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Kapitel 1

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Der Ruf des Streifenkuckucks

Es ist Sonntagnachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, als Bruder Theo den Engel sieht. Der Engel trägt kurze Hosen und ist barfuss.

Nach dem Mittagessen hatte Bruder Theo auf einem Sportkanal ein Golfturnier gefunden und war darüber eingeschlafen.

Er wachte mit dem Gefühl auf, sich selber fremd zu sein.

Bruder Theo sah sich zu, wie er einen Tee machte. Er hörte den Bürostuhl stöhnen, als er sich darauf setzte. Lauschte dem Seufzer nach, der seiner Brust entwich. In der alten Missionsstation Nova Esperança, tief im Westen Brasiliens, umgeben von unendlichen Soyafeldern, verhallte die Anklage, im Duett vorgetragen, ungehört.

Jaja, redete Theo sich selber zu, in diesem alpenländischen Tonfall, mit dem seine Mutter die Kümmernisse ihrer Kinder besänftigt hatte.

Dabei hatte der Mann längst die Hoffnung verloren, dass es irgendwo, also auch dort oben, jemanden gab, der sich um das Flehen und Flennen da unten kümmerte. Mochte es noch so musikalisch vorgetragen sein.

Soweit war es mit ihm gekommen.

Auf dem lädierten Bürostuhl hatte er die linguistischen Studien und Thesen zur Sprache des eingeborenen Volkes verfasst, mit dem er den grössten Teil seines Lebens verbracht hatte. Vor einiger Zeit war eines der fünf eisernen Räder, die ihm Beweglichkeit verschafften, weggebrochen, und Bruder Theo hatte den Ersatz aus dem harten Holz eines Goldtrompetenbaumes selber geschnitzt. Das lief nicht besonders rund, aber wahrte das Gleichgewicht.

Das Volk, dessen Laute, bestehend aus zehn Vokalen und zwölf Konsonanten, er zu einer Grammatik geordnet hatte, nannte sich selber„“Die Menschen“. Seine eigenen Schüler hatten die Lehrschrift aus seiner Feder verbrannt und triumphierend eine neue präsentiert. Seiner Meinung nach wies sie einige Fehler auf, aber seine Meinung zählte nicht mehr. Der Unterricht war den Klosterbrüdern von der Regierung verboten, „die “Menschen“ hatten jetzt ihre eigenen Lehrer, ihr geschütztes Land, und Nova Esperança war ein Sanatorium geworden für alte Missionare und ein Trainingsplatz für junge Priester, die hier weitgehend schadlos daran arbeiteten, ihre hoffnungsvollen Ideale der Realität anzupassen.

Bruder Theo klappte das Laptop auf, klickte auf das Dokument mit dem Titel “Formel eins“. Er schrieb: Wenn ich auf etwas stolz bin in meinem Leben, dann darauf, dass die Menschen mich zu einem der ihren gemacht haben. Er machte sich einen Kaffee, setzte die Menschen in Anführungszeichen. Er hörte dem Stück einer brasilianischen Sängerin zu, und als sie fertig gesungen hatte, kam ihm sein eigener Gesang plump vor und unfertig. Er löschte den Eintrag. Aber dabei, stritt er mit sich selbst, ist es ein wahrer Satz! Was willst du denn, hörte sich Bruder Theo rufen: Schönheit oder Wahrheit? Er holte sein Wort aus dem Land des Ungesagten zurück.

Dann weinte er.

Wenn alles anfängt, schrieb er, weiss man nicht, wer man ist. Man weiss nur, wer man sein möchte. Als es anfing, wollte er einer sein, der das Schöne und Gute verteidigt. Und er wollte Fussballer werden. Das war ungefähr das gleiche.

Den Kopf in beide Hände gestützt, flog ihm eine weitere Erkenntnis zu. Er schrieb. Das Leben ist schön. Schönheit ist grausam. Des Dichters hartes Brot sie ist. Er bedachte die Formel von allen Seiten und kam zum Schluss, sie stehen zu lassen. Morgen konnte er sie wieder ins Nirgendwo verbannen. Es erforderte Geduld, die Grammatik der eigenen Existenz zu erforschen. Und er erinnerte sich, wie lange es gedauert hatte, bis er dem ungewohnten Sprachbau seiner wahren Menschen auf die Spur gekommen war und er verstanden hatte, dass sie das Objekt dem Subjekt und dem Prädikat voranstellten. Die Liebe gestorben sie ist.

