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2 – HEIMAT Österreich, 1961
ОглавлениеIch bin nackt. Mir ist kalt. Ich habe keine Windel an. Der Steinboden des Kellerraums, in den mich die Pflegetante gesteckt hat, ist von meinem Urin getränkt. Niemand kümmert sich um mich. Ich bin einsam.
Ich höre Schritte, lautes Schimpfen. Eine Männerstimme. Wer ist das? Die Tür geht auf, ein Mann stürmt herein und ruft entsetzt: »Ruedi, was haben sie mit dir gemacht?«
Papa hebt mich hoch und drückt mich an sich. Mit mir auf dem Arm eilt er die Treppe hoch und schimpft: »Und für so einen Scheiß bekommt ihr auch noch Geld! Schämt euch!« Mein Vater ist stinksauer auf die beiden Frauen, die auf mich aufpassen sollten.
Ein Jahr war mein Vater weg gewesen. Nun war er wieder da und er bereute sofort, dass er meine überforderte Mama mit mir allein gelassen hatte. Sie konnte sich ab meinem zehnten Lebensmonat tagsüber nicht mehr um mich kümmern, weil sie arbeiten musste. Also war ich bei den Pflegetanten untergekommen, die dafür bezahlt wurden, dass sie mich versorgten, doch das taten sie nur schlecht.
Später notierte ein Kinderpsychologe in einem Bericht: »Affektive Frühverwahrlosung«. Vom zehnten bis zum sechzehnten Lebensmonat war ich »in ungünstiger Privatpflege mit vier Kleinkindern« untergebracht. Jahrzehntelang tat ich diese Strapazen als etwas ungünstige Betreuungssituation ab. Erst mit den Recherchen für dieses Buch wurde mir bewusst, wie stark mich meine turbulenten ersten Lebensjahre geprägt haben. Bis dahin hatte ich vermutet, dass ich aus einem anderen Grund in die Kriminalität abgerutscht war: die Gewalt durch die Hand meines Vaters und Großvaters. Wer geprügelt wird, der holt selbst irgendwann zum Schlag aus, so dachte ich. Die Spirale der Gewalt.
Und tatsächlich ist da etwas dran, aber heute weiß man sehr viel darüber, wie stark die ersten Lebensjahre die Entwicklung eines Menschen beeinflussen, wenn nicht sogar ein Stück weit vorzeichnen. Dennoch will ich einen Eindruck gleich zu Anfang zerstreuen: Ich sehe mich nicht als Opfer der Umstände, das gar nicht anders konnte, als Banken und Geschäfte zu überfallen. Wer eine schwierige Kindheit hatte, gerät nicht automatisch auf die schiefe Bahn. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass jeder Mensch für seine Taten verantwortlich ist. Auch ich. Wir haben immer eine Wahl. Für das Gute oder für das Böse.
Meine Familie kommt aus Wien, wo ich auch geboren wurde. Meine Omama und mein Opapa konnten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht heiraten, weil er als Ungar dazumal staatenlos war. Trotzdem hatten die beiden acht gemeinsame Kinder und vier aus vorhergehenden Beziehungen. Sie lebten jedoch nicht zusammen. Meine Omama wohnte in der Wiener Innenstadt und fuhr manchmal zum Opapa aufs Land, um bei der Ernte zu helfen.
Meine frühe Kindheit verbrachte ich vor allem an drei Orten: in Wien in der Castellezgasse, auf dem Hof meiner Urgroßmutter in Obersiebenbrunn und bei meinem Großvater väterlicherseits.
