Читать книгу Die Chroniken der drei Kriege - S. A. Lee - Страница 7

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Der Traum

Der Baum war geborsten und troff vor Blut.

Er ragte mitten aus einem einsamen, karg bewachsenen Hügel, umgeben von einer Mauer aus Nebel. Die Welt war grau, das Gras, die Rinde, als ob nie eine andere Farbe existiert hätte, geschweige denn jemand, der sich eine hätte ausdenken können. Nur das Blut, das über die gespaltene Rinde lief, war dunkelrot, fast schwarz, und es war, als fräße es sich durch das Holz, ein gieriger, fetter Egel auf seinem Weg zum schlagenden Herzen in den Wurzeln der Pflanze.

Er selbst stand auf halber Höhe des Hügels, ohne zu wissen, wer er war oder was er hier wollte. Mit dumpfer Faszination beobachtete er, wie das Blut herabfloss, und hörte dem gequälten Knarren des Baumes zu, fragte sich, was passieren würde, wenn die dicke rote Flüssigkeit den Boden erreichte.

Ein schauerliches Krächzen ließ ihn herumfahren; eine riesige Krähe saß hinter ihm, von waberndem Nebel umgeben, ohne davon berührt zu werden. Während er sie ansah, spreizte sie die Flügel und hüpfte davon, und im gleichen Moment wich der Dunst. Zerbrochene Steine und Hügel, kleinere als der, auf dem er stand, zeichneten sich ab, und er begriff: Ein Friedhof. Ohne es zu wollen, folgte er dem Vogel den Hügel hinab zwischen die Grabhügel. Es sah aus, als wäre der Ort seit langer Zeit verlassen; die Gedenksteine waren gesplittert und an vielen von ihnen rankte sich kränkelndes Unkraut empor. Bei jedem Schritt, den er machte, atmete der Boden, als träte er auf staubende Kissen, und ebenso gedämpft fühlte sich alles an.

Die Krähe ließ sich auf einem besonders großen, aus schwarzem Granit gehauenen Grabstein nieder und drehte sich boshaft starrend zu ihm um.

Schlafwandelnd näherte er sich dem Vogel, sicher wissend, dass er ihn nicht berühren wollte, aber unfähig, stehenzubleiben. Es war, als folgte er einem inneren Befehl, und je näher er kam, desto intensiver schien das Starren des Vogels zu werden. Er war noch etwa drei Schritte von dem Tier entfernt, als er weiteres Flügelschlagen hörte. Eine Schneeeule saß auf einem Stein zu seiner Linken, der so stark moosbewachsen aussah, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte. Sie sah ihn an ohne zu blinzeln, als wollte sie ihn mit ihren Augen an Ort und Stelle bannen. Tatsächlich merkte er, wie seine Füße innehielten; er blieb stehen, obwohl die Krähe zornig mit den Flügeln raschelte, und erwiderte wie betäubt den Blick des schneeweißen Tieres.

Erst ein melodischer Schrei machte ihn auf den dritten Vogel aufmerksam, der ein Stück weit von den anderen entfernt im Geäst eines verkrüppelten Busches saß. Auch dieser war ein Raubvogel, ein Gerfalke mit wundervoll gemustertem Gefieder, der mit leicht schräg geneigtem Kopf das Geschehen vor seinen Augen beobachtete.

Es war unheimlich still.

Er selbst wagte nicht sich zu rühren aus Angst, eines der Tiere zu reizen. Erst, als er das immer lauter werdende Gluckern hörte, fuhr er auf: Ohne dass er es bemerkt hätte, hatte das Blut am Baum den Boden erreicht, doch anstatt in der Erde zu versickern, quoll es zwischen den Wurzeln hervor, als ob es von einer geheimen Quelle darunter gespeist würde. Wie ein langsam anschwellender Bach kam es den Hügel hinabgekrochen, zwischen den Totensteinen hindurch, als ob es einen Weg zu ihm suchte. Erschrocken stolperte er zurück, und die Krähe ging zum Angriff über: Mit einem heiseren Krächzen warf sie sich auf die Schneeeule und schlug ihre Krallen in das strahlend weiße Gefieder. Verbissen hackte die Krähe auf die sich sträubende Gegnerin ein, bis diese mit einem Kreischen am Boden zusammenbrach, blutüberströmt und tot. Ohne zu zögern ließ sich die Aaskrähe auf ihrer Brust nieder und begann in haltloser Gier Fetzen herauszureißen. Er wollte sie wegscheuchen, aber noch ehe er einen Schritt getan hatte, hatte der Gerfalke sich von seinem Strauch erhoben und warf sich auf die Krähe. Auf grausige Art fasziniert, starrte er auf die kämpfenden Vögel und bemerkte zu spät, dass der Blutstrom seine Richtung geändert hatte. Er erreichte den Falken in dem Moment, als sein Widersacher sich kreischend in die Luft erhob und die Flucht ergriff. Das Rot sprudelte über die Krallen des Gerfalken, der mitten in der Bewegung zurückzuckte, als ob ihn unsichtbare Hände am Boden festhielten. Der Falke schrie dumpf und schauerlich auf, dann fiel er in sich zusammen, wild mit den Flügeln schlagend, und wälzte sich noch mehr in dem dickflüssigen Blut. Mit stummem Entsetzen sah er zu, wie der Vogel langsam erstickt wurde, sich kreischend und flatternd hin und her warf, bis er sich nicht mehr regte.

