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Luzifer, der Lichtträger

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Es war Hochsommer. Maria Theresia Sanoner1 trat durch das Aufgangstor zum Kloster. In den kühlen Gassen des mittelalterlichen Städtchens hatte sie sich ausgeruht und war nun für den letzten Anstieg bereit.

Der Treppenaufgang bis über die Dächer der Stadt, mit den unregelmäßig hohen Steinstufen, machte ihr zu schaffen. Auch wenn sie noch jung war, spürte sie nach dem stundenlangen Fußmarsch von Wolkenstein über St. Ulrich, St. Peter, Lajen und Albions bis nach Klausen Müdigkeit in den Beinen. Doch sobald sie sich wieder warmgelaufen hatte, fiel ihr das Gehen – auf dem Schotterweg an der Burgruine Branzoll, dem alten Hauptmannsschloss, vorbei und den ersten Stationen des Kreuzweges entlang – wieder leichter. Die Sonne brannte trotz fortgeschrittener Stunde immer noch unerbittlich auf ihr kleines Bündel, das sie am Rücken trug.

Als sie nach der ersten Kehre an der IV. Station den Bischofshof, den einzigen Hof entlang des Weges, erreicht hatte, drehte sie sich um und überblickte gegen Süden das Tal mit dem Eisack, der im Abendlicht wie eine glitzernde Ringelnatter dahinkroch. Auf der gegenüberliegenden Talseite türmten sich über dem dichten Wald von Ciani gewaltige Wolken auf. Zu Hause wird es wohl schon gewittern, dachte sie. Das Grödental lag hinter der Waldkuppe und man konnte es von Säben aus nicht sehen.

Der Weg wurde nun etwas steiler und war mit groben Natursteinen gepflastert. Sie spürte die Hitze am Hinterkopf und zog ihr Halstuch über den Kopf. Ein Kopftuch hatte sie auch zu Hause bei der Arbeit im Stall und auf dem Feld getragen. Die Haube würde für sie keine Umstellung sein. Der Anstieg endete an der VI. Station; dort war sie bereits am hinteren Rand des Dioritfelsens angelangt. Bei Gesteinen kannte sie sich aus, schon seit ihren Grödner Kindheitstagen.

Erschöpft setzte sie sich auf einen großen Stein und sah mit gemischten Gefühlen ins Tal hinunter. Würde sie jemals wieder zurückkehren? Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, wollte ihn nicht weiterspinnen und setzte ihren Weg entlang der Rebmauer fort. Hier raschelte und knisterte es laut im Gebüsch oberhalb des Weges. Eidechsen huschten aufgeregt umher, Vögel flatterten ängstlich davon. Und plötzlich sah sie ein kleines eigenartiges Tierchen, das ihr gänzlich unbekannt war. Erstaunt beobachtete sie, wie es gemächlich an einem Grashalm hochkletterte. Es war weder ein Schmetterling noch eine Heuschrecke. Die gab es auch in ihrem Tal, und sie kannte sie genau. Das Tier sah einer Heuschrecke zwar ähnlich, doch war es größer, grasgrün, hatte Flügel und sechs lange Beine, wobei die Vorderbeine sich wie zwei Zangenarme bewegten. Maria Theresia beobachtete gespannt die langsamen Bewegungen des Tieres, da drehte es seinen dreieckigen Kopf in ihre Richtung und sah ihr mit seinen grünen Facettenaugen direkt ins Gesicht. Da Maria Theresia ihm zu nahe getreten war, hielt es ängstlich inne, hob die vorderen angewinkelten Zangenarme wie zwei gefaltete Hände gegen den Himmel, wobei auf der Brust die Zeichnung eines vorgetäuschten schwarz-weißen Augenpaares sichtbar wurde, das zur Abschreckung diente, wie sie später von der Äbtissin erfuhr. Sie war einer Gottesanbeterin, Mantis religiosa, einer religiösen Seherin, begegnet. Etwas verwirrt und doch zuversichtlich ging Maria Theresia weiter, bis sie nach der letzten Kehre die VIII. Station erreichte. Dort öffnete sich das Rundbogentor der unteren Klausurmauer des Klosters.

Als sie durch das Tor trat, sah sie zu ihrer Rechten die hohe Wehrmauer mit den Schwalbenschwanzzinnen, den Schießscharten und dem großen baufälligen Mäuseturm, in dem sich – wie man im Städtchen erzählte – Geister tummelten. Er wurde auch Herrenturm genannt, denn er diente seit jeher dem Beichtvater, dem Kaplan und von Zeit zu Zeit den Zimmermännern, dem Müller oder dem Altardiener als Herberge, bis eine der ersten Äbtissinnen von Säben, M. Agnes Thekla Zeiller, um das Jahr 1740 das Paterhaus auf der Hinterseite des Klosterkomplexes erbauen ließ. Doch Maria Theresia wusste noch nichts von alledem und betrachtete erstaunt das gewaltige, abbröckelnde Mauerwerk des Säbener Wehrturms, an dem die Steine wie ein Damoklesschwert über den vorübergehenden Pilgern zu hängen schienen. Gleich dahinter erblickte sie die Liebfrauenkirche.

Als sie im offenen Vorhof der Kirche stand, hatte sie nach ihrem langen, beschwerlichen Marsch endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Sie betrat die sommers bis am späten Nachmittag offene Kirche. Die Nachmittagssonne, die durch die Fenster strahlte, hatte die Deckenmalerei zu einem hellen Aufleuchten geweckt. Etwas so Schönes hatte Maria Theresia noch nie gesehen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von den prächtigen Bildern und Farben lösen.

Die acht birnenförmigen Freskomalereien der Kuppel2 stellten das Leben Marias von der Geburt bis zur Krönung dar, und Maria Theresia erinnerte sich an einzelne Erzählungen aus ihrer Kindheit, die Expositus Dominikus Trocker3 in den Predigten erzählt hatte. Die dutrina, der Unterricht in der christlichen Lehre auf Italienisch und Ladinisch, war ihre einzige Bildungserfahrung in der Jugend gewesen, denn sie war bereits 15 Jahre alt, als Kaiserin Maria Theresia in Tirol die Schulpflicht einführte. Aber da der Landesfürst Ferdinand II. schon im 16. Jahrhundert das Schulwesen in Tirol gefördert hatte, um der Ausbreitung des Luthertums und der Täuferbewegung entgegenzuwirken, hatten etliche Schulmeister und Geistliche auch in kleineren Dörfern die Glaubenslehre sowie Lesen und Schreiben gelehrt. In Tirol hatten vor allem der Bündner Jörg Cajacob aus Bonaduz, der in Gufidaun wirkte und 1529 in Klausen als Ketzer verbrannt wurde, und der Pustertaler Jakob Hutter aus Moos, der 1538 in Innsbruck hingerichtet wurde, großen Anklang gefunden. Zur Zeit der Gegenreformation wurde der Kirche die Wirksamkeit der Schulbildung zur Bekämpfung der neuen Lehre bewusst, und so hatte auch Maria Theresia Sanoner bei Expositus Trocker durch den Religionsunterricht Lesen und Schreiben gelernt.

Jetzt konnte sie es kaum erwarten, das Kloster zu erreichen. Gegenüber dem Mäuseturm stand in der inneren Klausurmauer ein großes Tor offen. Es war der Pilgerweg, der, an den letzten Stationen entlang einer etwas niedrigeren Mauer, durch den Klostergarten hinauf zum Kloster führte. Von dort gelangte man durch einen Torturm und über Stufen in die Klosterkirche. Ein bischöfliches Dekret verlangte, dass die Klosterkirche, die Heilig-Kreuz-Kirche und die Gnadenkapelle bei der Liebfrauenkirche den Pilgern tagsüber immer zugänglich blieben.

Maria Theresia nahm diesen Weg durch den Garten und begegnete höchstwahrscheinlich mehreren Pilgern. Wir stellen uns jedoch vor, wie sie stattdessen den Kreuzweg, der an der Klausurmauer außen entlang und durch zwei Tunnel führte, hinaufging, der freilich erst 100 Jahre später neu errichtet wurde. Um 1880 waren umfassende Umbauarbeiten am Klostergebäude und der Abbruch des Torturmes vonnöten gewesen. Außerdem drohte am östlichen Gartenrand der Felsen abzurutschen, sodass eine neue Kirchenmauer errichtet werden musste. Bei dieser Gelegenheit wurde der Klosterweg nach außen, der westlichen Klausurmauer entlang, verlegt, wobei die zwei Tunnel in den Felsen gesprengt werden mussten. Dadurch verlor die Anlage weitgehend ihr Aussehen einer mittelalterlichen Festung und gewann die Ausstrahlung eines Monasteriums.

Maria Theresia machte sich also auf, das letzte Wegstück zu gehen. Sie hoffte, keinen Pilgern zu begegnen. Den ganzen Tag über war sie allein unterwegs gewesen und hatte sich gedanklich auf die Aufnahme im Kloster vorbereitet. Nun wollte sie nicht noch zudringliche Fragen beantworten müssen, wie „Woher kommen Sie?“ oder „Was haben Sie vor?“.

Der Weg führte an der X. Station vorbei und in leichter Steigung an der Zinnenmauer entlang. Hinter dem Bergrücken hatte Maria Theresia nun einen freien Blick auf den Eingang ins Tinnetal und das Dorf Latzfons, das mit seinem Kirchturm wie ein Vogelnest am Hang klebte. Zu ihrer Linken sah sie, dass sie beinahe die Höhe von Schönberg4 und dem Ansitz Gravetsch erreicht hatte. Die zwei kleinen Kapellen der XI. und der XII. Station, an denen sie kurz innehielt, standen in kurzen Abständen an der Talseite des Weges, und Maria Theresia erreichte bald den ersten in den Felsen gebrochenen Tunnel. Sie hatte ein etwas unheimliches Gefühl, als sie durch den dunklen und engen Durchlass ging. Das Wasser rann an den Felsenwänden herab und tropfte auf ihren Kopf, sodass sie den Schritt beschleunigte, um schneller wieder ans Licht am Ausgang des Tunnels zu gelangen. Dort durchbrach ein zweiter kurzer Tunnel die innere Klausurmauer. Dann stand sie auf dem kleinen Vorplatz am Treppenaufgang zu den Kirchen. Links sah sie die XIII. Station, auf der rechten Seite des Platzes war die Empfangspforte mit dem Sprechgitter und der Windenvorrichtung. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

Es war das Jahr 1785. Bei Tagesanbruch, als die Sonne hinter dem Sellastock aufging, war Maria Theresia Sanoner von zu Hause aufgebrochen. Der elterliche Hof Burdengëia auf Daunëi in Wolkenstein am nördlichen Sonnenhang war im Sommer von prächtigen Wiesen und im Winter von einer hohen Schneedecke umgeben, mit einem Rundblick vom Langental über die Berge von Puez, die Cirspitzen, die Sellagruppe und den Langkofel.5 Der Entschluss der jüngsten Tochter, ins Kloster zu gehen, kam für die Familie unerwartet, und Maria Theresia wurde unter Tränen verabschiedet. Aber sie hatte sich schon seit ein paar Jahren mit diesem Gedanken beschäftigt. Im Dorf hatte sie sich nur der drei Jahre älteren Maria Dominica Senoner anvertraut, die ebenfalls die Absicht hatte, ins Kloster Säben einzutreten, und die ihr fünf Jahre später tatsächlich folgte.