Die Castellezgasse liegt in einem jüdisch geprägten Viertel. In direkter Nachbarschaft probten die weltbekannten Wiener Sängerknaben. Doch das war weit weg von meiner Welt. Ich wusste nicht einmal, dass es sie gab. Die Häuser in unserem Viertel waren ursprünglich von Juden erbaut worden. Im Dritten Reich wurden die Besitzer enteignet, nach dem Krieg erhielten sie einen Teil der Siedlungen zurück. Zu Fuß waren es 200 Meter bis zu der sehr bekannten jüdischen »Zwi-Perez-Chajes-Schule«. Mit den jüdischen Jungs spielte ich gerne Fußball, was alles andere als selbstverständlich war. Eigentlich hätten sie sich gar nicht mit einem »Goj«, also einem Heiden wie mir, abgeben dürfen. Aber Kinder sind eben Kinder und denken nicht in diesen Kategorien.
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen stammt aus dem »Opapa-Garten«. Das war das Gebiet rund um den Hof, den mein Großvater bewirtschaftete. Er hielt sich Hühner, außerdem hatte er viele Obstbäume, an denen köstliche Früchte reiften: Aprikosen, Kirschen, Marillen und Zwetschgen. Die Früchte, die Eier und das Hühnerfleisch verkaufte er, aus den Zwetschgen brannte er »Sliwowitz«.
Der Opapa-Garten lag etwa dreißig Autominuten von Wien entfernt in Niederösterreich, in der Nähe von Schwechat. Das Gebiet war schon immer die Kornkammer des Landes gewesen. Unzählige Getreidefelder prägen die relativ flache Landschaft bis heute und versprechen reiche Erträge. Die Bauern brachten damals ihre Ernte zu drei großen Silos an der Donau, um sie den Zwischenhändlern zu verkaufen. Neben den Silos war ein Rangierbahnhof, etwa 80 Meter breit, mit sieben Gleisen, auf denen die Eisenbahn die Ernten von den weiter entlegenen Höfen brachte. Von dort wurden die Erzeugnisse auf Donauschiffen weitertransportiert. Manchmal, wenn die Verladearbeiten abgeschlossen waren, ging Opapa mit mir von dem nur 200 Meter entfernten Opapa-Garten zu den Silos und wischte die Körner auf, die beim Umheben heruntergefallen waren. Später verfütterte er diese an die Hühner. Ich durfte mit meinen fünf Jahren den Futtersack aufhalten, Opapa füllte ihn und ich war mächtig stolz, in dieser Erwachsenenwelt eine wichtige Aufgabe zu haben.
Am schönsten fand ich es aber, den schweren Maschinen bei der Arbeit zuzuschauen. Oft kraxelte ich den etwa fünf Meter hohen Damm hoch, der das Land vor dem gelegentlich auftretenden Donauhochwasser schützen sollte. Von dort oben hatte ich einen hervorragenden Ausblick: hinter mir der Hof meines Opapas, vor mir die Donau und das geschäftige Treiben der Verladearbeiter. Ich konnte stundenlang dort sitzen und beobachten. Vor allem faszinierten mich die Eisenbahnen. Damals, im Jahr 1964, waren es noch dampfbetriebene Lokomotiven, die die Güterwaggons mit der wertvollen Fracht über die Gleise an die Donau schleppten. Weißer Dampf schoss aus den Druckkesseln der schwarzen Stahlkolosse und ich konnte den Rauch der verbrannten Kohle riechen. Nach Feierabend, wenn keiner mehr dort war, schlich ich zu den Silos und turnte todesmutig auf den hohen Verladekränen herum.
Eines Tages, als ich mal wieder auf dem Donaudamm saß und die Aussicht genoss, schaute ein Lokführer aus dem Führerstand heraus und rief mir zu: »Wie heißt du?«
» Ruedi.«
» Ruedi«, fragte der Lokführer, »willst du mal eine Runde mitfahren?«
Mein Herz pumperte vor Freude, ich konnte kaum fassen, dass ein erwachsener Mann, noch dazu im Dienst, einen Knirps wie mich überhaupt wahrgenommen hatte. Natürlich wollte ich mitfahren! Voll Ehrfurcht näherte ich mich dem eisernen Ungetüm, das gefühlt zehnmal so hoch war wie ich, zog mich die Leiter hinauf und schon war ich drin.
