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Kapitel 2

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Der Junge und der Ball

Einmal, da möchte er auf einem richtigen Rasen. Nicht immer auf dieser staubigen Schafweide. Er hat eine Schwester. Die Schwester schminkt sich. Sie heisst Criusa. Die Mutter ist gut zu ihm. Criusa ist gut zu ihm. Einige Leute sind gut zu ihm.

Manchmal denkt er: Niemand ist gut zu mir.

Der Junge ist gut mit dem Ball.

Er liebt den Ball. Er liebt seine Schwester. Und er liebt es, am Fenster zu stehen und die Stirn an die kalte Scheibe zu pressen. Er liebt es, am Fenster zu stehen, wenn es draussen regnet. Dann kommt die Mutter zu ihm und ruft: Oh mein Junge, was tust du da? Das ist nicht gesund. Du wirst dich noch erkälten. Alle nennen ihn so. Der Junge. Die Mutter nennt ihn so, seine Schwester, die Lehrerin.

Jeden Morgen geht der Junge zur Messe. Das freut seine Mutter.

Hinter der Kirche ist der Friedhof. Und hinter dem Friedhof eine staubige Matte. In ihrer Mitte steht ein Mangobaum, darunter der Esel des Friedhofwärters.

Auf der braunen Matte spielen sie Fussball. Der Junge spielt Alex den Ball zu. Alex spielt ihn zurück.

So beten sie. Jeden Morgen.

Wenn Alex nicht zum Friedhof kommt, rennt der Junge zum grossen Haus, wo der Freund wohnt. Er klingelt am Gittertor und dann öffnet sich weit weg eine Tür und die Haushälterin schreit: Heute nicht. Und dann bleibt der Bub stehen, bis schimpfend der Gärtner kommt und den Ball über die Hecke wirft.

Aber dass du ihn zurückbringst! Das sagt er immer.

Und dann bearbeitet der Bub die Friedhofsmauer alleine, und wenn er den Ball mit seinem blossen Fuss trifft, weiss er auch schon, wo er ihn erwarten muss, wenn er von der Wand zurückprallt. Das hat er im Gefühl. Und wenn er den Fuss etwas mehr abwinkelt und den Ball unterhalb der Mitte trifft, dann fliegt er höher. Und noch etwas höher. Und noch etwas. Nur nicht über die Mauer! Hinter der Mauer lauert der Friedhofswärter. Entweder schlauft er den Gürtel aus der Hose. Oder er rückt den Ball nicht heraus. Oder er trägt alles dem Vater zu. Besser kniet der Junge hin, schluckt die Schläge und verspricht hochundheilig, nie mehr über die Mauer zu kicken.

Im Lügen ist er auch gut.

Das aber gibt Herzklopfen. Die Friedhofsmauer an ihrer Oberkante zu treffen, von wo der Ball in hohem Bogen heimwärts fliegt, sanft auffangen mit der Brust und sofort vollhundert aufs Tor jagen, und in diesen Momenten ist der Bub sein eigenes Radio: Lässt ihn abtropfen, das Publikum steht auf, jetzt nimmt er ihn volley, hämmert ihn ins Netz, der Torhüter ohne Chance, Goool, ein Tor, wie es die Welt noch nie gesehen hat.

Dabei ist es nur die Friedhofsmauer.

Er bringt den Ball zurück und wartet, dass Alex mit ihm in die Schule geht. Alex trägt Turnschuhe. Seine Mutter ist schön. Sie weint immer, sagt Alex. Zusammen gehen sie zur Schule. An der Bäckerei vorbei, dem Gemischtwarenlanden des Chinesen, und beim neuen Kleiderladen, wo sich Mandy versteckt mit seiner Bande, wechseln sie die Strassenseite. Rennen, sagt er Bub. Dann rennen sie.

Wenn sie den Mandy auf den Fersen haben, juckt Alex voraus mit seinen Turnschuhen. Der Junge hintennach, und dann wird er langsamer. Als könne er nicht mehr. Und wenn er dann schon den Atem der Verfolger im Nacken hat, ihre heiseren Schreie in den Ohren, dich pack ich, du Milchtüte, zieht er an. Das macht er ein paar Mal, langsamer, Gas geben, bis die anderen stehen bleiben und er sie murren hört. Dich kriegen wir!

Das macht Spass.

Aber dann stolpert er. Der gehört mir, sagt Mandy der Oberklässler, und tritt ihm in die Rippen. Vollrist. Steh auf, befiehlt er.

Dann steht der Junge auf und Mandy prügelt auf ihn ein, bis ihm langweilig wird. Mandy kaut an einem Kaugummi herum, den es nicht gibt und mault: Jetzt weißt du, dass du mich grüssen musst. Immer grüssen, verstehst du! Immer, wenn du mich siehst! Mich wie jeden andern aus der Bande.

Alle wissen, dass Mandy der Sohn vom Richter ist und nicht ganz hell. Alex schaut zu. Mit genug Abstand, um nicht erwischt zu werden. Schläge schmerzen nicht. Oder jedenfalls nicht lange. Deshalb braucht man sie auch nicht besonders zu fürchten. Aber das weiss Alex nicht. Mandys Oberklässler schütteln die Fäuste.

Immer grüssen! Verstanden!

Tussis, sagt der Junge, und dann rennt er davon, ohne sich nochmals umzudrehen. Und ohne langsamer zu werden. In der Pause spielen sie Fussball, und nach der Schule auch. Und wenn alle weg sind, spielt der Junge noch ein bisschen alleine. Damit er nicht nach Hause muss.

