Читать книгу Die Chroniken der drei Kriege - S. A. Lee - Страница 6
ОглавлениеProlog: Schatten
Aus den Niederschriften von L’Oash dem Jüngeren, im Jahr 8201 des ersten Zyklus (fragmentarisch erhalten):
»Dies sind die Zeugnisse von L’Oash dem Jüngeren, der Die Welt Jenseits Der Wälder gesehen hat. Mein Tod ist gewiss und wird bald kommen – doch mein Wissen soll bewahrt und den Generationen nach mir überliefert werden, auf dass sie klüger damit umgehen als ich es tat.
… (Textstellen unleserlich) …
Höre nun, Wagemutiger, und erfahre das Geheimnis, welches den letzten verschlossenen Weg, den Pfad durch die Westlichen Wälder, öffnet. Drei Regeln sollst du kennen, die dem Wanderer zur Hilfe dienen. Verletzt er sie, so ist er für immer verloren. Befolgt er sie, ist sein Schicksal mehr als ungewiss. Empfange mein Wissen, der du dies liest, und entscheide selbst, was du damit beginnest:
Erstens: Verlasse niemals den Pfad.
Zweitens: Höre nicht auf die Stimmen.
Drittens: Zu keiner Zeit – unter keinen Umständen – dreh dich um.«
Uvonagh, Südküste, Frühsommer im Jahr 1098 des zweiten Zyklus
Der Abend war über den Tempel hereingebrochen.
Die Sonne hing tief und tauchte die Szenerie in ein warmes, rötliches Licht: Die leise rauschenden Bäume, die sich auf der Steilklippe erhoben, das hohe Gras, die Möwen, die kreischend durch die Lüfte segelten und sich immer wieder in die Wellen des Meeres hinabstürzten.
Der Krieg war gekommen und vorübergezogen wie alle Kriege zuvor, und die Verwüstung, die er hinterlassen hatte, war unbeschreiblich. Täglich pilgerten hunderte von Menschen zu den Tempelanlagen an der Küste, nicht nur um zu beten, sondern auch um zu betteln und milde Gaben zu erflehen, hauptsächlich Korn und Milch, von denen der Orden selbst viel zu wenig hatte. Manche brachten auch Opfer dar, doch es reichte bei Weitem nicht, das Los aller Armen erträglich zu machen. Viele junge Frauen pilgerten in den Tempel, um den Lichten um einen Abbruch ihrer Schwangerschaft zu bitten. Die meisten von ihnen waren Opfer marodierender Soldaten geworden oder hatten mit den jetzt brachliegenden Feldern keine Möglichkeit, ein zusätzliches Maul zu stopfen. Die Ordensschwestern taten für die Menschen, was sie konnten, und nachdem es vor einigen Tagen das erste Mal seit langem wieder geregnet hatte, waren sie sich einig, dass der Beistand des Lichten sie nicht verlassen hatte.
Die Luft an diesem Abend war schwer von Blütenduft und dem salzigen Geruch des Meeres, als Ilmra, die stellvertretende Ordensvorsteherin, an der Seite der Ordensmutter den Heimweg einschlug. Die Betstätten, wo sie Almosen verteilt hatten, lagen außerhalb des Wohnbereichs und des Haupttempels und waren den Ordensschwestern nur tagsüber zugänglich. Nachts blieben die Tore geschlossen, besonders in unruhigen Zeiten wie diesen.
»Ich habe daran gedacht, Fonja mit dem Amt der Propsta zu betrauen«, sagte die Ordensmutter gerade. Erst vor wenigen Tagen war Moret, die bisherige Verwalterin des Ordensbesitzes, zu ihr gekommen und hatte sie um die Abgabe dieser Verantwortung gebeten; die alte Frau war fast sechsundsiebzig und hatte dem Lichten ihr ganzes Leben lang gedient, doch nun, so meinte sie, sei es an der Zeit, zumindest diese hohe Bürde einer jüngeren Schwester anzuvertrauen. »Sie ist ordentlich, aufrichtig und überlegt, und die Übernahme dieses Amtes wird ihre Gewissenhaftigkeit stärken.«
Ilmra nickte beipflichtend; sie kannte die Vorgeschlagene ihr ganzes Leben lang und hatte noch keine andere Ordensschwester erlebt, die so organisiert war und derart genau Buch führte. Sie würde sich in dieser Position wohlfühlen, und Ilmras eigene ständige Sorge um die Besitztümer des Ordens würde damit ein wenig leichter werden.
»Außerdem wollte ich dir die Namen der Novizinnen mitteilen, die ich während der Feier der Wintersonnenwende zur Priesterin weihen werde. Obwohl ich glaube, dass sie alle sich früher oder später als würdig erweisen werden, habe ich bei diesen Mädchen eine besondere Präferenz gesehen.«
Gespannt sah Ilmra zu der Ordensmutter hinüber. »Ich bin dankbar für die Ehre, dein Vertrauen zu besitzen, hohe Mutter.«
Lenidar blickte gedankenversunken auf den Weg vor sich, als hätte sie Ilmras Worte gar nicht gehört. »Ja, ich denke, drei werden es diesmal sein. Ideth, so glaube ich, ist in ihrer Seele ausgeheilt und hat aus der Vergangenheit genügend Lehren gezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Marey, natürlich – und Elouané.«
Ilmra erstarrte, die Lippen mit einem Mal blutleer.
Elouané.
Ihr war klar gewesen, dass Marey, die ihr ganzes Leben im Ordenshaus verbracht hatte, in diesem Jahr die Weihen empfangen würde. Selbst Ideth, die früher eine Hure in einem Gasthaus in Kepthlathon gewesen war, mochte als angemessen durchgehen; reuige Sünder aufzunehmen und sie zum Licht zu führen, war eine der Hauptaufgaben ihres Ordens.
Aber Elouané … Ilmra hatte dieses Mädchen nie gemocht. Von dem Tag, an dem sie zum ersten Mal das Ordenshaus betreten hatte, war sie ihr seltsam vorgekommen, war ihr Gesicht viel zu makellos gewesen, um das einer wahrhaft reinen Priesterin zu sein. Und auch später hatten sich diese Bedenken nicht zerstreut: Ihr ganzes Wesen, ihre Unterwürfigkeit waren zu aufgesetzt, ihr Eifer zu dienen zu groß, ihre Hingabe geheuchelt. Dieses Mädchen, das hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst, würde niemals eine aufrechte Dienerin des Lichten werden.
»Du wirkst mit einem Mal so besorgt, Schwester«, bemerkte die Ordensmutter, die farblosen Brauen gerunzelt.