Nun sah ich ganz aus der Nähe, wie die Männer die Kohlen in den Bauch der Güterlok schaufelten, die vom Feuer eifrig verzehrt wurden. Dann setzte sich die schwere Lok in Bewegung. Von außen hatte ich sie schon hundertmal beobachtet, doch hier drin wirkte alles so fremd und faszinierend, dass ich mich wie in einer anderen Welt fühlte. Wir fuhren zwei Kilometer weit, es zischte und es fauchte, es war warm und einfach wunderschön. Alles, was geschah, sog ich regelrecht in mich auf, so kostbar empfand ich diese kurze Fahrt. Ein gigantisches Erlebnis für mich kleinen Kerl!
Ich hatte Opapa viel zu berichten. Und auch er erzählte mir viel aus einem Leben, manchmal aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, in der er als Soldat gedient hatte. Ursprünglich stammte er aus der Nähe von Budapest. Zu dieser Zeit gab es noch die kaiserliche und königliche Monarchie Österreich-Ungarn. Opapa wurde gegen Ende des Krieges als 17-Jähriger eingezogen. Mit seiner Einheit wurde er nach Südtirol in den Alpenkrieg gegen Italien geschickt. Dort erlitt er einen Bauchschuss, von dem er sich nur schwer erholte. Die Kriegsverletzung machte ihm auch später immer wieder zu schaffen.
Damals schwor er sich, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. Nach dem Krieg kam er nach Wien und begann, regelmäßig in der Bibel zu lesen. Dennoch war er ein gefürchteter Mann, denn er hatte ein cholerisches Temperament, war jähzornig und verprügelte seine zahlreichen Kinder oft, wenn sie nicht spurten.
Ich selbst hatte noch keine Schläge von ihm bekommen. Umso eindrücklicher war es für mich, als ich das erste Mal seine Wut am eigenen Leib erlebte.
Jeden Freitag nahm mein Opapa alles, was sich im Laufe der Woche an Abfall auf dem Hof angesammelt hatte, schichtete es auf einen großen Haufen und verbrannte es. Natürlich gab es für einen kleinen Bub wie mich kaum etwas Faszinierenderes, als ein prasselndes Feuer zu beobachten. Ich freute mich jede Woche auf die lodernden Flammen, die nach und nach die Zweige, die Blätter und den sonstigen Unrat Stück für Stück verzehrten, bis am Ende nur noch Asche übrig blieb. Diese verstreute der Opapa unter den Obstbäumen, denn sie war ein hervorragender Dünger.
An einem Freitag machte Opapa kein Feuer. Als ich ihn enttäuscht nach dem Grund fragte, antwortete er barsch: »Nächste Woche.«
Ich wollte aber unbedingt das Feuer sehen, daher kümmerte ich mich selbst darum. Irgendwo stahl ich Streichhölzer, schichtete vor dem Heuschober allerhand Brennbares zusammen und zündete es an. Ich muss nicht erwähnen, dass ein Feuer in der Nähe eines Heuschobers keine besonders gute Idee ist, aber als Fünfjähriger macht man sich solche Gedanken nicht. Im Gegensatz zu meinem Opapa. Als er die Flammen sah, eilte er herbei und löschte sie auf der Stelle, bevor sie Unheil anrichten konnten.
Dann kümmerte er sich um mich. In seiner Rage griff er sich einen Stecken und prügelte mich damit windelweich. Er schlug mich auf den Hintern, auf die Beine, den Rücken, auf meinen ganzen Körper. Er wütete und wütete. »Der zündet mir noch das Haus an, das darf noch nicht wahr sein!«, brüllte er.
Omama war gerade zur Ernte auf dem Hof. Als sie sah, wie heftig er mich schlug, mischte sie sich ein und Opapa ließ von mir ab. Ich weinte, wie ich selten geweint hatte, und war völlig verstört. Opapa war kein zärtlicher Mensch, aber eigentlich hatte ich großes Vertrauen zu ihm gehabt. So hatte ich ihn noch nie erlebt und es war eine traumatische Erfahrung für mich.
