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6 Volksfront in Frankreich (1936/37)

Die Wahlkämpfer in Hessen und Hamburg belebten alte Gespenster und Kampfbegriffe: »Linksfront«, »Volksfront«, »Einheitsfront« und »Linksblock«. Was sie damit meinten, blieb unklar. Das war schon einmal so. Mitte der 70er Jahre fühlten sich Christdemokraten von Strauss und Dregger bis zu Kohl von »Volksfronten« eingekesselt. »Volksfronten«? Jede sah anders aus. Oder was verbindet den »historischen Kompromiss«, den italienische Christdemokraten und Kommunisten planten, mit dem »gemeinsamen Programm« von Sozialisten und Kommunisten in Frankreich? Und worin glich die etwas ältere Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur »Einheitsfront« bzw. zur »Sozialistischen Einheitspartei« in der DDR mit dem Vorhaben in Spanien, nach Francos Tod ein Bündnis von den Kommunisten bis zu den Monarchisten zusammenzubringen? Ins rhetorische Wahlkampfreservoir passen die Krawallwörter »Front«, »Volk«, »Block« und »Links«, die das Publikum abschrecken sollen wie Vogelscheuchen auf dem Acker die Vögel.

Die Allensbacher Demoskopen haben 1976, als das Volksfront-Gespenst herumgeisterte, das Publikum befragt, was »Volksfront« bedeute. Sie bekamen eigenwillige Antworten: Fast ein Drittel wusste mit dem Wort gar nichts anzufangen. Fünf Prozent verwechselten es mit Hitlers »Volkssturm«, sechs Prozent hielten es für eine militärische Taktik und drei Prozent für etwas Ähnliches wie die Ernteschlacht an der Kartoffelfront in der DDR.

Ebenfalls 1976 diskutierten linke Intellektuelle im »Kursbuch« Nummer 46 über die Aussichten von Volksfronten. In einem täuschten sie sich nicht: Der Ausdruck »Volksfront« (französisch »Front populaire«) ist so schillernd und situationsabhängig, dass er gar nicht verallgemeinerungsfähig ist. Entweder der Begriff verkleidet bloße Parteiinteressen als »Volksinteressen« oder er versucht, »die nationalen Unterschiede zugunsten einer übergreifenden Strategie hinwegzurationalisieren« (Harald Wieser/Rainer Traub).

Wenn es auch keine Theorie »der« Volksfront geben kann, weil die Unterschiede viel größer sind als formale Ähnlichkeiten, so regierte in Frankreich in den dreißiger Jahren doch für kurze Zeit die Volksfront, d. h. eine Dreierkoalition aus Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten, wobei diese weder radikal noch sozialistisch waren, sondern bürgerlich in der jakobinisch-republikanischen Tradition. Und die »Radikalen« waren keine Partei, sondern ein locker organisierter Honoratiorenverein.

Weder der Beginn der französischen Volksfront noch deren Ende sind eindeutig zu datieren, denn so langsam, wie man ab 1934 in sie hineinschlidderte, so sachte entschlief sie 1938. Die Regierungszeit der Volksfront dauerte gut ein Jahr vom 4.6.1936 bis zum 21.6.1937.

Sie ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wie alle Volkswirtschaften wurde auch die französische hart getroffen. Aber im Unterschied zu den USA, wo Franklin D. Roosevelt die Reformpolitik des »New Deal« einführte, und auch im Unterschied zu England, wo die Regierung von James Ramsay MacDonald – mit Sondervollmachten ausgestattet – Land und Wirtschaft sanierte, fand die in Frankreich seit 1926 regierende »Union nationale« keinen Ausweg aus der Krise. Diese Koalition aus Republikanern, gemäßigten Rechten und Radikalen verlor bei den Wahlen 1932 ihre Mehrheit. In dem Maße wie die Honoratiorenparteien ohne Rückhalt im Volk an Ansehen verloren, bekamen die rechtsradikalen Bünde und Ligen (»Action Française«, »Croix de feu«, »Jeunesses patriotes«, »Solidarité française«) enormen Zulauf.

