Position zu fixieren, benutzten die Arbeiter einen sogenannten Hemmschuh. Das ist ein keilförmiger Klotz aus schwerem Stahl, meist rot oder gelb lackiert. Er wiegt sechs bis acht Kilo, hat also durchaus ein Gewicht, das man in den Armen spürt, wenn man damit hantiert. Doch gegen die tonnenschweren Kolosse, die auf den Schienen vor- und zurückfuhren, war ein solcher Bremsschuh natürlich nichts. Nur durch seine besondere Konstruktion, durch die die Räder der Lok blockiert werden, kann er eine Lok zum Stillstand bewegen. Mich faszinierte es, wie ein solch kleiner Klotz eine so große Wirkung entfalten wollte. Deshalb fasste ich einen verheerenden Entschluss, der in der Folge meinem Leben eine andere Richtung geben sollte: Ich wollte auch einmal eine Lokomotive zum Stillstand bringen!

In einem unbeobachteten Moment hievte ich einen der für mich enorm schweren Hemmschuhe aus dem Ständer und bugsierte ihn unter großer Anstrengung auf die Gleise. Ich wollte auf den nächsten Zug warten und beobachten, was geschehen würde. Konnte ich mit meinem Hemmschuh eine Lokomotive aufhalten?

In meiner kindlichen Naivität kam es mir nicht in den Sinn, dass ich mit meiner Aktion ein großes Zugunglück herbeiführen könnte.

Plötzlich hörte ich panische Schreie. Ein Mann hatte mich beobachtet, war zum Stationsvorstand gerannt und hatte Alarm geschlagen. Jetzt ging alles ganz schnell. Eisenbahnarbeiter sprinteten herbei, laute Rufe, ein paar Männer rissen den Hemmschuh von den Gleisen.

Kurz darauf standen sie um mich herum und schimpften: »Was hast du dir dabei gedacht?« »Das hätte ein riesiges Unglück geben können!« »Weißt du denn überhaupt nicht, was du beinahe angerichtet hättest?«

Nein, das wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum die Männer schimpften. Ich wollte doch nur ein Experiment wagen, und dabei hatte ich kaum etwas anderes gemacht als die Arbeiter.

In Windeseile waren Polizisten vor Ort. Sie riefen meinen Papa an, der sofort antraben musste. Langsam offenbarte sich der Ernst der Lage. In wenigen Minuten wäre ein Schnellzug angerast. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre er entgleist, ein beispielloses Unglück hätte sich ereignet. Menschen wären schwer verletzt worden oder hätten sogar sterben können.

Die Polizisten meldeten den Fall umgehend an die Schulbehörde, die wiederum meinen Lehrer Herrn Widmer informierte. Dieser empfahl eine umfassende psychologische Untersuchung.

»Ruedi musste gemeldet werden, weil er in der Schule zerstreut, träumerisch und leistungsschwach erschien«, notierte der Schulpsychologe am 16. Dezember 1969. »Zudem rief er durch sein selbstvergessenes Spielen auf den Geleisen des Bahnhofs die Polizei aufs Tapet. Ein vorläufiges Audiogramm fiel leicht auffällig aus, sodass ich die Mutter auf Anraten von Herrn Direktor Dr. Ammann an die pädaudiologische Klinik in St. Gallen gewiesen habe.«

Die Erwachsenen hielten mich für verrückt. Der Ruedi Szabo, hat der einen Sprung in der Schüssel?

Zur Beobachtung sollte ich für drei Monate in ein Kinderheim gehen. Dieses war nur etwa eine Viertelstunde von meinem Zuhause entfernt und doch fühlte es sich viel weiter an, denn meine Familie war nicht bei mir. Als mein Vater mit mir an der Hand zu der Einrichtung ging, weinte ich. Ich fühlte mich verlassen, auf mich allein gestellt, und das ausgerechnet, weil mit mir offenbar etwas nicht stimmte.