Trotzdem war ich weiterhin sehr gerne im Opapa-Garten. Bei den Silos gab es eine Fischerhütte mit einem Restaurant, und wenn Opapa guter Laune war, aßen wir dort gemeinsam. Es gab duftenden Fisch und knuspriges Brathendl, sogar Almdudler durfte ich trinken.Mein Großvater hieß mit Nachnamen Szabo, die Großmutter Schmid. Er arbeitete draußen auf dem Hof, sie in der Stadt. Während der Ernte half Omama im Opapa-Garten oder auf dem Hof bei ihrer Mutter in Obersiebenbrunn. Manchmal fuhr Opapa mit dem Bus nach Wien in die Castellezgasse, blieb über Nacht und fuhr am nächsten Morgen wieder aufs Land. Damals war mir nicht bewusst, wie seltsam diese Beziehung war.
Ich war der Lieblingsenkel meiner Omama und sie verwöhnte mich mit allerlei Köstlichkeiten. Noch heute staune ich darüber, was sie auf ihrem schon für damalige Verhältnisse altmodischen Holzherd zubereiten konnte. Mit ihrer Buttercremetorte habe ich mich regelmäßig vollgefressen. Bat ich um eine Buttersemmel, gab sie mir eine, verlangte ich nach Krakauersemmel, erfüllte sie mir auch diesen Wunsch. Ich liebe bis zum heutigen Tag Hühnerfleisch, insbesondere »Backhenderl«, wie es in Österreich heißt. Das sind Hähnchenteile, die in Ei und Semmelbröseln gewälzt und anschließend in einer Pfanne mit viel Öl goldbraun gebacken werden. Meine Omama konnte sie besonders schmackhaft zubereiten. Ob Bein oder Brust, ich bekam immer die besten Stücke.
Meine Mutter war eine bildhübsche Frau. Schlank, zarte Haut, dunkelbraune lange Locken, die Männer lagen ihr zu Füßen. Umgekehrt galt das auch für meinen Vater. »Rotschopf« nannte meine Mutter ihn. Er war Rock-’n’-Roll-Fan, sang die Hits von Bill Haley und Elvis Presley und ließ sich eine Tolle wachsen, die er mit reichlich Pomade zu stabilisieren wusste. Ich selbst war die Folge eines Unfalls. Es war wohl der Sturm der Leidenschaften zweier Liebender, der dafür sorgte, dass ich am 12. Juli 1959 auf die Welt kam. Meine Eltern waren beide erst 19 Jahre alt und auf unterschiedliche Weise mit der Situation überfordert. Meine Mutter musste ihre Ausbildung zur Krankenschwester wegen der Schwangerschaft abbrechen. Mein Vater war eigentlich Mechaniker für Motorräder und Autos. Doch in Österreich waren die Nachkriegsjahre wirtschaftlich schwierige Zeiten, mit Gelegenheitsjobs und branchenfremder Arbeit konnte er sich knapp über Wasser halten. Deshalb nahm meine Großmutter die beiden bei sich in der Castellezgasse auf.
Dass wir zu dritt bei meiner Omama wohnen durften, könnte man für eine liebevolle Geste halten, und das war es wahrscheinlich zum Teil auch. Gleichzeitig wollte Omama einen Keil zwischen meine Eltern treiben, was ihr auch gelang. Mich verwöhnte sie nach Strich und Faden, im Hintergrund strickte sie jedoch ständig Intrigen gegen meine Mutter. Sie wollte erreichen, dass mein Vater sich von ihr trennte. Omama beschuldigte sie, sie habe ihren geliebten Sohn, meinen Vater, mit Absicht verführt, um schwanger zu werden. Außerdem gebe meine Mutter mir zu wenig Essen, deshalb sei ich auch so ein »Sprenzel«, also ein schmächtiger Junge. Immer wieder stritten sie sich. Meinen Vater belasteten die Intrigen und Zänkereien sehr. Er liebte meine Mutter über alles, und gerade deshalb war er mit seinen noch nicht einmal 20 Jahren hoffnungslos überfordert: Zu wem sollte er halten? Zu seiner geliebten Frau oder zu seiner Mutter? Mein Vater entschied sich für eine dritte, noch schlechtere Möglichkeit: Er verließ uns.