Am frühen Morgen war Maria Theresia noch wie jeden Tag in den Stall gegangen und hatte dem Vater beim Füttern und Ausmisten geholfen. Doch vor allem wollte sie sich von den Tieren verabschieden. Das Leben ohne ihre geliebten Tiere war das Einzige, vor dem sie Angst hatte.

Maria Theresia wurde am 23. Mai 1759 zu Burdengëia in Wolkenstein geboren. Schon als kleines Mädchen hatte sie die Gewohnheit, die Erwachsenen bei allem, was sie taten, und bei allem, was sie sagten, genau zu beobachten. Sie verstand so vieles nicht und dachte stets, dass sie als Erwachsene sicherlich alles durchschauen würde. Damals wunderte sie sich immer über das hohle Gespräch der Leute und verbrachte ihre Zeit am liebsten bei den Tieren. So ergab es sich, dass sie frühmorgens wie abends mit ihrem Vater in den Stall ging. Sie liebte es, die Kühe, die Kälber, die Ziegen und die Schafe, die Hennen und alle anderen Kleintiere zu versorgen. Ohne die Schweine zu vergessen, denen sie besonders zugetan war. Sie sprach immerfort mit ihnen, denn sie hatte das Gefühl, dass sie sie sehr gut verstanden.

Die Gewissheit, in dieser Welt fremd zu sein, hatte sich bereits früh bemerkbar gemacht. Es verwirrte Maria Theresia, wenn die Menschen das eine sagten und das Gegenteil taten. Sie war immer davon ausgegangen, dass alle es gut mit ihr meinten. So wurde sie öfters enttäuscht. Aber sie verlor dennoch nicht das Vertrauen in die Menschen. Als sie schon eine junge Frau war, drehte sie sich immer häufiger einfach auf die andere Seite, um nichts zu sehen und nichts zu hören.

Maria Theresia war nicht stark genug. Jeder Hausschlachtung versuchte sie durch eine Ausrede fernzubleiben. Sie erfand Verpflichtungen im Dorf oder kleine Arbeiten im Wald, um nicht sehen zu müssen, wie der Metzger die Kälber, die sie oft mit einem Stoffschnuller aufgezogen hatte, aus dem Stall zerrte und abstach. Am schlimmsten war im Herbst das Schweineschlachten.

Im Laufe der Jahre war sie immer empfindlicher und so verletzbar geworden, dass sie keinen Lärm mehr ertrug. Sie hatte zwar gehofft, dass für sie das Leben mit der Zeit erträglicher würde, doch das Gegenteil war eingetreten. Das Wegschauen oder Nichtdarandenken halfen zwar vorübergehend, doch es waren nur kurzfristige Selbsttäuschungen. Ihre Empfindsamkeit verwandelte sich immer mehr in Angst vor den Menschen und vor dem Alltag, und sie konnte kaum noch ins Dorf hinunter oder in die Messe gehen. Sie wurde immer misanthropischer und der Abstand zur Welt jedes Mal größer. Ans Heiraten war überhaupt nicht zu denken. Die Vorstellung, sich einem Mann zu unterwerfen und ein Kind nach dem anderen zu gebären, erfüllte sie mit Entsetzen.

Ein Leben im Kloster erschien ihr als der verlockende Weg, den Aufdringlichkeiten der Welt zu entrinnen. So wurde sie von Tag zu Tag entschlossener, auf Säben um Aufnahme zu bitten. Sie war 26 Jahre alt, als sie ihren Wunsch zu Hause mitteilte und bald darauf an jenem Sommermorgen zum großen Leidwesen ihrer Eltern von daheim wegging, obwohl das Grummet noch aufzunehmen gewesen wäre.

Nun stand sie vor der Klosterpforte und musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um an der Glockenkordel zu ziehen. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Zu Hause war sie zwar sonn- und feiertags immer in die Messe gegangen, doch über Religion, Glauben und den Orden wusste sie nicht viel.

Eine noch recht junge Klosterpförtnerin schien schon auf sie gewartet zu haben. Es war Schwester Veremunda, Gräfin von Graßegg, die sie auch gleich ins Obergeschoss führte, wo die Äbtissin in einem kleinen Kabinett die Gäste zu empfangen pflegte. Maria Theresia spürte ihr plötzliches Herzklopfen und wäre am liebsten wieder davongelaufen, aber da stand schon die Äbtissin, Chorfrau Maria Candida Mayr, vor ihr, reichte ihr beide Hände und umarmte sie herzlich. Sie sprach nur wenige einfache Grußworte, und Maria Theresia stammelte leise vor sich hin: „Ehrwürdige Mutter, ich …“ Doch die Äbtissin beruhigte sie und führte sie ins große Dormitorium6, den Schlafsaal der Schwestern, und zeigte ihr die Bettstatt, auf der sie sich ausruhen sollte.

Nun war Maria Theresia allein. Sie lauschte der vollkommenen Stille. Da spürte sie die tiefe Ruhe ringsum und bemerkte, dass ihre vorige Ängstlichkeit verschwunden war. Erschöpft hatte sie sich auf das Bett gelegt und war offensichtlich sofort eingeschlafen, denn ihr schien, eine Ewigkeit wäre vergangen, als sie von einer der Schwestern sanft geweckt wurde.

Es war Abendessenszeit. Auf Säben war sie sehr früh angesetzt. Während eine Schwester aus der Bibel vorlas, aßen Chorfrauen und Laienschwestern gemeinsam in aller Stille ihre Suppe und ein Stück Brot. Nach dem Essen standen die Schwestern erst auf, als die Äbtissin ein Glockenzeichen gegeben hatte. An jenem Abend trat die Äbtissin noch an Maria Theresia heran, die ganz rot wurde und aus Verlegenheit den Kopf senkte. Da es draußen noch hell war, ermunterte sie die Äbtissin: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen unseren Garten.“

Die Äbtissin Maria Candida ging voraus, um Maria Theresia den Weg durch Gänge und über Treppen in den Garten zu zeigen. Zuerst betraten sie den inneren, durch hohe Mauern geschützten Garten, wo sich betäubend duftende Kräuterbeete direkt am Kücheneingang befanden.

Da trat Magdalena Told aus der Küche und kam auf sie zu. Chorfrau Magdalena, genannt die Toldin aus dem Pustertal, war schon seit zehn Jahren auf Säben und eine tüchtige Küchenmeisterin. Sie erklärte Maria Theresia fachkundig die einzelnen Kräuter: Petersilie, Koriander, Dill, Kümmel, Bohnenkraut, Liebstöckel, Gartenkresse, Lorbeer, Rosmarin, Salbei, Schnittlauch, Thymian, Melisse, Estragon bzw. Kaiserkraut oder Schlangenkraut, Senfkraut und Bärlauch, der in einer schattigen Ecke unter Laubgehölz wuchs. Für Maria Theresia waren all diese Namen und Gräser unbekannt, hatten sie doch bei ihr zu Hause, auf 1700 Meter Meereshöhe, nur für zwei Sommermonate einen kleinen Garten mit etwas Salat und Pastinaken sowie ein kleines Feld für Gerste und Kartoffeln gehabt.

Die Äbtissin bemerkte, wie befangen Maria Theresia zuhörte, und sagte aufmunternd: „Wir wollen in den unteren Garten gehen, denn hier ist das unheimliche und obskure Reich der Chorfrau Karitas, der Apothekerin des Klosters. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Das Heilwissen unserer Apothekerin wird in der ganzen Umgebung sehr geschätzt, und nicht selten kommen Bauern zu uns, denen die Ärzte nicht mehr helfen können. Chorfrau Karitas hat nach der Viersäftelehre schon so manchen Todkranken mit ihren wirksamen Extrakten und Elixieren wieder zum Leben erweckt. Sehen sie da drüben an der Klausurmauer am Abhang des Felsens das kleine Häuschen? Das ist die Apothekerküche, das Laboratorium.“ Und leise fuhr die Äbtissin fort: „Dort stellt Schwester Karitas Mixturen und Pulver her und destilliert Öle und Essenzen wie eine echte Alchemistin. Aber das muss nicht jeder wissen.“

Da huschte plötzlich ein kleines kohlrabenschwarzes Wollknäuel zwischen den Beinen von Maria Theresia durch und verschwand in Richtung Küche. „Und was war das?“

„Das war Luzifer, den uns vor ein paar Wochen ein Bauer gebracht hat. Er ist frech und schnell wie der Leibhaftige, doch wir lieben ihn alle“, gestand die Äbtissin und lachte kurz auf.

Nun stiegen sie eine Steintreppe hinunter. Auf der rechten Seite war ein großes Hühnergehege mit einem hohen Zaun. Die Hennen hatten als Auslauf eine große Wiese, in der sie nach Würmern und Insekten picken konnten. Maria Theresia freute sich sehr, so viele Hennen zu sehen, denn sie hatte zu Hause auch einige gehabt, die sie versorgt und gehätschelt hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte, ob es im Kloster noch andere Tiere gebe.

„Ja“, sagte die Äbtissin, „einige unserer Tiere für die tägliche Versorgung sind in Bethlehem.“

„In Bethlehem?“, fragte Maria Theresia ganz erstaunt.

Die Äbtissin schmunzelte. „Ja, das ist das große Mannschaftsgebäude bei der Marienkirche auf der linken Seite, wenn man durch das Tor der unteren Klausurmauer tritt. Dort sind Ställe für Pferde, Kühe, Ochsen und Schweine. Das Gebäude ist noch im Klausurbereich, und, wenn Sie möchten, können Sie morgen hinuntergehen.“

Maria Theresia nickte zufrieden. „Wissen Sie“, ergänzte sie, „wir hatten zu Hause einen großen Stall mit einigen Stück Vieh, denn bei uns in Wolkenstein ist der Ertrag der Felder fürs Überleben zu klein.“

Um in den Garten zu gelangen, mussten sie durch den Torturm gehen. Hier sei die Metzgerei und zuhinterst die Waschküche, erklärte die Äbtissin. Beide Räume hatten eine Gewölbedecke und an der Außenwand große Fensteröffnungen. Auf der Zurichtplatte der Metzgerei lag die Hälfte eines frisch geschlachteten Kalbes, das noch zerlegt werden musste. An den seitlichen Fleischerhaken hingen Dutzende von Kaminwurzen, geräucherte Schweinswürste und der Rest einer Speckseite. Die Fleischerbeile, Knochensägen und andere Metzgergeräte auf dem Schneidebrett waren sauber geputzt. In der hintersten Ecke befand sich der große Holztrog für die Schweineschlachtung. In der anschließenden Waschküche standen große Holzzuber, Waschbretter, Wäscheschlägel und Wäschezangen und ein gemauerter Holzofen für den Waschkessel. Durch beide Räume verlief in der Mitte des Estrichs ein Wasserlauf, durch den das Wasser aus der Waschküche und das Blut aus der Metzgerei abfließen konnten.

Maria Theresia kannte dies alles von den Hausschlachtungen zu Hause. Bei der vorweihnachtlichen Schweineschlachtung musste nach dem Halsstechen das Blut gleich aufgefangen und in einem Kübel mit Schnee verrührt werden, damit es nicht stockte. Sie hasste diese Zeit, und während es für alle anderen ein Schlachtfest war, war es für sie ein Trauerfest.

Als sie aus dem Halbdunkel und der Kühle ins Freie traten, empfingen sie ein lauer Sommerabend und ein großer herb duftender Garten mit weitem Ausblick aufs Eisacktal. Rechts sah Maria Theresia Obstbäume und links eine Laube und einen kleinen turmartigen Rundbau. Bis zur Klausurmauer hinunter waren stufenförmig angelegte Rebpergeln zu sehen.

