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1 Vier Jahreszeiten, vierundzwanzig Jahreszeiten, zweiundsiebzig Jahreszeiten?

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Manchmal glauben wir, gewisse Konzepte, die wir als wesentlich für das Leben an sich erachten, seien universell, und sind erstaunt zu erfahren, dass sie nicht überall gelten. Dies betrifft zum Beispiel die Begriffe »Gesellschaft«, »Freiheit« oder »Liebe«, die es im Japanischen erst seit der Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert gibt, als aus den europäischen Sprachen übersetzte Konzepte. Was bei Nicht-Japanern immer große Verwunderung auslöst.

Und ebenso vergessen wir, wenn wir in einem Land mit deutlich verschiedenen Jahreszeiten leben, nur allzu leicht, dass dies nicht in allen Gegenden der Welt der Fall ist.

In zahlreichen Ländern gibt es nur zwei Jahreszeiten: die warme und die kalte. Oder zwei eher durch die Höhe der Luftfeuchtigkeit oder die Niederschlagsmenge als durch die Temperaturen (die sie als Nebeneffekt begleiten) charakterisierte Jahreszeiten. So in der tropischen Savanne: Regenzeit und Trockenzeit. Dasselbe gilt für die Monsunzeit in Indonesien, auf Martinique oder in Miami. Alternativ kann der klimatische Einfluss auch zu drei Jahreszeiten führen, wie zum Beispiel in Myanmar: kühle Jahreszeit, heiße Jahreszeit, Regenzeit; oder aber im Süden Thailands: trockene Jahreszeit, heiße Jahreszeit und Regenzeit.

Früher bin ich regelmäßig nach Mali gereist. Ende November, wenn die Regenzeit zu Ende geht, scheint dort den ganzen Tag über die Sonne, die Temperatur steigt jeden Tag schrittweise und ziemlich kontinuierlich an, der Boden wird zunehmend trockener, der Wasserstand der Flüsse sinkt allmählich, das Grün verschwindet entsprechend, und binnen fünf Monaten ist der Zyklus vollendet, der Regen kehrt zurück. Nach einem ersten Starkregen findet der erfrischte Boden neue Kraft, und schon zeigen sich die ersten Schösslinge, bis die zu mächtig gewordenen Regenfälle zu einem Anstieg der Gewässer und manchmal zu Überschwemmungen führen.

In Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien, scheint die Temperatur im Großen und Ganzen unverändert zu bleiben. Sie variiert über das Jahr im Durchschnitt zwischen achtzehn und einundzwanzig Grad, mit Nebel an zwei von drei Tagen. Um andere Temperaturen und andere jahreszeitliche Wetterlagen zu erleben, muss man sich in vertikaler Richtung fortbewegen, den Charakteristika des alpinen Klimas folgend. Je höher man kommt, desto tiefer sinkt die Temperatur, und je tiefer man ins Flachland hinabsteigt, desto milder wird es.

Daran ist nichts Außergewöhnliches: Genau das hat man uns in der Schule im Geografieunterricht beigebracht. Dennoch haben wir die größten Schwierigkeiten, es zu erfassen oder, um mich genauer auszudrücken, es in unseren Körper, in unsere konkrete Vorstellung zu integrieren.

Die Wirtin eines anderthalb Stunden von Kyōto entfernt liegenden Gasthauses hat mir einmal erklärt: »Hier bei uns kommt der Frühling später als in der Stadt, wir liegen am Fuß eines Berges, bei uns ist es kälter. Doch die Kyōter Gäste vergessen, dass sich in anderthalb Stunden Zugfahrt das Klima ändern kann, und sind sehr erstaunt, wenn ich eine Gemüsesorte serviere, deren Saison für sie bereits vorüber ist. Ich entschuldige mich dann bei ihnen und bitte sie, Nachsicht mit der Natur zu haben.«

In Frankreich regt man sich leicht darüber auf, dass heute schon im März Erdbeeren oder im April aus dem Süden importierte Aprikosen und im Winter Tomaten angeboten werden. Insofern sie den faden Geschmack und die Methoden der industriellen Landwirtschaft anklagt, oder aber den unnötig weiten Transportweg aus dem Ausland importierter Früchte, halte ich die Empörung für vollkommen gerechtfertigt. Aber empfinden wir nicht in Wahrheit zuallererst eine fast instinktive Abneigung angesichts dieser Früchte »außerhalb der Saison«, deren Anblick uns, im Namen der Jahreszeit, der wir die jeweilige Frucht zuordnen, anstößig scheint? Befälltuns nicht ein Unbehagen, weil die Frucht aus dem Rahmen herausfällt, mit dem wir sie in unserer Vision der vier Jahreszeiten verbinden?