»Hör auf zu plärren, sei ein Mann«, sagte mein Vater. Und das tat ich.

Obwohl ich mich so unsicher fühlte, war ich auch neugierig: Was würde mich hier wohl erwarten? Zum Kinderheim gehörte neben dem großen L-förmigen Hauptgebäude im Stil der 1960er-Jahre ein wesentlich älteres Haus, das einst als reguläres Schulhaus gedient hatte. In den Schulräumen wurden nun die »schwer erziehbaren« jungen Menschen unterrichtet: wir. Mit drei anderen Kindern teilte ich mir meine Stube. Wir schliefen in flachen Betten und teilten uns zu viert einen großen Bettkasten, dazu durfte noch jeder eine kleine Kommode für persönliche Habseligkeiten nutzen.

Im Kinderheim herrschten klare Regeln, vor allem beim Essen. Wir wurden in feste Dienste eingeteilt, Abwaschen und Tischdecken, und vor jeder Mahlzeit mussten sich alle Kinder in dem großen Speisesaal aufstellen und so lange warten, bis es mucksmäuschenstill war. Erst dann durften wir uns hinsetzen. War das geschehen, rief der Heimleiter: »En guate!«, und wir durften losmampfen. Dabei herrschte eine strenge Etikette, die ich von daheim nicht gewohnt war. Im Zentrum stand das Wort »bitte«: »Dürfte ich bitte ein Stück Butter haben?« »Würdest du mir bitte eine Schnitte Brot reichen?«

Häufig gab es einen festen Brei aus Maisgrieß. Dieser war grottenschlecht, kein Vergleich zu der Polenta, die ich von italienischen Köchinnen kannte. Ich saß vor meinem Teller, schob mir langsam einen Löffel von dem Zeug in den Mund und bekam sofort einen Brechreiz. Ich aß nicht auf, sonst hätte ich mich wohl übergeben. Niemand zwang mich dazu und abends würde es ja etwas Neues geben, dachte ich. Weit gefehlt: Als ich mich abends an den Tisch setzte, stand an meinem Platz wieder diese Pampe, die die Köche hier für Polenta hielten. Und am folgenden Morgen ebenfalls – so lange, bis ich alles aufgegessen hatte.

Trotz dieser unangenehmen Seite fühlte ich mich überraschend wohl. Meine kindliche Angst, aus dem familiären Umfeld herausgeworfen und in der Einsamkeit gelandet zu sein, verflog mit jedem Tag etwas mehr. Meine Stubenkameraden waren nett, und die Erwachsenen waren anständige Menschen. Zwar herrschten strenge Regeln, aber geschlagen wurden wir nicht. In dieser Zeit war das nicht selbstverständlich. Die Pädagogen behandelten uns freundlich. Vormittags hatten wir Schule, nachmittags gab es allerhand Freizeitaktivitäten – allerdings unter Anleitung der Erzieher. Wir bauten ein Baumhaus, spielten Fußball und Verstecken, machten eine Schnitzeljagd. Außerdem kümmerte sich eine Psychologin um mich. Ich musste viel zeichnen, was mir aber auch Freude bereitete, denn ich zeichnete überaus gern.

Bei einer Sitzung holte die Psychologin einen großen Baukasten hervor. Darin fanden sich viele Spielsachen und Figuren: Bäume, Autos, Schiffe, alles Mögliche. »So, Ruedi, dann bau einfach mal etwas damit auf«, sagte sie. »Bau einfach, wonach dir ist.«

Ich dachte an meinen Vater. Sonntags schaute er immer die Übertragung der Formel-1-Rennen im Fernsehen. Damals war das noch ein lebensgefährlicher Sport. Als er uns für ein Jahr verlassen hatte, hatte er für eine kurze Zeit als Techniker in der Formel 1 gearbeitet. Also reihte ich die Fahrzeuge hintereinander auf, als beginne gleich der Große Preis von Deutschland auf dem Nürburgring. Die Bäume säumten die Rennstrecke, immer neue Elemente baute ich an die Formel-1-Piste. Während ich mich beim Spielen vergnügte, beobachtete die Psychologin mit geschultem Blick, wie ich die Sachen aufbaute und wie ich damit umging. Sie stellte mir andauernd Fragen: »Bist du das Auto?« »Ist dein Vater das Auto?«

