Читать книгу Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3 - Rudolf Walther - Страница 12

Оглавление

5 Anfänge der Ökologiebewegung

Zu den Büchern, die die aufkommende Ökologiebewegung der 60er und 70er Jahre stark beeinflussten, gehört der 1962 erschienene, weltweit verbreitete Bestseller von Rachel L. Carson (1907-1964) mit dem Titel »Der stumme Frühling«. Aus Anlass des 100. Geburtstags der Autorin hatte der Münchener Verlag C. H. Beck das Buch erneut aufgelegt. Die ehemalige Beamtin in der amerikanischen Verwaltung für das Fischereiwesen und spätere Sachbuchautorin wies auf die dramatischen Gefahren hin, die zuerst der Vogel- und Insektenwelt, dann der gesamten Umwelt drohten, wenn in der industriellen Landwirtschaft weiterhin so viele Pestizide – insbesondere DDT – verwendet würden. Die Autorin verband Wissenschaft mit dem politischen Protest gegen Umweltverschmutzung und fast poetischer Naturbewunderung und schuf damit so etwas wie den intellektuellen Kern des modernen Umweltbewusstseins.

Schon 1957 forderte der konservative Journalist Bertrand de Jouvenel: »Die politische Ökonomie müsste politische Ökologie werden.« Der französische Biologe Jean Dorst legte mit dem Buch »Natur in Gefahr« (1965) erstmals umfassend dar, in welchem Ausmaß und mit welcher Beschleunigung das natürliche Gleichgewicht durch agro-industrielle und andere Eingriffe gestört und zerstört wurde. Das Buch wurde in Frankreich mehr beachtet als anderswo. Serge Moscovicis »Versuch über die menschliche Geschichte der Natur« erklärte »das Problem der Natur« bereits 1968 als das vordringlichste des Jahrhunderts und verknüpfte die Kritik der Gesellschaft mit der Kritik von deren »Verhältnis zur Natur und der Tätigkeit des Menschen zur Konstituierung beider«. Eine vergleichbare intellektuelle Sensibilisierung für ökologische Fragen ist im deutschen Sprachraum erst nach der Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome (1972) und nach der ersten Ölkrise 1973/74 festzustellen.

Einem hartnäckigen Vorurteil zufolge haben die schweizerischen und die deutschen Grünen den Umweltschutz ebenso »erfunden« wie die Ökologiebewegungen. Das ist falsch. Diese Bewegungen haben intellektuell einen soliden cartesianisch-kritischen Kern und als politische Basis einen sicheren Halt in der französischen Tradition rebellischen zivilen Ungehorsams. Ökologisch begründete Gesellschaftskritik, Proteste und Demonstrationen von Umweltschützern sind französischer Herkunft.

Die erste Demonstration gegen ein Kernkraftwerk fand am 12.4.1971 in Fessenheim im Elsass statt. Und während das Wort »protection de l’environnement« im Französischen seit Mitte der 50er Jahre gebräuchlich ist, empfand die FAZ »das Wort Umweltschutz« noch am 22.11.1969 als »bis vor kurzem noch befremdlich klingend«. Stärker als anderswo zehrten die französischen Umweltbewegungen von Ende der 60er bis Ende der 70er Jahre von der Aufbruchstimmung, die die Studentenbewegung erzeugt hatte. Während die emanzipatorischen Energien der deutschen Studentenbewegung nach 1969 in den leninistisch-maoistisch-kommunistischen Grüppchen der selbsternannten proletarischen Avantgarden platt gewalzt wurden, sammelten sich viele französische Studenten der Protestgeneration in ökologisch orientierten Initiativen, Alternativprojekten, Landkommunen und anderen Arbeits- und Lebensgemeinschaften. Die Studentin Alice Monier und ihr mittlerweile weltweit bekannter Lebensgefährte José Bové besetzten Anfang der 70er Jahre auf dem Felsplateau von Larzac ein leerstehendes Bauernhaus und kämpften dort zusammen mit den legendären 103 Roquefort-Bauern zehn Jahre lang um Land, Wasser und Strom. Dieser gewaltfreie Widerstand gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes wurde über Frankreich hinaus zum Symbol der Umweltbewegungen. Die Bauern trotzten dem Staat schließlich einen Erbpachtvertrag ab, der ihnen die selbstverwaltete, kollektive Nutzung des Bodens erlaubt. Heute ist Bové Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im April und wehrt sich gegen Versuche mit genetisch manipuliertem Mais und gegen »la malbouffe«, den »Saufraß« der internationalen Fast-Food-Industrie.