Ilmra räusperte sich. »Ich wage es nicht, die Weisheit deiner Entscheidung anzuzweifeln, Mutter – aber denkst du nicht auch, dass Elouané ein wenig zu jung ist, um die Priesterweihen zu empfangen? Sie ist fast zwei Jahre jünger als die anderen Novizinnen, jünger als die meisten, die jemals aufgenommen wurden. Ich befürchte, ihre Ernennung könnte verborgene Eifersucht wecken.«
Lenidar sah zu ihr auf; ihr verhutzeltes Gesicht blieb unverändert freundlich. »Eifersucht ist dem Herzen eines wahren Gläubigen fern«, stellte sie leise fest. »Wer mit sich selbst eins ist, kann nur Freude für denjenigen empfinden, der Glück erlebt – besonders wenn er ihm so nahe ist, wie unsere Schwestern es untereinander sind.«
Ilmra presste die Lippen zusammen; unwillkürlich hatte sie das Gefühl, machtlos zu sein, so machtlos wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wollte der Ordensmutter begreiflich machen, was sie fühlte, aber sie wollte nicht den Anschein erwecken, aus eitlen Motiven zu handeln. Glücklicherweise jedoch schien die alte Frau zu ahnen, was in ihr vorging. »Du hast noch immer Zweifel, nicht wahr? Nur zu, äußere dich. Bedenken im Herzen zu tragen und sie dort zu vergraben, wird sie nur umso stärker machen, wenn sie schlussendlich hervorbrechen.«
Ilmra holte tief Luft. »Sie hat ein gespaltenes Wesen, Ordensmutter. Ihre Zunge mag die Gebete sprechen, ihre Hände die Opferungen vollziehen – doch in ihrem Herzen ist sie weit fort von der Wahrheit.«
»Wirklich?« Mutter Lenidar runzelte die Stirn. »Mir kam es immer so vor, als sei gerade in ihr die Kraft, die uns mit dem Lichten verbindet, ungewöhnlich stark. Auch die anderen Schwestern berichten mir von ihrer Aufrichtigkeit und Frömmigkeit, von ihrer Bescheidenheit und Gelehrsamkeit, ohne dass ihnen Falschheit darin aufgefallen wäre.«
»Ihre Absichten, Mutter, sind in ihren Grundsätzen gewiss gut«, begann Ilmra überlegt, »doch ist ihr Bemühen um den Glauben zu groß, zu begierig, als dass es mir wahrhaftig schiene. Ihre unnatürlich schnelle Eingliederung und Annahme unserer Gebräuche … jede andere Novizin hatte zu Beginn Schwierigkeiten damit. Nur ihr scheint die Entbehrung so leicht zu fallen, als ob sie eine Maske vor ihre Seele hielte. Und ihre Gelehrsamkeit, die meine geliebten Schwestern gewiss nicht grundlos loben, nimmt in meinen Augen schon solche Züge an, dass man von Maßlosigkeit sprechen könnte, im Mindesten aber von Selbstgefälligkeit.«
Mutter Lenidar schmunzelte. »In der Tat. Und ich wähnte, gerade diese Tugend sei es, die du an unseren Novizinnen für gewöhnlich am meisten schätzt.« Sie blinzelte mit ihren klugen Knopfaugen, und plötzlich fühlte Ilmra sich beschämt.
»Vergib mir, dass ich so spreche«, murmelte sie, »aber du selbst hast mich darum gebeten. Ich traue Elouané nicht, auch wenn ich nicht sagen kann, wieso. Sie scheint frei von Tücke – und doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass Böses auf ihr lastet. Selbst du, Ordensmutter, weißt nichts von den Umständen, unter denen sie zu uns kam – oder hast es in deiner Weisheit bisher nicht als ratsam angesehen, mich davon zu unterrichten. Elouané gibt vor, sich an nichts zu erinnern, was war, bevor sie mit neun Jahren vor unserer Tür stand. Aber was, wenn sie lügt? Wenn sie etwas verbergen will, was finster und sündhaft ist?« Ilmra atmete jetzt schneller; lange schon hatte sie diese Gedanken mit sich herumgetragen und sie niemandem als ihrem Gott im Gebet anvertraut. Und obwohl sie wusste, dass sie vielleicht zu weit ging, konnte sie nicht aufhören zu reden: »Mutter Lenidar, ich glaube, es ist ein Fehler, sie jetzt schon zur Priesterin zu weihen. Ich habe die Ahnung, dass irgendwann ihre wahre Natur hinter der Maske zum Vorschein kommt, und ich denke, wie auch immer diese aussehen mag, wir sollten sie kennen, ehe wir sie untrennbar mit dem Lichten verbinden.«
Daraufhin herrschte einen Moment Schweigen; Lenidar schaute an Ilmra vorbei über die Klippen aufs Meer, das in der zunehmenden Dunkelheit friedlich unter ihnen lag und fast spielerisch gegen die Felsen rauschte. Die Stille dauerte gerade lange genug an, dass Ilmra Zeit hatte, ihre Worte zu bereuen.
Ehe sie jedoch noch etwas sagen konnte, sagte Lenidar: »Es ist wahr, was du sagst: Wir wissen nicht viel über dieses Mädchen, das damals zu uns kam, verwildert, ohne ein Anzeichen von ihrer Familie oder Vergangenheit. Doch das war auch bei anderen so. Manche der Mädchen, die bei uns sind, sind Töchter aus hohen, angesehenen Häusern, die ihren Familien Ehre machen, wenn sie Priesterin werden. Andere wiederum sind hier, um dem Hunger zu entfliehen. Es gibt keinen Grund, die eine anders als die andere zu behandeln. Und von der Abstammung auf den Charakter zu schließen, ist ein weltlicher Fehler, der viel zu oft und viel zu fahrlässig begangen wird. Ich danke dir für deine Worte, Ilmra, und ich werde sie nicht vergessen. Aber meinen Entschluss werden sie nicht ändern.«
In den fast vierzig Jahren, die Ilmra nun unter ihrer Führung lebte, hatte sie Lenidar niemals die Stimme erheben hören. Auch jetzt tat sie es nicht, doch es lag etwas unmissverständlich Endgültiges in ihren Worten, und daher widersprach Ilmra nicht. Schweigend legten die beiden Frauen den restlichen Weg zum Tempel zurück, wobei sie nur kurz an der Götterstatue am Ende des Weges innehielten, um ein Gebet zu sprechen. Sie traten in dem Moment durch die Tore, als die Glocke zur Abendandacht geläutet wurde. Zwei Ordensschwestern schlossen die hölzernen Türflügel hinter ihnen, als sie eintraten.