Erst nach Jahrzehnten bekam ich Einblick in den Bericht des Kinderheims. Ich war schockiert, als ich las, dass ich all die Jahre ein anderes Bild meiner Kindheit gehabt hatte als die Pädagogen und Psychologen. Diese schätzten mich als neurotischen Jungen ein, der unter einer »assoziativen Frühverwahrlosung mit schizoider Charakterentwicklung« litt – eine Formulierung, die Fachleute wohl heute so nicht mehr wählen würden. Mich traf sie sehr. Die Zeit bei den Pflegetanten hatte sich aus fachlicher Sicht offenbar sehr negativ bemerkbar gemacht. Die Mitarbeiter des Heims hielten mich anfangs für äußerst schwierig, aggressiv, kaum zu bändigen. So habe ich mich nicht in Erinnerung und ich weiß nicht, ob die Diagnose richtig war. Aber wenn jemand die Psychologen vom Kinderheim gefragt hätte: »Können Sie sich vorstellen, dass der Ruedi mal eine Bank überfällt?«, dann hätten sie vielleicht mit Ja geantwortet.

Lange Zeit hatte ich die Schläge meines Vaters für meine Entwicklung verantwortlich gemacht. Ein zweiter Grund war jedoch offensichtlich, dass ich in den ersten beiden Jahren meines Lebens völlig entwurzelt war, hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Betreuungspersonen, wobei die Pflegetanten mich obendrein auf eine Weise behandelt haben, die man nur als schwere Misshandlung bezeichnen kann.

Als die drei Monate im Kinderheim zu Ende gegangen waren, war ich froh, wieder nach Hause zu dürfen. Die ganze Familie war gekommen, um mich abzuholen: Mama, Papa, Schwester und Bruder. Was für eine Freude!

Bei der ersten Mahlzeit daheim bat ich: »Würdest du mir bitte das Brot reichen, Papa?«

»Warum nimmst du es dir nicht einfach?«, fragte mein Vater, den meine neu erworbene Höflichkeit sichtlich verdutzte.

»Das habe ich eben so gelernt!«

Meine Eltern hat diese Wandlung sicherlich beeindruckt, ich selbst war einfach erleichtert, endlich wieder in mein gewohntes Umfeld zurückzukehren, auch wenn die Zeit im Kinderheim keine Qual für mich bedeutet hatte. Dennoch war es ein weiterer Einschnitt in meinem bis dato unsteten Leben, der noch einen weiteren nach sich zog. Während meiner Abwesenheit hatte ich im regulären Unterricht zu viel versäumt. Da ich in Klausuren ohnehin schlecht abschnitt und schon vorher regelmäßig schlechte Noten nach Hause gebracht hatte, konnte ich nicht versetzt werden und musste die vierte Klasse wiederholen.

Nach dieser Ehrenrunde kam ich zum ersten Mal mit meiner späteren Leidenschaft in Berührung: dem Militär. In der Ostschweiz gehören die 5. und die 6. Klasse noch zur Primarschule, erst danach folgt die weiterführende Schule. Unser Lehrer Emil Steiger war ein ehemaliger Offizier der Armee. Das merkten wir vor allem beim Turnen. Dort mussten wir in Viererkolonnen im Gleichschritt zu Marschmusik marschieren. Heute mag das eine ulkige Vorstellung sein, doch uns machte das damals großen Spaß. »Richtuuuuuuung, links!«, brüllte Herr Steiger über unsere Köpfe. Wir bogen brav links ab, während wir versuchten, einigermaßen mit den Füßen im Takt zu bleiben. Es folgten Turnübungen und Ballspiele.