Die Äbtissin wies darauf hin, dass das Kloster sich möglichst durch Selbstversorgung zu erhalten versuche. Nur das Getreide und zum Teil das Fleisch würden von den Pachthöfen – wo übrigens noch viele Tiere des Klosters untergebracht seien – bezogen. Die Obstbäume, die sie sicher erkannt habe, seien Apfel- und Birnenbäume, Feigenbäume, Pflaumenbäume und ein großer Nussbaum. Doch Maria Theresia hatte bisher nur die kümmerlichen Apfelbäume in St. Ulrich gesehen, das 500 Meter niedriger als ihr Heimathof in Wolkenstein gelegen war. Obstbäume einer solchen Sortenvielfalt kannte sie natürlich nicht, und sie sahen für sie zunächst alle gleich aus.

Unter dem ersten Trockenmäuerchen gelangten sie in den Gemüsegarten. Maria Theresia kam aus dem Staunen nicht heraus. Hier hing das Obst an den schwer beladenen Ästen und das Gemüse reifte gerade üppig in den dunkelerdigen Beeten. Die Äbtissin zeigte ihr die Ecke mit den Zwiebeln und dem Knoblauch, dem Lauch und dem Sellerie. In den sonnigen Mittelanlagen wuchsen Chicorée, Endivien, Portulak, Weißkohl für Kraut, Gurken, Bohnen, Mangold, Rote Bete, Pastinaken, Rettiche und Erdbeerspinat. Seit Kurzem bauten die Schwestern auch Kürbisse, Spargeln und Rosenkohl an. Verschiedene Salatsorten – Kopfsalat, Eissalat, Maikönig, gelber und brauner Wintersalat und weichblättriger Nansen-Salat – waren nahe der Steinwand in gemauerten Kastenformen gepflanzt. Diese konnten im Spätsommer und im Frühjahr gegen den Frost mit Scheiben abgedeckt werden. An den Rändern blühten Blumen in bunter Fülle: wachsfarbige Lilien für den Altarschmuck, Rosen und verschiedenfarbige Dahlien zum Schutze des Gemüses gegen Insekten. Und die Freude aller Schwestern seien natürlich die Sonnenblumen, die alle anderen Pflanzen überragten, aber auch die Gartenerdbeeren und die süßen Walderdbeeren, die vor sommerlichen Kirchenfesten für die Süßspeisen der Feiermahle gepflückt wurden, erklärte die Äbtissin.

Maria Theresia war überwältigt, sie brachte kein Wort heraus. Die Äbtissin bemerkte dies und verabschiedete sich freundlich: „Sie müssen sehr müde sein. Der Tag war lang und anstrengend. Ruhen Sie sich aus, morgen sieht alles leichter aus. Sie werden sehen.“

Die Äbtissin sollte Recht behalten. Am nächsten Morgen, als Maria Theresia durch einen Glockenklang für die Laudes geweckt wurde, fühlte sie sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. In ihrer Unkenntnis der Klosterregeln hatte sie auch nicht bemerkt, dass sie in ihrer ersten Nacht im Kloster nicht zur Matutin oder der Vigil, dem Nachtgottesdienst, geweckt worden war.

Voller Erwartung ging sie mit den anderen Schwestern in den Chor zum Morgengebet, um das aufgehende Licht am Peitlerkofel, der Pütia, im hinteren Villnößtal zu grüßen und preisen. Auf dem kurzen Weg durch den Gang des Schlafsaals bis zur Klosterkirche strich ihr plötzlich etwas Flauschiges um die Beine, sodass sie für einen kurzen Augenblick erschrak. Natürlich hatte Luzifer, der Lichtträger, Venus schon lange vor den Nonnen begrüßt und begleitete diese nun noch einmal zum Gebet. Maria Theresia setzte sich zuhinterst in eine Bank und der schlaue Luzi versteckte sich unter ihrem langen schweren Rock, den sie auch am Vortag auf ihrem Fußmarsch getragen hatte.

Die Kantorin stimmte den feierlichen Lobchoral Wie schön leuchtet der Morgenstern für den himmlischen Bräutigam an. Ergriffen von der Melodie und dem Text, kniete Maria Theresia bis zum Ende bewegungslos und andächtig und vergaß dabei völlig, dass Luzi immer noch auf ihren Unterschenkeln schlief. Dieser war indessen von der Wärme unter dem dicken Rock, wie man ihn nur in hochgelegenen Bergtälern trug, so begeistert, dass er es sich auch nach der Einkleidung Maria Theresias wie selbstverständlich jeden Morgen unter der dicken Kukulle aus Wolltuch bequem machte.

Den Laudes waren nach einer kurzen Pause die Meditation und die kleinen Horen, beginnend mit der Prim, gefolgt. Es wurde schweigend ein leichtes Frühstück eingenommen, bis es im Kapitelsaal mit der Lesehore zur geistlichen Vertiefung der Heiligen Schrift weiterging. Der 13. August war der Tag des Heiligen Kassian, des legendären ersten Bischofs von Säben. Daher wurde anschließend noch das Martyrium des Kassian von Imola, der im 3. Jahrhundert als Schulmeister in antiheidnischem Eifer das Christentum lehrte und von seinen wütenden Schülern mit ihren Schreibgriffeln erstochen wurde, vorgelesen. Zur Ankunft der Novizin wurden zudem noch einige Kapitel aus der Regula ora et labora et lege vorgetragen, die von Gehorsam, Schweigen und Demut handelten.

Dann ging jede Schwester an ihre Arbeit, und Maria Theresia wurde an ihrem ersten Morgen im Kloster in die Bibliothek geführt, wo Franziska Xaveria, die Bibliothekarin des Klosters, sie empfing. Die nur sechs Jahre ältere Chorfrau war schon seit zwölf Jahren auf Säben und hatte den Auftrag bekommen, Maria Theresia ins Klosterleben einzuführen. Diese sollte in den ersten sechs Monaten ihrer Postulatszeit die Ordensgemeinschaft und die Grundlagen des geistlichen Lebens kennenlernen, sich im Gemeinschaftsleben erproben und sich in die monastische Spiritualität einüben.

Notwendige Voraussetzung für ein kontemplatives Leben sei vor allem die inwendige Stille, hob Schwester Franziska hervor, wobei sie die Reaktion ihres Schützlings genau beobachtete, der ihr unerwartet erfreut zulächelte. Als junges Mädchen hatte Maria Theresia Deutsch, genauer gesagt, deutsche Dialekte, nur von den auswärtigen Waldarbeitern, die für Holzschlägerungen ins Tal gekommen waren, gehört. Sie hatte diese auch bald weitgehend verstanden, wie Kinder eben schnell und unbewusst fremde Sprachen verstehen. Doch das vornehmere Hochdeutsch der Chorfrauen jagte ihr Furcht ein, und sie war zunächst froh, schweigen zu dürfen. Für Maria Theresia war alles neu und fremd, und auch die vielen Bücher irritierten sie.

Es folgten die tägliche Konventsmesse und, da es ein Feiertag war, noch zusätzlich die Terz, das dritte Stundengebet mitten am Vormittag. Um nicht aufzufallen, beobachtete Maria Theresia genau, was die Mitschwestern taten, um es ihnen gleichzutun. Nach den Zeremonien und den Litaneien begann wieder die Zeit des labora, und die Schwestern machten sich an die Arbeiten, die ihnen zugewiesen waren.

Der Vormittag ging bis zur Mittagshore schnell vorüber. Nach der Sext versammelten sich die Schwestern wieder im Refektorium, wo nach dem Tischgebet schweigend zu Mittag gegessen wurde, wobei wie am Vorabend eine Schwester aus der Bibel vorlas. Danach konnten sich die Schwestern bis zur Non, der Todesstunde Christi, ein wenig ausruhen.

Vor dem Abendessen traf man sich nochmals in der Kirche zum Vespergebet, der letzten Tageshore, die mit einem Vaterunser abgeschlossen wurde. Die monoton-einschläfernden Wiederholungen des Ave-Maria ließen Maria Theresia in ein Wohlsein sorgloser Leere fallen. Auch daheim, das spürte sie, betete die Familie zur selben Zeit dasselbe Gebet zur Glorreichen, vielleicht ein wenig unaufmerksamer und flüchtiger, um dann die immergleiche Brennsuppe zu essen. Freilich, dort blieb nun ein Stuhl frei, aber man würde darüber kein unnützes Gerede vergeuden.

Die Zeit bis zur Komplet, dem tagesabschließenden Nachtgebet, war auf Säben der Lektüre vorbehalten. Das geistliche Buch auf dem Lesepult, aus dem einige angemerkte Kapitel vorgetragen wurden, war die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen. Offensichtlich hatte jemand gerade solche Stellen, die zur Loslösung von den Nichtigkeiten des Weltlichen und zur Überwindung der Eigenwilligkeiten des Ichs ermuntern sollten, zur Vorlesung ausgesucht. Es waren durchwegs Sätze, die im Geheimen mit der friedvoll gelassenen Stimmung Maria Theresias übereinstimmten. Auch sie versprach sich im Einklang mit den nächtig besänftigenden Gedanken die schon seit Längerem ersehnte Loslösung von innerem Leid und Schmerz. Und dennoch vernahm sie inmitten dieser Stille zugleich eine verwirrende Nebenstimme, die das heilig Besänftigende in etwas dunkel Gefährliches zu verkehren suchte. Dieses Doppeldeutige würde sich allerdings erst einige Jahre später klären. Dann würde man ihr so viel Lateinisches angelernt haben, dass sie auf die allzu vereinfachenden Übersetzungen verzichten könnte. Sie würde in der dunkleren Urfassung blättern können und lesen: „ad patiendum et laborandum scias te vocatum … habitus … modicum confert; sed mutatio morum et integra mortificatio passionum …“7

Nach der Lektüre saßen die Schwestern noch gemütlich beisammen und verrichteten Handarbeiten, wobei auch das tagsüber heilige Stillschweigen gebrochen werden konnte. Die darauffolgenden Abendgebete waren die längsten und für Maria Theresia die mühsamsten. Ihr fielen dabei immer wieder die Augen zu.

Maria Theresia hatte ihren ersten Tag auf Säben empfunden, als sei es der längste Tag ihres Lebens gewesen. So viel Neues hatte sie gesehen und gehört. Zu Hause hatte sie nicht einmal in einer ganzen Woche so viel gebetet wie hier an einem einzigen Tag, obschon sie auch zu St. Maria ad Nives, zur Schneemadonna in Wolkenstein, täglich zur Messe gegangen war. Sobald sie auf ihrer Bettstatt lag, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Doch ihre Gedanken schafften es nicht einmal bis zur Konventsmesse, als sie schon eingeschlafen war.

Das frühe Aufstehen war Maria Theresia von zu Hause gewohnt. Sie war jeden Morgen mit dem Vater in den Stall gegangen, aber niemals, ohne zuvor gefrühstückt zu haben. Umso mehr staunte sie schon nach einer Woche über die Wirkung des Betens im nüchternen Zustand. In diesen Morgenstunden hatte sie das Gefühl, vollkommen klar und im Einklang mit sich selbst denken zu können. Sie empfand ihren Zustand als stimmig und spürte so etwas wie Glück. Es war ein starkes Gefühl, das sie jeweils einige Sekunden lang ansprang, aber Maria Theresia konnte sich nicht erklären, woher es kam. Sie schloss die Augen, ließ es durch sich hindurchfließen und dachte an ihre Tiere zu Hause, die sie so sehr vermisste, wobei sie das leichte Schnurren Luzis an ihren Beinen unter dem schweren Chormantel fühlte.