Eine furchtbare Traurigkeit erfasste ihn; er wusste, ohne sagen zu können woher, dass der Tod dieser beiden Tiere das Ende einer Epoche bedeutete, dass ihr Verlust mit nichts auf der Welt wiedergutzumachen sein würde. In diesem Moment schoss ein scharfer Schmerz durch seine Schulter, dort, wo sich lautlos die Krähe niedergelassen hatte. Sie krächzte spöttisch und fixierte ihn mit ihrem schwarzen, toten Auge, und im gleichen Augenblick löste sich die Form des Blutstroms auf, dutzende Nebenarme zweigten davon ab und strömten in Windeseile über den Friedhof, ertränkten Gras, Boden und Stein, sickerten in die Ritzen der Erde und kehrten wild kochend wieder zurück, und über all dem war die scheußliche Stimme der Krähe, der Schmerz und seine eigene Stimme, die schrie, obwohl ihn niemand hörte. Und plötzlich – urplötzlich erkannte er –

Kirin schlug die Augen auf.

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühsommer im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Verwirrt blinzelte Kirin und drehte sich auf den Rücken; mit klammen Fingern rieb er sich die Augen und versuchte sich an die Einzelheiten seines Traumes zu erinnern: Ein Baum war darin vorgekommen, geborstene Totensteine, Nebel und Blut. Und die Krähe.

Unwillkürlich legte er die Hand auf die Schulter, dort, wo der Vogel die Krallen in sein Fleisch geschlagen hatte; ihm war, als täte sie immer noch weh. Langsam wich die Kälte, die sein Innerstes ergriffen hatte, und er setzte sich auf. Graues Licht flutete durch geschlossene Läden in den Raum und zeigte ihm schemenhaft die Möbel, die sich darin befanden: Ein Schreibtisch mit Stuhl, einige niedrige Sessel, Kleidertruhen, ein Spiegel. Verwirrt strich er über die weiche Bettdecke, wie um sich zu versichern, dass sie wirklich da war. Obwohl die Erinnerungen an den Traum von Herzschlag zu Herzschlag mehr verblassten, schwitzte er und seine Finger zitterten leicht. Die Stimme des Aasvogels dröhnte ihm noch in den Ohren und der zerfetzte Kadaver der Eule hatte sich in seine Netzhäute gebrannt. Es war ihm so wirklich vorgekommen …

Als die Tür zu seinem Gemach aufgerissen wurde, zuckte er so heftig zusammen, dass es ihn eine Handbreit von der Matratze hob; hektisch versuchte er, seine Augen gegen das hereinströmende Licht abzuschirmen.

»Exzellenz«, ertönte eine heisere Stimme, »Exzellenz, verzeiht, dass ich Euch störe. Aber die Sonne ist lange aufgegangen und die Besucher beginnen bereits, sich zu versammeln …«

Kirin schloss die Augen und stöhnte; richtig, die Audienz. Fast hatte er sie vergessen.

»Ich komme«, sagte er, indem er die Decke zurückschlug; sein Nachthemd war durchgeschwitzt und klebte ihm am Rücken. »Ich brauche ein Bad«, befand er und streifte es sich über den Kopf.

»Sicher, Exzellenz. Und ich habe Eure Rüstung für Euch zurechtlegen lassen.«

Kirin verzog den Mund. »Haltet Ihr das für eine gute Idee? Damit ich mir wieder anhören darf, dass ich mich anbiedere?«

Mit einem leisen Quietschen wurden die Läden geöffnet; Kirin blinzelte gegen den strahlenden Sonnenschein an, konnte aber nicht verhindern, dass er ihn für einen Augenblick blendete. Als er wieder etwas sehen konnte, stand er einem Mann in den Fünfzigern gegenüber, dessen kurzes schwarzes Haar und hellbraune Haut ihn ohne jeden Zweifel als Arachinen auswiesen. Er trug einen sorgfältig gestutzten Vollbart und war in eine lange braune Kutte gehüllt, die ihm bis zu den Stiefeln reichte.