Im Dezember 1933 wurden eine Finanzaffäre und die wahrscheinliche Verwicklung von Politikern darin ruchbar. Der hauptbeschuldigte Finanzjongleur Alexandre Stavisky kam unter ungeklärten Umständen ums Leben. Als der mit Stavisky befreundete Polizeipräsident entlassen wurde, zogen am 6.2.1934 bewaffnete Rechtsradikale auf die Place de la Concorde und lieferten sich eine Schießerei mit der Polizei. Kompliziert wurde die Lage, dass neben den die »Marseillaise« singenden rechten Kampfbünden am gleichen Ort auch Kommunisten »gegen faschistische Verbände, gegen die Regierung und gegen die Sozialdemokratie« – so der Aufruf der KPF – demonstrierten und die »Internationale« sangen, wie Daniel Guérin (1904-1988) als Augenzeuge berichtet. Am Morgen danach waren 15 Menschen tot und über tausend verletzt. Bei einer Demonstration der KPF am 9.2. kamen weitere neun Menschen ums Leben.

Das Land taumelte zwischen faschistischer Machtergreifung und Bürgerkrieg. Unter dem Druck der Ereignisse folgten am 12.9.1934 erstmals über eine Million Sozialisten und Kommunisten einem Aufruf des sozialistischen Gewerkschaftsverbandes CGT (Confédération Générale du Travail) zum Protestmarsch gegen die faschistische Gefahr. Aber es dauerte noch Monate, bis die KPF von ihrem Dogma »Klasse gegen Klasse« abrückte, sich also von der politisch verheerend wirkenden Gleichsetzung von Sozialdemokraten, Demokraten und Faschisten verabschiedete. Den Anstoß dazu gab ein Prawda-Artikel von Ende Mai, der die Einheitsfront von Demokraten und Kommunisten gegen Faschisten als den Frieden sichernde Strategie empfahl. Am 27.7. vereinbarten Sozialisten und Kommunisten einen Pakt zur Aktionseinheit, und weitere drei Monate später sprach Maurice Thorez – der Generalsekretär der KPF – von der »Einheitsfront für Arbeit, Freiheit und Frieden«.

Für die Organisation einer gemeinsamen Demonstration am Nationalfeiertag des 14.7.1935 bildeten Kommunisten und Sozialisten das »Comité national du rassemblement populaire«, worauf sich in der Presse die Kurzform »Front populaire« durchsetzte. In einer feierlichen Schlusszeremonie deklamierten Sozialisten und Kommunisten im Chor: »Wir schwören, zur Verteidigung der Demokratie, zur Entwaffnung der faschistischen Ligen, zur Sicherung unserer Freiheiten vor dem Faschismus vereint zu bleiben.«

Der Wandel kam nicht zufällig. In Moskau rückte die »Kommunistische Internationale« von ihrer ebenso absurden wie aussichtlosen Politik ab, keinen Unterschied zu machen zwischen Faschisten, Sozialdemokraten und Demokraten. Stalins Kurswechsel beruhte auf der Einsicht, dass in ganz Europa eine faschistische Gefahr drohte sowie auf dem Interesse der sowjetischen Außenpolitik, Frankreich in ein Bündnis gegen Hitler einzubinden. Das gelang im Mai 1935 mit einem formellen Pakt, der obendrein die KPF über Nacht mit der nationalen Verteidigung und mit der Aufrüstung versöhnte.

Die nicht weniger als neun französischen Regierungen in fast identischer konservativ-rechtsliberal-republikanischer Zusammensetzung zwischen Juni 1932 und Juni 1935 scheiterten alle daran, die wirtschaftlichen Krisen zu überwinden. Das änderte sich auch nicht mit dem Kabinett des Radikalen Pierre Laval (1883-1945), der ein paar Jahre später im Vichy-Regime mit Hitler kollaborierte. Laval begann am 16.6.1935 mit »décrets-lois« zu regieren, also mit Regierungserlassen, die – am Parlament vorbei – Gesetzeskraft erhielten wie die »Notverordnungen« von Brüning/Hindenburg in Deutschland. Mit mehreren Hundert solcher Dekrete verfügte Laval Lohnsenkungen, Tarifreduktionen und Höchstpreise. Die Massenkaufkraft sank drastisch, die Arbeitslosigkeit blieb. Mit der Ausschaltung des Parlaments wurde die Krise politisch verschärft und der Abstand zu den diktatorischen Regimes in Italien und Deutschland verringert.