Er klappte sein Laptop zu und suchte seinen Sportkanal.

Es war Sommerpause in Europa, die grossen Ligen machten Pause und Borussia Dortmund spielte gegen irgendein amerikanisches Team, dessen Name sich Bruder Theo nicht auch noch merken mochte. Bruder Theo begeisterte sich an Testspielen. Sie waren wie eine unerprobte Liebe. Man bleibt bei jedem Gegentor entspannt und denkt, wenn es ernst wird, wird es schon klappen.

Sonst war Bruder Theo Anhänger von Borussia Dortmund. Auch von Manchester United, von Barcelona und der AS Roma. In Wahrheit wechselte er seine Lieblinge häufig. Was Bruder Theo brauchte, war ein Name für eine schwer zu fassende Sehnsucht. Möglicherweise nichts anderes als die Sehnsucht nach wahren Gefühlen, die nicht in Mord und Totschlag enden.

Fussball.

Fussball war einmal seine Offenbarung gewesen. Das war, als ihm die Träume seiner Jugend vorgaukelten, das Leben sei ein Doppelpass und der Himmel ein Fussballfeld. Pele, Rivelinho. Wegen ihnen war er in Brasilien. Weil er zu viele Indianerbücher gelesen hatte und wegen der Weitsicht einer klugen Mutter. Der Vater hatte ihm die Literatur um die Ohren geschlagen. Weil es doch so viel zu tun gab, draussen auf ihrem kleinen Hof in den Voralpen. Und weil er der Älteste war, der einmal das Gut übernehmen würde. Und dabei hatte der Jüngere doch so viel mehr Talent und Interesse.

Jetzt noch, eine Ewigkeit später, konnte der Sohn nicht anders als die sanfte Intelligenz zu bewundern, mit der die Mutter seine Schritte in die Kirche lenkte, zu einem Pfarrer, der Verständnis hatte für seinen Durst nach Weite und für ihre Hoffnung auf einen gottgefälligen Sohn, dessen Kampf für verlorene Seelen ihrem eigenen Leiden einen Sinn geben würde. Der Pfarrer verhalf ihm zum Eintritt in eine Klosterschule. Nach der Ausbildung zum Lehrer trat er dem Orden der Salesianer bei. Die führten Missionsstationen bei den Indianern. Der Jüngere übernahm den Hof. Der Vater hielt ihn für schwul, die Mutter für einen Heiligen.

In Brasilien lernte Bruder Theo, dass keines von beiden zutraf.

Fussball blieb ein Trost. Bundesliga am Samstag, englische Liga am Sonntag, spanische Liga samstags und sonntags. Bruder Theo war mit wenig zufrieden.

Aber seiner Mutter machte er keine Vorwürfe, auch wenn er ihren Glauben an die himmlischen Zinsen einer irdischen Entsagung nicht mehr teilte. Aber mit diesem Versprechen war ihr der Frieden gelungen im Haus. Sonst hätte er, der Älteste, wer weiss, den Alten umgebracht. Oder der Vater ihn. Oder der Jüngere alle beide.

Bruder Theo schloss seine Klause ab. Den Schlüssel band er an den Gurt. Er war so klobig und zackig, dass er ohne Weiteres auch eine Verwendung als Mordinstrument finden könnte. Wie komme ich bloss auf solche Gedanken, befragte er sich, als er ins Freie trat. Er sah die Schotterstrasse, die in die Missionsstation und ins Reservat der Menschen führte, und weil sich dahinter die gleichförmigen Soya-und Maisfelder ausbreiteten, gezüchtet in den Labors des Fortschritts, wollte ihm die Buschlandschaft des Indianerlands daneben wie ein altes biblisches Land vorkommen, ein Paradies vor der Vertreibung.

Ein schönes Land, in dem so viele Vögel in der Luft schwirrten wie Lieder, mit genügend Schlangen für mehr als einen Garten Eden, mit einer schönen Anzahl von Säugern, und nicht wenige dieser Mitbewohner hatte Bruder Theo, zusammen mit seinen Menschenbrüdern, schon eigenhändig gejagt und am Feuer in Stücke gerissen, die Riesenschlange noch zuckend, das Gürteltier im eigenen Panzer gebraten, das Affenhirn aus dem eingeschlagenen Schädel geschlürft.