Alex trägt Turnschuhe. Seinem Vater gehört die Farm. Und die Werkstätte, wo die Traktoren und Erntemaschinen geflickt werden, gehört ihm, und die Tankstelle auch. Deshalb gibt es immer solche, die lieber gegen das Schienbein von Alex hauen als gegen den Ball. Weil er mit Turnschuhen spielt. Dann sagt der Junge zu Alex: Komm, wir gehen, die sind blöd.

Der Junge ist gut mit dem Ball. Deshalb wollen anderntags doch wieder alle mit ihm spielen. Auch der Junge hat Turnschuhe. Aus einer Kleidersammlung. Aber der Vater verbietet ihm, sie zu tragen. Wir haben unseren Stolz, sagt er.

Der Junge hätte lieber die Turnschuhe als den Stolz.

Manchmal lädt ihn sein Freund Alex zu sich nach Hause ein. Bei Alex kommt das Wasser aus einem Hahn. Seine Mutter ist schön und hat farbige Zehennägel. Manchmal muss Alex morgens englische Worte lernen und kommt deshalb nicht zum Friedhof. Beim Buben zuhause trampte früher ein Esel, an ein breites Rad gebunden, im Kreis und brachte Eimer voll Wasser aus der Tiefe. Jetzt macht eine Pumpe die Arbeit. Dann geht das Wasser durch einen Filter. Seine Mutter zetert: Trink kein Dreckwasser, das hat der Teufel vergiftet.

Der Mutter ist der Teufel heilig.

Wer von diesem Dreckwasser trinkt, der wird krank und stirbt! Lach nur, Junge, wie viele habe ich sterben sehen, weil sie schlechtes Wasser tranken. Der Junge trinkt kein Dreckwasser und jagt keine Ratten. Aber manchmal vergisst er sich, morgens an der Mauer zum Friedhof. Dann geht er an den Fluss runter statt in die Schule.

Es gibt immer was zu bedenken.

Zum Beispiel was es bedeutet, wenn die Mutter ihn in die Arme nimmt und flüstert: Bub, ich weiss nicht, warum die Männer böse sind. Dann packt sie ihn an den Armen, stellt ihn hin, schaut ihm in die Augen und sagt: Aber du machst das schon, du machst das schon. Und jetzt geh mit Gott. Er fragt sich, was sie sieht, wenn sie ihm auf diese Weise in die Augen blickt, als könne sie durch ihn hindurch sehen. Als wäre sie selber ein Stern, einer dieser Sterne, von denen sie sagt, es wären Augen am Himmel. Und pass immer auf, ob du nicht einen Stern zwinkern siehst. Das ist der Stern, der immer bei dir ist und dich beschützt. Sieht sie, dass der Teufel in ihm steckt? Wie im Vater? Wie in den bösen Männern? Solche Dinge muss sich der Junge überlegen und auch, wie man seinen Vater umbringt. In seinem Bauch ist ein Loch. Das Loch ist schwarz und leer. Manchmal versteckt sich ein Tier darin, ein Marder vielleicht, das an seinen Eingeweiden nagt. Dann muss er tief atmen, bis sich das Tier schlafen legt.

Oder er muss mit dem Ball spielen. Auch das vertreibt das Tier. Mit dem Ball versteht er sich gut. Alles, was rund ist, ist sein Freund. Ein Stoffknäuel, ein paar zusammengeknüllte Palmblätter, eine Kokosnuss. Es gibt auch Tage, wo der Ball macht, was er will. Da wird der Junge wütend und kickt ihn irgendwo hin. Nach einer Weile beginnt er ihn zu suchen, er nimmt den Ball in die Arme oder zwischen die Füsse oder setzt sich auf ihn. Wenn alles andere vergessen ist, verwandelt er sich selber in ein Tier, leicht wie ein Vogel, rasch wie eine Echse, beweglich wie eine Katze, und dann verstehen sie sich wieder. Der Junge und der Ball.

Immer gelingt es nicht, zu vergessen.

Als er klein ist, zum Beispiel, hat er einen eigenen Ball, der Vater spielt mit ihm, und sie lachen zusammen. Er kann nicht sagen, wann das aufgehört hat und auch nicht warum. Daran muss er hin und wieder denken, und das ist einer der Gründe, warum ihn der Lehrer einen Träumer nennt. Zum zehnten Geburtstag schenkt ihm seine Mutter einen Ball. Brauchst dem Vater nichts zu sagen, sagt sie, und streicht ihm über die Haare. Aber dann fliegt der Ball über die Friedhofsmauer und auf der andern Seite steht der Wärter und hat den Fuss drauf. Das ist mein Ball, schreit der Bub, und es ist auch nicht böse gemeint, dass er den Wärter am Knöchel trifft. Eigentlich ist der Wärter selber schuld. Muss ja nicht, als wäre er Verteidiger bei den Corinthians, den Ball zurückziehen. Wie heisst du, Bengel?

Menino.

Hast du keinen Namen?

Die Leute nennen mich so. Junge.

Dein Vater? Wie heisst dein Vater?

Caspar.

Jetzt lächelt der Friedhofswärter. Der Vorabeiter von Carranza.

Jeden Sonntag gehen sie zur Kirche, der Vater voran, seine Schwester an der Hand, der Bub neben der Mutter. Manchmal schaut der Vater zurück und schimpft: Schultern gerade! Kopf hoch! Wieso trampt der Bub hinterher wie ein fauler Hund. Krummer Bengel. Elender Strolch. Dem Vater fällt so einiges ein. Vor der Kirche stehen Carranza, der Vater von Alex, der Lehrer, und einige andere, die Hände tief in den Taschen. Zu ihnen stellt sich der Vater. Der Junge geht mit der Mutter in die Kirche. Kopf hoch, schreit der Vater ihnen nach. Kein Stolz in dieser Familie.