Auf Kirins Worte hin neigte er leicht den Kopf. »Ihr müsst Euch als der präsentieren, der Ihr seid: Mit der Annahme der Uniform eines arachinischen Kriegers zeigt Ihr Euch als einer der Ihren.«

»Und das ist genau das, was sie mir übelnehmen.« Verärgert strich sich Kirin sein blondes Haar zurück. »Ein ausländischer Bastard, der so tut als wäre er Arachine, das ist es, was sie alle von mir denken.«

»Sie würden sicher nicht besser von Euch denken, wenn Ihr in den Kleidern eines ostländischen Bauern herumlaufen würdet.« Ein leichter Anflug von Humor blitzte in den dunklen Augen des anderen Mannes auf. Sein Name war Aderuz und er war Heiler am Hof von Aracanon, schon seit über zwanzig Jahren. Er hatte unter dem vorherigen Herrscher gedient, so wie er jetzt unter Kirin diente – was einige vielleicht als Nachteil empfunden hätten, weil Kirin seinem Vorgänger erst vor wenigen Monden brutal ein Messer in den Hals gerammt hatte. Kurz schloss Kirin die Augen und wandte Aderuz den Rücken zu, als ihn die Erinnerung daran überflutete: Galihl Phalaér hatte als Großfürst von Aracanon versucht, auch den Rest des Kontinents für sich zu erobern. Er war in seine Nachbarländer eingefallen und hatte somit die Bestimmungen des Großen Vertrages, der die Länder Paradons in Frieden hätte einen sollen, gebrochen. Die übrigen Reiche waren gegen ihn marschiert und hatten zunächst katastrophale Niederlagen erlitten – bis sie mithilfe einer von Kirin entwickelten neuen Waffe und der List eines arachinischen Überläufers das Blatt hatten wenden und den Krieg für sich entscheiden können. Dazu hatte es allerdings erst der Eroberung von Nardéz bedurft – und des Todes von Galihl selbst, der zu allem Übel Kirins Vater gewesen war. Nun, eher Erzeuger; soweit Kirin hatte in Erfahrung bringen können, waren die Umstände seiner Entstehung sehr unglücklich gewesen: Galihl hatte eine im Palast gefangene Sklavin namens Szarell geschändet und geschwängert, woraufhin sie geflohen war, aus Angst, Galihl würde ihr Kind töten, sobald es auf der Welt war. Dabei war sie gestorben, ihr Sohn jedoch hatte überlebt und jetzt endlich seinen rechtmäßigen Platz eingenommen.

Das zumindest war die Geschichte, die er jedem erzählte und die er sich selbst jeden Abend vor dem Einschlafen wiederholte, in der Hoffnung, sie eines Tages glauben zu können. Die Ereignisse nämlich, die auf Galihls Tod gefolgt waren, waren auf ihre Weise ebenso schrecklich gewesen wie der Kampf gegen Galihl höchstpersönlich, und er tat alles, was er konnte, um sie zu verdrängen.

Er holte tief Luft und öffnete die Augen, um im Spiegel einen Blick auf Aderuz zu werfen, der hinter ihm stand. Er wirkte mitfühlend, aber auch aufmerksam, und Kirin wusste, warum: Aderuz diente dem Thron Aracanons, nicht dem Mann, der auf ihm saß, und solange er glaubte, dass Kirin dem Wohl des Landes diente, würde er ihn vollumfänglich unterstützen. Sollte Kirin sich jedoch als eine Enttäuschung erweisen … Nun, Kirin hatte gesehen, wie schnell sich seine Ergebenheit in Gleichgültigkeit verwandeln konnte. Vielleicht hätte ihn das beunruhigen sollen, doch tatsächlich war ihm diese Haltung viel lieber als das kriecherische Gehabe der anderen Hofbeamter, die während des Kampfes um die Hauptstadt nicht geflohen oder getötet worden waren und sich jetzt mit dem neuen Herrscher zu arrangieren versuchten. Kirin traute keinem von ihnen über den Weg, eine Einstellung, die immer mehr zur Gewohnheit wurde.

»Wen erwarten wir?«, fragte er. »Wie viele?«

Aderuz räusperte sich. »Abgesandte zweier Adelsfamilien, die sich aus dem Exil zurückmelden, Exzellenz, dazu hochrangige Vertreter der Handwerkerzünfte. Außerdem möchten einige Abgesandte der östlichen Länder bei Euch vorsprechen.«

Kirin mühte sich, eine gleichgültige Miene beizubehalten. »Gut«, sagte er, obwohl ihm gar nicht danach war. »Dann hätte ich jetzt gerne mein Bad.«