Anfänglich hatte Bruder Theo die Lebensweise der Menschen, die ihm als Gipfel der Freiheit und Ursprünglichkeit erschien, mit Begeisterung geteilt. Mittlerweile musste er sich eingestehen, dass die Menschheit doch einige Fortschritte gemacht hatte in der Bemühung, ihre Mordlust zu tarnen, und er schätzte wie nichts anderes einen weiss gedeckten Tisch mit Messer und Gabel an der richtigen Stelle.

Allerdings war es nicht der Jagdeifer seiner Leute, die den Tierbestand der brasilianischen Savanne gefährdeten. Die Sprühflugzeuge der Sojabauern verteilten ihr Gift grosszügig auch über den kleinen Rest des Landes, das noch nicht domestiziert war.

Die Kleinen, hatte Bruder Theo seine Schüler aufzuklären versucht, begehen kleine Verbrechen.

Die grossen Verbrechen geschehen im Namen des Fortschritts. Deshalb werden sie erst viele Jahre später aufgedeckt.

Eine Rotbauchdrossel quetschte ihr Lied in den blauen Himmel, grell und ungeölt. Die Kraft der Sonne liess nach, das Land erwachte und Bruder Theo stapfte über den Pausenhof des Schulhauses, hinüber zu den flachen Dienstgebäuden.

Hier, wusste er, hatte Schwester Bertha immer ein Bier für ihn versteckt.

Die Gesten ihrer Verbundenheit waren etwas kühler geworden, aber nicht weniger zärtlich, und ihre Vorhaltungen nahm er als Bitte um ein bisschen Zuspruch.

Aber jetzt schon ein Bierchen, Bruder Theo, ist doch erst vier.

Ach, Schwester Bertha, seien Sie nicht so streng mit mir. Ich bin zur Unzeit eingeschlafen und möchte Gewissheit haben, wach zu sein. Ich fühle mich so fremd und ausgesetzt.

Aber ihre Verwirrung, Bruder Theo, ist gewiss keine Neuigkeit, und ich möchte wetten, ein Bier macht sie nicht besser.

Keine Verwirrung, meine Liebe, nur das Gefühl, dass das Leben viel grösser ist als wir selber, und dass es schwierig ist, ihm mit Worten beizukommen. Noch weniger mit Geboten. Warum soll ich denn kein Bierchen trinken an einem schönen Nachmittag, Schwester Bertha?

Weil es der Doktor doch empfohlen hat.

Eine kleine Sünde nur, Schwester Bertha, während vor unseren Augen eine Welt verschwindet, nur weil der Appetit der Chinesen anspruchsvoller geworden ist, ich spreche nicht einmal von Forellenbäcklein oder Gänseleber, nur Hühnerfleisch zum Reis, und jetzt verschwinden unsere Wälder, umgibt uns draussen ein Meer von Soja, wir pflanzen Viehfutter für China, und wann hast du das letzte Mal den Wildhund gesehen, weißt du noch das Männchen, das uns aus der Hand frass, wenn wir uns abends unter dem grossen Mangobaum trafen, der Mähnenwolf kommt nicht mehr, den letzten Königsgeier haben die Menschen am Christfest vor zehn Jahren verzehrt, die Sintflut, Schwester Bertha, und wie könnte Gott etwas dagegen haben, wenn zwei seiner Kinder sich angesichts der Katastrophe die Hände reichen. Ein Bierchen macht die Welt nicht besser, aber doch etwas erträglicher.

Du bist mir einer! Sagst, dass Worte nicht reichen? Wo du nichts anderes kannst als schöne Worte machen! So geht sie brummelnd zum Kühlschrank.

Und die andern können sich dann ein Gewissen machen!

So ist es, hörte sich Bruder Theo murmeln.

Die Türe zum Refektorium stand offen, doch statt Schwester Bertha traf er auf seinen Mitbruder Wilhelm, der vor halbvollen Regalen mit Tomatenbüchsen, Süsskartoffeln, Zwiebeln kniete und sich Notizen machte. Bruder Theo registrierte, wie die Tiefen seines Bewusstseins dem Gedanken, der ihm beim Anblick des Schlüssels gekommen war, unvermittelt einen Sinn und ein Ziel gaben. Er schrieb diese intuitive Eingebung seiner seelischen Verwandtschaft mit der primitiven amerikanischen Urbevölkerung zu und entschied augenblicklich, ihr mit Toleranz und Nächstenliebe zu wehren.