Woher hast du diesen Ball?, löchert der Vater mit einer Stimme so fein wie das Messer, mit dem er den Braten schneidet, sonntags nach der Messe. Am Sonntag essen sie in der Stube. Hier ist der Boden mit roten Fliesen ausgelegt. Den Küchenboden und die die Zimmer hat der Vater mit ein paar Knechten zementiert. Sie sitzen am Tisch. Die Mutter hat das weisse Tischtuch aufgelegt, das sie von den Nonnen geschenkt bekommen hat, und es gibt Fleisch. Noch vor dem Kirchgang hat die Mutter den Braten in den Ofen gelegt, gespickt mit Knoblauch. Vaters Lieblingsessen. Die Schwester senkt den Kopf. Der Bub sieht die Mutter an. Es ist nicht mein Ball, sagt er, er gehört Alex.

Die Mutter steht auf und macht sich an der Kommode zu schaffen. Über der Kommode hängt die Uhr, die der Vater von seinem Grossvater hat, der vor dem Krieg geflohen ist und nach Brasilien kam. Jeden Sonntag, nach dem Mittagsschlaf, holt der Vater die Uhr vom Nagel. Er öffnet ihre gläserne Tür, reinigt das Zifferblatt, den Pendel, untersucht besorgt ihre Wurmlöcher, dreht sie auf den Rücken, bewundert das Uhrwerk. Auf der Kommode steht das Hochzeitsfoto, schwarzweiss, in einem Rahmen aus Karton. Darauf sehen die Eltern aus wie aus einem Märchen gemalt, und manchmal denkt der Junge, er selber sei eine Erfindung aus einer anderen Zeit, und das ist ein schöner Gedanke. Mit viel Krach öffnet und schliesst die Mutter eine Schublade, dreht sich um und stemmt die Hände in ihre Seiten. Ich habe ihm den Ball geschenkt. Mit meinem Geld.

Der Vater steht auf. Ich will das nicht. Ich will keinen verdammten Fussballer.

Aber er ist ein guter Bub.

Der Vater hat einen roten Kopf, mit der Faust schlägt er auf den Tisch. Er zittert. Die Mutter fasst sich ans Herz. Sie zittert. Das sieht komisch aus, Mutter und Vater wie ein Wackelpudding und mit roten Köpfen. Affenliebe, schreit der Vater. Er quietscht, heiser wie der Esel, der auf dem Friedhofsplatz angebunden ist. Lässt den Braten stehen und schlägt die Türe zu. Den Ball nimmt er mit.

Weine nicht, sagt der Junge zu seiner Schwester.

Am Abend liegen sie zusammen im Bett, wo er ihr eine Geschichte erzählt. Sie liebt seine Geschichten, aber nur, wenn sie gut enden. Er erzählt vom Riesenwels und dem kleinen Krokodil, die beste Freunde sind. Als sie glücklich den Piranhas entkommen, fragt er: Warum Affenliebe? Seine Schwester ist zwei Jahr älter, weiss auf alles eine Antwort. Wegen der Mutter! Weil sie eine Indiofrau ist. Das ist nicht wahr. Ihre Grossmutter war eine Indiofrau. Und faul ist sie auch nicht. Aber sie glaubt an den Teufel, und er sagt, all diese Teufel gibt es gar nicht.

Und warum hat er sie denn geheiratet?

Weil er jung und dumm war.

Hat er das gesagt?

Ja, wenn er mit seinen Freunden Schnaps trinkt.

Der Friedhofwärter ist so ein Freund. Der Lehrer auch. Der Vater von Alex aber ist sein Chef.

Jetzt ist er nicht mehr jung, sagt der Bub. Er erzählt seiner Schwester noch eine Geschichte, aber sie kann nicht einschlafen. Bis die Türe geht, und unter der Decke geben sie sich die Hand. So wie er die Tür öffnet, weiss der Bub ob der Vater sehr wütend ist oder nur wie immer. Das hat er im Gefühl. Der Vater ist Vorarbeiter auf der Farm des Chefs. Dort wächst Soja, es gibt auch Schweine und eine Herde mit jungen Stieren. Früher hatten sie ein Pferd zuhause. Aber jetzt sitzt der Vater auf einem Traktor. Am Samstag muss der Bub zuerst den Traktor abspritzen und ihn danach zum Glänzen bringen. Er hat darauf schon einige Runden gedreht. Der Junge denkt nicht daran, seinen Vater umzubringen. Das ist eine Sünde. Das muss man beichten. Und so was kann man nicht beichten. Vielmehr hat er ein Bild im Kopf. Dieses Bild vertreibt andere Bilder. Ein Bild, das ihm durch den Kopf geht, ist, wie er den Vater mit dem Traktor über den Haufen fährt. Das geht ihm hin und wieder durch den Kopf, und dann nennt ihn der Lehrer einen Träumer. Seine Schwester und seine Mutter besuchen ihn im Gefängnis. Aber dort gibt es keinen Ball. Und der Vater liegt tot und überfahren am Boden. So etwas möchte er nicht sehen. Das schlägt auf den Magen.