Bereits 1962 gab es in Frankreich eine Kampagne unter dem Slogan »Die Umweltverschmutzer an den Pranger«. Zuweilen nahmen solche Aktionen skurrile Züge an. 1970 stand das »Europäische Jahr zum Schutz der Natur« ins Haus. Auch im Département Alpes-Maritimes wollte man etwas dazu beitragen. Kinder sollten als »Freiwillige« die Landschaft reinigen. Das dafür vorgesehene, von Abfällen übersäte Gelände lag in der Nähe einer Kaserne. Deren Kommandant bekam Wind von der Aktion und fürchtete um den Ruf der Armee. Er ließ seine Soldaten das Gebiet säubern. Als dies der Präfekt erfuhr, mussten die Soldaten den Abfall wieder in der Landschaft verteilen, damit der geplante Reinigungstag mit den Kindern – in Anwesenheit von Politikern, Kamerateams und Presse – nicht platzte.

Die französischen Ökologiebewegungen blieben zunächst lokal orientiert. Eine lockere Koordination ergab sich aber schon bei der Unterschriftenkampagne, mit der 1969 die Zerstörung des Nationalparks La Vanoise verhindert wurde. Ein Jahr später begann – zuerst nur im Elsass – der Kampf gegen die Errichtung von Atomkraftwerken. Der Protest organisierte sich auch an anderen Orten, wurde aber zunehmend von überregional tätigen Umweltschutzgruppen mitgetragen und verbreitet – zum Beispiel von der 1970 nach amerikanischem Vorbild gegründeten Gruppe »Amis de la Terre« oder von Solidaritätserklärungen prominenter Wissenschaftler und Intellektueller. Bereits im Juli 1971 mobilisierten die verschiedenen Bewegungen 15 000 Demonstranten gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Saint-Vulbas (Département Ain), das im Jargon der Technokraten »Bugey 01« hieß und das die Ökologiebewegungen »Bugey-Cobayes« (»Bugey-Versuchskaninchen«) tauften, weil damals wie heute Fragen der Betriebssicherheit sowie der Entsorgung und Endlagerung der strahlenden Abfälle unzureichend oder gar nicht geklärt waren.

Angetrieben wurden die Bewegungen von Pierre Prémilieu und vor allem von Pierre Fournier, einer Schlüsselfigur der aus der Studentenbewegung entstandenen ökologischen Linken in Frankreich. Er plädierte für »die radikale und globale Unterminierung einer verstümmelnden und selbstmörderischen Gesellschaft« im Namen eines »Wechsels der Lebensweise«. Die Chancen dafür lagen bei jedem Einzelnen: »Man kann die Gesellschaft nicht mehr ändern, ohne sein Leben zu ändern.« Für ihn und seine Mitstreiter lag »die Utopie in den Gegebenheiten verborgen und nirgendwo anders«. Fournier wollte sich denn auch nicht an den Rand der Gesellschaft aufs Land zurückziehen, sondern »die Massen sensibilisieren« und »Herrn Jedermann verständlich machen, dass er seine Haut nur retten wird, wenn sich sein Leben verändert.« Fournier vermied alles, »was nach Personenkult hätte aussehen können« (Wolfgang Hertle), aber sein früher Tod 1973 – im Alter von 35 Jahren – entriss den Ökologiebewegungen einen furiosen politischen Kopf.

Fournier hatte 1969 die Zeitschrift »Hara-Kiri Hebdo« gegründet, die seit dem Verbot 1971 unter dem Titel »Charlie Hebdo« weiter erscheint. Im gleichen Jahr entstanden die Zeitschrift »Combat non violent« (»Gewaltfreier Kampf«) und eine auf ökologische Themen spezialisierte Presseagentur. Im November 1972 schuf er die Zeitschrift »La gueule ouverte« (»Die offene Klappe«), die eine Zeitlang mit dem Untertitel »Le journal qui annonce la fin du monde« (»Die Zeitschrift, die den Weltuntergang ankündigt«) kokettierte. Der Untertitel war halb satirisch, halb ernst gemeint. Das Blatt erreichte in kurzer Zeit eine Auflage von 70 000 Exemplaren. Ein weiteres wichtiges Organ erschien ab April 1973 monatlich als Beilage zum »Nouvel Observateur« unter dem Titel »Le Sauvage« (»Der Wilde«). Es wurde geleitet von Alain Hervé, dem Gründer von »Amis de la Terre«. Zu den wichtigsten Kolumnisten gehörte der Sozialist André Gorz, der hier unter dem Namen Michel Bosquet ökologische Fragen aus linker Perspektive diskutierte und den »Ökologismus« als »Revolte der Bürgergesellschaft« gegen die Bevormundung durch den Staat und die starken wirtschaftlichen Interessenten definierte. Wie bei Fournier gehörte auch bei Gorz/Bosquet das Utopische programmatisch zum Wirklichen und fundamentale Gesellschaftskritik zur Ökologie: »Wir können besser leben und dabei weniger konsumieren und arbeiten, aber anders.« Erst 1977/78 wurden diese Texte in der von Freimut Duve geprägten Reihe rororo aktuell den deutschen Lesern zugänglich gemacht.