Herr Steiger war ein guter Pädagoge und er förderte mich sehr. Er merkte, dass ich gute Aufsätze schrieb, mich in Mathematik aber nach wie vor schwertat. Statt nun ständig auf meinen Schwächen herumzureiten, lobte er mich in den Bereichen, in denen ich gut war. Beispielsweise holte er mich nach einem guten Aufsatz nach vorne und lobte mich vor der ganzen Klasse. »Schaut mal, diesen Abschnitt hat der Ruedi besonders einfallsreich formuliert. Der Satzaufbau ist hervorragend.«

Die Art, wie er meine Stärken hervorhob und damit meine Schwächen kaschierte, steigerte meinen Selbstwert als Schüler ungemein, sonst fühlte ich mich ja eigentlich als Versager. Dazu kamen Herrn Steigers mitreißende Erzählungen im Geschichtsunterricht, ein Fach, das er als altgedienter Militär umso packender vermitteln konnte. Auch dem Gleichschritt im Sportunterricht konnte ich viel Positives abgewinnen. Plötzlich war ich im wörtlichen Sinne nicht mehr Einzelgänger, sondern wurde Teil einer Gemeinschaft: Wir marschierten gemeinsam, keiner blieb zurück.

Das Gefühl, ein Versager zu sein, stellte sich jedoch jedes Mal wieder ein, wenn ich eine schlechte Note nach Hause brachte. In der siebten Klasse hatte ich einen Lehrer, der mir dieses Gefühl zeitweise nehmen konnte. Pädagogisch ging er sehr geschickt und liebevoll mit mir um. Wenn ich den Schulbetrieb einmal wieder zu stark gestört hatte, gab er mir keine Strafarbeit, sondern sagte: »Ruedi, du rennst jetzt einmal bis zum Waldrand und wieder zurück!« Die zwei Kilometer absolvierte ich mit Leichtigkeit und die Bewegung tat mir gut. Offenbar hatte Herr Hangartner erkannt, dass ich, ein »Zappelphilipp«, in manchen Situationen körperlich unausgeglichen war und daher meine überschüssige Energie in die Störung des Unterrichts investierte. Wenn ich nach meinem Straflauf nun zum Erstaunen meines Lehrers und meiner Mitschüler schon nach kurzer Zeit wieder in der Tür des Klassenzimmers stand, genoss ich es, etwas geschafft zu haben. Zudem konnte ich mich viel leichter konzentrieren.

Herr Hangartner hatte ein gutes Händchen. Dass er ein tiefgläubiger Christ war, erfuhr ich erst später. Heute glaube ich, dass er einer von einer ganzen Reihe jesusgläubiger Menschen war, die Gott in mein Leben gestellt hat.

Als ich in der sechsten oder siebten Klasse war, wurde meine Schwester in dem Hochhaus, in dem wir wohnten, überfallen. Sie wollte in unser Stockwerk fahren, aber der Aufzug war bereits besetzt und der Mann darin bedrängte und begrapschte sie. Er drückte auf den Knopf, der den Aufzug ins Untergeschoss bringen sollte, wo keiner ihre Schreie hören würde. Meine Schwester wehrte sich nach Leibeskräften gegen den Angreifer. In letzter Minute konnte sie sich losreißen. Sie sprang durch die Tür, die sich bereits schloss, zur Treppe und konnte fliehen.

Wir waren alle sehr schockiert und ich beschloss, dass mir so etwas niemals passieren sollte. Ich wollte mich wehren können. Deshalb meldete ich mich zum Kampfsport an und war darin sehr erfolgreich. Ich begann mit Judo und kämpfte mich bis zum orangen Gürtel hoch. Judo ist allerdings ein sehr defensiver Kampfsport, sodass ich mich mit der Zeit nach etwas Härterem sehnte. Ich wollte meine körperliche Fitness noch besser ausspielen können. Niemand, vor allem niemand in meinem Alter, sollte mich überwältigen können.