Aderuz verbeugte sich und ging hinaus, und Kirins Blick kehrte zu seinem Spiegelbild zurück. Sein Aussehen war ein weiterer Punkt auf der unerschöpflich langen Liste von Gründen, aus denen die Arachinen ihn hassten. Er sah nicht aus wie einer von ihnen, war zu hell, zu blond, zu blauäugig, kurz: Zu ostländisch. Nicht, dass Galihl Phalaér dem typischen Bild eines Arachinen entsprochen hätte: Wie Kirin hatte er weder das dunkle Haar noch die schwarzen Augen oder die gebräunte Haut seines Volkes gehabt, aber er war in Aracanon geboren und zweifelsfrei der Sohn einer arachinischen Großfürstin gewesen, außerdem der beste und gnadenloseste Schwertkämpfer, den sein Land je gesehen hatte. Kirin war erst vor wenigen Monden in dieses Land gekommen, während er zuvor eine durch und durch ostländische – und bürgerliche – Erziehung durchlaufen hatte. Ein Jahr Unterricht in arachinischer Kampfkunst hatte keineswegs einen überragenden Krieger aus ihm gemacht, und selbst die Sprache des Westlandes bereitete ihm hin und wieder noch Schwierigkeiten. In den Augen der ostländischen Politiker und Krieger mochte er ein Held sein, einer, der die schlimmste Gefahr abgewendet hatte, die dem Kontinent seit Jahrzehnten gedroht hatte, der einen Tyrannen getötet und viele Völker aus der Sklaverei befreit hatte – für dieses Volk hier war er nur jemand, der einen beliebten Herrscher gemeuchelt und jedwede Chance, das größte und mächtigste Land des Kontinents zu werden, zunichte gemacht hatte.

›Wären mir diese Bedingungen klar gewesen, als ich hierherkam‹, dachte er, ›hätte ich mir dann die Krone auf den Kopf setzen lassen?‹

Ja, das hätte er. Er hatte noch viel schlimmere Wahrheiten gekannt als diese und hatte zugelassen, dass man ihn krönte. Jetzt musste er zusehen, wie er damit fertigwurde – wenn möglich, ohne umgebracht zu werden.

Die Diener kamen, um ihn ins Badezimmer zu führen, wobei sich ihnen unterwegs zwei Palastkrieger anschlossen; die hochgewachsenen, in schwarzsilberne Uniformen gekleideten Soldaten bereiteten Kirin immer noch Unbehagen, doch da Kirin ihren letzten Herrn in einem ehrenvollen Kampf besiegt hatte, war er in ihren Augen ein größerer Kämpfer als Galihl es gewesen war, und nach arachinischer Sitte mussten sie ihm dafür Respekt zollen. Außerdem war er für sie Bluterbe des Hauses Phalaér, was sie zu unbedingter Treue verpflichtete.

Offiziell zumindest hieß es so; Kirin war sich bewusst, dass viele der ‹Windreiter’ genannten Soldaten Galihl verehrt hatten, und ihm war auch klar, dass in dieser Hinsicht früher oder später Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden, welcher Art auch immer. Diese Krieger jedoch, die jetzt seine Leibwache bildeten, waren von seinem Mitstreiter und persönlichen Freund Rhùk ausgewählt worden, und daher war auch er entschlossen, ihnen zu vertrauen.

Der einstige Windreiter und Überläufer Rhùk vertraute praktisch niemandem außer seinen eigenen Schwertern, und dass er diese Männer und Frauen ausgewählt hatte, über Kirins Leben zu wachen, hieß eine ganze Menge.

Zu Kirins Erstaunen war auch Asusza unter ihnen, eine Verwandte des ehemaligen Großfürsten und einer seiner obersten Generäle. Er erinnerte sich daran, Rhùk nach den Gründen für diese Ernennung gefragt zu haben. Dieser hatte erwidert: »Die Herrin Asusza dient dem Land und ihren Waffengefährten – sie ist den Ehrenverpflichtungen eines Windreiters unterworfen und wird sie nicht brechen. Das ist auch der Grund, warum Galihl sie am Leben gelassen hat, als er daran gegangen ist, den ganzen Rest seiner Verwandtschaft auszulöschen.«

Mittlerweile hatte Kirin sich daran gewöhnt, Frauen in Rüstungen zu sehen, weil diese Eigenheit zur Kultur Aracanons gehörte – aber Asusza war noch immer etwas Besonderes: Einen Meter neunzig groß, überragte sie Kirin um fast einen Kopf. Dazu war sie wahrscheinlich doppelt so schwer wie er und hatte Muskelpakete, die viele ihrer Waffenbrüder schwächlich aussehen ließen. Als Kirin ihr – wie allen anderen Windreitern Nardéz‹, die sich nach der Niederlage im Thronsaal versammelt hatten – den Treueeid abgenommen hatte, hatte sie sich mit ihrer massigen Faust auf die Brust geschlagen und verkündet: »Ich schwöre, Eurem Befehl zu gehorchen und an Eurer Seite und um Euer Leben zu kämpfen bis ich sterbe.« Das todernste Gesicht, das sie dazu gemacht hatte, hatte nichts über ihre wahren Gefühle verraten, geschweige denn, wie sie darüber dachte, dass Kirin gerade ihren Cousin getötet hatte. Kirin hatte Galihl im Kampf besiegt und war jetzt Großfürst, das war alles, was Asusza wissen musste.