Als Laval auch noch Mussolini Konzessionen machte, obwohl dieser im Oktober 1935 gerade völkerrechtswidrig Äthiopien überfallen hatte, verließen die gemäßigten Radikalen die Regierung. Im Januar 1936 traten sie der Volksfront von Sozialisten und Kommunisten bei und verabredeten mit diesen ein Aktionsprogramm bzw. einen Katalog »sofort anwendbarer Maßnahmen«. Die Präambel des Pakts sah ausdrücklich vor, dass sich jede Partei »an gemeinsamen Aktionen beteiligen kann, ohne von ihrer Doktrin, ihren Prinzipien und ihren eigenen Zielen abzurücken.« Als Ziel der Volksfront wiederholte die Präambel den gemeinsamen Schwur vom 14. Juli: »Wir schwören, die demokratischen Rechte zu verteidigen, um den Arbeitern Brot, der Jugend Arbeit und der Welt den großen Frieden unter den Menschen zu geben.« Hammer und Sichel für die Kommunisten, drei Pfeile für die Sozialisten und die Jakobinermütze für die Radikalen schmückten fortan nebeneinander gemeinsame Flugblätter, Plakate und Transparente im Wahlkampf.

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 26.4. und 3.5.1936 errangen die Sozialisten 149, die Radikalen 111 und die Kommunisten 72 Sitze und bildeten die demokratisch einwandfrei legitimierte Volksfront mit 160 Sitzen Vorsprung vor der konservativ-rechtsradikalen Opposition.

Dieses Wahlresultat löste zuerst eine soziale Explosion und dann eine kulturelle Revolution aus. Zwischen dem Wahlsieg im Mai und dem Regierungsantritt des Sozialisten Léon Blum (1872-1950) lag ein Monat mit einer Welle von Streiks gegen die noch amtierende, alte Regierung. Die rechts stehenden Patrons heizten die Stimmung noch an, als sie Arbeiter entließen, die am 1. Mai nicht zur Arbeit erschienen waren. Die Streiks breiteten sich wie ein Flächenbrand aus. Völlig neu war, dass die Arbeiter nicht vor oder an den Werkstoren streikten, sondern die Betriebe tagelang besetzten. Es gab keine Plünderungen und keinen Vandalismus. Mit Vergnügungsveranstaltungen und Kartenspielen vertrieben sich die Arbeiter die Zeit. Wie spontan die Streiks abliefen, zeigt das Beispiel der Kaufhauskette Prisunic, deren nicht organisierte Verkäuferinnen die Arbeit niederlegten, zum Gewerkschaftshaus marschierten und dort nachfragten, was sie machen sollten. Einschlägig beraten, kehrten sie in die Kaufhäuser zurück, blieben dort und wurden von ihren Angehörigen mit Lebensmitteln versorgt.

Die pazifistische Syndikalistin Simone Weil (1909-1943), die als Lehrerin, aber auch als Fabrikarbeiterin gearbeitet hat, beschrieb die Stimmung mit einem Pathos, das weit verbreitet war: »Nachdem die Masse während Monaten und Jahren stets schweigend gebeugt, alles erduldet und eingesteckt hat, wagt sie es endlich, sich aufzurichten. Aufrecht zu stehen. Selbst das Wort zu ergreifen. Einige Tage lang das Gefühl haben, ein Mensch zu sein. Gänzlich unabhängig von den Forderungen ist dieser Streik an sich eine Freude. Eine reine Freude. Eine ungemischte Freude.«

Als Léon Blum am 4.6.1936 die Regierung übernahm – mit drei Frauen als Staatssekretärinnen im Kabinett, die nach damaligem Recht noch nicht einmal das Wahlrecht hatten! –, hörten die Streiks nicht auf und die Erwartungen wie die Stimmung schossen ins Kraut. Léon Blum, 1872 als Kind einer bürgerlich-jüdischen Familie in Paris geboren, war ein brillanter Journalist. Bereits als junger Mann kämpfte er für die Rehabilitation von Alfred Dreyfus. 1923 sprach er sich gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets aus. Zeitlebens war er das Ziel rüder antisemitischer Angriffe. Charles Maurras, Mitbegründer der »Action Française«, hetzte 1934, man müsse Blum »als Juden sehen (…) und zur Strecke bringen.« Das Vichy-Regime lieferte ihn 1940 den Nazis aus. Er überlebte die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, war 1945/46 nochmals Ministerpräsident und starb im März 1950 in der Nähe von Paris.