Frühmorgens auf der Schafweide hinter dem Friedhof. Da liegt einer und schläft. Da liegt hin und wieder einer und schläft seinen Rausch aus. Der Junge tritt den Ball gegen die Mauer, aber so richtig ist er nicht bei der Sache. Und die Versuchung ist einfach zu gross. Und er zielt auch nicht auf den Kopf. Bloss auf den Hintern des Mannes, der auf dem Boden liegt.

Und er trifft. So ist es, wenn er und der Ball gut drauf sind.

Braucht nur eine Adresse denken, und schon fliegt der Ball dorthin. Manchmal sogar ans andere Ende des Platzes, wo schon der Alex hinrennt. Oder er rollt links unten neben dem Pfosten ins Netz, genau so, dass ihn der Torhüter nicht erwischen kann. Oder trifft den Hintern des Betrunkenen. Aus einem Abstand, der es dem Jungen erlaubt, sich rasch aus dem Staub zu machen. Nur dass der Mann liegen bleibt und nicht hoch juckt mit einem bösen Fluch auf der Zunge. Er bleibt liegen. Und dann, wie er den Ball holt, sieht es der Junge. Der Mann hat ein Loch in der Stirn und hinten ist Blut ausgelaufen und noch etwas, was nicht schön aussieht. Die Frauen auf dem Weg zur Fabrik rennen hinzu, gucken zum Himmel und bekreuzigen sich. Ein Dieb. Den kenne ich, der war schon im Gefängnis. Hat Frauen belästigt. Gut gemacht. Der Junge kann nicht wegschauen. Hat schon gesehen, wie die Mutter einem Huhn den Hals umdreht, wie der Vater mit seiner Pistole einem Schwein in den Kopf schiesst, wie die Viehtreiber einer Kuh den Hals aufschneiden, bis sie verblutet. Aber, brummt ein Gemeindearbeiter, der plötzlich dasteht, auch da drin steckte ein Mensch. Und der Junge sieht den Toten, und dann sieht er seine eigenen fremden Füsse, seinen eigenen fremden Bauchnabel, und die Frage durchzuckt ihn, was das ist, was ihn ihm steckt, ein Mensch vielleicht, ein Teufel oder ein hungriges Tier. Was stehst du da rum, schimpfen die Frauen, hau ab, ist ja kreideweiss, der Junge.

In der Schule interessiert er sich für Geschichte. In Geschichte wird immer jemand umgebracht. Da kann man was lernen.

Im Rechnen nicht. Im Rechnen ist er nicht so gut, aber Alex lässt ihn abschreiben.

Der Junge kümmert sich um seine eigenen Rätsel. Die sind verdammt kniffliger als alle, die der Alex noch vor dem Frühstück löst. Weil es nie eine richtige Antwort gibt. Nur eine schlechte und eine noch schlechtere. Es fängt an, wenn er sich vergisst, morgens an der Friedhofsmauer. Dann muss er sich überlegen, ob es sich lohnt, noch in die Schule zu gehen. Das hängt davon ab, ob ihm eine Ausrede einfällt. Die Mutter hat vergessen zu wecken, geht schon lange nicht mehr. Einer alten Frau den Einkauf nach Hause bringen, das war mal gut. Der Friedhofswärter hat mich in die Kirche gesperrt, weil der Ball über die Mauer geflogen ist, ist sehr gut. Aber was, wenn sich Lehrer und Friedhofswärter sonntags treffen und es dem Lehrer einfällt zu fragen. Hat der Junge wieder Probleme gemacht? Warum? Hast ihn doch in die Kirche gesperrt? Ja, aber das war vor einem Jahr.

Leichter ist es, eine Entschuldigung zu schreiben und Vaters Unterschrift zu fälschen. Darin hat der Junge Übung. Aber dann lungert er am Fluss rum und es kommt, ohne dass er es will, der Hunger. So geht er zur Bäckerei und lässt anschreiben. Die Mutter, falls sie es merkt, kann er schon beruhigen. Sie ist wie seine Schwester, hat gerne schöne Geschichten. Weißt du, der Marcos, der Sohn von der Eierfrau -

Ich weiss schon, die Witwe vom Kuhtreiber Felix! Er hatte Hunger!

Der Arme!

Die Mutter liebt es, seine Erzählungen zu kommentieren.

Und die ganze Klasse hatte doch was zu essen. Nur der kleine Marcos nicht.

Und da hast du?

Da habe ich ihm was besorgt in der Bäckerei.

Guter Junge. Und dem Vater wollen wir nichts sagen.

Nur wird die Bäckersfrau fragen: Junge, was ist los, wieso bist du nicht in der Schule?

Da kann er sagen, der Lehrer hat mich nach Hause geschickt, weil ich mit dreckigen Händen zur Schule kam. Das glaubt die Bäckersfrau beim ersten Mal. Aber glaubt sie ihm auch, dass ihn die Mutter mit dreckigen Händen zur Schule gehen lässt? Und erzählt sie es nicht brühwarm der Mutter? Und der kann er nicht vorlügen, die dreckigen Hände kämen vom Fussball spielen hinter dem Friedhof, obwohl das die Wahrheit ist. Weil sie ja denkt, er sei ein guter Junge und gehen jeden Morgen in die Kirche und sei dem Pfarrer ein Ministrant.

Da geht er doch lieber gleich zum Marktplatz, wo Dona Rita saftige Äpfel verkauft. Solche, die aus dem Süden kommen. So einen kann er im Vorübergehen stibitzen. Dona Ritas Mann ist Melker bei Carranza, der Vater ist sein Chef, und deshalb bleibt Dona Rita still, auch wenn sie nicht blind ist. Aber sie will nicht, dass ihr Mann Probleme bekommt bei der Arbeit.