Ilmra hatte unter ihren langen Ärmeln die Finger ineinander verklammert und hörte kaum hin, als eine der Torwächterinnen Lenidar vom vergangenen Tagewerk erzählte; sie fühlte sich abgewiesen, auch wenn sie sich große Mühe gab, es nicht zuzugeben. Sie hatte Lenidar ihre geheimsten Befürchtungen anvertraut, und die Ordensvorsteherin hatte sie abgetan, als bedeuteten sie nichts. Dabei hatte Ilmra sich stets eingebildet, ihr vollstes Vertrauen zu besitzen. Offenbar galt das nicht, wenn es um Elouané ging. Ilmra hätte dies gerne damit entschuldigt, dass Lenidar partout nichts Schlechtes über ihre jungen Zöglinge denken wollte, doch sie war höchstpersönlich anwesend gewesen, als Lenidar vor einigen Jahren eine junge Frau aus dem Orden ausgeschlossen hatte. Das Mädchen hatte das Keuschheitsgelübde verletzt und war ohne jegliche Ehre des Tempels verwiesen worden. Ilmra erinnerte sich jetzt noch an das verweinte, von Qual erfüllte Gesicht und das Bitten und Flehen der jungen Frau, ihr möge vergeben werden. Doch Lenidar war auf die ihr eigene gütige Weise hart geblieben; man hatte der Verstoßenen Lebensmittel und ein wenig Geld mitgegeben, aber das war auch alles gewesen. Was in diesem harten, von Fremdherrschaft geprägten Land aus ihr geworden war – die Drei allein wussten es. Es stimmte also, dass Lenidar durchaus streng sein konnte, wenn sie wollte. Doch sobald es um dieses Waisenmädchen ging, schien sie Ilmra nicht mehr zugänglich zu sein.
Tief atmete sie ein und aus, um ihre bitteren Gedanken zum Schweigen zu bringen; solche Zweifel ziemten sich nicht für die stellvertretende Ordensvorsteherin, und schon gar nicht, wenn sie einer Frau wie Lenidar galten. Von tiefen Gewissensbissen erfüllt, drehte sie sich zu der alten Frau um und war erstaunt, dass diese sie direkt ansah; hatte sie wieder einmal mehr von ihren Gefühlen erahnt als Ilmra hatte zeigen wollen?
»Ich werde mich jetzt auf die Gebete vorbereiten«, erklärte Lenidar, ohne Ilmras unausgesprochene Befürchtung damit zu beantworten. »Geh nur in den Tempel, ich komme sofort zu euch.«
Ilmra verbeugte sich und ging gemessenen Schrittes auf den schimmernden weißen Kuppelbau zu, der das Zentrum des gesamten Bezirkes bildete. Von überallher strömten Ordensschwestern darauf zu, und während Ilmra die Stufen hinaufstieg, spürte sie, wie die vom Sonnenlicht erhitzten Steine ihr Wärme entgegenstrahlten, als ob ein geliebter Freund sie begrüßte.
Sobald sie die Außenmauern hinter sich gelassen hatte, umfasste sie die Düsternis des Tempels, doch in sämtlichen Nischen standen Novizinnen bereit, die mit geübter Hand Kerzen anzündeten, um die Andachtshalle zu erleuchten. Eine tiefe Ergriffenheit kam über Ilmra, und während sie den Mittelgang entlangging, musterte sie die von Meisterhand verputzten Wände, die steinernen Bänke und die Figuren, die in die Decke gemeißelt waren, als sähe sie das alles zum ersten Mal. Unwillkürlich wurde ihr Blick von der gewaltigen Statue am Ende des Ganges angezogen: Ein alter Mann, der eine Kerze hielt, sein weißer Bart ebenso aus Marmor gemeißelt wie seine Kutte und die nackten Füße, die darunter hervorlugten. Während sie hinsah, kletterten zwei Mädchen eine kleine Holzleiter empor, um das Feuer in der Talglampe in den Händen der Statue zu entzünden, die in Wahrheit die Größe eines Badezubers hatte.
Lächelnd erwiderte sie die schüchternen Respektsbekundungen der Novizinnen und Ordensschwestern, an denen sie vorbeiging, ohne jedoch das Standbild aus den Augen zu lassen. Soeben sprangen die ersten Funken auf das Holz über, und einen Augenblick später war der vordere Teil des Tempels erleuchtet von warmem, Frieden spendendem Feuer. Ilmra ließ sich auf ihrem üblichen Platz in der vordersten Reihe nieder; sie spürte, wie sie beim Anblick des heiligen Lichtes fast unwillkürlich ruhiger wurde. Dieses Gefühl hielt gerade einmal fünf Herzschläge an, so lange nämlich, bis die beiden Mädchen von der Leiter heruntergeklettert waren und ihr die Gesichter zuwandten; eines davon war Lyda, eine etwa elfjährige Novizin, die erst vor kurzem zu ihnen gestoßen war, das andere war Elouané.
Augenblicklich verkrampfte sich Ilmras Herz. Sie erwiderte den Blick des Mädchens und zwang sich, vorurteilslos und gleichgültig auszusehen. Doch in ihrem Inneren wand sich etwas.
›Diese Haare‹, dachte sie. Lange, rote Lockenhaare, die ihr bis zu den Hüften fielen und im Feuerschein seidig schimmerten. Hatte nicht Galteia, die Seehexe, auch solche Haare gehabt? Und hatte sie nicht eben diese Haarpracht gebürstet und aufgeputzt, als sie die Richterin Waage selbst hatte verführen wollen? Und erst der Mund, voll und geschwungen, als hätte ein brünstiger Gott ihn sich ausgedacht. Als sich ihre Blicke begegneten, senkte Elouané die Augen, aber Ilmra meinte, ein spöttisches Lächeln um diese Hurenlippen spielen zu sehen.
»Deine Hände sind schmutzig«, herrschte sie das rothaarige Mädchen an. »Geh und wasch sie, bevor du einen der heiligen Gegenstände berührst oder die Tempelbänke schmutzig machst!«
»Ja, ehrwürdige Erste Schwester.«
Elouané verbeugte sich und huschte davon; als sie an ihr vorbeiging, peitschten Ilmra die langen Haare ins Gesicht, eine Frechheit, die unmöglich zufällig gewesen sein konnte. Sie zwang sich, still sitzen zu bleiben und nach vorne zu sehen, in das mild lächelnde Antlitz des Lichten, und sich nicht von der Wut überkommen zu lassen, die sich in ihrem Magen aufstaute. Wenn die Zeit gekommen war, dass Lenidar Elouané zur Priesterin weihte, würde das Mädchen ihre Haare opfern müssen, als Zeichen der völligen Ergebenheit zu ihrem Gott. Ilmra schwor sich, dass sie selbst es sein würde, die die Schere in die Hand nahm und ihr die Hexenlocken abschnitt. Was für eine Befriedigung würde das sein!