Die Regierung Blum erweckte beim Amtsantritt im Sommer 1936 große Erwartungen. Der linke Sozialist Marceau Pivert schrieb unter dem Titel »Alles ist möglich«: »Die Massen (…) werden sich nicht mit einem dünnen Kräutertee, der zögernden Schrittes an das Krankenbett der leidenden Mutter gebracht wird, begnügen.« Und Leo Trotzki feuerte seine Genossen in Frankreich mit einer Ferndiagnose aus Norwegen an: »Die französische Revolution hat begonnen.«

Aus der Nähe sah die Situation etwas anders aus. Weil auch die Bergarbeiter streikten, gingen buchstäblich Lichter und Öfen aus. Maurice Thorez mahnte die eigenen Genossen, aber auch die streitlustigen linksradikalen Gruppen, am 9.6.1936: »Gegenwärtig steht die Machtfrage nicht zur Debatte. (…) Man muss imstande sein, einen Streik dann zu beenden, wenn die Forderungen erfüllt sind.« Sprach Thorez noch zwei Jahre zuvor vom »sozialdemokratischen Sumpf«, so tönte es jetzt ganz zahm: »Wir reichen Dir die Hand, Katholik, Arbeiter, Angestellter, Handwerker, Bauer, (…) weil Du unser Bruder bist.« Léon Blum wies darauf hin, dass es keine »proletarische Mehrheit«, sondern eine »Mehrheit der Volksfront« gebe.

Die Volksfront-Regierung von Sozialisten und bürgerlichen Radikalen arbeitete effizient und unglaublich schnell. Die Kommunisten waren an der Regierung nicht direkt beteiligt, sondern beanspruchten für sich »eine Art Ministerium für die Massen« (Paul Vailant-Couturier). Am 7. Juni, drei Tage nach Amtsantritt, moderierte Blum die nach seinem Amtssitz benannte »Matignon-Vereinbarung« zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Drei von über einem Dutzend Reformvorhaben waren schon zwei Tage später in der parlamentarischen Beratung und wurden noch im Juni realisiert: Zwei Wochen Urlaub ohne Lohnausfall für alle, Reduktion der Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden und verbindliche Tarifverträge. Bis zum August folgten, um nur einige Projekte zu nennen, die Verabschiedung der Rentenreform, die staatliche Kontrolle der Getreidepreise, die Verlängerung der Schulzeit, die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie, die staatliche Überwachung der Banque de France sowie Urlaubsfahrkarten zu ermäßigten Preisen. Léon Jouhaux, Chef der CGT, sah in den greifbaren Leistungen für acht Millionen Arbeitende einen Beleg dafür, »dass kein totalitärer oder autoritärer Staat nötig ist«, um aus der Krise herauszukommen. Vergleichbares schuf keine Regierung zuvor und danach – und schon gar nicht in nur 80 Tagen.

Am 14.7.1936 feierte das Volk tanzend seinen Sieg. Vier Tage später putschte General Franco in Spanien, was nicht nur den Bürgerkrieg auslöste, sondern auch Spannungen in der Volksfront-Koalition. Die Kommunisten wollten den bedrängten Republikanern in Spanien schwere Waffen und Flugzeuge liefern, so wie Hitler und Mussolini den Putschisten. Die Radikalen waren dagegen, und Blum lavierte zwischen dem Verbündeten England, das ultimativ eine Politik der »Nichtintervention« verlangte, und der Duldung des Schmuggels wenigstens von leichten Waffen.

Die Lage blieb politisch und wirtschaftlich prekär. Zwar gab es 1935 nur 28 Tarifverträge, zwei Jahre später indes schon über 4000. Aber es ist auch richtig, dass die kräftigen Lohnerhöhungen von 7-15 Prozent von der Inflation wieder zunichte gemacht wurden, dass die Produktion nur langsam wuchs, dass die Arbeitslosigkeit nicht verschwand und dass die Arbeitgeber die 40-Stunden-Woche nach dem ersten Schock unterliefen. Kapitalflucht und Abwertung schwächten die Wirtschaft.

Blum hat das Regierungssystem der Dritten Republik (1870-1940) wenige Jahre vor ihrem schändlichen Ende modernisiert. An die Stelle einer auf Kungelei beruhenden »Republik der Abgeordneten« schuf er eine dem Parlament verantwortliche Koalitionsregierung. Leitete vor ihm der »Präsident des Rates« als primus inter pares nur die Sitzungen des »Ministerrats« und verwaltete ein Fachressort wie alle anderen Minister, so bezeichnete sich Blum als Premierminister. Er hatte kein Ressort und koordinierte zusammen mit zwei Staatssekretären die gesamte Regierungsarbeit von seinem Generalsekretariat aus.