Davor hat Dona Rita Angst. So etwas hat der Junge im Gefühl. Die Bäckersfrau und seine Mutter denken, der Junge sei ein guter Junge.

Dona Rita und einige andere denken, der Junge sei ein böser Junge. Etwa die Kinder des Chinesen, denen er den Ball stiehlt. Der Chinese ist gar kein Chinese, er wird nur so genannt, weil er einen Ramschladen führt. Wenn ihr etwas sagt, drohte er den Kleinen, ruf ich das Monster.

Das Monster ist gross wie ein Bär, hat nur ein Auge, die Haut ist wie von einem Krokodil, die Füsse stehen verkehrt rum, die Hände sind mit riesigen Krallen bewehrt, das rote Maul zwischen Brust und Bauch öffnet sich wie der Reissverschluss einer Jacke. Damit frisst es die kleinen Kinder. Und glaubt bloss nicht, ihr könnt wegrennen. Das Monster stinkt nämlich wie ein verdorbener Fisch. Davon wird euch augenblicklich schlecht, und deshalb könnt ihr nicht wegrennen und deshalb werdet ihr gefressen. Das bringt die Kinder des Chinesen zum Weinen, und er macht sich mit ihrem Ball davon. Es ist ein gelber Plastikball, mit dem er sich aber nicht versteht. Keine Freundschaft entsteht, jeder macht, was er will, jeder ist böse auf den andern, und deshalb gibt er den Gelben den Kleinen zurück.

Wenn ihr was sagt, rufe ich das Monster! Rasch rennen sie weg.

Oder die Religionslehrerin! Er weiss selber nicht, was ihn dazu bringt, ihr eine kleine Lianenschlange auf den Stuhl zu legen, harmlos und überhaupt schon tot. Und zu sagen, hören Sie, eine Hölle gibt es nicht, und einen Teufel habe ich nie gesehen. Vielleicht, weil die andern der Klasse lachen und grölen, wenn er frech ist. Und dabei ist die Religionslehrerin eine Gute. Sie ist rund und gut. Der Lehrer ist viereckig wie ein Radiergummi, und er ist böse. Es gefällt ihm, die Mädchen weinen zu sehen, wenn plötzlich sein langer Stock auf sie zielt. Den Rücken steif, den Kopf erhoben, so geht er auf und ab vor der Klasse und stellt der Decke seine Frage: Die Hauptstadt von Argentinien? Er geht noch ein paar Schritte, lässt die Frage in eine Stille ausklingen, die immer stiller wird, bis der Stock ausfährt: Hausaufgaben gemacht? Oder wieder zu faul? Aus dir wird auch nichts Besseres als aus deiner Schwester. Was macht sie? Küchenhilfe? Ja, so sagt man dem heute, Küchenhilfe. Und nicht einmal dazu reicht es dir. Das ist genug, um ein Mädchen zum Weinen zu bringen. Das gefällt dem Lehrer. Und der Junge duckt sich. Sonst aber gefällt es ihm. Für einige Leute ist er ein guter Junge, für andere ein böser. Nur darf er die Dinge nicht durcheinanderbringen. Wann es gut ist, böse zu sein, und wann nicht.

Der Gemeindepolizist kennt seine Mutter, und bei ihm ist er ein guter Junge. Aber einmal, als er auf dem Markt einen Apfel klaut, da hört er die Stimme des Polizisten, bleib stehen, du Gauner, und rasch rennt er davon. Durch den dichten Busch zum Fluss runter, wo die Zigeuner und Vagabunden leben. Das sagt sein Vater. Die Vagabunden leben in Hütten aus Blech und Brettern, die auf Pfählen stehen. Hier ist seine Mutter aufgewachsen. Bis die Klosterschwestern kamen.

Er wirft sein rotes Leibchen weg und sagt seiner Tante Lena, rasch, ich brauch was anzuziehen, sonst kann ich nicht nach Hause. Nackte Kinder turnen auf dem angeschwemmten Holz, Hühner gackern, und ein paar kleine schwarze Schweine stieben davon. Die Tante schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

Was ist, Junge? Wieder was mit dem Vater?

Sie bringt ihm ein weisses T-Shirt mit der Aufschrift Seahawks Warrior. Damit geht er auf den Markt zurück und grüsst den Polizisten. Du? ruft der Mann und schaut ihn an, wie eine Kuh, der man in den Hintern getreten hat, habe ich dich nicht eben gesehen? Wieso, sagte der Junge, und das Herz klopft wie verrückt, bin erst gerade gekommen. Die Schule ist früher aus. So, sagt der Polizist, und tätschelt sein Gesicht, da bin ich aber froh, dass ich mich getäuscht habe. Wieso getäuscht? Ach, lass nur. Geh jetzt nach Hause und grüsse deine Mutter. Und Dona Rita sieht zu und als der Junge zu ihr blickt, senkt sie den Kopf.