Erneut schämte sie sich vor sich selbst. Ratlos schüttelte sie den Kopf und senkte die Stirn auf die Hände zum Gebet. In all den Jahren im Ordenshaus hatte sie stets einige der jungen Novizinnen mehr gemocht als andere, sich einige zu Freundinnen gemacht und von anderen kaum Notiz genommen – das war nur natürlich und etwas, was bei allen Ordensschwestern gleich vorkam. Warum, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, fiel es ihr so schwer, Elouané zu vertrauen? Die Kleine hatte ihr nie etwas Böses getan, war in den fast sechs Jahren, in denen sie sie nun kannte, niemals negativ aufgefallen. Wie Lenidar sie eben erinnert hatte, war sie gelehrsam, klug, freundlich, fromm … was war es nur, das Ilmra an ihr missfiel? Doch gerade weil diese Abneigung so ungewöhnlich für sie war, war Ilmra entschlossen, sie ernst zu nehmen und der Ursache dafür früher oder später auf den Grund zu gehen.
»Der Preis für Saatgut wird dieses Jahr mindestens dreimal so hoch sein wie bisher.« Fonja rieb sich den Nacken und legte die Rechentafel hin. »Die Ersparnisse des Ordens würden für solche Ausgaben eigentlich ausreichen, aber wenn die Welle an Armen und Bedürftigen weiter so anhält, werden wir fast alles für die erste Hilfe an Ort und Stelle ausgeben, anstatt es für die nachhaltigeren Mittel aufzubewahren. Der Lichte möge uns beistehen, ich fürchte, es wird einen harten Winter geben.«
Die Kerzen in der Schreibstube im Wohntrakt des Tempels waren schon fast heruntergebrannt, ein Zeichen dafür, dass die Propsta seit der Andacht den ganzen Abend gearbeitet hatte. Auf dem winzigen Schreibpult lagen Papyri, Tabellen und einige wenige kostbare Pergamente verteilt, sodass kaum mehr Platz für die kleine Wachstafel war.
»Jetzt ist Sommer, liebe Schwester«, versuchte Ilmra sie aufzumuntern, wenngleich ein Blick in die Zahlen ihr genügte, um jedes Wort der jüngeren Ordensschwester zu glauben. »Die Saat wird erst aufgehen, die Ernte noch kommen. Wenn genügend Regen fällt und die Sonne stark genug ist …«
»Dennoch ist der Boden aufgewühlt, viele Felder wurden zerstört.« Tiefe Falten gruben sich in Fonjas Mundwinkel, ihre nussbraunen Augen blickten traurig. »Das Wüten der Armeen hat nur Schaden gebracht. Die Waage hat sich gesenkt und der Schatten lacht triumphierend über uns. Das Glück scheint uns zu hold gewesen sein in den vergangenen Jahren. Ich hoffe nur, dass die Göttin jetzt genug Gerechtigkeit hat walten lassen und uns wieder Frieden beschert.«
Ilmra räusperte sich. »Die Gewalt hat unser Haus verschont, Propsta, damit wir den Menschen helfen und ihr Leid lindern können. Denk immer daran. Die Götter sind nicht ungerecht, und der Lichte schon gar nicht. Unser Dasein hat einen Zweck, und mit Seiner Hilfe werden wir die uns anvertraute Aufgabe lösen. Wir sind Seine Werkzeuge und in Seinem Namen werden wir für Seine Geschöpfe Sorge tragen.«
»Gewiss, Erste Schwester, du hast Recht. Verzeih mir.« Fonja stand auf; erschöpft rieb sie sich die Stirn, dort, wo das weiße Kopftuch ihren Haaransatz verbarg. Man sah ihr an, dass sie stundenlang über den Kassenbüchern gesessen hatte: Ihre Augen waren rot von der Mühe, die kleinen Buchstaben und Zahlen zu entziffern, und ihr Rücken schien gebeugt.
»Geh jetzt und ruh dich aus, Schwester«, empfahl ihr Ilmra und legte ihr im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. »Lass deine Sorgen ruhen bis morgen und vertrau deine Seele im Schlaf dem Lichten an. Er wacht über uns, sei unbesorgt.«
Fonja lächelte müde und verabschiedete sich. Ilmra hingegen blieb in der engen, dunklen Schreibstube zurück, obwohl auch sie nichts lieber getan hätte als sich schlafen zu legen. Sie hatte selbst noch Arbeit zu erledigen und sie aufzuschieben hieße nur, morgen noch mehr zu tun zu haben. Also räumte sie umsichtig die Unterlagen der Propsta zusammen, um sich Platz am Schreibpult zu schaffen. Dabei fiel ihr Blick auf eine gebundene Wachstafel, die achtlos in eine Ecke des Pults verdrängt worden war: Die Novizinnenliste. Normalerweise genügte eine einzige Tafel nicht, um die Namen aller Bewerberinnen aufzunehmen, in letzter Zeit jedoch waren nur sehr wenige Mädchen zu ihnen gekommen; der Wohlstand Aracanons hatte sich bis weit in den Süden bemerkbar gemacht und in den Menschen das Bedürfnis nach Nähe zu ihren Göttern verblassen lassen. Jetzt, nach dem Krieg, da war Ilmra sicher, würden wieder mehr kommen. Beim Anblick der Tafel spürte Ilmra einen winzigen Stich in ihrem Herzen; sie hatte nach der Abendandacht Fingerabdrücke aus Asche an einer der Steinbänke gefunden, und obwohl sie selbst Elouané zum Händewaschen geschickt hatte, hatte sie das Mädchen im Tempel zurückbleiben lassen, um die Spuren zu entfernen. Dabei hatte sie absichtlich außer Acht gelassen, dass die Finger viel zu klein waren, um einer Fünfzehnjährigen zu gehören, aber sich selbst gegenüber rechtfertigte sie die Entscheidung damit, dass Elouané für Lyda als jüngere Gefährtin verantwortlich gewesen und es nicht ihre, Ilmras, Schuld war, wenn sie sie nicht ebenfalls zum Waschen mitgenommen hatte. Außerdem würde ein wenig körperliche Ertüchtigung vor dem Schlafengehen ihr nur gut tun. Ein winziger, unparteiischer Teil ihres Verstandes jedoch schalt sie ungerecht, weil sie schon wieder ihrer unbegründeten Abneigung gegen das rothaarige Mädchen nachgegeben und sie bestraft hatte. Sie beschloss, vor der Nachtruhe noch einmal in den Tempel zu gehen und ihren Gott um Erleuchtung zu bitten.
In dem Augenblick, als sie die Tafel in die Hand nahm, knallte es. Ilmra zuckte zusammen; das Geräusch war von draußen gekommen, vom Tempelhof, und es war der eigentümlichste Laut, den sie seit Jahren an diesem Hort des Friedens gehört hatte: Wie das Krachen einer Axt auf Holz. Verwundert trat sie ans Fenster, konnte jedoch weit und breit nichts Ungewöhnliches entdecken; der sandige Innenhof lag unter ihr wie immer, nur von spärlichem Mondlicht erleuchtet, und außer einer streunenden Katze war niemand zu sehen. Vielleicht war nur irgendwo in der Küche etwas zu Boden gefallen.