Trotz der schwierigen politischen Lage brach in Frankreich ein Taumel aus – »L’esprit de 36«, der Geist von 36, tanzte. Es »ändert sich die Lust am Leben«, und »das Blut fließt schneller in einem verjüngten Körper« (Léon Blum). Streiks, Demonstrationen und Fabrikbesetzungen stärkten das Selbstbewusstsein der Arbeiter. Dem Kampfruf des Arbeitgeberpräsidenten Claude Gignoux – »Patrons, seid Patrons!« – setzten die Arbeiter ihr stolzes »Genosse, Du bist nicht allein!« entgegen. Die Streiks ebbten ab, blieben aber eine Dauereinrichtung, was die Zahl von 10 000 staatlich moderierten Schlichtungen bis 1939 belegt. Frauen und Kinder hatten zum ersten Mal Anteil am politischen Leben – Demonstrationen wurden zu Familien- und Volksfesten. Arbeiterfamilien entdeckten den Sport, das Camping, die Berge und die Strände. Der Zugang zu Kultur und kulturellem Erbe wurde von Volkstheatern, Volksbibliotheken und anderen Einrichtungen demokratisiert. Jugendherbergen ermöglichten es Heranwachsenden, Ferien autonom zu gestalten. Die CGT bestellte bei Jean Renoir einen Film (»La Marseillaise«), der zum Film des Volkes für das Volk wurde. Paul Nizan kommentierte Lichtbilderveranstaltungen unter freiem Himmel, Louis Aragon leitete die »Maison de la culture«, André Malraux berichtete über den Bürgerkrieg in Spanien, Charles Trenet und Jean Gabin wurden zu Volkssängern bzw. -schauspielern. Neue Formen des Lebens und Handelns »haben die Physiognomie der Nation dauerhaft verändert« und »es war eine kulturelle Revolution«, stellt die Pariser Historikerin Danielle Tartakowsky fest.

Die staatlich geförderten Freizeitaktivitäten (Sport, Wandern, Camping) und das staatlich subventionierte Reisen verwalteten nicht Menschen wie die deutschen »Kraftdurch-Freude«- und die italienischen »Dopo-lavoro«-Programme, sondern ließen ihnen ihre Autonomie. In welchem Ausmaß das geschah, dokumentieren die einzigartigen Fotos des »esprit de 36« der späteren Magnum-Fotografen Robert Capa, David Seymour und Henri Cartier-Bresson.

Außenpolitisch blieb die Lage so heikel wie der Staatshaushalt zerrüttet. Blum griff zur Notbremse und verkündete am 21.2.1937 »die Notwendigkeit dessen, was ich Pause nenne, die Notwendigkeit, die Lohn-Preis-Spirale aufzuhalten«, d. h. die Löhne einzufrieren und »ungerechtfertigte Preiserhöhungen« zu verbieten. Wieder kam es zu einer Streikwelle, was u. a. dazu führte, dass der französische Pavillon für die Weltausstellung selbst bei der um drei Wochen verschobenen Eröffnung noch eine Baustelle war. Blum beantragte Vollmachten für die Geld- und Devisenbewirtschaftung, was der Senat jedoch ablehnte. Am 21.6.1937 trat Blum zurück.

Das war aber noch nicht das Ende der Volksfrontregierung, denn Blum blieb im Kabinett und kehrte im März 1938 – nach dem Anschluss Österreichs – nochmals für 27 Tage an die Spitze einer Regierung im Zeichen der »Union nationale« zurück. Doch die Agonie der Volksfront hatte begonnen. Das Ende besiegelte am 12.11.1937 ein Artikel in der KP-Zeitung »Humanité«. Die Kommunisten warfen darin den »reaktionären Chefs der Sozialdemokratie« vor, die Arbeiterbewegung gespalten zu haben und verkündeten: »Es ist unmöglich, mit dem Kapitalismus Schluss zu machen, ohne mit dem Sozialdemokratismus (…) Schluss gemacht zu haben.« Nach dem Münchener Abkommen (29.9.1938) begrub die Regierung Édouard Daladiers (1884-1970) den »Geist von 36« und alle sozialpolitischen Errungenschaften der Volksfront-Regierung: Daladier führte die 6-Tage-Woche wieder ein, dehnte die Akkordarbeit aus und ließ bestrafen, wer Überstunden verweigerte. Einen Generalstreikversuch am 30.11.1938 unterband die Regierung mit polizeilichen Mitteln. Die Arbeiter waren wieder die Arbeitenden, die Bürger hatten wieder ihre Ruhekissen – nur das Volk, das gab es nun nicht mehr.

Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3

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