Er lächelte Bruder Wilhelm zu. Beschäftigt wie immer, lobte er. Tatsächlich war Bruder Wilhelm, seit er vor fünf Jahren aus Gründen, über die gemunkelt wurde, in die Mission gekommen – oder geschickt worden war?, – immer beschäftigt, und mit dieser Emsigkeit hatte er sich innert kurzer Zeit unentbehrlich gemacht. Er war nicht nur Herr über die Vorratskammer und Choralmeister geworden, er war der Kämmerer, dessen verführerische Gabe, in der alten Welt Spendengelder locker zu machen, den Betrieb am Leben hielt.

Der Betrieb bestand aus drei jungen brasilianischen Priestern, welche sich der Aufgabe widmeten, Land und Kultur der indianischen Bevölkerung vor einer Gesellschaft zu schützen, der sie selber angehörten, ein Gutsverwalter, einiges Hauspersonal, dazu ein Dutzend alter Schwestern und Brüder, die viel Zeit hatten um sich zu fragen, ob sie mit ihrem Wirken mehr zum Segen oder zum Fluch dieses Ortes an der letzten Zivilisationsfront der Menschheit beigetragen hatten.

Bruder Wilhelm, so hiess es, hatte selber eine Pfarrei geführt, irgendwo im Bayrischen. Weshalb ihm das Priesteramt entzogen wurde, wusste niemand, ein ungesundes Verhältnis zu gewissen Internetseiten, hiess es, oder vielleicht doch der Alkohol, aus politischen Gründen, sagten andere, ohne dass klar war, ob er wieder lateinische Messen gehalten oder die Befreiung auf Erden gepredigt hatte.

Jedenfalls hatte ihn der gütige Schoss der Kirche nicht völlig ausgestossen, sondern ihm die Aufgabe zugewiesen, einer darbenden Kirchgemeinde weitab von den Versuchungen des modernen Lebens moralischen und administrativen Beistand zu leisten.

Wilhelm drehte mit der ihm eigenen Feierlichkeit den Kopf, schaute seinen Besucher über die Brille hinweg an und rief: Ah, der Theo. Hat wohl die Schwester Bertha erwartet. Er gluckste ein bisschen und wandte sich seinem Inventar zu.

Jetzt, von der Seite betrachtet, hatte sein Gesicht mit den hängenden Backen und den leicht geröteten Wangen etwas Joviales, wenn nicht gar Gutmütiges. Und Theo fragte sich, woran es wohl lag, dass er eben, als er es direkt vor sich hatte, darin etwas Nilpferdähnliches gesehen hatte, eine dumpfe Freundlichkeit, zu der die kleinen, aufmerksamen Augen nicht recht passten.

Die unfreundlichen Gedanken, die ihn angesichts seines Mitbruders immer wieder überfielen, entsprangen bestimmt den verborgenen Quellen der eigenen Bösartigkeit, die zu erforschen, so redete er sich zu, ihm noch bevorstand.

Der Herr der Vorratskammer trug Jeans, die ihm, obwohl grosszügig geschnitten, um das Gesäss etwas zu eng waren. Zu sehen, wie der Mann diesen dicken Hintern mit kleinen Trippelschritten in Bewegung brachte, war für Theo immer wieder eindrücklich, verbarg sich hinter der Behäbigkeit doch eine erstaunliche Beweglichkeit. Ein Elefant in Ballettschuhen? Ein Falke, der sich als Huhn tarnte? Ach wo, tadelte sich Bruder Theo, bloss ein alter Gockel, und bestimmt keinen Mord wert.

Geh doch rüber ins Dorf! Wieder drehte sich Bruder Wilhelm um, er trug ein Lächeln im Gesicht. Kannst dort bestimmt deine Studien fortführen, du alter Frauenversteher.

Oder soll ich dich besser Bruder Eigentor nennen? So wie deine alten Freunde dort.

Bruder Theos Blick fiel auf eine prächtige Süsskartoffel im Regal, die in Form und Grösse exakt an die Knüppel erinnerte, mit denen sich die Steinzeitmenschen in den Comics seiner Kindheit gegenseitig totgeschlagen hatten. Rasch drehte er sich um und trat an die Sonne.