Zunächst testete ich Jiu-Jitsu, bis ich schließlich zu Aikido fand. »Aikido« könnte man interpretieren mit »Mit der Kraft des anderen siegen«. Es ist zwar ebenfalls eine defensive Kampfkunst, aber es setzt schon an, bevor der Angreifer seine Attacke ausgeführt. Der Aikido-Kämpfer beobachtet genau, was der Gegner plant. Wenn dieser angreifen will, wird er sofort daran gehindert. Der Angreifer muss blitzschnell umschalten, wenn er durch den Schwung nicht überwältigt werden will – und hat oft sehr schnell verloren. Aikido-Kämpfer bewegen sich dabei höchst elegant und souverän.

Mit der Kraft des anderen siegen – das gefiel mir. Mit dem Training wurde ich agiler, widerstandsfähiger, stärker. Ich war es gewohnt, meine Kräfte mit anderen zu messen. Dass mir meine Athletik schon bald sehr nutzen würde, hätte ich nicht gedacht.

Ein ganz normaler Tag. Gerade hat die Schulglocke geläutet. Hunderte vergnügter Schüler freuen sich, endlich wieder nach draußen zu können. Doch als sich die freudigen Massen in Bewegung setzen, kommt der Strom plötzlich ins Stocken. Ich befinde mich relativ weit vorne, nahe dem Ausgang. Warum geht es nicht voran? Da sehe ich es: Von den verschiedenen Ausgangstüren ist nur ein einziger Flügel geöffnet. Die Schüler schubsen, stolpern, schieben. Mehrere Hundert Kinder drängen durch eine einzige schmale Tür nach draußen – das kann nicht gut gehen.

Vor dem geöffneten Türflügel staut es sich. Einzelne Jungen und Mädchen werden gegen die Wand gedrückt, versuchen irgendwie durch die enge Tür zu gelangen. Dann: ein Schrei! »Hilfe!« Ein Kind liegt am Boden. Ein zweites. Ein drittes. Eine Massenpanik bricht aus. Die Jungen und Mädchen trampeln über die am Boden Liegenden hinweg. Wie kann es ohne echte Gefahr zu einer Massenpanik kommen? Jeder will nur noch seine eigene Haut retten. Ich erschrecke: Die werden die Kinder doch wohl nicht zertrampeln? Ich drücke mich irgendwie zu den Kindern durch, die von Füßen malträtiert werden, und stemme mich mit meiner ganzen Kraft gegen die Massen wie ein Wellenbrecher gegen die aufgescheuchte See. Lange werde ich das nicht durchhalten, das weiß ich. Angestrengt schaue ich nach unten zu den schmerzverzerrten Gesichtern: »Schnell! Weg hier!« Die Kinder rappeln sich auf, schnappen kurz nach Luft – und stolpern nach draußen. Es dauert nur wenige Sekunden. Länger hätte ich dem Druck auch nicht standgehalten. Meine Kräfte versagen. Ich lasse mich nach draußen treiben. Erschöpft ringe ich nach Atem, als ich auf dem Schulhof stehe. Die Kinder sind gerettet. Oder besser: Ich habe sie gerettet.

Ja, gerettet hatte ich sie. So wie der starke Wanja, über den ich in meinem Kinderbuch gelesen hatte. Wanja, der sein Dorf vor Monstern geschützt und dabei übermenschlichem Druck getrotzt hatte. Das hatte ich auch getan. Und wie bei Wanja hätte wohl nie jemand damit gerechnet. So empfand ich es damals zumindest in meiner kindlichen Vorstellung. Ein Teil meiner Märchen-Traumwelt wurde auf diese Weise Wirklichkeit und dieses Erlebnis erfüllte mich mit einem Stolz und einer Zufriedenheit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Ich fühlte mich plötzlich wirklich stark. Die große Gefahr hatte gedroht, mich zu überwältigen, aber ich hatte die Bedrohung mit maximaler körperlicher Anstrengung überwunden. Stärke als Problemkiller, das brannte sich tief in mein Herz ein.