Meine Hypothese lässt sich einfach belegen, wenn man zum Beispiel an die sogenannten »exotischen« Früchte denkt. Niemand von uns ist schockiert über das ganzjährige Angebot von Bananen auf den Märkten, und nur wenige bringen die CO2-Bilanz von Mangos oder Ananas ins Spiel, wie es bei Erdbeeren oder Kirschen üblich ist, oder nehmen Anstoß daran, sie »außerhalb der Saison« zu essen. Wer von uns weiß, wann Kiwis Saison haben, und mehr noch, wen kümmert es überhaupt? Und darf man sich etwas wünschen, wenn man die erste Kiwi des Jahres isst? In unserer Vorstellung ist die Kiwi nämlich eine exotische Frucht. Dabei wird sie in großem Umfang in Europa, und sogar in Frankreich, angebaut. Dass sie ganzjährig auf dem Markt angeboten wird, liegt daran, dass sie sich lange – über zwei oder drei Saisons hinweg – hält. Doch in welcher Jahreszeit haben Kiwis dann letztlich »ihre Saison«?

Das Verhältnis zwischen Produkten und Jahreszeiten ist zufällig und hoch symbolisch. Allem Anschein nach gebührt manchen Produkten die Ehre, den Gesetzen einer unumstößlichen Saisonalität gemäß behandelt zu werden (Kirschen, Feigen, Spargel oder grüne Erbsen … in Frankreich vor allem Obst und Gemüse des Frühlings oder Sommers: die Jugend der vier Jahreszeiten), während sich andere jeglicher jahreszeitlichen Symbolik beraubt finden (Avocados, Äpfel, Bananen, Ingwer …). Wer kann schon die Geschmacksvariationen der Avocado je nach Jahreszeit und nach Herkunftsgebiet erschmecken?

Den Japanern wird oft nachgesagt, sie besäßen eine besondere Sensibilität für die Jahreszeiten. Sie selbst rühmen sich dieser Qualität. Alle schwärmen davon, dass der traditionelle japanische Kalender vierundzwanzig, ja sogar zweiundsiebzig Jahreszeiten zählt, von denen jede eine eigene, den jeweiligen Moment des Jahres veranschaulichende Bezeichnung trägt. Das bedeutet gewissermaßen: Je mehr Jahreszeiten es gibt, desto besser!

Es versteht sich von selbst, dass sich ein Kalendersystem mit dem Konzept von Jahreszeiten nicht genau decken kann. So zählt in einem Mondkalender wie dem islamischen das Jahr nur 354 Tage, die sich jahreszeitlich verschieben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wer nach solch einem Kalender lebt, keine Vorstellung von Jahreszeiten besitzt. Die meisten Kalender beziehen sich auf religiöse Riten, auf astronomische und natürliche Phänomene oder auf eine Kombination von beiden. Dabei scheinen jene Kulturen, die den traditionellen landwirtschaftlichen Kalender übernommen haben, mit den Jahreszeiten besser in Einklang zu stehen.

Tatsächlich wurde das japanische System der Einteilung des Jahres in vierundzwanzig oder zweiundsiebzig Zeitabschnitte (also immer noch auf vier Jahreszeiten basierend), das als Gipfel an Raffinesse und Ausgereiftheit angesehen wird, gar nicht in Japan erfunden. Es stammt aus China, wo seine Entstehung dem Bedürfnis entsprang, den sich von Jahr zu Jahr verschiebenden Mondkalender anzupassen. Eigentlich ist es niemals wirklich dem japanischen Klima angeglichen worden.

Natürlich ergibt es keinen Sinn, den Wert eines Kalenders nach der Vielzahl seiner Unterteilungen zu bemessen.1 Hätten die Franzosen den Revolutionskalender beibehalten, dann stünde ihnen tagtäglich der Name einer Frucht oder eines Tieres zu!