Tag um Tag verging immer rascher auf Säben und Maria Theresia bemerkte gar nicht, wie schnell sie sich an das neue Leben gewöhnte und es liebgewann: die Tagesordnung, die Stille, das Gebet, die regelmäßige Arbeit, die Schwesterngemeinschaft, die neue Sprache und natürlich Luzifer. Es war tatsächlich erstaunlich, wie schnell für Maria Theresia die deutsche Sprache vertraut wurde. Die Bibelgeschichten, die sie zu Hause bereits in ihrer Muttersprache Ladinisch gehört und auf Italienisch gelesen hatte, konnte sie in kürzester Zeit ohne Mühe auch auf Deutsch lesen. Sie verbrachte so viel Zeit, wie die Äbtissin es ihr erlaubte, in der Bibliothek und freute sich auf die Lesezeit am Abend, wobei sie bald auch lateinische Bücher las. Sie vertiefte sich selbstverständlich immer wieder in die Bibel, doch vor allem liebte sie die Lektüre im Stundenbuch, dem Gebets- und Andachtsbuch für das Stundengebet. In der Bibliothek wurde ein außergewöhnlich schönes Exemplar mit handkolorierten Bildern aufbewahrt.

Sobald die Bibliothekarin Franziska Xaveria die Freude Maria Theresias an den Büchern bemerkt hatte, erzählte sie Maria Theresia vom Reichtum einer untergegangenen Bibliothek, der allerersten und einzigen Bildungsstätte Tirols, und zwar der Domschule, die schon vor dem Jahr 1000 n. Chr. auf Säben durch Erlass Karls des Großen existiert hatte. Diese Schule zur Vorbereitung für den geistlichen Stand genoss ein so hohes Ansehen, dass die Schüler von weither kamen. Gelehrt wurde das Trivium (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), wobei speziell die Musikpraxis gut organisiert gewesen sein musste. Doch als Bischof Richpert in den 60er-Jahren des 10. Jahrhunderts den Bischofssitz schrittweise vom felsigen Säben auf das ebene Gebiet von Brixen verlegte, was durch die Schenkung des Meierhofs Prihsna von König Ludwig dem Kind an Bischof Zacharias von Säben ermöglicht wurde, übersiedelte auch die Domschule nach Brixen.

Bedingt durch Maria Theresias Bildungseifer und ihr außergewöhnliches Erinnerungsvermögen war ihr trotz nichtadeliger oder bürgerlicher Herkunft der Weg zur Chorfrau bestimmt. Doch zunächst wurde sie während der gesamten Postulats-, Noviziats- und Professzeit, wie alle Laienschwestern, einem täglich zu verrichtenden klösterlichen Arbeitsbereich zugeordnet. Gemäß ihrer Neigung und Fähigkeit hatte die Äbtissin Marie Theresia einen Aufgabenbereich in der Landwirtschaft als sogenannte Ökonomin zugeteilt. Die schwere und aufwendige Arbeit im klösterlichen Stall wurde zwar von Laienschwestern und Viehmägden geleistet, doch die Chorschwester hatte die Aufgabe, sie so gut sie konnte zu unterstützen. Neben den Ämtern im Bereich des Gartens war dies ein Amt von hohem Stellenwert, da die Landwirtschaft nicht nur zur eigenen Grundversorgung diente, sondern auch ein wirtschaftliches Standbein war: Die Tierökonomin hatte die Aufgabe, für die Stallung der Nahversorgung und das in der Klausur gehaltene Kleinvieh an Geflügel, Katzen und Bienen zu sorgen.

Während die anderen Schwestern sich in der kurzen Pause nach den Laudes wuschen oder lasen, lief Maria Theresia jeden Tag rasch durch den Garten nach Bethlehem hinunter, wo die Tiere schon sehnsüchtig, besser, hungrig auf sie warteten. Luzifer flitzte immer schon voraus und wartete am Eingangstor des Stalles, bis Maria Theresia endlich kam. Sie beeilte sich, den Kühen, Ochsen, Pferden und Ziegen aus dem Futterloch ein wenig Heu in die Krippe hinunterzuwerfen und den Schweinen den Kübel Küchenabfälle, den Schwester Magdalena jeden Morgen bereitstellte, in den Trog zu schütten, um sofort wieder hinauf in die Kirche zur Prim zu laufen, denn sie wusste, dass dem gemeinsamen Beten nichts vorzuziehen war. Sie hatte gelobt, mit all ihren Kräften Gott zu suchen, auch wenn ihr die Tiere mehr am Herzen lagen. Luzi, der die Fütterung genau verfolgte, wusste, dass gleich darauf die Viehmagd kommen würde, die Kühe zu melken, und er ein wenig Milch bekommen würde, deshalb begleitete er Maria Theresia nicht mehr hinauf ins Kloster.

Die Hennen im Gehege vor der Küche wurden inzwischen von der Geflügelmagd versorgt. Doch nach der Konventsmesse schaute Maria Theresia trotzdem immer auch im Hühnergehege vorbei, ob auch alle Hennen noch da seien. Fuchs, Marder, Iltis und Dachs konnten den Hennen auf Säben, vor allem der Klausurmauer wegen, nichts anhaben. Doch die Habichte, und zwar die größeren Weibchen, konnten im Winter, wenn Nahrungsmangel herrschte, den Hennen durchaus eine Gefahr werden. Maria Theresia fürchtete sich auch vor den anderen Greifvögeln, dem Bussard, dem Sperber und dem Turmfalken, die mit den warmen Aufwinden über dem steilen Säbener Felsen kreisten und im richtigen Moment blitzschnell einen Vogel, eine Maus oder ein anderes kleines Tier erbeuteten.

Wenn Maria Theresia am Morgen durch den Garten lief, sah sie immer wieder Insekten, die sie noch nie gesehen hatte. Trotz Eile blieb sie stets einen Augenblick stehen und bewunderte erstaunt die Geschöpfe Gottes, ja, für sie waren sie dem Menschen gleichwertig und sie verstand nicht, wie es zur Herabsetzung des Tieres zur Ware hatte kommen können. Die Natur unterwerfen und über die Tiere herrschen, das kam für sie einfach nicht in Frage. Sie konnte das von der Religion überlieferte Gesetz, dass nur der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen worden sei, einfach nicht beachten. Ihr deuchte eher, der Mensch habe seinen Gott als Ebenbild seiner selbst geschaffen und dabei die Tiere vergessen. Und den Menschen seiner Sprache wegen dem Tier als überlegen zu erachten, erschien ihr mehr als fragwürdig und lächerlich.

Sprache war für Maria Theresia nicht lediglich eine Reihe aufeinanderfolgender Wörter. Sprache bedeutete für sie viel mehr, und das Spektrum der Kommunikation reichte bei ihr von einer Palette vieler nonverbaler Ausdrücke, wie Blicken, Gesten oder Berührungen, bis hin zu unzähligen Tierlauten, die sie mit der Zeit zu deuten gelernt hatte. Sie behandelte alle Geschöpfe mit Würde und sprach mit allen, Menschen wie Tieren, auf gleicher respektvoller Ebene. So begrüßte sie alle kleinen Tiere, denen sie auf ihrem Weg durch den Garten begegnete, und sprach leise ein paar nette Worte zu ihnen. Die Schweigepflicht galt für Maria Theresia nur für Menschen, denn das Sprechen mit Tieren bedeutete für sie gegenseitigen Gefühlsaustausch der Zuneigung mit Lauten.

Besonders beeindruckt war sie von den Smaragdeidechsen. Nach den Wintermonaten beobachtete sie bei der Lacerta viridis, der großen grünen Smaragdeidechse, die erste Häutung, wobei sich deren Kinn-, Kehl- und Halsregion im schönsten Kornblumenblau verfärbte. Doch auch Luzifer fand an allen Eidechsenarten großen Gefallen und jagte sie wie wild umher. Er erwischte meistens nur ihren Schwanz, der sich sofort vom Körper löste, wobei sie selbst ihm entwischen konnten. Er spielte und tobte sich dann mit dem Eidechsenschwanz aus, der sich noch ganze vier bis fünf Minuten lang heftigst bewegte, und Maria Theresia war froh, dass er nicht die Eidechse folterte. Blindschleichen fing er noch leichter, aber Maria Theresia schaffte es für gewöhnlich, ihn mit anderen Spielen abzulenken und die Schleichen zu verjagen, sodass er sie nicht mehr finden und misshandeln konnte.

Unter den unzähligen Käfersorten, von denen Maria Theresia viele auf Säben zum ersten Mal sah, mochte sie den Hirschkäfer oder den Donnergugi, wie die Bauern ihn nannten, am liebsten. Doch auch der Alpenbock mit seinen langen Fühlern und dem wunderbaren blauen Gewand hatte es ihr angetan. Und wenn sie ein wenig Zeit hatte, ging sie zum Ameisenhaufen, den sie eines Tages am Rand des Klostergartens unter einem Baum entdeckt hatte. Es waren kleine rote Waldameisen, mit denen Luzi weniger Freude als mit den Eidechsen hatte. Er beschnupperte meist kurz die Ameisenstraße und suchte sich dann schnell ein sicheres höhergelegenes Plätzchen, von wo aus er alles im Blick hatte und nicht in die Pfoten gepikst wurde.

Schon zu Hause hatte sie oft in den Wäldern von Juac oberhalb des elterlichen Hofes wie hypnotisiert den Ameisen bei ihrer emsigen Arbeit zugesehen. Sie verstand nicht, wie jede einzelne Ameise bei solch einem Gewimmel Bescheid wusste, wohin sie gehen und was sie tun musste. Sie müssen sich untereinander verständigen können, sonst würde ein solcher Staat nicht funktionieren, dachte sie und war überzeugt, dass die Ameisen, genauso wie alle anderen Tiere, miteinander sprachen. In ihre Gedanken vertieft, sah Maria Theresia die Ameisen in ihrem Bau wie die Nonnen und sich selbst im Kloster, wo eine Einzelne verloren wäre, aber alle gemeinsam unbezwingbar waren, wie sich in den Folgejahren herausstellen sollte. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln und Jucken an den Beinen. Sie sprang auf und lief Hals über Kopf davon, gefolgt von Luzi, der dann schnell vorausstürmte.

Etwas zurückhaltender war sie bei den Skorpionen. Nicht dass sie vor ihnen Angst gehabt hätte, aber sie waren durch ihre geschickte Gangart nach allen Richtungen so flink, dass sie unberechenbar waren, und die vielen Augenpaare – genau hatte sie sie nie gezählt – machten einen unheimlichen Eindruck auf sie. Wenn sie einen davon ausgetrocknet fand, nahm sie ihn mit, hängte ihn mit einem Bindfaden am Schwanz neben ihrer Bettstatt auf und bestaunte immer wieder dessen schönen filigranen Körper. Doch seit jenem Tag, an dem Maria Theresia erfahren hatte, wie die Klosterapothekerin Schwester Karitas Skorpenöl herstellte, jagte sie alle Skorpione, die sie im Garten sah, die steile Felsenwand hinunter, damit sie nicht eingesammelt und lebend ins heiße Olivenöl geworfen werden konnten, wo sie in Todesangst ihr Gift freisetzten. Das Skorpenöl wurde gegen Koliken, Gicht, Ohrenschmerzen, Harnbeschwerden und gegen die Pest eingesetzt. „Lebend bringen sie uns den Tod und tot schenken sie uns das Leben“, sagte Schwester Karitas.