Dann folgte der zweite Knall, und diesmal konnte es keinen Zweifel geben, woher er kam; während sie noch hinsah, erbebte das Hoftor so heftig, als ob jemand mit einem Rammbock dagegen schlüge. Ilmra wich zurück, doch bevor sie mehr tun konnte, als sich mit der freien Hand ans Herz zu greifen, sprang das Tor auf und eine Horde Gestalten ergoss sich in den Hof, ein Gewimmel aus langen Umhängen, und verglichen mit dem Krach, den sie zuvor gemacht hatten, bewegten sie sich geradezu unheimlich lautlos.
Ein Überfall, dachte Ilmra panisch, eine Gruppe herrenloser Krieger oder Raubritter, die sonst Reisende ausraubten und ermordeten, und die nun offenbar auch vor einem heiligen Ort nicht mehr Halt machten. Kopflos fuhr sie herum und rannte den Gang entlang zu den Gemächern der Ordensmutter, doch noch ehe sie fünfzig Schritte getan hatte, stand Lenidar schon vor ihr, vollständig angezogen, als hätte auch sie sich noch nicht zur Nacht hingelegt; ihre sonst verschleierten Augen blickten unerwartet klar und scharf.
»Ich weiß«, sagte sie, noch ehe Ilmra ein Wort hervorbrachte.
»Wer sind diese Leute?«, stammelte Ilmra. »Was wollen sie?«
»Das gedenke ich gerade herauszufinden«, erklärte Lenidar mit einer Ruhe, die selbst ein flüchtendes Pferd zum Stehen gebracht hätte. »Aber ich bezweifle, dass es etwas Gutes ist. Sieh.«
Ilmra trat neben die Ordensmutter ans Fenster und sah mit schreckgeweiteten Augen dabei zu, wie die beiden Türwächterinnen von den Fremden aus dem Torhäuschen gezerrt und in den Innenhof bugsiert wurden; einer der Männer schrie irgendetwas, während andere wie Aasfliegen ausschwärmten und auf die Türen des Wohntraktes zustürzten.
»Geh und sammle unsere Schwestern ein, so viele wie möglich! Führ sie zur Magdpforte an der Rückseite des Tempels und bring sie fort von hier!«
»Ehrwürdige Lenidar«, keuchte Ilmra, die Hand unbewusst noch immer um die Wachstafel geklammert, »was hast du vor? Was willst du tun?«
Lenidar straffte sich; sie war alt, fast siebzig, aber in diesem Augenblick strahlte ihr Gesicht die Erhabenheit und Weisheit einer wahren Führerin aus, und als sie wieder sprach, erstickte ihre Stimme die heiseren Schreie draußen auf dem Hof: »Wer immer diese Männer sein mögen, sie tragen das Böse mit sich. Das spüre ich. Sie haben zwei Mitglieder meines Ordens angegriffen. Ich werde sie nicht ihrer Gewalt überlassen. Bevor der Schäfer zulässt, dass einem aus seiner Herde etwas geschieht, stürzt er sich selbst in den Rachen des Wolfes. Und das tue ich auch.«
Instinktiv umklammerte Ilmra ihre Hand, doch Lenidar entwand sie ihr umstandslos und machte das Zeichen der Drei über ihrer Stirn. »Geh und wecke die Schwestern! Beeil dich!« Und damit wandte Lenidar sich um und ging hoch aufgerichtet den Gang entlang und den Eindringlingen entgegen. Aus der Richtung, in die sie ging, waren schon wieder die schrecklichen Schläge zu hören, an der Tür des Wohntraktes diesmal. Ilmra hatte bei keinem der Männer einen Rammbock oder etwas Ähnliches gesehen und fragte sich bang, womit sie da wohl auf das Holz einschlugen.
Mit Schmerzen in der Brust fuhr sie auf dem Absatz herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo sich die Schlafsäle der Novizinnen befanden. Zuallererst musste sie die Mädchen retten; es waren solche unter ihnen, die noch nicht dem Kindesalter entwachsen waren, und was immer diese Männer mit ihnen vorhatten, sie würde nicht zulassen, dass eine von ihnen es erleiden musste. Sie rannte den Gang entlang und um die Biegung, doch noch ehe sie sie hinter sich gebracht hatte, wusste sie, dass sie zu spät sein würde: Der furchtbare Lärm von splitterndem Holz drang ihr entgegen und einen Herzschlag später folgte das Kreischen junger Frauen. Ilmra bog um die Ecke und verharrte, maßlos entsetzt: Die Tür zum Novizinnensaal war aus den Angeln gerissen worden und lag in Stücke gebrochen im Gang. Zwei dunkle Gestalten lauerten im Türrahmen und zerrten, offenbar verstärkt von weiteren Eindringlingen, die sich im Inneren des Schlafsaals befanden, die weinenden Mädchen hinaus in den Flur. Eine von ihnen wurde mit solcher Gewalt am Arm nach vorne gerissen, dass sie stürzte und sich dabei die Hände aufschlug; mit Tränen in den verständnislos geweiteten Augen blickte sie auf – und sah Ilmra.
»Erste Schwester!«, rief sie verzweifelt, »Erste Schwester, hilf uns!«
Es war Lyda. Ihr Nachthemd war halb zerrissen, ihr Kindergesicht von Schlaf und Angst verquollen, und ihre hohe Stimme verriet Ilmra, die nur einen Steinwurf entfernt von ihr stand und nichts tun konnte. Die Männer an der Tür wirbelten herum. Einer von ihnen brüllte etwas in einer Sprache, die Ilmra noch nie gehört hatte und die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Entgegen all ihren Instinkten, die ihr befahlen, zu den Mädchen zu laufen und sie zu beschützen, rannte sie los, den Korridor entlang zurück, einen winzigen Hoffnungsschimmer im Hinterkopf, der jedoch zerstört wurde, sobald sie die Schritte ihrer Verfolger hinter sich hörte. Sie rannte schneller, doch ihr war klar, dass sie nicht würde entkommen können; sie war eine magere Frau mittleren Alters, die den größten Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, zu beten und Vorratslisten zu schreiben, und die Männer hinter ihr holten mit jedem Lidschlag auf.