Kirin betrat das Badezimmer, gerade als einer der Diener die Schleuse öffnete und heißes Wasser in die im Boden eingelassene Steinwanne laufen ließ. Ganz Aracanon war durchzogen von Adern heißen Wassers, das von den Vulkanen im Süden des Reiches herrührte. Geschickte Architekten und Gelehrte hatten es in die Häuser geleitet, sodass die Anwesen der Reichen ständig mit warmem Wasser versorgt wurden. Im Winter, so hatte man Kirin versichert, seien kaum Feuer nötig, um die Zimmer zu wärmen, weil das heiße Wasser in den Wänden und Böden die Räume aufheizte. Seufzend ließ sich Kirin in die Wanne gleiten und schloss die Augen. Das Wasser war zu heiß und verbrühte ihm fast die Haut, aber es war ihm gleich; es brannte die Kälte aus ihm heraus, die sich wie eine Faust um sein Herz geschlossen hatte. Obwohl er wusste, dass er sich beeilen sollte, ließ er sich Zeit mit dem Bad und kam erst heraus, als seine Finger schrumpelig wurden.

Der Diener, der ihm das Wasser eingelassen hatte, kam ihm entgegengeeilt, um ihm einen Mantel umzulegen. Kirin musterte die silbernen Stickereien auf dem orangen Tuch, das der Junge trug, und wieder zog sich sein Magen zusammen; ›Sklaven‹, dachte er. ›Nicht Diener, Sklaven.‹

Die Arachinen hielten seit hunderten von Jahren Sklaven, ebenso wie ihre Nachbarländer und der frühere Sitz der Großkönige, Fallonia, doch er, der im freien Norden des Kontinents aufgewachsen war, konnte und wollte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen. Besonders nicht, wenn er an Szarell dachte und daran, was mit ihr geschehen war. Diese Menschen waren Spielzeuge für ihre Herren, nichts weiter. Und wie sehr sie ihrem Willen unterworfen waren, das hatte sich ihm nach der Einnahme von Nardéz erst richtig gezeigt: Hunderte Palastsklaven hatte man tot aufgefunden, mit aufgeschnittenen Kehlen, hingerichtet wie Schlachtvieh. Vielleicht hatte man sie daran hindern wollen zu fliehen oder wollte einfach dafür sorgen, dass kein anderer in ihren Besitz kam. Noch immer waren jedoch genug übrig, um den Palastbetrieb in Gang zu halten, und wenn Kirin es, was allerdings nur selten vorkam, über sich brachte, sich ihre Gesichter genauer anzusehen, bemerkte er dort nie Wut oder Traurigkeit. Kirin aber erinnerte sich zu gut daran, wie die Arachinen ihr eigenes Volk zur Perfektion und vollkommenen Beherrschung erzogen, um zu glauben, dass das, was er sah, der Wahrheit entsprach. Diese Leute hatten gelernt, widerspruchslos zu gehorchen und ihre Emotionen zu verbergen, das war alles.

»Danke, du brauchst das nicht zu machen«, wiegelte er den Versuch des Sklavenjungen ab, ihn mit einem Handtuch trocken zu reiben. »Ich kann mich schon selbst fertigmachen. Du kannst gehen, wenn du willst.«

Der Junge erwiderte seinen Blick, und in diesem einen Moment sah Kirin das erste echte Anzeichen von Gefühl: Blanke Verwunderung, vermischt mit Entsetzen.

›Er denkt, es ist ein Trick‹, vermutete Kirin und zwang sich zu einem Lächeln. ›Irgendeine gemeine Falle, um ihn dazu zu bringen, einen Fehler zu machen, für den er bestraft wird.‹

»Du hast das sehr gut gemacht, aber ich brauche deine Hilfe nicht mehr. Du kannst dich ausruhen gehen.«

Sofern das möglich war, wurde durch diese Worte die Angst in den Augen des Jungen nur noch grösser. Dennoch verbeugte er sich und ging rückwärts aus dem Raum, ohne Kirin aus den Augen zu lassen, als hätte er Angst, von hinten angesprungen zu werden.

Frustriert zog sich Kirin die schwarze Rüstung über, die Aderuz für ihn herausgesucht hatte. Als er seine Herrschaft als Großfürst angetreten hatte, hatte er den Befehl erlassen, sämtliche Sklaven Aracanons freizulassen, was nichts anderes hieß, als dass er nach nur zehn Tagen Herrschaft bereits deutlich die Grenzen seiner Verfügungsgewalt aufgezeigt bekommen hatte. Aderuz hatte ihn zur Seite genommen und ihm in einem sehr langen Gespräch erklärt, was für Folgen ein solcher Befehl haben würde: Eine Massenrevolte unter den Vermögenden, Hungersnöte, Aufstände, randalierende, zügellose Massen auf der Suche nach Rache für Jahre und Jahre der Unterdrückung. Er hatte ihm ans Herz gelegt, ›die Zügel langsam zu lockern‹, denn: »Auch das fügsamste Pferd wird durchbrennen, wenn es in einem unbekannten Wald steht und die Kontrolle seines Herrn nicht mehr spürt.«

Kirin war Herr über das größte und mächtigste Reich des Kontinents geworden, und nie hatte er sich machtloser gefühlt. Allerdings befürchtete er, dass sich das am heutigen Tag ändern würde; eine Audienz stand ihm bevor, bei der er Bittsteller und Gesandte anhören und Recht sprechen sollte, und davor graute ihm.

Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken; auf seinen Ruf hin öffneten sich die Türflügel und ein Mann trat ein, dessen Anblick das erste echte Lächeln an diesem Tag auf Kirins Gesicht zauberte.

»Exzellenz, seid Ihr fertig?« Der Teint des Eintretenden war so dunkel wie der der Arachinen, doch seine Augen waren grösser und runder und außerdem von einer leuchtend türkisblauen Farbe, sodass sie wirkten wie Halbedelsteine. Sein lockiges schwarzes Haar trug er in einem dicken Zopf, der ihm über seine Rüstung mit dem grüngoldenen Waffenrock fiel, und auf der Schnalle seines prächtigen Schwertgurtes präsentierten sich drei dunkelrote Türme mit goldenen Dächern. Diese Schnalle verkündete, dass er seine Ausbildung an der Militärakademie in Semja absolviert hatte, das Grün und Gold seiner Rüstung jedoch wies ihn als Sohn der Òrrowe-Inseln aus. Sein Name war Larniax, und er war gemeinsam mit vielen seiner Waffengefährten direkt von der Akademie in dieses Land gekommen, als die Kämpfe gegen Galihl in vollem Gange waren. Sesko Nàym, der Kirin während der Unruhen jener Zeit ein guter Freund geworden war, hatte ihn persönlich als Kirins Leibwächter und strategischen Berater ausgewählt, und ihm unterstand auch eine gute Hundertschaft aus ostländischen Kriegern und Beamten, die ihren Sitz im Fürstenpalast genommen hatte, nachdem der Rest der siegreichen Armee nach und nach abgezogen war.

Larniax war von seiner Familie an die Akademie geschickt worden, als er noch ein Kind gewesen war, und hatte dann aus der Ferne zusehen müssen, wie sie alle einer nach dem anderen von einem schrecklichen Fieber dahingerafft worden waren. Kirin erinnerte sich deutlich an den Ausdruck in Seskos Augen, als dieser ihm davon erzählt hatte. »So schrecklich diese Geschichte für Larniax auch war, es macht ihn zu einem idealen Verbündeten; er kann sich selbst nur dienen, wenn er euch hilft, und hat keine Verwandten, die ihn von außen lenken oder versuchen könnten, Einfluss auf Euch zu nehmen. Er ist ein loyaler Gefährte und äußerst klug. Ihm könnt Ihr vertrauen.« Kirin hatte diesen Ratschlag bisher beherzigt und noch keinen Grund gehabt, ihn zu bereuen; Larniax war stets offen zu ihm gewesen, auch wenn seine eigene Meinung von der Kirins abwich, und hatte es sehr schnell geschafft, gemeinsam mit den verbliebenen Windreitergenerälen die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen.

»Soweit man davon reden kann, bin ich es, ja.« Noch einmal strich sich Kirin übers Haar und schnallte sich dann seine Schwerter um; es waren elegante, leicht gebogene Einhänderklingen wie sie die Arachinen trugen, und wurden in Tragegurten am Rücken befestigt. Nachdem er die Riemen zugeschnallt hatte, nahm er sie einzeln heraus und betrachtete sie im aufgehenden Licht der Sonne: Herrliche Schwerter waren es, wenn auch ursprünglich nicht für ihn selbst hergestellt. Die Klinge, die er für gewöhnlich mit der linken Hand führte, hatte einst einem Windreiter gehört, den Rhùk auf Nardéz‹ Straßen getötet hatte, um Kirin das Leben zu retten. Er hatte die Gravur darauf entfernen lassen, die ihre Verbindung mit ihrem früheren Herrn betonte, sie jedoch bisher durch keine andere ersetzt. Das andere Schwert war einst unter dem Namen ›Nàrdarells Schatten‹ bekannt und gefürchtet gewesen und hatte Galihl Phalaér gehört. Kirin hatte den Auftrag gegeben, es umschmelzen und neu schmieden zu lassen, eine Anweisung, die dem verantwortlichen Schmied die Tränen in die Augen getrieben hatte. Doch das Schwert, das aus seiner Hand erstanden war, stand nach Kirins Meinung seinem Vorgänger in Punkto Schönheit, Schärfe und Balance um nichts nach, also hatte er keinen Anlass, den Verlust des berühmten Schwertes zu bedauern. Noch trug keines der Schwerter einen Namen, und Kirin hatte auch herzlich wenig Lust, sich einen auszudenken, wenn er sich doch so wenig tapfer und heldenhaft fühlte. Er seufzte, steckte die Schwerter weg und folgte Larniax zur Tür. Gemeinsam gingen sie einen langen, ganz mit schwarzem Marmor ausgekleideten Gang entlang, in dem überall Windreiter postiert waren. Larniax hatte zunächst überlegt, ob er die Präsenz der ostländischen Soldaten unter der Palastwache verstärken sollte, doch Aderuz hatte davon abgeraten, um die Arachinen nicht unnötig zu reizen. Kirin musste dem zustimmen; von seiner Bekanntschaft mit Rhùk wusste er nur zu gut, wie empfindlich Windreiter auf ausländische Soldaten reagierten.

