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Prolog

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Schon oft hat ein wie zufällig gehörter Satz oder ein aufgeschnapptes Wort mir den Anstoß für eines meiner Bücher über den Geschmack gegeben, dieses Mal war es die Äußerung eines Küchenchefs, die mich auf die Idee brachte, über die Jahreszeiten zu schreiben.

Eines Abends vor ungefähr sechs Jahren war ich in einem Bistro, in das ich immer ging, wenn ich nach Japan zurückkehrte. Ich mochte es, dort am Tresen zu sitzen, dem Küchenchef, der um die sechzig gewesen sein muss, genau gegenüber. Jedes Mal war es ein Schauspiel und eine regelrechte Kochstunde für mich. Es hieß, früher habe er als Küchenchef in einem berühmten Gourmetrestaurant gearbeitet, doch inzwischen führte er dieses populäre, immer gut besuchte Bistro in einem Vorort von Tōkyō, vielleicht, um an einem Ort, der zu ihm passte, »seine eigene Küche« zu verwirklichen. Die von ihm angebotenen Speisen sahen nicht nur fantastisch aus; in der Finesse der geschmacklichen Verbindungen spiegelte sich eine solide Ausbildung wider und überdies die profunde Kultur seiner Persönlichkeit. Auch seine eigenen Ausführungen zeugten von einer großen Vertrautheit mit der klassischen kulinarischen Literatur.

Als ich also wieder einmal am Tresen dieses Bistros namens »Kyūshō« sitze, wie immer dem Küchenchef Mitsuo Fujinaga gegenüber, serviert mir dieser ein Gemüsegericht, das schon nicht mehr zur Jahreszeit zu passen scheint. Etwas verwundert frage ich nach, und er antwortet mir: »Mademoiselle, da ich sehr viel älter bin als Sie, weiß ich nicht, ob ich dieses Gemüse auch im nächsten Jahr noch genießen darf.«

Wenn es um Nahrungsmittel geht, drängt sich unweigerlich die Frage nach den Jahreszeiten auf. Dass man saisonale Produkte verwenden und konsumieren soll, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber was genau ist das eigentlich, ein »saisonales Produkt«? Das Produkt, wie es bei uns auf den Märkten zu finden ist? Oder wenn es zum ersten Mal im Jahr geerntet wird? Aus welcher Region? Wie lange darf der zurückgelegte Weg sein, um noch von einer »saisonalen« Frucht sprechen zu können? Und ab wann sind Wurzelknollen und Zitrusfrüchte, die sich über Monate aufbewahren lassen, nicht mehr »saisonal«? Zu welchem Zeitpunkt ist eine Fischart »saisonal«, und wie sollte man das definieren? Der Begriff der »Saison« könnte durchaus komplexer sein, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

In Gefilden, die verschiedene klimatische Jahreszeiten kennen, existiert der Begriff der Saison unhinterfragt. Dabei wird häufig vergessen, dass er sich erst dann auf Nahrungsmittel beziehen lässt, wenn es möglich ist, die Saison zu verlegen und zu verschieben, kurz, mit ihr zu spielen. Es hat eine Zeit gegeben, als man sich nur mit dem versorgen konnte, was die Natur gerade anbot. Damals existierte ein »außerhalb der Saison« im Grunde nicht. Man sprach im Übrigen eher von einem »wider die Saison«, was nicht das bezeichnet, was sich »außerhalb« der Saison befindet, sondern das, was »widernatürlich« ist und folglich beunruhigend, ja sogar verdammenswert. Kalte oder heiße Jahre und ihre Auswirkungen auf die dadurch verzögerten oder verfrühten Getreide-, Gemüse- und Obsternten und die Weinlese, zudem stark schwankende Erträge, die so niedrig ausfallen konnten, dass eine Hungersnot ausbrach – all das gehörte zum »Rhythmus der Natur« und zu seinen Risiken. Man war den Jahreszeiten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass heute überall ein saisongerechter Konsum gepredigt wird, gerade in einer Zeit, wo es theoretisch möglich ist, das ganze Jahr über Obst und Gemüse zu züchten und aus allen Ecken der Welt zu importieren. Natürlich ist dieser Anspruch keineswegs unbegründet. Nur wird er allzu oft als eine unumstößliche Notwendigkeit verstanden, der es ohne Wenn und Aber zu gehorchen gilt. Als ob man im Gleichschritt mit der jahreszeitlichen Saison zu marschieren hätte. Doch ist eine Saison alles andere als ein Metronom oder ein Bataillon; die Vorstellung, schnurgerade Ränge zu bilden, aus denen kein Kopf herausragen darf, ist ihr völlig wesensfremd.

Wir haben manchmal eine starre Auffassung von der Dauer einer Saison, als ob diese durch eine Verordnung festgelegt oder wie ein Schulkalender organisiert sei; doch lässt sich eine jahreszeitliche Saison nicht – und ließ sich nie – in eine solche Ordnung zwängen.

Heutzutage ist es paradoxerweise zum Luxus geworden, saisonale Produkte zu kaufen, denn diese Bezeichnung schließt Tiefkühlwaren, Konserven und Erzeugnisse aus der industriellen Landwirtschaft aus.

Man denke aber an all die Märchen, für Kinder wie für Erwachsene, in deren Mittelpunkt die Suche nach einem Produkt außerhalb »seiner Saison« steht. Wie es mir der Küchenchef im »Kyūshō« ins Bewusstsein rief: Ein bestimmtes Gemüse am Ende seiner Saison zu servieren, kann ein Luxus an sich sein. Und der Zweifel, ob man in seinem Leben noch einmal die eine oder die andere Jahreszeit erleben wird, bedeutet, dass man sich schon nach der Jahreszeit sehnt, die man noch nicht erlebt hat, oder dass man die Jahreszeit verlängern möchte, die sich gerade dem Ende zuneigt.

Die Saison zu verschieben, den Ablauf der Zeit und der Jahresabschnitte zu durchbrechen, das ist der Ausdruck eines großen Wunschtraums für uns Sterbliche, die wir gezwungen sind, dem Zeitenlauf zu folgen, der nur in eine Richtung geht. Während wir ein solches Produkt kosten, befreien wir uns von unserer eigenen Zeitlichkeit. Im Hochsommer nach einer Orange zu verlangen, bedeutet, den Winter erleben zu wollen und nicht bereit zu sein, aus der Gegenwart die »letzte Saison« zu machen.

Nagori

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