Eine Last wurde ich allerdings weiterhin nicht los: Die Schläge meines Vaters, der mir ja immer noch körperlich deutlich überlegen war. Ich litt so sehr unter seiner Hand, dass ich schier verzweifelte. In meiner Not dachte ich darüber nach, wer mich von diesen Schlägen erlösen könnte. Vielleicht Gott?

Ich kannte die katholische Kirche aus Österreich, die evangelische vor allem aus der Schweiz. Tischgebete gehörten zum Standardprogramm meiner Familie, auch wenn der Glaube an sich in unserem Familienalltag kaum vorkam. Eine persönliche Beziehung zu Gott hatte ich nicht. Aber ich sah mich in einer so schwierigen Lage, dass ich beschloss, geistlichen Beistand zu suchen. Ich dachte: »Wenn es einen Gott gibt, muss er doch einen Weg wissen, wie ich der Gewalt meines Vaters entfliehen kann!«

Ich wandte mich an den Pfarrer unserer evangelischen Kirchengemeinde, den ich vom Religionsunterricht kannte. Ich muss nicht erwähnen, welche Überwindung es für einen Teenager bedeutet, von sich aus den Kontakt zu einem fast fremden Erwachsenen zu suchen, noch dazu zu einem Würdenträger. Aber ich hoffte so sehr, dass er sich bei mir gegenüber meinen Eltern einsetzen würde, dass ich es wagte. Ich bekam einen Termin und saß ihm wenig später gegenüber.

Ich erzählte von den schlechten Noten, davon, wie ich auf dem Heimweg absichtlich trödelte, weil ich Angst hatte, nach Hause zu kommen. Ich berichtete dem Pfarrer, wie fest und wie lange mein Vater mich schlug. Er hörte mir zu, doch dann empfahl er mir allen Ernstes, das Gespräch mit meinem Vater zu suchen. Er betete für mich, sprach einen Segen. Das »Amen« beendete nicht nur das Gebet, sondern auch unser Gespräch. Anstatt zu handeln, laberte der Pfarrer nur. Worte statt Taten, ein paar aufmunternde Sätze statt echter Hilfe – ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen und wurde mit ein paar Schulterklopfern nach Hause geschickt, wo ich die häusliche Gewalt weiter fürchten musste. Mir wurde immer klarer: Ich werde mir nur selbst helfen können. Und ich würde meine Kampfkünste dafür einsetzen.

Gewalt darf nie ein Mittel der Erziehung sein. Wer seine Kinder schlägt, gewöhnt sie an Gewalt, schafft Distanz, schürt Ängste, zerstört Vertrauen, wertet sie ab. Kinder brauchen klare Regeln, sie müssen Konsequenzen kennenlernen, natürlich. Doch ihre Eltern müssen sie auch schützen. Kinder, die Vater und Mutter als unbeherrschte Aggressoren erleben, leiden bis ins Erwachsenenalter darunter. Es hemmt ihre Beziehungen, konditioniert sie, sich zu ängstigen, wenn sie vermeintliche Fehler begangen haben – und lässt sie später oft selbst zu Gewalttätern werden. Dieser Kreislauf muss unbedingt durchbrochen werden.

Heute werde ich manchmal in Schulen eingeladen, um mein Lebenszeugnis an Jugendliche weiterzugeben. Den jungen Menschen rate ich dringend, sich Hilfe zu holen, wenn sie Gewalt erfahren haben. Niemand soll sich schämen, Opfer von Gewalt geworden zu sein. Jeder Mensch verdient es, gewaltfrei aufzuwachsen. Es gibt vereinzelt Christen, die Schläge in der Erziehung mit Versen aus dem Buch der Sprüche rechtfertigen – als ob man aus ein paar einzelnen Versen konkrete Erziehungsmaßnahmen ablesen könnte, die auch nach Jahrtausenden und in einer völlig anderen Kultur alternativlos gültig sind! Sie irren. Christen haben die Aufgabe, Menschen in Not beiseitezustehen, auch wenn sie dabei selbst in die Schusslinie geraten.