So richtig weiss er auch nicht, warum er Tante Lena nicht besuchen darf. Der Vater hat es verboten. Aber auch seine Mutter will es nicht. Der Vater verbietet alles, was nicht Schule ist und Flötenunterricht. Es gibt nur Probleme, sagt die Mutter, fährt ihm mit der Hand durch die Haare und schaut ihn mit diesen Augen an. Dabei geht sie selber hin, heimlich, unter dem Rock einen Sack Bohnen. Das weiss er. Die Mutter und ihre Schwester wurden im Kloster aufgezogen. Mehr weiss er nicht, und wenn er nach ihren Eltern fragt, antwortet die Mutter bloss, sie seien tot. Wenn der Junge daran denkt, dass seine Mutter auch wegsterben könnte, einfach so, muss er weinen. Er hat auch gelernt zu beten. Aber nicht in der Kirche und nicht einfach die Hände falten. Richtig beten ist, wenn alles, der Kopf, das Herz, der Bauch, wenn alles bis hinunter zum kleinen Zeh wehtut. Mach, dass sie nicht erfährt, dass ich bei Lena unten war! Wenn seine Mutter traurig ist, ist sie nicht seine Mutter. Als hätte sie kein Leben mehr, sitzt sie da, kälter als der Lauf von Vaters Gewehr, und schaut ins Leere. Sie sagt nichts und weint auch nicht. Es ist der Junge, der weint und an ihr zerrt und sagt: Es tut mir leid, es soll nie wieder geschehen.

Vaters Gewehr hängt im Keller. Die Pistole trägt er mit sich.

Der Junge geht lieber ins Hüttendorf. Das ist besser, als die Bäckerin zu belügen oder Äpfel zu klauen. Seine Tante Lena fragt nicht viel und sagt nichts weiter, und sie hat immer einen süssen Fladen aus Maniokmehl unter dem Fliegennetz. Und in der Nachbarshütte haben sie eine grosse Schüssel auf dem Dach, und drinnen einen Bildschirm, der ist so gross wie die Wandtafel in der Schule. Und wenn Fussball läuft, sitzen und liegen Kinder, Männer und Frauen kreuz und quer in den Hängematten, und wann immer möglich schimpfen sie: Das hätte unser Leo besser gemacht.

Leo Rattenjäger. Der ein Juniorenturnier spielte und danach nie mehr zurückkam. Weil er in der grossen Stadt blieb und danach nach China reiste und Vietnam und dort ein Star ist. Das weiss hier jedes Kind. Er ist es, der den riesigen Fernseher bezahlt hat und die Schüssel auf dem Dach. Und seine Eltern wohnen jetzt in der Stadt oben, und der Vater ist Platzwart beim FC Sonhonopolis. Aber aufgewachsen ist er hier. Und hatte immer eine Schleuder in der Tasche, und wenn er kein Tor schoss, so traf er bestimmt eine Ratte. Leo Rattenjäger.

Und Onkel Carlos, wenn er nicht gerade besoffen ist, erzählt, wie er dem Leo die ersten Tricks beibrachte. Das Elast. Den Hut. Die Teekanne. Der Kuh-Trick. Das Pedalo. Der Junge ist aufmerksam wie nie in der Schule, und dann fragt er: Wie geht das? Er weiss es schon lange, wie die List funktioniert. Aber er will halt, dass der Onkel Carlos aufsteht und zum Schweinestall humpelt. Dort oben, über dem Futtertrog wartet sein dressierter Affe. So nennt der Onkel den Ball, und draussen lässt er den Dressierten auf seinen dürren Schultern tanzen, den Kopf massieren, und dabei hüpft er auf den dreckigen Zehen herum, geht in die Knie. Bis der Alte dem Jungen zuruft: Und jetzt versuch mal, an mir vorbei zu kommen. Der Platz ist aus Sand und Schlamm, und der Alte hat so krumme Beine, dass eine ausgewachsene Wassermelone dazwischen passt. Aber nicht einmal dem Leo Rattenjäger ist es gelungen, Onkel Carlos den Ball zwischen den Beinen durch zu spielen.

Der Kugelschreiber. Gelingt auch dem Jungen nicht.

Die Kleinen grölen, und der Alte frohlockt, ein flinkes Füsschen alleine reicht nicht, musst immer gucken, was der andere macht. Und dann musst du schneller denken. Wenn der Junge dann schneller denkt und schneller rennt und rechts vorbei kommt, ruft Onkel Carlos: Komm mal her, damit ich dich versohlen kann! Aber dann erinnert er sich daran, dass ihm alles wehtut und er jetzt rasch den Schmerz wegsaufen muss. Der Junge wäscht sich im Fluss und seine Kleider auch und dann hofft er, dass seine Mutter in der Küche mit ihren Süssigkeiten beschäftigt ist, sodass er unbemerkt in sein Zimmer kommt. Und dort ist die Schwester, und sie sagt: Du warst im Hüttendorf, gibs zu. Die Schwester merkt alles. Sag nichts! Warum tust du das? Du weißt, dass der Vater es verboten hat. Die Schwester versteht auch den Vater. Dafür musst du für mich abwaschen, sagt sie. Und abends will ich eine Geschichte. Nach der Geschichte schliesst der Junge die Augen, und er sieht, wie der Ball geflogen kommt, wie er ihn mit links abfedert, das Becken schon rüberschiebt, und der Alte sein krummes Bein streckt, und wie er das Gewicht zurückbringt und der Alte das andere krumme Bein ausfährt, und wie er den Ball jetzt dorthin schiebt, wo eine ausgewachsene Wassermelone Platz hat. Warum lachst du? fragt seine Schwester. Ist mir was Lustiges eingefallen. So schläft er ein, den Ball am Fuss, eine List im Sinn. Einschlafen ist schön. Es ist auch nicht schlimm, dass der Vater ihm den Ball genommen hat. Bälle hat es überall. Bälle aus ausgestopften Socken, aus Palmblättern, Milchtüten, Blechbüchsen, eine Kokosnuss. Alex hat einen Ball, die Kinder des Chinesen, in der Schule hat es zwei Bälle. Im Verein hat es ganz viele Bälle. Jedes Jahr einmal sind sie bei den Carranzas zuhause eingeladen. Dem Vater von Alex gehört die Farm. Und die Werkstätte, wo die Traktoren und Erntemaschinen geflickt werden, gehört ihm, und die Tankstelle auch. Dann geht die Mutter vorher zum Coiffeur, seine Schwester mit, der Junge muss sein schönstes Hemd anziehen und der Vater knurrt: Wehe, wenn ihr euch nicht betragt. Der Junge hat etwas Bauchweh, und der Vater sagt: Bauchweh ist für Weichlinge. Die Mutter bringt Gebäck, die Schwester ist an der Hand des Vaters, und Alex selber öffnet das grosse Tor. Er boxt dem Jungen in den Arm. Heute, flüstert er, die Mutter hat es versprochen, und dem Jungen wird schlecht. Er will in den Verein, wo auch Alex spielt. Im Verein gibt es einen Trainer, Bälle und eine Juniorenmannschaft. Da hat schon Leo Rattenjäger gespielt und ist berühmt geworden auf der ganzen Welt. Alex Mutter hat blaue Fingernägel. Sie will den Vater fragen, ob der Junge in den Verein darf. Zusammen mit Alex. Sie sind draussen im Garten. Eine herrliche Jabuticaba, sagt der Vater. Und wie die Washingtonia gewachsen ist. Der Vater kennt die Namen von allen Sträuchern und Palmen.