Allerdings, wenn ihr Plan aufging, brauchte sie nicht mehr lange davonzurennen; mit der Kraft der Verzweiflung steigerte sie ihr Tempo und hetzte um eine weitere Biegung. Die Männer waren ihr mittlerweile so nahe, dass sie sie beinahe berühren konnten, doch ehe einer von ihnen die Hand nach ihr ausstreckte, warf sie sich ohne Vorwarnung zur Seite gegen einen Wandbehang aus dunklem Fell. Statt jedoch gegen blanken Stein zu prallen, stieß ihre Schulter auf eine schmale, hölzerne Tür, die bei dem Aufprall aufflog und einen Tunnel dahinter freigab. Ihre Verfolger, völlig überrascht, trudelten noch ein paar Schritte weiter, ehe sie anhielten und ihr wieder nachsetzten. Doch Ilmra war bereits durch die Tür gesprungen und hatte sie fest hinter sich verschlossen. Keuchend klammerte sie sich einen Moment lang an den Türgriff und starrte auf die uralten Runen, die schon in das Holz geschnitzt worden waren, als Uvonagh noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte. Schutzsprüche sollten es sein, gefertigt gegen alles Böse.
Nur, was halfen sie ihnen jetzt?
Wütende Stimmen erklangen hinter der Tür, wieder ertönte das unerklärbare Poltern, nur viel leiser als zuvor, und fast im selben Moment glühten die Runen in der Tür auf. Ilmra hörte einen der Männer vor Schmerz aufschreien und zuckte zurück.
Die Tür hielt stand.
Das genügte, um Hoffnung in ihr aufkeimen zu lassen; ein leises Dankesgebet für den Lichten murmelnd, drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte weiter. Der Gang, in dem sie sich jetzt befand, war anders als diejenigen im Wohntrakt: Eng, niedrig und aus dem rohen Stein herausgehauen, diente er als eine Art Geheimgang, ein Fluchtweg für den Fall, dass dem Ordenshaus einmal Gefahr drohen sollte. Ilmra erinnerte sich verschwommen, dass sie den Gang früher für bloße Platzverschwendung gehalten hatte, dass sie bei der Ordensführerin sogar mehrmals darum gebeten hatte, ihn zumauern lassen zu dürfen, weil sich immer wieder Novizinnen darin versteckten oder heimlich nächtliche Ausflüge machten. Wie dankbar war sie Mutter Lenidar, dass sie nicht auf sie gehört hatte. Kurz und äußerst schmerzhaft verkrampfte sich ihr Herz bei dem Gedanken daran, was der alten Frau schon alles widerfahren sein konnte, dann gelangte sie ans Ende des Ganges; mit einem leisen Knarren öffnete sie die oben spitz zulaufende Holztür, zog den rostigen Schlüssel aus dem Schlüsselloch und verschloss sie hinter sich. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Verfolger so aufhalten würde, aber sie wollte es ihnen nicht zu einfach machen. Erschöpft und mit rasend pochendem Herzen sah sie sich um: Sie war in der Andachtshalle, nur ein paar Schritte entfernt von der Steinbank, auf der sie Stunden zuvor gesessen und sich Gedanken über lächerliche, alltägliche Dinge wie die Ernennung von Novizinnen gemacht hatte. Wie sehr sie sich jetzt dafür verachtete.
Ihre Augen flackerten durch den Tempel auf der Suche nach Angreifern und blieben unwillkürlich an der Statue des Gottes hängen. Das Feuer zwischen den steinernen Händen war fast heruntergebrannt, das Zwielicht, das sie für gewöhnlich feierlich stimmte, hing lauernd zwischen den Säulen und machte sie blind für allfällige Gefahren, die sich darin verbergen mochten. Es herrschte absolute Stille, offenbar war es ihren Verfolgern noch nicht gelungen, die Tür zum Geheimgang aufzubrechen. Sie musste den kurzen Vorsprung nutzen, ehe sie auf die Idee kamen, den Tempel von außen zu stürmen, doch trotz dieser Überlegung blieb sie wie festgefroren stehen, unfähig, die Hand vom Türgriff zu nehmen.
Die Finsternis beobachtete sie.
Etwas lauerte in den Tiefen der Andachtshalle, wartend, hungernd, bis sie den ersten Schritt in den Mittelgang hinaus tun würde, um sich auf sie zu stürzen.
»Herr«, flüsterte sie unhörbar, ohne den Blick von der Statue zu nehmen, »wache über mich!«
Wie aus dem Nichts schoss eine Hand auf sie zu und umklammerte ihren Arm. Ilmra schrie auf, bevor sie sich zurückhalten konnte, und sprang zur Seite; klappernd fiel ihr die Wachstafel aus der Hand. Ihr Angreifer taumelte, von ihrer Reaktion überrascht, und prallte gegen sie. Ilmra entwand ihm ihren Arm und sammelte Kraft, um ihn beiseite zu stoßen, einen Augenblick, bevor sie das Gesicht erkannte.
Es war Elouané.
Ohne nachzudenken legte Ilmra ihr die Hand auf den Mund und drückte sie gegen die nächstbeste Säule.
»Sei still!«, befahl sie, denn die Novizin machte Anstalten, sich von ihr loszukämpfen. »Sei still und hör mir zu! Es sind Leute da draußen, Männer in Kapuzen, die in den Tempelbezirk eingedrungen sind! Sie haben die Türwächterinnen angegriffen und die Novizinnen. Ich weiß nicht, was sie uns antun wollen, aber sie jagen auch mich! Für den Moment haben sie mich verloren, aber es wird nicht lange dauern, bis sie hierherkommen. Wir müssen fort von hier! Zu den Ställen und in die nächste Stadt, Hilfe holen! Du musst mir jetzt gehorchen und darfst keine Geräusche von dir geben, hast du mich verstanden?«
Das Mädchen nickte mit riesigen Augen. Ilmra nahm ihre Hand weg und winkte Elouané, ihr zu folgen. »Hier entlang.«
So leise wie möglich huschten sie den Mittelgang entlang und zur Tür. Das Tor hatte schon immer geknarrt, aber als sie es in diesem Moment aufzog, hatte Ilmra das Gefühl, der ganze Tempel würde beben vor Lärm. Vorsichtig spähte sie nach draußen; der Hof lag verlassen vor ihr, die Hoftür hing zerstört und schief in ihren Angeln. Eine umgestürzte Laterne lag dort, wo eine der Türwächterinnen zu Boden gestoßen worden war. Aus dem Wohntrakt zu ihrer Rechten waren Schreie und Lärm zu hören, und unruhiges Licht flackerte durch die Fenster.
›Der Schlaftrakt der Ordensschwestern‹, dachte Ilmra, und ihr Herz verkrampfte sich. ›Sie treiben sie zusammen wie Vieh.‹
Sie nahm Elouané bei der Hand und zog sie hinter sich her, fort von dem Lärm, dorthin, wo in einem ausgebauten Schuppen die Ackergäule des Ordens standen. Die Tiere wirkten aufgeschreckt und nervös, als sie eintraten, als wüssten sie, dass draußen etwas vor sich ging, das gegen jedes göttliche Gesetz verstieß.