Gleichzeitig aber lässt sich nicht leugnen: All diesen zahllosen Minijahreszeiten anschauliche, die Naturphänomene beschreibende Namen zu geben, muss dazu beigetragen haben, eine besondere Sensibilität für die winzigen Veränderungen der vorübergehenden Zeit zu entwickeln. Einige dieser vierundzwanzig Begriffe haben Eingang ins Alltagsleben gefunden, und wir benutzen sie noch immer, zum Beispiel in Formulierungen offizieller Schreiben. Im Übrigen herrscht in den historischen Hauptstädten (Kyōto, Kamakura und Edo, dem heutigen Tōkyō) ein gemäßigtes Klima mit vier klar unterscheidbaren Jahreszeiten, eine ideale Voraussetzung, um eine ganze Literatur über die Jahreszeiten hervorzubringen.

Die Sensibilität entsteht aus den Worten: Was man nicht benennen kann, kann man nicht spüren. Müsste ich mich entweder für die Henne oder für das Ei entscheiden, würde ich sagen, dass es die Literatur und das geschriebene Wort waren, die bei den Japanern das Bewusstsein für Jahreszeiten und die mit ihnen verbundene Vorstellungswelt entwickelt haben. Im Man’yōshû, der ersten, im 7. Jahrhundert zusammengestellten Gedichtanthologie, sind mehr als viertausendfünfhundert Gedichte nach dem Prinzip der einzelnen Jahreszeiten gegliedert, und im 10. Jahrhundert findet man schon bestimmte, explizit mit dieser oder jener Jahreszeit verbundene Wörter. Im Mittelalter steht die charakteristische Ästhetik der »Jahreszeitenwörter« häufig im Zentrum dichterischer Debatten.

Das beste Beispiel dafür ist die Geburt des traditionellen japanischen Haiku. Auch wenn die Natur gewiss in den meisten Zivilisationen eine Quelle der großen poetischen Themen darstellt, so kommt ihr doch in der japanischen Dichtung ein außergewöhnlicher Status zu. Durch die – neben der festen Silbenzahl – formelle Vorgabe, systematisch ein Wort, das sich auf eine Jahreszeit bezieht, in das Haiku zu integrieren und diese »Jahreszeitenwörter« in der Folge als regelrechtes kodifiziertes Repertoire abrufbarer Formen zu etablieren, macht die japanische Dichtung aus der Jahreszeit ein praktisches literarisches Dispositiv, mit dem sie diese kurze Form variieren und zugleich den literarischen Sinn der Mikrojahreszeit schärfen kann.

Von diesem Moment an lässt sich die ganze Welt nach Jahreszeiten ordnen: Pflanzen, Fische, Tiere, Klimata, aber auch Rituale und, heutzutage, Höhepunkte des schulischen oder beruflichen Kalenders (so wird die »Demonstration zum 1. Mai« als »Frühlingswort« eingestuft). Kleidung und verschiedenste Accessoires, saisonbedingte Krankheiten, Sportkämpfe … alles lässt sich nach seiner eigenen, spezifischen Saison einordnen. Sogar die »Gespenster« sind demnach, wegen des Festes für die verstorbenen Seelen der Ahnen, als »Sommerwörter« klassifiziert, und man kann in einem Haiku den »14. Juli« (genannt »Pariser Fest«) als »Sommerwort« einsetzen.

Seine außerordentliche Beliebtheit verdankt das Haiku der Einfachheit seiner Form: In Japan kann ein jeder Haikus dichten. Insofern seine Verfasser sich desselben kodifizierten Vokabulars bedienen, hat sich daraus ein ganz erstaunliches Universum saisonaler Sprache entwickelt. Und in diesem Sinne lässt sich eindeutig sagen, die Japaner verfügten über eine »besondere Sensibilität für Jahreszeiten«. Sie sind es gewohnt, die Wörter mit einer bestimmten Jahreszeit2 zu verbinden, auch wenn es schlicht und ergreifend ein Tick sein sollte. Wir müssen dabei berücksichtigen, dass dieses Vokabular dem Bereich der kollektiven Vorstellung von »vier Jahreszeiten« entspricht und die klimatischen Unterschiede zwischen den einzelnen japanischen Regionen nicht einbezieht. Es liegt an jedem Einzelnen, sein Vokabular entsprechend der eigenen Sensibilität und der jeweiligen klimatischen Gegebenheit selbst zu erstellen und anzupassen.3