Die Gottesanbeterin oder das Maringgele, wie sie von den Bauern genannt wurde, liebte Maria Theresia über alles. Es war das erste Lebewesen, das sie auf Säben willkommen geheißen hatte. Damals hatte sie sich vor der großen eigenartigen Sechsfüßlerin und Neuflüglerin noch gefürchtet, doch mit der Zeit waren sie Freundinnen geworden. Die langanhaltende Reglosigkeit – die Gottesanbeterin verharrte oft stundenlang unbeweglich, um dann blitzschnell mit den langen ausklappbaren Fangbeinen in der Luft eine Fliege zu fangen – faszinierte Maria Theresia genauso, wie die Gottesanbeterin als Tarnung ihre Farbe und Gestalt an die Umgebung so genau anpassen konnte, dass man sie nur selten sah. Wenn Maria Theresia eine entdeckte und sie leise ansprach, drehte diese ihren Kopf mit dem kleinen spitzen Mund in ihre Richtung, schaute sie mit den großen Marsmännchenaugen verwundert an und hörte aufmerksam zu, wie Maria Theresia ihre Schönheit lobte, ihre Bewunderung für die meditative Fähigkeit, im Jetztzustand auszuharren, bekundete und ehrfürchtig beichtete, auf ihrem Gottesweg noch lange nicht so weit zu sein.

Seltener sah Maria Theresia Eichhörnchen, denn sie lebten im angrenzenden Wald. Aber ab und zu huschten einige über die Klostermauer, um auf den Obstbäumen herumzuklettern und zu spielen oder um ein paar Beeren, Nüsse oder Früchte zu suchen. Wie verhext beobachtete Maria Theresia die kleinen flinken Akrobaten mit ihren buschigen Schwänzen und den aufrechten Ohrpinseln. Zu Hause in Wolkenstein hatte sie in den Wäldern schon öfters hell- oder dunkelbraune Eichhörnchen mit weißen Brustlätzchen gesehen und wunderte sich, dass hier auf Säben so viele völlig schwarz waren. „Diese Eichhörnchen, wir nennen sie Kätzchen, leiden an Melanismus, einer Art genetischer Schwarzfärbung der Haut und des Fells, da sie auf Säben einer erhöhten Sonneneinstrahlung und im Winter niederen Temperaturen ausgesetzt sind. Und weil sie so andersartig sind, werden sie – gerade wie schwarze Murmeltiere – von den eigenen Artgenossen oft ausgeschlossen und suchen deshalb gern die Gesellschaft der Menschen“, klärte Schwester Karitas Maria Theresia auf.

So oft Maria Theresia konnte, lief sie die Treppe hinauf, die zur Heilig-Kreuz-Kirche führte. Im beinah rechteckigen, am Morgen lichtdurchfluteten Kirchenschiff überkam sie ein Gefühl von Leichtigkeit und Ruhe. Nur bei Wallfahrten zum wundertätigen Kruzifix der Heilig-Kreuz-Kirche – wie zum Beispiel jene der Gadertaler, die seit Jahrhunderten nach Säben pilgerten, um Beistand gegen Rübenwürmer, Heuschrecken und andere Katastrophen, wie Sonnenfinsternisse, Erdbeben oder den Schwarzen Tod, zu erbitten – füllte sich die Kirche bis auf den letzten Platz. Doch gerade in den ersten Jahren Maria Theresias auf Säben wurde den Gadertalern das Jí en Jeunn, der Gang nach Säben, untersagt. Erst nach dem Tod Josephs II. wurde die Wallfahrt 1792 wieder aufgenommen, und in den Folgejahren wurde sie nur noch im Jahr 1804 durchgeführt. Die Schwestern freuten sich immer so sehr auf den 13. Juni, den Tag des heiligen Antonius, und konnten die Ankunft der Gadertaler kaum erwarten. Maria Theresia war so ergriffen, die Wallfahrer – seit einiger Zeit waren nur noch Männer zugelassen – in ihrer Muttersprache beten zu hören. Sobald sie am Morgen die Pilger auf der orografisch linken Eisackseite aus dem Villnößtal kommen sah, betete sie, wie sie es für sich immer leise tat, auf Ladinisch mit, bis alle die Heilig-Kreuz-Kirche erreicht hatten. Die Schwestern saßen während der heiligen Messe in einem über dem Eingang abgeschirmten Raum, wo man sie nicht sah.

Am liebsten verweilte Maria Theresia allein im breiten Kirchenraum. Hier, auf dem höchsten Punkt des Berges, hatte sie das Gefühl zu schweben, ähnlich wie zu Hause, als sie durch Wald und Wiesen, über Felsstufen in Serpentinen bis auf Stevia hinaufgestiegen war, um sich bei den Tieren frei und sicher zu fühlen. Die Wände und die Decke der Kirche waren 100 Jahre zuvor, noch bevor die ersten Nonnen aus Nonnberg ankamen, vom Kulissenmaler Johann Baptist Hueber aus Neustift im Auftrag des Klausner Pfarrers Matthias Jenner vollständig ausgemalt worden. Die Säulenhalle mit den drei zum Grab eilenden Frauen und dem mahnenden Engel sowie der Kalvarienberg und die Grablegung mit den bewaffneten Soldaten weckten in Maria Theresia, speziell durch die Bodenmuster, eine solch illusionistische Raumerweiterung, dass sie immer wieder die Perspektivbilder berühren musste, um sich zu vergewissern, dass es nur flache Wände waren. Ebenso hinterließ die flache Holzdecke, die mit einer Leinwand überzogen und vollständig mit Scheinornamentik einer Balustrade und Darstellungen der Geißelung Christi, der Kreuzigung und der Himmelfahrt bemalt war, in ihr den Eindruck, sie würde durch die Wolken bis in den Himmel blicken. Diese raffinierte Architekturmalerei, die dem Domkapitel seinerzeit äußerst missfallen hatte, war tatsächlich mit der Absicht gemalt worden, den Blick durch die Wände und durch die Decke ins Freie zu leiten, und wurde von der maßgebenden Stelle in Brixen nicht gern gesehen, da sie nur auf Schein und nicht auf Beständigkeit beruhte. Die perspektivische Sicht in die Ferne bewirkte in Maria Theresia tatsächlich einen luftigen Durchblick in die Unbeschwertheit. Nur hier fühlte sie sich ruhig, frei, schmerzlos und bisweilen sogar glücklich. Es waren Augenblickszustände der Freiheit, die ihr viel Kraft schenkten und mit dem klösterlichen Gehorsam ein wohltuendes Gleichgewicht herstellten.

Maria Theresia hatte auch gleich bemerkt, dass der Maler erstaunlich viele Tiere in seine Malerei eingeschmuggelt hatte. Sie versuchte, alle Tiere ausfindig zu machen. Es waren vor allem Vögel im weitesten Sinne: Tauben als Symbole für den Heiligen Geist, eine Schwalbe, ein Papagei, ein Pfau, ein Adler, ein Hahn, ein Fasan und ein fliegender Drache. Gerade dieser fliegende Drache beschäftigte Maria Theresia sehr, denn es war im Grunde gar kein Drache, sondern vielmehr eine Mischung aus Hahn, Vogel, Schlange und Echse, die feuerspeiend ein beflügeltes Wesen – wohl Christus – in die Hölle verjagte. Es war ein Basilisk, der eine sonderbare Wirkung auf sie ausübte. Sie fühlte sich von diesem Tier gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Sein winziges Auge im verdrehten Kopf schaute den Betrachter mit einem stechenden Blick, dem man sich nicht entziehen konnte, direkt ins Gesicht. Maria Theresia fürchtete sogar, er könne sie mit seinem Gift anhauchen und versteinern. Aus Angst nahm sie manchmal einen kleinen Spiegel mit in die Kirche und hielt ihn dem Basilisken vor, damit er gegebenenfalls selbst versteinert würde.

Andere Tiere, die sie in der Kirche entdeckte, waren Bären, die sie aus den Wäldern in Gröden gut kannte, Löwen, als Begleiter des Evangelisten Markus und des heiligen Hieronymus, ein Lamm im Diözesanwappen der Bischofsstadt Brixen, ein großer Fisch, der gerade den heiligen Jonas verschlang, ein Stier als Begleiter des Evangelisten Lukas, eine Schlange, die gebändigt wurde, und kleine Hunde, von denen der Maler einige hinter Säulen und einer Balustrade hervorspähen ließ. Über diese Hündchen freute sie sich außerordentlich, denn sie hatte sich immer einen eigenen Hund gewünscht. Aber ganz besonders angetan war sie von der Darstellung eines Vogels, der eigentlich einen Adler darstellen sollte, denn er stand zu Füßen des Evangelisten Johannes. Er sah aber einer Gracula religiosa, einem großen Beo mit orangen Füßen und Schnabel, viel ähnlicher, hielt ein Tintenfass mit einer Schreibfeder im Schnabel und saß auf einem Buch. Maria Theresia kannte nur die Alpenkrähe mit rotem Schnabel und die Alpendohle mit gelbem Schnabel, die die Berggipfel umflogen und um ein Stückchen Brot bettelten. Sie wusste auch nicht, dass der Beo aus der Familie der Stare eine ausgesprochene Sprachbegabung hatte und der Maler vielleicht deshalb diesen Singvogel gewählt hatte. Sie empfand dieses Bild jedenfalls als Aufforderung zum Schreiben, denn sie hatte schon lange diesen Wunsch gehegt, es hatte ihr nur immer an Mut und Selbstvertrauen gefehlt, in einer ihr fremden Sprache zu dichten. Und in ihrer Muttersprache zu schreiben, wäre ihr nie im Leben in den Sinn gekommen.

Unter all den Tieren, die das Kirchenschiff verzierten, fehlten die Katzen. So oft Maria Theresia auch danach suchte, nie fand sie eine. Leider war das heilige Tier seit dem Spätmittelalter in Ungnade gefallen und wurde von der Kirche gemeinsam mit den Hexen dämonisiert und verbrannt. Maria Theresia konnte sich wenigstens mit Luzifer trösten, der sie mittlerweile überallhin – wenn sie niemand beobachtete, sogar in die Kirche – begleitete, außer er war gerade zum Betteln in die Küche zu Schwester Magdalena geflüchtet.

Im Gegensatz zur Freude, die sie im Kirchenschiff empfand, stand die Beklemmung, die die vier Tafelbilder in der Vorhalle der Heilig-Kreuz-Kirche in ihr hervorriefen. Jeder, der die beglückende Kirche betreten wollte, musste auch an den mahnenden Bildern der Vier letzten Dinge – dem Tod, dem Jüngsten Gericht, der Hölle und dem Himmel – vorübergehen. Entweder stammten die einwandfreien Kopien der vier originalen Miniaturbilder des Franziskanerpaters Frère Luc – Claude François aus Amiens, der später nach Neufrankreich in Nordamerika ausgewandert war – von ihm selbst, oder sie wurden vom malkundigen Oratorianerbruder Franz Metz aus Bayern, der bereits vor der Erbauung des Klosters als Einsiedler in den Ruinen der alten Burg auf Säben gelebt hatte, angefertigt.