Der Junge setzt sich auf einen Stuhl und guckt zu, wie der Gärtner ein Feuer macht. Alex und seine Schwester zählen die Fische im Teich. Carranza bringt das Fleisch für den Grill. Der Vater von Alex hat eine mächtige Stimme und aus seinem Hemd wachsen grauen Haare. Vergnügt euch, Kinder.

Sollst richtig gut sein mit dem Ball, ruft er dem Jungen zu, zeig mal was. Will sehen, ob alles wahr ist, was der Alex sagt. Auch der Vater kommt angeschlendert. Hat die Hände in den Hosentaschen und meckert: Ist alles übertrieben. Der Junge soll erst mal richtig zupacken lernen. Hör auf, Caspar, sagt sein Chef, zeig schon, was du drauf hast, Junge. Hol den Ball, Alex! Alex holt den Ball, und der Junge sagt, ich will nicht. Was hast du?, röhrt Carranza, so laut, als müsse er eine ganze Mannschaft wecken, spiel nicht den Eingebildeten! Ist ein Sensibler, sagt der Vater. Wie seine Mutter. Bin verletzt. Er lügt, er ist gar nicht verletzt. Der Junge schaut seine Schwester an. Ist doch wahr, stösst sie hervor. Du bist nicht verletzt.

Lasst ihn, wenn er nicht will!

Es ist die Stimme von Alex’ Mutter, und eine Hand fährt dem Jungen über den Kopf. Der Tisch ist mit einem weissen Tuch bedeckt, und auf jedem Platz hat es mehrere Teller und jede Menge Gabeln und Messer. Für die Vorspeise, belehrt der Vater. Es gibt einen seltsamen Salat mit Nüssen drin und Käse, aber der Junge isst ihn und auch den seiner Schwester. Die Köchin räumt ab, Carranza bringt das gegrillte Fleisch. Ein Schnäpschen für die Herren! sagt Alex Mutter, und der Vater, der schon ein paar Bier getrunken hat, ruft: Auf Ihr Wohl, gnädige Frau. Sie steht auf, um die Flasche zu holen. Ihr Mann schenkt ein. So einen Whisky, Caspar, sagt er, findest du nicht beim Chinesen.

Und was ich noch fragen wollte, sagt Alex Mutter, und jetzt glaubt der Junge, er hat ein Messer im Bauch. Er rennt hinaus, unter der Washingtonia-Palme will er sich übergeben, aber es kommt nichts.

Und wie er wieder zurück stakt auf steifen Beinen, als hätte er in die Hosen geschissen – und vielleicht hat er –, schaut der Vater weg, die Mutter ins Leere, und er sieht die Tränen in den Augen von Alex. Aber lassen wir uns den Appetit nicht verderben, sagt seine Mutter, das Gebäck von Dona Rosa wartet. Aber der Vater steht auf und bedankt sich. Morgen ist ein strenger Tag. Und auf dem Heimweg murrt er: Lass ich mir vielleicht von einer Tusse aus der Stadt sagen, wie ich meine Kinder erziehen soll? Aber er ist doch ein guter Junge, sagt die Mutter. Wenn ich das schon höre. Ein Faulpelz!

Bist du mir böse?, fragt die Schwester. Sie liegen im Bett und in der Küche streiten die Eltern. Eigentlich hören sie nur den Vater schreien. Die Mutter sitzt bestimmt nur da und starrt in eine Ecke. Und morgen, wenn sie aufstehen, wird sie immer noch so sitzen. Und der Vater wird ein paar Nächte lang nicht nach Hause kommen. Und sie müssen bei der Bäckerin anschreiben, weil kein Geld im Haus ist. Ich bin dir nicht böse, sagt der Junge, und nach einer Weile fragt er sie: Hast du manchmal das Gefühl, du gehörst nicht hierher?

Wie meinst du das? Er sagt nichts. Sie rutscht näher. Du machst mir Angst. Was hast du vor? Du gehörst zu mir. Wir gehören zusammen. Immer und ewig. Er packt ihre Hand und drückt sie so fest wie er kann. Er möchte weinen, aber da ist dieses Loch im Bauch und das ist das Einzige, was er fühlt. In die Nacht hinein sagt sie: Er meint es gut. Er will nur, dass etwas wird aus dir.