Bruder Wilhelm, das gestand er ihm zu, besass einen ausgesprochenen Sinn für die Schwächen anderer Menschen.

Er hingegen, Bruder Theo, besass, wie alle geschlagenen Kinder, einen Sinn dafür, wer es gut mit ihm meinte und wer nicht.

Aber bei diesem seinem Mitbruder zeigte sein Sensorium weder in die eine noch in die andere Richtung. Vielmehr hatte er es mit jemandem zu tun, der ihm auf unerklärliche Weise überlegen war. Was Bruder Wilhelm mit grossem Ernst aussprach, konnte immer auch Spiel und Verstellung sein, hinter einem Spässchen liess sich eine Drohung erahnen, und das war alles so raffiniert abgewogen und mit einem Lächeln serviert, dass man tatsächlich selber von Bosheit erfasst sein musste, wenn man dahinter Verdächtiges erspähen wollte.

Der Mitbruder war beliebt, und sogar Schwester Bertha, seine Freundin, war voll des Lobes; widerspruchslos hatte sie ihm die Herrschaft über die Vorratskammer übergeben.

Aber er tut doch so viel für uns, sagte sie, und er ist nett. Er redete mir zu, ich solle etwas ausruhen, so viel wie ich gearbeitet hätte ein Leben lang. Das hast du mir nie empfohlen.

Weil es dir eh nicht gelingt! Aber das ist einer, sagte Theo dann, der sucht etwas, und ich weiss nicht, was es ist.

Sei doch einfach etwas freundlich zu ihm! Das ist ein Mensch, der lachen kann. Mit uns Schwestern ist er fröhlich.

Und er hat etwas zu verbergen!

Wer hat das nicht?, pflegte Schwester Bertha zu fragen, und damit hatte sie bestimmt recht. Wie Bruder Theo bewohnte Wilhelm ein Zimmer im alten Konventsgebäude. Aber als Chorleiter hatte er auch ein Büro neben dem Gesangsraum, und darin verschwand er jeden Nachmittag um zwei Uhr hinter eine verschlossene Tür. Tag für Tag sah man ihn, pünktlich um vier Uhr nachmittags, mit einem in blaues Leder gebundenen Buch unter dem Arm über den staubigen Weg zurück in sein Zimmer gehen.

Bruder Theo fragte sich, ob überhaupt etwas drin stand in diesem Buch. Tatsächlich konnte er sich fast nicht vorstellen, dass ein Mensch wie Wilhelm die Andacht aufbrachte, weder einen schönen noch einen wahren Satz auf Papier zu bringen. Die Buchhaltung, wahrscheinlich macht er nichts als seine Buchhaltung, so hatte Theo längst entschieden.

Trotzdem beschäftigte ihn das blaue Buch. Und wenn es doch Gedichte waren?

Du blöder alter Sack, hörte Bruder Theo sich rufen, hör auf damit, und das war eine Aufforderung an seine eigene Person. Er verliess das längst gerodete Land der Mission. Die Lehmstrasse ins Dorf der Indianer führte durch niedrigen Busch. Bruder Theo stolperte. Als die Drossel wieder ihr Blech verzapfte, schnitt ihm der Ruf ins Herz, als hörte er ihn zum ersten Mal.

Er blieb stehen, griff sich an die Brust und stellte fest, dass alles in Ordnung war, ausser dass er sich etwas schwach und durchsichtig fühlte.

Und geweint hatte er auch heute, und er brauchte eine Weile, bis er sich erinnerte, wann das zum letzten Mal geschehen war. Es war 1982 gewesen, als Brasilien, die beste Mannschaft, die er je sah, an den Weltmeisterschaften ausgeschieden war.

Und auch jetzt lag etwas in der Luft, und er fragte sich, was es war. Nichts, sagte er sich, nichts als seine drei K, die er mit und auf und in sich trug, und die seinen Gang manchmal etwas schwer und unsicher machten.

Seine drei Kreuze.

Seine drei Krisen, wie man dem heute wohl sagte.

Vielleicht auch seine drei Verbrechen.