Die vier Tafelbilder entstanden noch im Geiste mittelalterlichen Denkens, in dem man nur durch die Tugenden und nicht wie später durch die Wissenschaften Weisheit erlangte. Auf jedem Bild war dementsprechend am Bildrand auch ein Täfelchen mit einem Mahnspruch auf Latein und Französisch gemalt:

Der Tod wird durch den Sensenmann dargestellt. Der Schädel mit seinen Öffnungen, die linke Hand mit den Armknochen und die rechte Hand, mit der das Skelett das Täfelchen mit der Aufschrift Temperamentum Deliciarum hält, sind sichtbar. Auf dem Kopf trägt der Knochenmann ein weißes Tuch und um die Schultern einen schwarzen Umhang mit weißen Punkten. In Erinnerung an das Memento mori ruft das Bild zur Bändigung und Maßhaltung im Leben auf.

Das Jüngste Gericht stellt der Maler als tröstlichen Läuterungsort nach dem Tod dar. Es zeigt einen von Flammen umringten nackten Mann in Ketten, der mit flehend erhobenen Händen im Fegefeuer betet. Trotz Tränen schaut er uns angstfrei und zuversichtlich an. Der Leitspruch lautet Stimulus Poenitentium als Hoffnung, durch die Buße vor das Jüngste Gericht treten zu können und gerettet zu werden.

Das Höllenbild mit dem Libidinum Remedium als Mittel gegen die Leidenschaft stellt die verdammte Seele durch einen nackten Mann mit funkelnden Augen und struppigem Haar dar, der sich aus Reue selbst in den Arm beißt und von zwei langen Schlangen bedrängt wird.

Schlussendlich das Himmelsbild mit der glücklichen Seele als Votum Christianorum, bestem Christenwunsch, mit einem verklärt in den Himmel schauenden Jüngling in hellblauem Mantel: Durch die Helligkeit des Bildes, die blonden Locken, den Haarschmuck als Krone und die Strahlen um den Kopf sieht er wie eine Heilige aus.

Maria Theresia gefielen aber die zwei angsteinflößenden Bilder am besten. Beim Tod liebte sie die dunklen Farben und den Lichteinfall auf den Schädel. Außerdem gefiel ihr der Gedanke, dass der Tod alle Menschen gleich behandelt und es von jedem selbst abhängt, was anschließend mit ihm geschehen würde. Bei der Hölle mochte sie die intensive rote Farbe des Bildhintergrunds und die Schlangen, die Köpflein wie kleine Rehkitze hatten. Sie hatte sich vor Schlangen nie gefürchtet, denn sie hatten ihr nie etwas getan und waren außerdem wunderschön.

Franz Metz war mit Pfarrer Jenner befreundet gewesen und hatte nach der Errichtung des Klosters auch Altarbilder für die Klosterkirche und Dekorationen in den Zellen gemalt. An den Wänden des Innenhofs bzw. des Blumengärtleins mit Brunnenhaus zwischen der Klosterkirche und dem Wohntrakt der Schwestern schuf Franz Metz ein emblematisches Kunstwerk aus Wort und Bild zu alttestamentarischen Texten, wie zum Beispiel dem Hohelied Salomos. Diese Szenen entzückten Maria Theresia dermaßen, dass sie bei deren Anblick in eine Art Trance verfiel. Hierzu wurde in der Klosterbibliothek ein Exemplar des Werkes Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo aufbewahrt, worin Holzschnitte mit Motiven des mystischen Verlangens der geweihten Jungfrauen nach ihrem Bräutigam abgebildet waren. Dieses Buch wurde für Maria Theresia zum Quell all ihrer frommen Wünsche hinsichtlich ihres geliebten Bräutigams: des Sehnens, Suchens, Findens und Lobpreisens. Sie wollte wie die heilige Kümmernis alles auf sich nehmen, um einzig und allein ihrem Bräutigam zu gefallen. Gleich dem armen Spielmann kniete sie oft vor dem kleinen Bild mit der gekreuzigten Heiligen, das auf Säben im Innenhof etwas versteckt hing, da die zum Christentum bekehrte Tochter des heidnischen Königs von der Kirche nie anerkannt wurde. Doch Maria Theresia verehrte die bärtige Frau und fühlte die sinnliche Kraft, die sie ausstrahlte. So wie Maria Theresia zwischen Tier und Mensch keinen Unterschied machte, gab es für sie auch zwischen den Geschlechtern keine Grenze.

Als für Maria Theresia das Postulat vorüber war, bat sie um Aufnahme ins Noviziat. Trotz angekündigter Aufhebungen der Frauenklöster schien auf Säben das Dekret der fürstbischöflichen Kanzlei von Brixen nicht allzu streng gehandhabt zu werden. Das aufklärerische Denken Josephs II. konnte 1786 auch die Feierlichkeiten zum ersten Jahrhundert des Bestehens von Kloster Säben nicht vereiteln. Noch weilten an die 50 Chorfrauen und Laienschwestern auf Säben.

Maria Theresia wurde im selben Jahr 1786 ins Noviziat aufgenommen, und in einem feierlichen Ritus während der Vesper fand die Einkleidung statt, an der ihr die benediktinische Ordenstracht, der Habit, überreicht wurde. Sie bekam als Untergewand eine Tunika, die mit dem Zingulum, einem Gürtel, zusammengebunden wurde, und ein Skapulier als Überwurf, das auch als Arbeitsschürze fungierte. Dazu kamen eine große schwarze Kukulle bzw. ein Chormantel mit Kapuze, dem Klima entsprechend aus grobem schwerem Wolltuch, für die Stundengebete und festlichen Anlässe. Zuallerletzt wurde ihr noch der weiße Velan, der Schleier, übergeben. Wie alle Verlobten mussten natürlich auch diese Jungfrauen als Novizinnen und später als Bräute Christi einen Schleier zum Zeichen der menschlichen Begrenztheit, die Größe Gottes zu erkennen, tragen. Abgesehen davon hatte sie bereits zu Hause zum Zeichen der Trauer mehrfach die napla getragen, ein weißes Kopftuch, das die Stirn vollständig verdeckte.

Während der zeremoniellen Aufnahme ins Noviziat erhielt Maria Theresia auch ihren Ordensnamen: Maria Benedikta von St. Kassian. Darin lag ein Verweis auf den Heiligen Benedikt, den Gründer des Nonnenordens auf dem Säbener Berg, der sich radikal von der Welt abgewandt hatte und dessen Regel die Grundhaltung des Horchens an den Anfang setzte und die Tugend des Schweigens hervorkehrte. Nach eingehender Lektüre der Heiligen Schrift und der Regeln des Heiligen Benedikt hatte sie sich diesen Namen innigst gewünscht, sodass die Äbtissin ihrem Wunsch nachgekommen war. In Gröden wurde zudem in St. Ulrich eine Reliquie von Benedikt von Nursia8 aufbewahrt, die Maria Theresia einige Male bestaunt hatte. Obwohl Benedikt in einer Zeit der Unzuverlässigkeit und Angst lebte, hatte er es gewagt, an das Gute im Menschen zu glauben.

Maria Theresia hatte ebenso Vertrauen in den barmherzigen Kern des Menschen, obwohl auch sie in einer durchwegs unsicheren Zeit lebte. Sei es durch die Gefahr der Aufhebung der Klöster, sei es durch die ständigen Bedrohungen der bayerischen und französischen Soldaten. Die zusätzliche Bezeichnung von St. Kassian hatte die Ehrwürdige Mutter für Maria Theresia ausgesucht, da sie mit dem Namen des legendären ersten Bischofs auf Säben ihre rätischen Wurzeln und ihren Wissenshunger in Erinnerung rufen wollte.

Bedenken hatte Maria Theresia, nun Schwester Benedikta, keine gehabt, sich nach dem Probejahr endgültig für das Klosterleben zu entscheiden. Der Gedanke an den Makel, der ihr im Fall eines Abspringens in den Augen ihrer Verwandtschaft haften geblieben wäre, hatte sie dabei keinen Augenblick lang beeinflusst. Sie verspürte bereits nach einem Jahr das Verlangen, nie mehr von der Welt draußen beunruhigt zu werden. Als obligatorische Aussteuer, die schon einige Tage nach ihrem Eintritt von einem Fuhrwerk herbeigebracht worden war, dienten eine Bettstatt, ein Tisch, ein Stuhl und ein kleiner Schrank sowie Bettwäsche, Handtücher und ein silberner Löffel. Nach dem Probejahr hatte die Familie dem Kloster als Mitgift noch 1500 Florentiner ausbezahlt. Das war für einen Bauern aus Gröden eine hohe Summe, die rund drei Jahresgehälter betrug. Doch Giuani Demëine Sanoner hatte mittlerweile eingesehen, dass dieser Weg für seine Tochter der richtige war, und die Familie war stolz auf Maria Theresia und froh, eine Fürbitterin zu haben.

Bis zur feierlichen Profess, dem Versprechen, für immer in der Gemeinschaft Säbens Gott zu suchen, musste Maria Theresia zunächst ein dreijähriges Gelübde ablegen. Während dieser zeitlichen Profess nahm sie an den Gottesdiensten teil, vertiefte sich in den Grundsätzen des Ordens, übte sich in Selbstständigkeit und Ausgeglichenheit, verrichtete täglich ihre Arbeit als Ökonomin, kurz gesagt mit den Tieren, las die Heilige Schrift und meditierte. Doch am liebsten von allem sang Schwester Benedikta. Während der Stundengebete und der heiligen Messe erfolgte der einstimmige, unbegleitete gregorianische Choral in lateinischer Sprache, was ihr überhaupt nicht schwerfiel, da sie diese Sprache viel mehr an ihre Muttersprache erinnerte als das Deutsche.

Aufgrund der nun umfangreicheren Gebetsverpflichtungen als Novizin, die im Chor täglich bis zu sieben Stunden umfassten, konnte sie nicht mehr so viel Zeit ihrer Arbeit bzw. den Tieren widmen. Die Äbtissin bewilligte ihr aber trotzdem jährlich das Amt der Ökonomin, wenn es einer Chorfrau auch nicht entsprach, in den Stall zu gehen, denn Chorschwestern verrichteten Näh- und Stickarbeiten, erteilten Unterricht oder arbeiteten in der Bibliothek als Kopistinnen.

Die ersten Jahre verliefen für Schwester Benedikta auf Säben trotz bewegter und unruhiger Zeiten relativ ruhig und unerwartet rasch. Zwischen den Gebetsstunden in der Klosterkirche, den Lesungen im Kapitelsaal, den Essenszeiten im Refektorium, der Erholung im Schlafsaal und der Arbeit im Stall blieb für Schwester Benedikta, gemeinsam mit Luzifer, nur mehr wenig Zeit für kleine Spaziergänge im Blumengärtlein oder im Klostergarten und für Besuche bei den Tieren auf den Höfen des Klosters.

Bereits vor Schwester Benediktas Eintritt ins Kloster hatte Joseph II. 1782 im Namen der Aufklärung mit der Aufhebung der Klöster begonnen. Betroffen waren Klöster, die dem Staat keinen Vorteil verschafften und nur ein beschauliches Dasein fristeten. Dies waren vor allem Frauenklöster mit strenger Klausur, wie zum Beispiel die benediktinische Frauenabtei Sonnenburg in St. Lorenzen im Pustertal, die 1785, im Eintrittsjahr Maria Theresias auf Säben, nach fast 800 Jahren ihres Bestehens, aufgehoben wurde. Nur Klöster, die auch weltliche Aufgaben, wie Krankenpflege, Unterricht oder Pfarrseelsorge, erfüllten, wurden nicht aufgelassen. Da die Schwestern auf Säben auch Unterricht erteilten und das Kloster zudem innerhalb der Hochstiftsgrenze von Brixen lag, blieb es verschont. Und auch wenn der Bischof von Brixen viele Jahre hindurch die Aufnahme von Novizinnen zu verbieten versucht hatte, waren ab 1785 trotzdem immer wieder Nonnen ins Kloster Säben aufgenommen worden.