Ich weiss, deshalb sagt er mir, wie alle Blumen und Sträucher heissen. Und dann muss ich ihren lateinischen Namen suchen.

Damit du studieren kannst. Und neue Sorten von Mais erfinden kannst und von Soja und von Reis. Das ist die Zukunft, sagt er. Fressen müssen die Menschen immer. Willst du nicht studieren?

Ich weiss es nicht, sagt der Junge, und stellt eine Mauer auf mit all seinen Schulkameraden, nimmt Anlauf und schiesst den Ball, knapp über den Kopf von Alex, ins Lattenkreuz. Alex ist im Verein. Seine Mutter hat Hände wie ein Engel.

Aber sie weint immer, sagt Alex.

Der Junge ist nicht im Verein. Der Vater hat es verboten. Deshalb muss er den Vater umbringen. Oder weggehen. Oder beides. Wenn ich weggehe, kommst du dann mit? Der Junge und Alex sitzen auf einem Stamm am Fluss unten. Alex senkt den Kopf. Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen, antwortet er. Meine sagt, flüstert der Junge, sie kann mir nicht helfen. Ich kann dir nicht helfen, mein Junge. Die Männer sind böse.

Wenn du gehst, sagt Alex, kannst du meinen Ball haben.

Und die Schwester gehört ihm auch nicht mehr. Criusa schminkt sich und will keine Geschichten mehr hören. Das ist für Kinder.

Ich will weg, denkt er. Vielleicht denkt er es auch nicht. Aber es ist in seinem Kopf. Und dort ist auch dieses Bild. Wie alle weinen, weil er weg ist. Die Mutter, die Schwester, Alex und seine Mutter, die Religionslehrerin. Nur der Vater ist nicht auf diesem Bild.

Und wie er dann zurückkehrt, in einem roten Sportwagen, wie Leo Rattenfänger einen fährt, und wie ihn alle umarmen wollen und wie er fragt: Wo ist meine Schwester, und wie er ihr sagt, das Auto ist für dich, und für die Mutter baue ich ein Haus mit fliessendem Wasser.

Wenn seine Schwester nicht in der Schule ist, hockt sie beim Vater. Im Schopf, wo er mit den anderen nach der Arbeit Fleisch auf den Grill wirft und Schnaps trinkt.

Aber du hast gesagt, wir gehören zusammen, immer und ewig.

Sie wirft den Kopf zurück und kämmt das Haar.

Du bist mein Bruder und ich bin deine Schwester.

Wieso schläfst du nicht mehr in meinem Bett ein?

Kannst alleine vom Fussball träumen!

Sie schaut ihn an und er möchte wissen, wieso sie traurig ist. Aber dann hat er Angst, dass es etwas anderes ist, was er in ihren Augen sieht, vielleicht ein Glück, das ihm verborgen ist. Das macht ihn wütend.

Niemand mag mich, sagt er.

Jetzt wird die Schwester wütend. Sie prügelt auf ihn ein. Das hat sie noch nie gemacht. Er hält sich die Arme vor den Kopf. Hör auf, bist du verrückt! Sie lässt die Arme sinken, Tränen schiessen aus ihren Augen. Sag das nie mehr, stösst sie aus, und ihr Kopf glüht, als hätte sie Fieber.

Er zuckt die Schultern. Dann sitzen sie auf dem Bett. Ich bin kein Kind mehr, sagt die Schwester.

Warum?

Der Vater sagt es.

Mich mag der Vater nicht.

Er meint es nur gut, sagt sie.

Er schweigt.

Wenn die Mutter nicht in der Kirche ist oder auf der Strasse, um ihre Süssigkeiten an die Kunden zu bringen, steht sie in der Küche. Das ist ein schöner Ort. Es riecht nach Zimt und Vanille, nach Mandeln und Zuhause. Aus dem kleinen Transistorradio kommt Musik, und manchmal singt die Mutter mit. Es ist schön, die Mutter glücklich zu sehen, und der Junge sagt: Warum gehen wir nicht weg?

Sie steht hinter dem mehlbestäubten Tisch, hat ihr langes schwarzes Haar zusammengebunden und in ein weisses Netz gesteckt. Jetzt hört sie auf, den Teig zu kneten, und schaut ihn an, die Augen offen und der Mund auch.

Was sagst du da?

Und wie sie ihn so aufgeschreckt ansieht, weiss der Junge, dass sie auch daran gedacht hat.

Wie stellst du dir das vor?, fragt sie, und mit ihrem mehlbedeckten Arm wischt sie den Schweiss aus dem Gesicht. Es ist still und aus der Stube hört man die Kuckucksuhr des Grossvaters. Sie schaut ihn an. Dann dreht sie den Kopf weg.

Er bringt das Geld nachhause. Wir haben doch kein Geld.

Ganz leicht fühlt sich der Junge, der Schmerz im Bauch ist weg, er juckt von seinem Hocker auf und drückt sich an seine Mutter. Keine Angst, wir gehen in die grosse Stadt. Dort werde ich Fussballer und verdiene viel Geld.

Und jetzt lacht die Mutter, kann sich nicht halten vor Lachen, und fährt ihm über die Haare: Bist ein guter Junge. Der Junge beisst die Zähne zusammen und sein Bauch ist hart und schmerzt. Er setzt sich ein bisschen hin, aber dann geht er raus, um einen Ball zu suchen.

Traumpässe

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