Als ich zehn Monate alt war, eskalierte ein Streit zwischen meiner Mutter und Omama dermaßen, dass mein Vater in einer Kurzschlussreaktion die Koffer packte und durchbrannte. War meine Mama vorher schon überlastet gewesen, so wuchs der Druck nun noch mehr. Jetzt musste sie sich alleine mit ihrer giftigen Schwiegermutter auseinandersetzen und zusehen, wie sie das nötige Geld für den Lebensunterhalt bekommen konnte. Sie fand eine Stelle bei einem jüdischen Anwalt, für den sie Büroarbeiten und Botengänge erledigte, und gab mich zu »Pflegetanten«, die sich tagsüber um mich kümmerten und dafür von meiner Mutter Hütegeld erhielten.
Bei meinem Vater siegte irgendwann die Liebe zu meiner Mutter. Andere Frauen interessierten ihn nicht. Deshalb entschloss er sich, nach Hause zurückzukehren. Er vermisste seine Frau, die er ja nicht im Streit, sondern in verzweifelter Liebe verlassen hatte.
Als mein Vater mich so verwahrlost fand, stieg ein unglaublicher Zorn in ihm auf. Er war kurz davor, die Pflegetanten zu verprügeln. Als er mich aus der prekären Situation gerettet hatte, brachte er mich zu meiner Omama, damit sie sich um mich kümmerte. Diese war durchtrieben genug, die Situation in ihrem Sinne zu deuten – gegen meine Mutter: »Sieh, so schlecht behandelt deine Frau deinen Sohn!« Meine Mama erwiderte, sie habe keine andere Wahl gehabt, als mich abzugeben, sonst hätte sie nicht das Geld verdienen können, um mich zu ernähren.
Was dann folgte, war ein beispielloser Wutausbruch meiner Großmutter, eine Salve von Anschuldigungen und Beleidigungen, die endgültig zur Eskalation führten. Wieder traf mein Vater aus dem Affekt eine Entscheidung, diesmal aber eine bessere: »Wir ziehen in eine eigene Wohnung, auch wenn wir uns nur ein Mäuseloch leisten können!« Das taten sie und das war gut so, denn meine Mutter hätte die ständigen Konflikte wohl nicht länger ausgehalten.
Die Wochenenden verbrachte ich oft bei meiner Urgroßmutter in Obersiebenbrunn. Das Bauerndörfchen hatte einst historische Bekanntheit erlangt, weil Napoleon dort sein Heer sammelte, um in den Russland-Feldzug zu ziehen.
Ich genoss die Landidylle und die Fürsorge meiner Urgroßmutter, die mich zu verwöhnen wusste: mit Schokoladenkuchen, allerhand Süßem und anderen Köstlichkeiten. Bei ihrem Haus stand eine große Scheune, in der sie das Stroh lagerte. Für mich aber war diese vor allem ein toller Spielplatz. Ich kletterte auf das bestimmt zehn Meter hohe Gebälk hinauf und ließ mich todesmutig ins Heu fallen. Null Angst! Wenn ich heute dort hinaufschaue, wird mir schummerig. Was hätte mir mit meinen fünf, sechs Jahren alles passieren können! Doch der Nervenkitzel war damals einfach zu aufregend. Außerdem konnte ich so meinen Mut beweisen und meine inneren Ängste überwinden. Der Wunsch, innere Schwachheit durch äußere Stärke zu besiegen, zieht sich durch meine gesamte Kindheit.