»Erste Schwester«, wisperte Elouané, während Ilmra mit zitternden Fingern eines der Pferde sattelte, »Erste Schwester, wer sind diese Männer?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ilmra, immer mit einem Ohr lauschend, ob sich nicht auf einmal Schritte näherten. »Raubritter vielleicht, oder Landstreicher. Vielleicht erhoffen sie sich Gold in unserem Tempel.«
»Ich habe sie durch ein Tempelfenster gesehen«, erwiderte Elouané, die graublauen Augen vor Angst geweitet. »Sie tragen schwarz wie die Soldaten aus dem Westland. Sie sind wie Fledermäuse und machen keine Geräusche beim Gehen. Als wären sie keine Menschen.«
Instinktiv wollte Ilmra ihr wütend über den Mund fahren, doch bevor sie Luft holen konnte, ertönte von draußen ein lautes Klirren und ein spitzer Schrei, dann ein dumpfes, Übelkeit erregendes Geräusch, als ein Körper zu Boden fiel.
Elouané fuhr zur Stalltür herum, die Hände an den Mund gepresst. »Jemand ist aus dem Fenster gefallen! Eine Schwester ist aus dem Fenster gefallen!«
Das Mädchen machte Anstalten, auf den Hof zu laufen, doch Ilmra hielt sie fest. »Steig auf das Pferd!«, befahl sie und drückte ihr den Steigbügel in die Hände. In ihrem Hinterkopf begann unter all der Angst und Besorgnis eine Erkenntnis zu dämmern, die, je länger sie dastand und Elouané ansah, klarer und unabwendbarer wurde. Als das Mädchen oben saß und sich ihr mit ängstlichem Gesicht zuwandte, legte Ilmra die Hand auf die Zügel. »Hör mir jetzt genau zu: Sobald du mich rufen hörst, reitest du los, so schnell du kannst, ohne dich umzudrehen! Reite durch die Magdpforte zur Stadt und alarmiere die Wachen! Halt nicht an, ehe du dort bist, hast du mich verstanden?«
»Aber …« Elouané sah sie an, verwirrt, aber mit beginnendem Verständnis dafür, was Ilmra vorhatte.
»Keine Widerrede! Du wartest hier, bis du mein Zeichen hörst, dann verschwindest du! Ist das klar?«
Elouané zögerte; ihre Wangen wurden aschfahl und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Erste Schwester …«
Ilmra packte ihre Handgelenke. »Wenn dir der Lichte und seine Kinder etwas bedeuten, dann gehorchst du mir! Hast du mich verstanden?«
Mit zitternden Lippen nickte Elouané.
»Gut.« Ilmra ließ das Mädchen los. »Möge der Lichte über dich wachen. Warte hier.«
Sie straffte die Schultern und huschte aus dem Stall, vorsichtig darauf bedacht, im Schatten des Tempels zu bleiben; mittlerweile war der Innenhof hell erleuchtet von Fackeln, und auch durch die Fenster im Schwesternwohntrakt auf der anderen Seite des Hofes strömte täuschend warmes Licht. Ilmra glaubte, den Umriss einer Frau zu erkennen, die unter einem zerbrochenen Fenster am Boden lag, viel zu weit weg vom Haus, um auf natürliche Weise gefallen zu sein. Einen Herzschlag, bevor sie hinter der Vortreppe zum Tempel in Deckung ging, sah sie weißes Haar unter dem Kopftuch der Regungslosen aufschimmern.
Mutter Lenidar.
Ilmra biss sich auf die Lippen und stahl sich vorsichtig ein Stück weiter vor, um den Innenhof im Blick zu haben: So wie es aussah, waren die schwarzgekleideten Männer damit beschäftigt, ihre Ordensschwestern zusammenzutreiben; die meisten von ihnen wirkten verängstigt, manchen waren die Kleider zerrissen worden, aber abgesehen von Lenidar, die noch immer reglos im Staub lag, schien keine ernsthaft verletzt. Ilmra zog den Kopf zurück und dachte rasch nach: Sie musste versuchen, die Männer auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig darauf achten, dass sie nicht zu früh bemerkt wurde, um die Richtung, aus der sie kam, nicht preiszugeben. Sie warf einen Blick zum Eingang des Tempels, der zu ihrer Rechten über ihr aufragte; offensichtlich waren die Fremden mittlerweile auch dort eingedrungen, denn die Türflügel standen sperrangelweit offen. Sie waren nicht zerstört worden wie diejenigen in den Wohngebäuden, fiel Ilmra auf; vielleicht besaßen diese Frevler doch noch so etwas wie Gottesfurcht. Mit einem stummen Gebet auf den Lippen sprang sie auf und hechtete auf die Tempeltreppe, dann rannte sie auf der anderen Seite die Stufen wieder hinunter und in Richtung Wohntrakt der Novizinnen. Es dauerte keine drei Herzschläge, bis sie sie sahen, da war sich Ilmra sicher; sie hörte das überraschte Aufschreien der Mädchen und Frauen, doch keiner der Männer rief oder brüllte, dass man sie einfangen sollte, wie sie es erwartet hätte. Auch die hastigen Schritte hinter ihr blieben aus; stattdessen spürte sie einen plötzlichen, unerwarteten Ruck in der Magengegend, und als sie das nächste Mal klar denken konnte, lag sie alle Viere von sich gestreckt auf dem Boden. Ihre Knie ächzten vor Schmerz und von ihrer brennenden Stirn tropfte etwas Heißes. Im nächsten Moment schon packten sie grobe Hände und zogen sie auf die Füße; es tat weh, aber nicht so sehr, dass es den lauten, lang anhaltenden Schrei gerechtfertigt hätte, den sie ausstieß und der auch nicht verstummte, als der Mann in Schwarz sie über den Hof und zu den anderen Ordensmitgliedern schleifte.
Ihr Häscher stieß sie grob in die Knie, ohne sie loszulassen. Er ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sein Gesicht sehen konnte: Es war ein bartloses Gesicht, dessen Alter unmöglich zu bestimmen war. Der Mann sah nicht wütend aus, tatsächlich verzog er keine Miene, als er sie mit ebenso ausdrucksloser Stimme fragte: »Möchtest du einen triftigen Grund zum Schreien haben?«
Ilmra antwortete nicht, verstummte aber. Der Mann schien zufrieden und stand auf, um sich in ein paar Schritten Entfernung als Wachposten aufzustellen. Ilmra kniff die Lippen zusammen und versuchte angestrengt, über das Wimmern und leise Beten ihrer Mitschwestern hinweg nach galoppierenden Hufen zu horchen, nach irgendeinem Zeichen, dass Elouané die Flucht gelungen war. Allerdings überhäuften die Frauen in ihrer nächsten Nähe sie mit Fragen, was vor sich gehe, wer diese Männer seien und was sie von ihnen wollten, sodass sie keine Chance hatte, etwas zu hören.