Aber dazu fehlte, gestand er sich ein, der dunkle Hintergrund eines unabwendbaren menschlichen Dramas. Wie bei allen Verbrechen, die aus Dummheit geschahen. Aber die Dummheiten hatten ihn immerhin zu dem Menschen gemacht, den er geworden war: in Frieden mit sich selber. Wenn auch nicht unbedingt mit den Vorgesetzten. Was aber in Ordnung war.

Ancelmo sass vor seiner Hütte auf dem roten Sofa, aus dem die Federn sprangen und das einer seiner Söhne aus dem Abfall der Stadt gerettet hatte. Seine kurze Hose und das Leibchen mit der Aufschrift "Currywurst 21, die Beste", stammten aus einer der Kleidersammlungen, die Bruder Wilhelm organisierte. Die weissen Haare waren kurz geschnitten, in den Ohren steckten die Hölzchen, Schmuck und Stolz der Männer. Die dunklen Scheiben einer Sonnenbrille bedeckten die Hälfte des Gesichts.

Bruder Theo richtete sich auf. Ancelmo war aus der Steinzeit gekommen, das traurige Ende einer noch viel traurigeren Geschichte, aber er war freiwillig gekommen, und das war, so schien es dem Besucher, der Beweis für einen Mut und eine Weitsicht, wie sie nur grossen Feldherren vorbehalten sind.

Und so trat er ihm entgegen.

Das Volk der Menschen hatte einmal an der Küste gelebt, bevor es von den Kolonisatoren ins Innere des Landes vertrieben wurde. Die Flucht setzte sich über die Jahrhunderte fort, und nicht die Gewehre der Eroberer waren die schlimmsten Feinde, sondern die Geschenke, die sie verteilten, bevor sie sich das Land mit Gewalt nahmen. Das funkelnde Neue zersetzte und zerrieb die Menschen mehr als die ansteckenden Krankheiten, geblendet von Glitter und einem mächtigeren Gott blieben immer einige Angehörige zurück, und diese Abtrünnigen verfolgten die Menschen als Kundschafter und Fallensteller, noch mehr in der Form von Zweifeln und Versuchungen, denen mit aller Gewalt nicht beizukommen war.

Bei der nächsten Begegnung blieben wieder ein paar Verräter zurück.

Die Schar der Treuseligen verlor sich in immer kleineren Gruppen in immer dichteren Wäldern, den Träumen ihrer Schamanen folgend, die sich aus dem Glanz der Sterne nährten und der Angst vor der Rache verletzter Geister, wieder und wieder sandten sie die Männer in den Krieg, Ruhm war das Ziel, Frauen die Beute.

Ancelmo kam mit einem Teil seines Clans in die Missionsstation, als eine Masernepidemie eine Vielzahl seiner Verwandten umgebracht hatte, sein Vater von Siedlern ermordet worden war und ein Onkel ihm Feindschaft geschworen hatte. Schaut für meine Leute, sagte er, ich kann es nicht mehr; die Kapitulation eines Weisen. Er und Bruder Theo kamen aus unterschiedlichen Richtungen fast gleichzeitig in der Missionsstation an. Beide litten an einem ähnlichen Zustand der Verwirrung. Nur dass es etwas länger gedauert hatte, bis Bruder Theo der eigenen auf die Spur gekommen war. Und jetzt kam es ihm manchmal vor, als sei er nicht weniger den Träumen und Hoffnungen eines verlorenen und versprengten Haufens gefolgt als dieser Krieger, der gegen längst entschwundene Geister gekämpft hatte. Seine eigenen heimatlichen Geister waren noch lebendig und hatten ihm die Rolle eines Erlösers zugewiesen, und das hatte die Menschheit auch nicht unbedingt besser gemacht.

Wortlos wies Ancelmo, der steif auf dem Sofa sass, auf den Platz an seiner Seite.

Und diese Brille?, fragte Theo.

Für die Augen, antwortete er, die Krankenschwester hat es gesagt.