Eine davon war 1790 Maria Dominica Senoner aus Wolkenstein, die ihrer Landsfrau gefolgt war. Maria Dominica Senoner legte bereits 1791 die einfache Profess ab und erhielt als Laienschwester den Namen Clara. Trotz ihrer Schwindelanfälle übte sie die Aufgabe der Glockenmeisterin aus. Sie verstarb 1824. Nach dem Klostersturm von 1787 sollte 1791 noch eine Aufhebungswelle folgen, die jedoch durch den Tod des Kaisers zum Erliegen kam.

Inzwischen war auch für Chorfrau Benedikta das Triennium der zeitlichen Profess vorbei, und nach der Novene, dem neuntägigen Gebet zur sorgfältigen Vorbereitung, konnte sie 1788 die feierliche Profess auf Lebenszeit ablegen. Am großen Tag, der ihr Hochzeitstag mit Christus wurde, erneuerte sie während der heiligen Messfeier in Anwesenheit des Fürstbischofs Joseph von Spaur und der Äbtissin Maria Candida Mayr sowie einiger Geistlicher, aller Chorfrauen und Mitschwestern, ihrer Eltern, ihrer Schwester und ihres Bruders die Ordensgelübde Beständigkeit, klösterlicher Lebenswandel, Gehorsam und gottgeweihte Jungfräulichkeit. Den Gelübden folgte die Umkleidung des Habits, indem ihr weißer Novizinnenschleier mit dem schwarzen Nonnenschleier ersetzt wurde, wobei die Bedeckung von Haaren und Hals weiß blieb. Als Braut Christi erhielt sie als Insigne auch einen Ring und zusätzlich ein Stundenbuch, die ihre einzigen Besitztümer bleiben sollten. Doch während der ganzen Feier musste sie stets daran denken, dass ihr eigentlicher Hochzeitstag mit Christus erst an ihrem Sterbetag sein würde, denn nicht eher würde die wahre Begegnung mit dem Bräutigam erfolgen.

Es waren ohne Zweifel besorgniserregende Jahre. 1796 wurden die ersten österreichischen Soldaten auf Säben einquartiert, die die anrückenden Franzosen aufhalten sollten. Die Schwestern fingen mit täglichen Kriegsgebeten an, aber das große Opfer waren die enormen Unkosten, die das Kloster hatte, um alle zu verpflegen. Sogar Nonnen, die vorgaben, aus Paris geflohen zu sein, wurden rundum versorgt, bevor sie nach Brixen zum Fürstbischof weiterzogen; dort entdeckte man, dass sie sich rasierten, und entlarvte sie als Spione.

Schon ein Jahr darauf fiel am heiligen Lichtmesstag Mantua. Die Klosterfrauen wurden gebeten das Kloster zu räumen, denn Säben sollte zu einer Festung ausgebaut werden. Die für diese Arbeiten abkommandierten Bauern von Latzfons weigerten sich jedoch, die Kirchen zu verwüsten, und wenn das Militär nicht nachgegeben hätte, wäre es zu einer Rebellion gekommen.

Am Tag nach der heiligen Benediktfeier des Jahres 1797, am 22. März also, hörte man die Kanonen vor Klausen donnern. Schreckerfüllt flohen einige Schwestern über Feldthurns in Richtung Brixen, wo sie die flüchtende Bevölkerung mit weinenden Kindern in fürchterlicher Not, Kälte und Elend sahen. Schwester Benedikta wurde von Schwester Magdalena gezwungen, nach Latzfons auf den klostereigenen Grienberghof zu ziehen, da sie sich weigerte, nach Hause zu gehen. Bis ins hintere Tal folgte ihr Luzifer brav wie ein Hündchen und wich ihr am Hof nicht von der Seite.

Nachdem die Franzosen in Klausen alle Häuser geplündert hatten, drangen Soldaten bis zum Kloster hinauf und in die Kirchen hinein, wo sie Kelche und den Opferstock raubten. Mit Erstaunen stellten sie fest, dass einige Schwestern im Kloster geblieben waren. Sie versprachen, ihnen nichts anzutun, und zogen bald darauf über die Felsen in Richtung Pardell weiter. Dort erwartete sie aber eine Überraschung. Auf einem Hügel von Pardell sahen sie eine große Truppe in weißen Mänteln, die auf sie zukam. In der Annahme, es handle sich um österreichische Soldaten, die den Bauern zu Hilfe geeilt waren, zogen sie rasch über den Torgglhof wieder ins Tal hinunter. Die Frauen von Latzfons und Verdings hatten zu diesem Trick gegriffen, da viele Männer fort waren, um die Franzosen bei Franzensfeste aufzuhalten.

In der Gegend war auch ein Landsmann Schwester Benediktas, der mit den Mannen aus Gröden nach Spinges gezogen war, um die Franzosen zu schlagen. Schwester Benedikta kannte Matie Ploner vom Hörensagen. Sie hatte von seinen Verdiensten um den Kirchenbau in St. Ulrich und der ein Jahr zuvor erfolgten Kirchenweihe gehört. Doch getroffen hatte sie ihn nie, denn es widerstrebte ihr, an solchen Anlässen teilzunehmen, obgleich sie dafür mit einer Spezialermächtigung der Äbtissin und der Dispens des Bischofs für kurze Zeit das Kloster hätte verlassen können.

Kurz darauf kam der kommandierende Obrist Chavardes mit einigen Offizieren auf Säben und ein paar Tage später wurden 400 Mann und 40 Offiziere im Kloster einquartiert. Doch schon am nächsten Morgen zogen auch sie wieder ab, und bis Ende April kehrten – bis auf eine – alle geflüchteten Schwestern wieder ins Kloster zurück.

Es folgte eine schwere Zeit für die Schwestern. Es herrschte Not und Mangel an lebensnotwendigen Dingen, was jedoch mit der angestrebten Askese nichts zu tun hatte, und es musste ständig mit weiteren Belagerungen des Klosters gerechnet werden. Die Männer des Klosters, der Kaplan, der Zimmermann, der Gärtner und die Bauarbeiter, mussten immer wieder ins Feld ziehen, und die Nonnen mussten auf den klostereigenen Höfen Wachen einsetzen, die auch rundum zu versorgen waren. Aber für Chorfrau Benedikta, die seit ihrem Klostereintritt nicht bessere Jahre gekannt hatte, war das Wegschauen bzw. das sich Ausklinken aus der materiellen Welt schon zur Routine geworden. Durch die Technik des Eintauchens in eine eigene Welt hatte sie bereits zu Hause im Dorf gelernt, sich vor Enttäuschungen und Schmerzen zu bewahren. Das Kloster war für sie noch eine zusätzliche Hilfe geworden, diesen Schutzmechanismus zu verfeinern. Es gelang ihr immer besser, die reale Welt mit ihren Vorstellungen zu ersetzen. Die imaginierte Welt in ihren Gedanken wurde immer stärker zur täglichen Wirklichkeit und schaffte es, Not und Grauen zu vermindern. Die Jahre der Gründungszeit des Klosters, die reich an Malerei, Musik und Theater waren, lebten somit in der Vorstellung Schwester Benediktas weiter und beflügelten ihre Fantasie.

An einem wunderschönen Altweibersommertag, als sich Schwester Benedikta nach der Versorgung der Tiere in der Laube ein wenig ausruhte, sah sie die Ehrwürdige Mutter, die gerade im Garten einen Spaziergang machte, und setzte sich zu ihr. Eine ganze Weile lang schwiegen sie und hörten in die Stille hinein. Es waren nur das Rauschen des Tinnebaches aus der Schlucht bis auf den Säbener Berg hinauf und das beruhigende Schnurren Luzifers auf dem Schoß Schwester Benediktas zu hören.

Da fragte die Äbtissin plötzlich, ob sie wisse, wieso sowohl das Tal als auch der Fluss Tinne hießen. Dass sie diese Geschichten, wie sie von den neuen Gelehrten genannt wurden, einer jungen Nonne eigentlich nicht erzählen dürfte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Als Gläubige unterschied sie nicht Mythen von historischen Ereignissen, die sie beide gleichermaßen als wahr erachtete.

Schwester Benedikta verneinte die Frage und die Äbtissin erzählte ihr von Tinia, dem Hauptgott der Etrusker. Er sei deren Wettergott gewesen und habe besonders mit Blitzen seine gewaltige Zerstörungskraft gezeigt. Nach Murenabgängen habe der Tinnefluss im wilden Tinnetal schon oft ganze Höfe mitgerissen. Doch Tinia sei auch der Gott des Lichtes gewesen, das dürfe sie nie vergessen.

Schwester Benedikta kannte das Tinnetal, denn so oft sie konnte, ging sie der Tiere wegen zu den zinspflichtigen Pachthöfen des Klosters nach Pardell, Latzfons und Villanders. So verstand sie die Worte der Äbtissin nur zu gut, wenn sie an die steilen Wiesen und Felder bis zuhinterst im Tal, wo sich die Ruine des Schlosses Gernstein des Kammermeisters des Hochstiftes Brixen, Ludwig Lindner von Gerrenstein, befand, dachte.

Die Ehrwürdige Mutter hatte schon lang die Wissbegierde Schwester Benediktas bemerkt und fand, es wäre an der Zeit, ihr Genaueres über die Geschichte ihrer Vorfahren mitzuteilen: „Liebe Schwester Benedikta. Sie sollen wissen, dass auf unserem Felsen – auf dem Sonnenberg, wie er dazumal hieß – einst der Räterkönig Arostages seine Burg hatte, und auf dem Gipfel, wo heute unsere Heilig-Kreuz-Kirche steht, befand sich ein Tempel zu Ehren des Gottes Tinia. Das Land des Königs Arostages war nicht sehr groß – es umfasste nur 17 Gehstunden im Umkreis –, doch er häufte gewaltsam Reichtum an Gold und Schätzen auf seiner Burg an, die er in Kellern und Verliesen im Fels versteckte, sodass sie bis heute nicht gefunden wurden. Seine einzige Tochter Larthia liebte er über alles, nachdem seine zwei Söhne im Kampf gegen die angreifenden Römer gefallen waren. Daraufhin hatte er seine Burg zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen lassen. Doch zwei Söhne seines Bruders hatten sich verräterisch auf die Seite der Römer geschlagen und verschafften sich durch eine List Einlass in die Burg. Sie gaben vor, dem Onkel bei der Schlacht gegen die Römer beiseitestehen zu wollen. Am Abend, bevor es zur Entscheidungsschlacht kommen sollte, wurde im Festsaal fröhlich gespeist und getrunken. Nur Larthia hatte eine Vorahnung. Als es Nacht wurde, schlichen die Brüder zum Mäuseturm, wo die Waffen aufbewahrt wurden, drangen ins Schlafgemach des Königs Arostages ein und töteten ihn. Larthia fesselten sie an eine Säule des Tempels, um sie am nächsten Tag den Römern auszuliefern. Den Schatz wollten sie natürlich für sich behalten. Als Larthia dies vernahm, bat sie ihre Vettern um eine letzte Gunst. Sie würde so gerne noch einmal für den toten Vater zu Tinia beten. Als man sie losband, entschlüpfte sie den Aufsehern, floh zur Hinterseite des Tempels und stürzte sich über den Felsrand in die Tiefe. Die Römer nahmen die Burg in Besitz, die Verräter wurden verjagt und die Gebeine Larthias vermoderten am Fuße der steil abfallenden Säbener Bergwand. Wo der Tempel für Tinia stand, errichteten die Römer einen Tempel zu Ehren der Göttin Isis.“

Die Äbtissin und Schwester Benedikta saßen noch eine ganze Weile still beieinander. Die Sonne stand schon knapp über dem Ritten und schickte die letzten warmen Strahlen zu ihnen herüber. Die Blätter der Reben leuchteten im Abendlicht je nach Sorte blutrot, weinrot, rostbraun, goldgelb oder orange. Gerne hätte Benedikta etwas gesagt, aber wie so oft schwieg sie. Sie war in Gedanken noch mitten in der Geschichte. Sie verstand Larthias Tat nur zu gut und bewunderte deren Mut. Es fiel ihr der lateinische Vers in hac lacrimarum valle9 der Antiphon im Salve Regina ein, den sie oft sangen. Schwester Benedikta liebte die klangvollen lateinischen Texte, die dem Ladinischen so ähnlich waren.