»Ihr seht müde aus«, bemerkte Larniax und musterte ihn aus den Augenwinkeln.

Kirin ruckte mit dem Kopf. »Ich habe geträumt.«

»Albträume?« Larniax hob neugierig die Augenbrauen.

»Ich weiß es nicht genau. Ich kann mich nur noch an wenig erinnern … eine Krähe ist darin vorgekommen, und ein Baum … Aber mehr weiß ich nicht mehr.«

»Von Krähen zu träumen ist normal, wenn der Tod einem so nahe war«, sagte Larniax. »Soll ich den Heiler bitten, nach einem Traumdeuter zu schicken? Die Leute hier glauben an die Bedeutung von Träumen, so hörte ich. Fast so wie in meiner Heimat, wo es eigens Tempel gibt, wo man hingehen und sich Rat holen kann.«

Kirin musste unwillkürlich grinsen. »Traumdeutertempel? Und was erzählen die einem, wenn man von Brot geträumt hat?«

Larniax schmunzelte ebenfalls. »Dass einem in Kürze Flügel wachsen und man ein Huhn wird, wahrscheinlich. Ich muss gestehen, ich habe mich nie ernsthaft für solche Dinge interessieren können.«

»Ich auch nicht. Ich habe genug damit zu tun, was im wachen Zustand um mich herum passiert.«

Larniax lachte auf, und einen Moment später passierten sie die hohen schwarzen Flügeltüren zum Thronsaal. Es war einer der größten Räume im ganzen Palast, und auch er war fast vollständig aus schwarzem Marmorgestein erbaut. Er war hoch wie eine Kathedrale, und bunte Glasfenster brachen das Sonnenlicht, ehe es hereinflutete, und zauberten düstere Muster auf Boden und Wände. Kirins Eingeweide zogen sich unwillkürlich zusammen; an diesem Ort war viel Böses geschehen. Er war hier beinahe gestorben, hatte Rhùk scheinbar tödlich verwundet zu Boden sinken sehen und schließlich Galihl zu Füßen des Fürstenthrones getötet, und was heute auf ihn zukam, würde wahrscheinlich nicht dazu beitragen, dass er den Raum mit positiveren Gefühlen verband.

Eine Wache an der Tür stieß zweimal mit der Lanze auf den Boden.

»Kniet nieder für den Großfürsten!«, hallte der Befehl laut und klar durch den Raum. Alle Menschen, die sich dicht an dicht zwischen den Säulen drängten, sanken in die Knie, als Kirin vorbeiging, und wie immer musste er gegen den instinktiven Drang ankämpfen, es ihnen gleichzutun. Er schritt an Larniax‹ Seite durch den Raum auf den Thron zu, den er seit dem Tag seiner Krönung aufs heftigste gemieden hatte, und ließ sich auch jetzt nur widerstrebend darauf nieder. Ihm war, als drückten sich Rücken- und Armlehnen wie Schwerter in seine Haut.

Larniax stellte sich schweigend hinter dem Thron auf, Seite an Seite mit Asusza, die auch ihn um einen halben Kopf überragte.

Kirin holte tief Luft und hob die Hand zum Zeichen, dass sich alle wieder erheben durften. Die Menge gehorchte, und einen Augenblick musterte Kirin die vielen Gesichter, von denen manche aufgeregt, andere anklagend und wieder andere gleichgültig wirkten. Einige Leute trugen teure Kleider und Schmuck und sahen nach Hofschranzen aus, andere wiederum wirkten abgerissen und gezeichnet. Wer waren all diese Menschen, fragte er sich, und was führte sie hierher? Waren sie Freunde oder Feinde? Abwartend drehte er sich nach links, wo er, wie er wusste, Aderuz hinter dem Fürstensessel stehend finden würde. Der Heiler trat vor, eine Rolle Pergament in den Händen.

»Seine Exzellenz der Großfürst gewährt heute die Gunst einer Audienz«, verkündete der Heiler. »Als erster der Erwarteten möge vorsprechen Armész Ferumér, Waffenhändler und Gildenmeister der Schmiedekünstler.«

Ein ungemein fetter, schwarzbärtiger Mann trat vor, in kostbare Gewänder gekleidet und nach Tradition der wohlhabenden Bürger von Nardéz einen breiten, kunstvoll verzierten Gürtel um den gewaltigen Bauch tragend, der dermaßen mit Juwelen und anderem Zierrat überwuchert war, dass es unmöglich war, das Leder darunter zu erkennen. Sein Haar und sein Bart glänzten, als wären sie mit kostbaren Ölen behandelt worden, und an den Spitzen hatte er goldene Spangen eingeflochten. Mit großem Getue verbeugte er sich vor Kirin und spreizte dabei geziert seine Finger ab, sodass man jeden einzelnen seiner mit protzigen Steinen besetzten Ringe sehen konnte.