In Obersiebenbrunn nahm mich meine Urgroßmutter immer mit in die katholische Kirche. Ich fand das furchtbar langweilig, diese schnöde Liturgie, die langatmigen Predigten! An den Osterfesttagen mussten wir sogar jeden Tag die Messe besuchen!
Überhaupt wehte in dieser Zeit ein unguter, ja, unbarmherziger Wind durch die Kirche, anders als heute. Rechthaberei, Moralismus und der erhobene Zeigefinger dominierten mancherorts. Zumindest hatte meine Mutter das so erfahren. Als mein Vater uns damals verließ, suchte sie Hilfe bei einem katholischen Priester. Dem fiel nichts Besseres ein, als ihr ihre Sünden vorzuwerfen: »Warum gebärst du überhaupt uneheliche Kinder?« Wo war da die Botschaft Jesu von Güte und Gnade, Verständnis und Barmherzigkeit? Echte Hilfe fand meine Mutter erst bei dem jüdischen Anwalt, der ihr einen Job gab.
Es fällt mir nicht leicht, meine Beziehung zu meiner Mutter zu beschreiben. Ich habe sie nicht als zärtlich kennengelernt. Sie hatte mich wohl gerne, aber sie war so überfordert und alleine, dass sie kaum Nähe zuließ. Als Ältester musste ich vor meinem prügelnden Vater für meine Geschwister geradestehen. Meine drei Jahre jüngere Schwester war Vaters Liebling, mein kleiner Bruder kam als Jüngster nie so unter die Räder wie ich. Wenn mein Vater mich verprügelte, nahm meine Omama mich manchmal in Schutz, meine Mutter nicht. Sie sah zu, wie ich litt. Ich fühlte mich von ihr nicht geliebt und daher auch minderwertig. Mit Mutproben wie den kühnen Sprüngen ins Heu versuchte ich, mich selbst zu bestätigen, weil mir die Bestätigung von außen fehlte.
Manchmal gingen wir in Wien spazieren. An einem Tag palaverten und diskutieren die Erwachsenen, ich schlenderte verträumt hinterher. Was war das hinter dem Schaufenster? Eine Modelleisenbahn! Sofort zog mich diese in ihren Bann. Die Besitzer hatten mehrere Züge aufgebaut, die geduldig über die kleinen Schienen ratterten, durch Tunnel, vorbei an Bahnhöfen, Bahnübergängen, winzigen Bäumchen und Wiesen aus Miniaturmoos, auf denen Schafe grasten. Mit offenem Mund stand ich am Schaufenster und tauchte ganz in die Miniaturwunderwelt ein. Minutenlang muss ich dort gestanden haben, bis ich mich nach meinen Eltern umdrehte. Ein Schreck durchzuckte mich. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Sie hatten mich verloren. Ich lief ziellos auf der Straße umher, vor Verzweiflung fing ich an zu weinen. Vermutlich spielte da auch das Trauma aus meiner Kleinkindzeit eine Rolle.
Irgendwann erbarmte sich ein Passant und nahm mit auf die Polizeiwache. Die Beamten trösteten mich und gaben mir Schokolade. »Mama und Papa kommen bestimmt bald, Bub«, sagten sie. Ich war noch zu jung, um den Polizisten meine Adresse in der Castellezgasse zu nennen, doch die Beamten behielten Recht. Nach einiger Zeit erschienen tatsächlich meine Eltern. Erleichtert klammerte ich mich ganz fest an sie.