Er zog sich das Ungetüm vom Gesicht, Sein Blick war wie immer von unergründlicher Ruhe und eisernem Ernst. Bruder Theo hätte gerne gewusst, ob diese Augen zu viel gesehen hatten auf ihrer langen Reise, oder bloss zu wenig verstanden. Er hoffte, das Letztere sei der Fall. Ancelmo war sein Freund. Nach ihm und seinem nackten Clan, der aus seiner Mutter, zwei Frauen, Schwiegermüttern, Tanten, Onkeln und Kindern bestanden hatte, waren immer mehr Menschen aufs Gelände der Missionsstation gekommen, bis die Regierung ein Reservat geschaffen hatte. Jetzt lebten hier gegen tausend Urbewohner Amerikas, mittlerweile bekleidet, von den Zuwendungen der Behörde, einige jagten noch, andere gingen an die Universität, viele verschliefen ihr Leben im Rausch, andere verkürzten es mit einem Seil oder, was ebenfalls beliebt war, aber etwas länger dauerte, mit Insektenvertilgungs-mittel. Die Hütten der Menschen waren mittlerweile mit Mörtel verstärkt, beim Nachbarn spielten die Kinder mit einem leeren Benzinkanister, auf dem Lapachobaum wehte ein Plastikbeutel, eine Schar grüner Papageien flog vorbei, ein Windstoss wirbelte Staub auf.

Bruder Theo trug ein weisses Hemd, das er bis oben zugeknöpft hatte, dunkle Hosen, Sandalen an den Füssen. Er lehnte sich ins Sofa zurück, schloss die Augen, liess die Sonne wirken und kam zum Schluss, dass er nichts anderes durfte als dankbar zu sein für das Leben, das sich ihm eröffnet hatte. Hier sass er neben dem Menschen, der ihm so vertraut fremd war wie kein anderer, und das war seine Verpflichtung. Was verband sie? Was machte sie zu Brüdern?

Die Formel eins. Die Urformel.

Ancelmo kam aus einer Zeit, in der Christus nicht erschienen, die Erde flach und Sex ein Vergnügen war. Bruder Theo kam aus einer Familie, die zwar auch etwas zurückgeblieben war, aber er war ein Mensch ohne Anführungszeichen, und er hatte seinem Gott ewige Keuschheit geschworen. Was definierte sie, über Hautfarbe, Sprache und Heiratsrituale hinweg zu Wesen, die gleichermassen zu allem fähig waren? Die„"Menschen" nannten die Angehörigen der anderen eingeborenen Völker, mit denen sie sich bekriegt hatten, "Fast-Menschen". Die Weissen waren "Nicht-Menschen".

Als solcher hatte Bruders Theo ein ganzes Leben bei denen verbracht, die von seinen Leuten wiederum "Wilde"genannt wurden, und damit glaubte er, genügend Wissen vorrätig zu haben um zu zeigen, dass die Grammatik des Lebens für alle gültig war, für Menschen mit und ohne Anführungszeichen, für die wahren und alle anderen auch. Das war seine Hoffnung, mehr noch eine Ahnung, so wie die Sonnenstrahlen, die sein Gesicht wärmten, eine Ahnung verschafften von einer glühenden, vielleicht sogar göttlichen Kraft, er ahnte, dass dieses Material, das sich in seinen Zellen abgelagert hatte wie das Cholesterin im Blut, die Menschheit erwärmen könnte, wenn es ihm nur gelänge, es hervorzuholen, zu polieren und auf den Punkt zu bringen. Wenn möglich, bevor das Cholesterin die Gehirnfunktionen zum Erliegen gebracht hätten.

Die Formel eins.

Die Menschheitsformel.

Das war die letzte Mission des Missionars, eine Aufgabe, die er sich selber gestellt hatte, und deshalb sass er täglich vor seinem Computer, raufte die Haare, verfluchte seinen krummen Stuhl, kratzte sich die Stirn wund, schrieb und strich Sätze.

Letzte Nacht, sagte Ancelmo ins Blaue hinaus, hat der Teperé gesungen, die ganze Nacht. Ancelmo hatte sich wieder hinter die schwarzen Scheiben seiner Sonnenbrille zurückgezogen, und jetzt glaubte Theo auch zu wissen warum.

Der Teperé war der Streifenkuckuck, und die Menschen glaubten, dass sein Gesang Unerwartetes ankündigte. Tatsächlich, hatte Theo festgestellt, erfüllte sich die Prophezeiung fast jedes Mal, auf die eine oder andere Weise.

Manchmal auch nur, weil mit dieser Erwartung das Gewohnte für neue Interpretationen offen war.

Theo hingegen fühlte sich auf seltsame Weise durchsichtig und wehrlos. Bereit, sich zu ergeben.

Traumpässe

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