Die Jahre 1971/72 verhalfen den französischen Umweltbewegungen zu einem unerhörten Aufschwung und zu europaweiter Ausstrahlung. Ökologisch motivierter Protest formierte sich jedoch nicht nur auf dem Land und an Kraftwerk-Standorten, sondern auch in der Metropole. Im April 1972 – also eineinhalb Jahre vor dem Öl- und Benzinpreisschock vom Oktober 1973 – demonstrierten in Paris 10 000 Fahrradfahrer gegen die Verkehrs- und Energiepolitik. Einem entsprechenden Aufruf in Berlin folgten damals ganze 100 Leute.

Bei den Präsidentschaftswahlen 1974 einigte sich ein erheblicher Teil der Umweltgruppen darauf, einen eigenen Kandidaten zu präsentieren. Der damals Siebzigjährige Agronom René Dumont (1904-2001) erreichte zwar nur 1,32 Prozent oder 337 000 Stimmen, aber er machte durch sein Charisma und seine Anerkennung als Wissenschaftler ökologische Probleme in einem bislang unbekannten Ausmaß bekannt. Er trug bei seinen Auftritten nicht nur den legendären roten Rollkragenpullover, er verkörperte glaubhaft die Vision einer linken politischen Ökologie, die weit über den herkömmlichen Umwelt- und Naturschutz hinauswies: »Die politischen Bedingungen für einen wirklichen Wandel beginnen in Frankreich damit, dass die Interessierten selbst alle Probleme, die sie betreffen, in die Hand nehmen: Bildung, Selbstverwaltung von Unternehmen und Städten, Arbeitskämpfe, Kampf um die Lebensqualität.« Nach Dumonts Wahlkampf unter der Devise »Utopie oder Tod« rückte bei einer Mehrheit der Franzosen die Sorge um die Umweltverschmutzung erstmals an die erste Stelle der brennendsten Probleme – also vor Arbeitslosigkeit, Preisspirale und Armut. Im »Programme commun« (1972) von Sozialisten und Kommunisten beanspruchten Umweltprobleme eine einzige von 192 Seiten. Bei den Regierungsparteien sah es ähnlich aus.

1974 verbündeten sich Atomkraftgegner aus Frankreich, Baden und der Schweiz in ihrem Kampf gegen die am Rhein geplanten Kraftwerkprojekte in Fessenheim, Wyhl und Kaiseraugst. Im Elsass nahm die Bewegung gegen das in Marckholsheim geplante Chemiewerk den Charakter eines regionalen Aufstands an. Nach mehrwöchiger Besetzung des Bauplatzes wurde das Projekt fallen gelassen. Während die Sensibilität der Franzosen für Umweltprobleme zwischen 1971 und 1977 ständig stieg, sank die Zustimmung zur Nuklearenergie im gleichen Zeitraum um 34 Prozentpunkte.

»Der Kreuzzug nach Malville« östlich von Lyon, wo seit 1975 der schnelle Brüter »Superphénix« gebaut wurde, bildete den Höhepunkt und zugleich das vorläufige Ende der Protestwelle der 70er Jahre in Frankreich, denn ein Jahr nach der spektakulären Demonstration am 31.7.1977 ließ sich »keine einzige bedeutende Aktion der Protestbewegung ausmachen« (Alain Touraine). An jenem regnerischen Sommertag versammelten sich rund 60 000 Atomkraftgegner aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz rund um Malville. Sie wurden von der französischen Polizei mit äußerster Härte zurückgedrängt. Der Physiklehrer Vital Michalon kam bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben, mehrere Demonstranten und Polizisten wurden erheblich verletzt. Der Superphénix lieferte nur während zehn Monaten Strom, kostete etwa 20 Milliarden Franken und wird nun mit großem Aufwand definitiv stillgelegt.

Die teilweise hysterische Reaktion der Öffentlichkeit auf die möglichen Auswirkungen der Öl- und Benzinpreiskrise erleichterte die »zivile Nuklearisierung der Energieversorgung« (Guillaume Sainteny) und stabilisierte deren bröckelnde Akzeptanz bei den Bürgern. Die Ökologiebewegungen gerieten Ende der 70er Jahre in die Defensive und rieben sich in Fraktionskämpfen auf. André Gorz warnte die Ökologiebewegungen vor dem »Eindimensionalwerden« als Parteien, die »nicht mehr Protest, Revolte und Unzufriedenheit jeglicher Art politisch übersetzen«, sondern nur noch »die Staatsmacht« bzw. Regierungsbeteiligung im Auge haben. Gorz’ Absage an vermeintliche Real- und die Parteipolitik überhaupt war kein Ausdruck von »Apolitismus, sondern die Weigerung, die Freiheit des Ausdrucks, des Protests und der Phantasie den Erfordernissen der Machtlogik unterzuordnen.«

Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

Подняться наверх