In allen Kulturen erschafft die Literatur einen Wortschatz, um eine gewisse Sensibilität für die am jeweiligen Ort zu erlebenden Jahreszeiten auszudrücken. Die Anzahl der Jahreszeiten spielt in dieser Hinsicht keine Rolle: Selbst für Bewohner von Regionen, die im Lauf des Jahres nur eine einzige Jahreszeit kennen, und vielleicht insbesondere für sie, muss es möglich sein, ihre Sensibilität für die noch so kleinen Schwankungen der Umwelt zu schärfen.

Mehr noch als das kann man von einem jahreszeitlichen Universum inspiriert sein, das der umgebenden Wirklichkeit nicht entspricht. Viele frankofone Autoren, die in Übersee aufgewachsen sind, unterrichtet in französischen Schulen mit aus dem Hexagon stammenden Schulbüchern, erzählen von ihrer Faszination, wenn sie als Kind vom Herbstlaub oder vom Schnee lasen, die es in ihrem Land gar nicht gibt. Wie konnte so etwas überhaupt existieren, solche seltsamen Kügelchen aus weißen Flocken, die sich eiskalt anfühlen, an Sorbets erinnern und vom Himmel fallen? Die Jahreszeiten, die man real nicht erlebt, lassen sich sehr wohl in Worten erleben.

1 Dieses System war in Japan über viele Jahrhunderte hinweg eingeführt und einst allen Japanern vertraut, doch seit seiner Wiederentdeckung vor weniger als zehn Jahren hat es sich zu einem regelrechten Glossar für Bestseller entwickelt. Man muss sich nur die rasante Vermehrung der Publikationen zu diesem Thema ansehen: Das Leben nach dem alten Kalender, Die Küche der vierundzwanzig Jahreszeiten. Genuss und Belebung für Ihren Körper, Der Kalender der zweiundsiebzig Jahreszeiten, um die Fülle der Jahreszeiten zu genießen, Das Buch der vierundzwanzig oder zweiundsiebzig Jahreszeiten, um die Schönheit Japans kennenzulernen, Die vierundzwanzig Jahreszeiten malen, bis hin zum Titel Vierundzwanzig Jahreszeiten in Bildern für Kinder! Diese Welle verrät zum einen eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach dem früheren Japan (eine Tendenz, die ganz allgemein Aufwind zu haben scheint), als ob man die Augen verschließen wolle vor dem heutigen, müden und schwer angeschlagenen Japan; und zum anderen den Wunsch, eine gestörte saisonale Ordnung wiederherzustellen. Sie lässt einen Rückzug befürchten, der mittels »Neuerfindung« eigener Werte den Nationalstolz, zu Lasten anderer Kulturen, weckt und stärkt.

2 So heißt die Frühlingsdorade zum Beispiel sakura-dai, »Dorade mit Kirschblüten«, und ein Gericht, das geriebene Radieschen enthält, wird im Winter mizore-ae, »Nassschnee-Gemisch«, genannt, im Frühling hingegen kasumi-ae, »Nebel-Gemisch«.

3 In Okinawa, wo sich das Klima stark von dem der Hauptinsel unterscheidet, ist in diesem Jahr eine Sammlung okinawesischer »Jahreszeitenwörter« erschienen. Über dreizehn Jahre lang hatte die Gesellschaft für zeitgenössische Haikus von Okinawa 2 800, dem Klima der Insel entsprechende, »Jahreszeitenwörter« zusammengetragen. In einem Artikel der Tageszeitung Nikkei vom 25. August 2017 stellt ein Dichter als Beispiel ein Haiku vor, in dem er die Klarheit des nächtlichen Himmels beschreibt, an dem ein Cumulonimbus zu sehen ist. Bei seinem Erscheinen in einer westjapanischen Haikuzeitschrift hatten die anderen Dichter das Bild als unrealistisch bewertet, obwohl es die okinawesische Landschaft treffend widerspiegelt.

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