Sie wusste nicht, wie lange ihre Angreifer sie so dastehen ließen, in zunehmender Dunkelheit und Kälte, während sie sie wie Statuen umringten und weder auf Fragen noch auf Flehen reagierten. Hin und wieder stießen weitere ihrer Kumpane hinzu, die vereinzelte Ordensschwestern hinter sich herzerrten, doch Elouané war dem Lichten sei Dank nicht unter ihnen.
Die Hälfte der Nacht war schon verstrichen, als endlich eine Gruppe von fünf Männern über den Hof geschritten kam, eine einzelne Leitfigur vorneweg, für die sich der Wächterring teilte, um sie durchzulassen. Ilmra schauderte beim Anblick des Mannes: Wie alle anderen auch trug er ausnahmslos schwarze Gewänder ohne irgendeine Form von Schmuck oder Wappen, als wäre er direkt aus der Dunkelheit entstanden. Seine Züge wirkten merkwürdig verwischt, beinahe verbrannt, und tiefe Narben höhlten seine ohnehin eingefallenen Wangen aus. Seine kleinen, finsteren Augen glitten suchend über ihre Gesichter und blieben schließlich an Ilmra hängen. »Du bist die Stellvertreterin?«, fragte er mit einer Stimme, die so grausam war wie er aussah.
»Die stellvertretende Ordensführerin, ja.« Ihre eigene Stimme, fiel ihr auf, klang schwach und heiser, wie das Krächzen eines verängstigten Huhns gegen das tiefe Grollen eines Wolfes. Der Mann fixierte sie, und einen Moment hatte Ilmra den Eindruck, ihr würde bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.
»Du führst Listen über alles, was hier geschieht? Wer kommt und wer geht?«
»So ist es.« Ilmra verschränkte die Finger und ging im Geiste die Abendgebete durch; fast augenblicklich fühlte sie sich gestärkt.
Der Mann kam einen Schritt auf sie zu. »Wo ist sie?«, fragte er.
Ilmra reckte das Kinn. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«
Der Mann riss den Arm hoch und Ilmra zuckte zurück, weil sie dachte, er wollte sie schlagen. Dann sah sie, dass er ihr eine Wachstafel unter die Augen hielt, genau die Tafel, die sie selbst im Tempel verloren hatte.
»Auf dieser Liste sind dreizehn Namen notiert«, erklärte er. »Dreizehn Namen für dreizehn Novizinnen. Hier sind nur zwölf. Wo ist die letzte? Antworte!«
Ilmras Gedanken rasten mit dem Schlag ihres Herzens um die Wette; wenn überhaupt, war Elouané gerade erst fortgeritten. Wenn sie ihr jetzt nachsetzten, würden sie sie womöglich wieder einholen und ihr dasselbe antun, was sie mit all den anderen Unglücklichen vorhatten. Durch ihr Gelübde als weiße Priesterin aber war es ihr verboten zu lügen.
Hastig dachte sie nach, dann räusperte sie sich. »Sie hat uns in der Nacht verlassen«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Viele Mädchen geben die Laufbahn als Priesterin auf, wenn sie erkennen, wie hart dieses Leben wirklich ist.«
›Ich habe nicht gelogen‹, dachte sie, ›nur einige verschiedene Wahrheiten erzählt.‹
Der Mann mit dem verzerrten Gesicht musterte sie einen Moment verächtlich. Dann warf er ihr die Wachstafel ins Gesicht. »Sucht das letzte Mädchen!«, befahl er seinen Getreuen, die wie Fledermäuse in die Finsternis davonstoben. Daraufhin wandte er sich wieder ihr zu. »Wir werden sie schon finden, deine Entlaufene.
Die anderen«, fügte er hinzu und zog einen Gegenstand aus seinem Gürtel, »bringt unserem Herrn als Opfer dar. Er wird erfreut sein über so viel jungfräuliches Blut.« Bei diesen Worten hob er das Ding, das in seinem Gürtel gesteckt hatte, und Ilmra erkannte, was es war: Ein Dolch. Ein geschwungener, am Griff verzierter Dolch, den sie in ihrem Leben so oft gesehen hatte, dass sie ihn mit geschlossenen Augen hätte aufmalen können: Es war der Dolch, den die schwarzgewandete Statue in den Händen hielt, die neben der Waage und dem Lichten auf dem Sockel vor dem Tempel stand. Die Waffe des Dunklen Gottes. Entsetzt riss sie den Mund auf – und brach gurgelnd zusammen, als der schwarze Priester ihr die Kehle aufschlitzte.
Die anderen Frauen schrien und kreischten, als die Erste Schwester zusammenbrach, die adrigen Finger um die klaffende Wunde an ihrem Hals geklammert. Ihr Mörder drehte sich so gleichgültig von ihr weg, als hätte er gerade eine Fliege totgetreten.
»Was ist los? Was machst du da?« Ein weiterer Schwarzgewandeter kam im Laufschritt angerannt, den Blick auf die Tote gerichtet. »Was fällt dir ein, die Opfer zu verschwenden, um deine eigene Blutgier zu stillen? Du weißt genau, dass wir jede einzelne Gabe brauchen!«
Sein Gefährte wandte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um. »Sie hat versucht, mich zu belügen. Sieh her«, er hob die Ordensliste auf, »dreizehn Mädchen sollten es sein, zwölf sind hier. Habt ihr die Fehlende gefunden?«
Der zweite Mann schüttelte seinen blonden Kopf.
Der mit den verwischten Zügen schnaubte verärgert. »Sei’s drum. Brennt die Schlaftrakte ab, dann wird sie schon zum Vorschein kommen, wenn sie sich irgendwo dort versteckt hält.«
»Wir können aber nicht mehr länger warten, Narvek«, entgegnete der andere und hielt ihn entschlossen am Arm fest. »Der Mond ist fast verhüllt, wir müssen mit den Opferungen beginnen!«
»Dann tut das!« Wütend riss Narvek sich los. »Sollte die Dreizehnte wirklich noch irgendwo hier sein, werden wir einen anderen Weg finden, sie darzubringen. Die anderen … in den Tempel!«
Sein Gegenüber nickte, um einiges zufriedener, und rannte davon, um den Befehl weiterzugeben.
Elouané jedoch hatte Ilmras Anweisung befolgt und war in gestrecktem Galopp davon und gen Norden geritten. Daher sah sie nicht, wie wenig später Flammen aus dem Wohntrakt und dem Tempel schlugen. Und sie hörte nicht, wie die darin eingeschlossenen Frauen zu schreien anfingen.