Die Geldsorgen meiner Eltern wuchsen, denn mein Vater fand nur schlecht bezahlte Jobs, die uns als Familie gerade ernähren konnten. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater hatten wunderbare Kindheitserinnerungen an ein Land, das von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont geblieben war: die Schweiz. Nur wenige Städte waren hier durch amerikanische oder britische Bomber zerstört worden. Alle mussten zwar wegen der fehlenden Auslandsaufträge den Gürtel enger schnallen, doch in den umliegenden Staaten litten die Menschen ungleich mehr. Die Eidgenossen, die für ihre diplomatische Neutralität bekannt sind, hatten nach dem Krieg viele österreichische Kinder aufgenommen, um sie aufzupeppeln. Unabhängig voneinander waren meine Eltern beide einige Monate als Kinder dort untergebracht. Es muss für sie wie ein Schlaraffenland gewesen sein. Immer gab es genug – und leckeres! – Essen, die Schweizer empfingen sie herzlich und gastfreundlich. Außerdem gab es natürlich die feine Schweizer Schokolade, gegen die unser österreichisches Pendant nichts war. Und diese Köstlichkeit gab es in der Schweiz auch noch in rauen Mengen!
Mein Vater muss noch seine erste Tafel Schweizer Schokolade vor Augen gehabt haben, als er die Entscheidung traf, in unserem Nachbarland sein Glück zu suchen. Zudem war seine ältere Schwester mit einem Bündner Arzt verheiratet, der eine Arztpraxis in Zürich betrieb. Sein älterer Bruder hatte sich in Genf niedergelassen und betrieb dort ein Teppich- und Tapetengeschäft. Dort konnte mein Vater aushelfen, bis er eine richtige Stelle fand.
In den 1960er-Jahren begann der große Autobahnbau quer durch die Alpenrepublik. Die Schweizer planten unzählige Kilometer an asphaltierter Strecke, von denen etliche mittels Tunnel durch die Berge führen sollten. Dafür suchten sie Baumaschinenmechaniker – genau das Richtige für meinen Vater. Er sprach vor und erhielt tatsächlich einen Job. Binnen kurzer Zeit konnte er sich ein Auto leisten, einen VW Käfer. Mein Vater verließ uns also erneut, aber diesmal sorgte er verantwortungsvoll für meine Mutter und mich, die wir zunächst in Wien blieben.
In meiner Mutter wuchs die Sehnsucht, ebenfalls in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen, ohne die Peinigungen der Schwiegermutter, ohne ihr altes Umfeld, das sie an die Nöte und Sorgen erinnerte. Sie wollte weg aus Österreich. Als ich etwa sechs Jahre alt war, traf meine Mutter eine Entscheidung: Sie zog samt meiner kleinen Schwester ebenfalls in die Schweiz. Ich dagegen blieb in Wien. Ohne Vater, ohne Mutter. Meine Omama, bei der ich nun wohnte, wurde meine Hauptbezugsperson.
Es mag sich seltsam anhören, aber aus meiner kindlichen Sicht traf es mich nicht sonderlich, dass meine Eltern mich zurückließen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich meine kleine Schwester beneidet hätte, weil sie bei Mama bleiben durfte. Mama und Papa hatten eben so entschieden, daran ändern konnte ich nichts. Außerdem fühlte ich mich wohl in Wien, zu meiner Omama hatte ich eine innige Beziehung. Mich umgaben Menschen, die mich liebten. Für mich war die Welt in Ordnung. So dachte ich lange.
Inzwischen frage ich mich: Habe ich meine Empfindungen von damals verklärt? Habe ich es wirklich mit stoischer Ruhe akzeptiert, dass meine Eltern mich zurückgelassen haben? Heute wissen wir viel mehr darüber, wie wichtig es ist, dass Kinder eine Bindung und ein Urvertrauen entwickeln. Die ersten Lebensjahre geben entscheidende Einflüsse mit, die ein ganzes Leben lang nachhallen, im Guten wie im Schlechten.
In Wien kam ich in die erste Klasse, aber kurz darauf kam der nächste Einschnitt: Nach einem Vierteljahr holten meine Eltern mich in die Schweiz. Ich verabschiedete mich von meiner Heimat und meiner geliebten Omama, denn jetzt begann ein neues Kapitel. Unsere Familie war wieder vereint.