Als ich in der achten Klasse war, wendete sich die Beziehung zu meinem Vater. Ich weiß gar nicht mehr, warum er mich verprügelte, aber es lief ab wie schon viele Male vorher: Er haute mir im Stehen eine runter, boxte und schlug mich, bis ich zu Boden fiel. Das hielt ihn nicht davon ab, mich weiter zu malträtieren. Jedes Kind lernt, dass man einen, der am Boden liegt, in Ruhe lässt, aber mein Vater schlug weiter. Er bearbeitete mich mit Händen und Füßen, trommelte auf meinen Rücken und Po. Der dumpfe Schmerz, den ich schon so oft erfahren hatte, durchströmte meinen Körper.

Am Boden liegend sah ich in sein zorniges Gesicht. Gerade wollte er wieder zum Tritt ausholen – da klappte plötzlich ein Schalter in mir um. Ich hob meinen Fuß zu einer Abwehrbewegung, die ich im Aikido gelernt hatte – »Mit der Kraft des anderen siegen.« Mit voller Wucht trat mein Vater gegen meine Schuhsohle. Er jaulte auf und sein Gesicht verkrampfte sich vor Schmerz. Dann sackte er auf einem Stuhl zusammen und hielt sich ächzend das Bein.

Ich stand auf und sah ihn einfach nur an. Die Schmerzen spürte ich kaum noch, so zufrieden war ich. Wortlos wandte ich ihm schließlich den Rücken zu und ging auf mein Zimmer. Ich hörte noch, wie er mit meiner Mutter sprach, doch das kümmerte mich nicht.

Mein Vater hatte sich den Fuß gebrochen. Tagelang konnte er nicht arbeiten, über Wochen humpelte er herum wegen dieses »Fehltritts«, dessen Folgen er nun vor aller Augen ausbaden musste. Es war das letzte Mal, dass mein Vater seine Hand – oder seinen Fuß – gegen mich erhob. Wenn er mir zürnte, schrie, tobte, wütete er, aber er schlug mich nicht mehr. Mich bestärkte diese Erfahrung einmal mehr in dem Gedanken: Wehre dich mit all deiner Kraft, dann löst du deine Probleme – zur Not auch mit Gewalt.

Trotz all der Gewalt habe ich meinen Vater nicht gehasst, sondern geliebt. Ob er mich auch liebte, wusste ich nicht. Gesagt hatte er es mir nie, als ich noch ein Kind war. Trotz seiner Wutausbrüche bewunderte ich ihn für das, was er leistete, gerade im Beruf. Als Kinder konnten wir bestaunen, welch riesige Maschinen er wieder in Gang brachte. Wir kletterten auf den großen Baumaschinen herum, die er wartete, später, bei der Swissair, standen wir mit offenen Mündern vor den riesigen Flugzeugen, die mein Vater reparieren konnte. Er war mein Vorbild. Ich wollte einmal so sein wie er.

So ist das wohl bei vielen Söhnen. »Papa kann alles« – mit diesem Denken wachsen Kinder auf. Später verschiebt sich diese Ansicht natürlich. Kein Mensch ist perfekt, das wissen auch Heranwachsende. Trotzdem bleibt die Beziehung zum Vater lebenslang etwas ganz Besonderes. Väter stehen für Herkunft und Heimat. Sie haben uns gezeugt. Durch sie existieren wir. Von ihnen lernen wir fürs Leben. Sie sind die erste Instanz, um zu beurteilen, was gut und richtig ist.

Mein gezielter Abwehrtritt gegen den Fuß meines Vaters markierte das Ende meiner Kindheit. Doch mein neuer Lebensabschnitt begann mit einer Enttäuschung.

Knallhart durchgezogen

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