Der Gang des Irdischen außerhalb der Klostermauern war in der Tat zu einem tristen Ziel gelangt. Hier auf dem Säbener Berg hoffte sie dagegen, den Ort einer höheren Freiheit gefunden zu haben. Die benediktinischen Grundsätze des Gehorsams, der Besitzlosigkeit und der ehelosen Keuschheit standen für sie nicht im Widerspruch zu ihrem Wunsch nach einem glücklichen Leben und bedeuteten weder Verzicht noch Opfer. Im Gegenteil. Im geschützten Raum der klösterlichen Gemeinschaft verspürte sie zunehmend, wie ihre Unsicherheit verschwand und sie jener Unbeschwertheit näherkam, nach der sie von Kind an unbewusst gestrebt hatte. Indem sie sich dem sich ausbreitenden aufgeklärten Individualismus entzog, würde sie auch dem daraus resultierenden Leid und Schmerz des Einzelnen in der neuen Weltordnung entfliehen. Es war ein Weltgesetz, das Freiheit und Toleranz vortäuschte und, durch das Scheinideal der Eigenmächtigkeit, dem völlig unmündigen Menschen noch für lange Zeit unvorhersehbare Zwänge, gesellschaftlichen Druck und Armut verursachen würde. Echte Freiheit konnte sie nur durch den Verzicht auf die gesellschaftlichen Verstrickungen erlangen. Die Zeit für den neuen Menschen war noch lange nicht reif, und Schwester Benedikta zweifelte sogar, ob sie es jemals sein würde. Sie sah sich jedenfalls in der Klausur bei ihren Mitschwestern aufgehoben und versorgt. Sie verhielt sich im Kloster wie ihre Ameisen, die sie oft beobachtete und die sich als Individuen nicht wichtig nahmen.

Plötzlich brach das Vesperläuten die Stille. Die Chorschwestern erschraken – auch die Äbtissin war in ihre Gedanken versunken gewesen – und sie beeilten sich, um rechtzeitig in die Stiftskirche zu gelangen.

Der Frieden im Land hielt nicht lang an. 1805 fiel das Hochstift Brixen zusammen mit dem Land Tirol an das neu geschaffene Königreich Bayern und es folgte das Schicksalsjahr 1808. Nachdem das Kloster vollständig ausgeplündert worden war, wurde es am 25. August von der bayerischen Regierung aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch die Klosterhöfe zum Verkauf freigegeben. Die meisten Schwestern zogen nach Hause oder zu Verwandten und nur wenige verblieben im Kloster, darunter Schwester Magdalena, Schwester Benedikta und die Äbtissin Maria Candida. Diesmal hatte die Toldin Benedikta nicht überreden können, das Kloster zu verlassen.

Bei den Plünderungen im Februar und März 1809 wurde alles von den Soldaten mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Nur Schwester Magdalena hatte den Mut gehabt, sich zu widersetzen. Wutentbrannt riss sie den bayerischen Räubern den letzten Kessel wieder aus der Hand und rettete durch eine List auch die Klosterchronik und weitere Schriften des Archivs. Das gesamte Klosterinventar – Mobiliar und Kirchenparamente – wurde zu einem Spottpreis in Klausen versteigert.

Doch schon im April rückten wieder die Österreicher bis nach Klausen vor, die alles, was noch nicht verkauft worden war, erneut auf Säben hinaufbringen ließen. Sie blieben bis November, als auch wieder die Franzosen vorrückten. Diesmal griffen sie wutentbrannt von allen Seiten die Bauern an und drangen am 5. Dezember bis nach Säben hinauf. Sie überfielen die Klosterfrauen im Chor, als sie gerade die heilige Kommunion empfingen. Die Soldaten zerrten die Frauen an ihren Kutten und an den Haaren in den Vorhof.

Schwester Benedikta saß wie immer in der hintersten Kirchenbank im Dunkeln, so konnte sie in diesem aufgeregten Durcheinander unbemerkt durch die Sakristei hinaus zur Apothekerküche entkommen. Sie hätte sich hier verstecken können, aber die Apotheke war schon seit Jahren aufgelassen und verschlossen. Nun stand sie allein am Abhang des Säbener Felsens und schaute auf Klausen hinunter. Jener Abhang, der die Nonnen von der Welt abschirmte und das Glück bedeutete, war für so manches Kirchenoberhaupt schon lange ein Dorn im Auge, da er durch die abgeschiedene Lage die Macht der Äbtissin unkontrollierbar machte.

Es war ein klarer Wintertag mit wenig Schnee. Schwester Benedikta wurde plötzlich ganz ruhig und dachte voller Erbarmen an ihre Mitschwestern. In all den Jahren der Belagerungen hatten sich noch keine Soldaten so brutal verhalten. Für Schwester Benedikta war der Gedanke, in jedem Augenblick selbst entscheiden zu können, wann die Zeit für das Abschiednehmen gekommen wäre, stets eine tröstliche Überlebensstütze gewesen.

Während ihrer letzten Jahre auf Säben litt sie – wie mehr oder weniger alle Schwestern, mit Ausnahme der kräftigen Toldin – unter Beschwerden. Ihr Anliegen, sich vor körperlichen und seelischen Schmerzen zu schützen, hatte sie mit radikalem Rückzug und Schweigen zu erreichen versucht. Doch die Jahre vergingen auch für sie. Schwester Benedikta hatte gerade ihren 50. Geburtstag hinter sich, und ein unaufhaltsamer Kräfteverfall, der sie sehr beunruhigte, hatte sich schon seit einigen Jahren bemerkbar gemacht. Es waren vor allem das tägliche stundenlange Knien in der Kirchenbank und die ständige Kälte, die sich rächten. Zusätzlich hatte sie Kreuzschmerzen und der Nacken plagte sie oft so sehr, dass sie tagelang kaum den Kopf wenden konnte. Trotzdem musste sie sich als vom Glück begünstigt erachten, wenn sie an die vielen und schweren Gebrechen ihrer Mitschwestern dachte, die von gehbehinderten Füßen, periodischen Nervenschwächen, rheumatischem Armleiden, schmerzhaften Leibschäden, Wassersucht, Engbrüstigkeit, Blindheit bis hin zur Lungenkrankheit gingen.

Die entbehrungsreichen Jahre der Belagerungen und Plünderungen hatten den Nonnen viel Leid gebracht. Somit war für Schwester Benedikta der Freitod in dieser schweren Zeit immer eine offene Option gewesen, gleichwohl ihre Obrigkeit den Suizid als Verbrechen gegen die Gesellschaft, das Gesetz und gegen Gott verurteilte. Ihr lag es jedoch fern, jemanden damit zu verletzen. Im Gegenteil. Ihre Liebe zum Klosterleben und zu den Mitschwestern war stets so groß gewesen, dass sie sich vor einer Verurteilung nicht fürchtete. Nur hätte sie nie geglaubt, den Freitod eines Tages nutzen zu müssen, um einer fremden Vereinnahmung zu entkommen.

Sie erinnerte sich an Larthia. Seit ihrer Aussprache mit der Ehrwürdigen Mutter verspürte Schwester Benedikta eine gewisse Verwandtschaft mit ihr. Und diese Vision verwirrte sich mit den Gestalten der Vier letzten Dinge auf den Tafelbildern an der Heilig-Kreuz-Kirche. Sie zeigten ihr noch einmal das Entscheidende, worum es in diesem Augenblick ging: den Tod, das Widerspiel zwischen Höllenqual und Paradiesesglück und den Urteilsspruch beim Jüngsten Gericht. Es war also eine schwache Ahnung vom möglichen Ende der schweren Zeiten und von der Vollendung der gesamten Schöpfung, die sich schließlich in ihr öffnete und ihr eine letzte Zuversicht gab. Nicht zuletzt wusste sie den inzwischen uralten Luzifer bei Schwester Magdalena gut aufgehoben und versorgt.

Nach einer Hitzewallung, die durch ihren Körper lief, und im Wohlgefühl der nachlassenden Wärme, noch bevor der anschließende Schüttelfrost sich breitmachen konnte, überkam sie die Gelassenheit und die Gewissheit, dass sie das Richtige tat. Wie eine Filadrëssa, ein Turmfalke, glitt sie mit dem Aufwind, der winters über den Säbener Felsen steigt, fort.

Als die bestürzten französischen Soldaten sie am späten Abend des darauffolgenden Tages schließlich an einer schier unzugänglichen Stelle auf einem Felsvorsprung fanden – wo sie, gleich dem falschen König von Fanes auf dem Falzarego, noch heute neben dem König Arostages versteinert zu sehen ist – wurde sie vorerst nach Klausen hinuntergebracht. Der Arzt stellte fest, dass sie durch den Sturz tödliche Verletzungen davongetragen hatte, aber noch stundenlang gelitten haben musste.

Hatte nicht auch ihr Bräutigam fürchterliche Qualen durchleiden müssen, um die Welt zu retten? War dessen widerstandslos hingenommene Kreuzigung nicht auch eine Art Selbsttötung gewesen? Den Selbstmord Schwester Benediktas als altruistische Tat zu rechtfertigen, wäre dem Bischof nie in den Sinn gekommen. Aber mit der Begründung, der Suizid sei eine Folge von Besessenheit durch den Teufel und dass Schwester Benedikta die ewigen Höllenqualen bereits vor dem Tod erlitten habe, wurde sie von ihrer Verantwortlichkeit enthoben, sodass eine kirchliche Bestattung stattfinden konnte.

Unter großer Anteilnahme wurde sie auf Säben in die Stiftskirche hinaufgetragen, und am nächsten Morgen fand sich eine große Menge Bauernvolk ein. Zum Erstaunen aller drängten sich der Brigadier Severoli und sein Adjutant mit zehn Reitern nach vorne. Sie stellten sich vor dem Sarg auf und begannen den tröstenden Text des 23. Psalms anzustimmen:

Durch tiefe Täler

schickte dieser Hirte mich

verzweifelt schrie ich oft:

Mein Gott, mein Gott,

ich schaff es nicht allein!

Ich ging, ich lief,

ich kroch so manches Mal;

durch finstre Schluchten

über steile Höhn

fand ich mein Ziel.

Es stellte sich heraus, dass der Brigadier Severoli vor der Französischen Revolution Erzbischof und sein Adjutant Mönch gewesen waren. Chorfrau Benedikta hatte es geschafft, die Zeit für einen kurzen Augenblick zurückzudrehen und zugleich den Frieden auf Säben zurückzubringen. Sie wurde in der Gruft unter der Klosterkirche beigesetzt.

Totgeschwiegene Leben

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