»Eure Exzellenz«, begann er mit einer nasalen Säuselstimme, die Kirin ein Schaudern verursachte, »welch unermessliche Ehre, dem Sprössling des großen Hauses Phalaér leibhaftig gegenüber zu stehen. Euer Vater gab dem einfachen Volk nur selten Gelegenheit, sich im Glanz seiner Anwesenheit zu sonnen, und am allerwenigsten einem verarmten kleinen Kaufmann wie mir. Doch Seine Exzellenz wusste um die Qualität guten Stahls und auch, wo es ihn zu kaufen gab, und seine Händler gingen oft bei mir ein und aus. Lasst mich in tiefster Demut die Hoffnung ausdrücken, dass auch Eure Exzellenz sich zu gegebener Zeit mit Wohlwollen mein Sortiment ansehen wird.«

Der Mann schielte unter seinen fein gestutzten Augenbrauen zu Kirin hoch, und dieser musste unwillkürlich an eine Kröte denken, kurz bevor sie mit ihrer schleimigen Zunge eine Fliege einfängt.

»Das werde ich sicher, Herr Ferumér, auch wenn ich hoffe, dass dieses Land nicht mehr allzu oft auf die Dienste Eurer Zunft angewiesen sein wird.«

»Gewiss, Exzellenz, das hoffen wir alle.« Erneut diese lächerliche Verbeugung. »Einen Mann des Friedens auf dem Thron zu wissen, ist für einen einfachen, friedliebenden Kaufmann wie mich eine beruhigende Gewissheit, denn sie lässt mich in der Nacht ruhig und mit unverschlossenen Türen schlafen.«

›Ganz bestimmt‹, dachte Kirin bei sich, ›denn wenn er keine Waffen mehr verkaufen kann, hat er auch kein Gold mehr zu Hause, das er mit seinen Schlössern schützen muss.‹

»War die Bestätigung dieser Hoffnung alles, was Ihr von Eurer Audienz erhofft habt, oder kann ich sonst noch etwas für Euch tun, Gildenmeister?«

Hätte Kirin die Wahl gehabt, hätte er diese Worte nicht gesprochen, vor allem nicht, als er das Lächeln sah, das sich als Antwort darauf auf Armész Ferumérs Gesicht ausbreitete.

»Nun, da wäre in der Tat noch eine Kleinigkeit, Exzellenz. Ein winziges Problem freilich, von dem ich gehofft hatte, dass Exzellenz mir bei der Beilegung helfen würden.«

»Ein Problem?« Kirins Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was für ein Problem?«

Der fette Mann winkte nachlässig mit der Hand, woraufhin zwei in orange Togen gekleidete Sklaven nach vorne geeilt kamen, der eine davon mehrere Schriftrollen tragend, der andere eine kleine Truhe. Auf Ferumérs Zeichen hin öffnete der zweite Sklave die Truhe und kippte ihren Inhalt auf den Boden; klirrend fielen einige verdrehte, geschmolzene Metallstücke heraus und verstreuten sich auf dem dunklen Marmor.

»Was ist das?«, wollte Kirin wissen; aus den Augenwinkeln sah er, wie Aderuz‹ Gesicht sich verfinsterte.

»Das, Eure Exzellenz, ist ein symbolisches Bild dessen, was mit dem Großteil meines Waffenbestandes passiert ist, nachdem Eure Exzellenz mit der ostländischen Armee hier in der Stadt eingefallen ist. Die senoischen Abgesandten, die Euer Vater wohlweislich in meiner Obhut unterbrachte, entpuppten sich wie bereits bekannt als Eure Verbündeten und zögerten nicht, mein Lager in Brand zu stecken, ehe ich oder eine meiner Wachen reagieren konnte. Das strategische Genie Eurer Exzellenz in allen Ehren, stehe ich nun da ohne Stahl, ohne Waffen, ohne meinen Broterwerb. Gewiss ist Eure Exzellenz weit klüger als ich und kann mir daher vielleicht die Frage beantworten, wie ein armer alter Mann wie ich unter diesen Umständen für seinen Lebensunterhalt sorgen soll?«

›Indem Ihr als erstes Eure idiotischen Ringe und Glitzersteinchen verkauft‹, sah Kirin sich versucht zu sagen, hielt aber im letzten Augenblick seine Zunge im Zaum. Armész Ferumér machte auf ihn alles andere als den Eindruck eines Mannes, der in Kürze am Hungertuch nagen musste, aber wenn er bereits in seiner ersten öffentlichen Audienz den Fehler machte, einflussreiche Persönlichkeiten zu beleidigen, indem er ihre Anliegen lächerlich machte, würde er sich damit keinen Gefallen tun.

Er räusperte sich. »Euer Verlust ist sehr bedauerlich, aber sicher werdet Ihr begreifen, dass er ein notwendiges Opfer war, um den Frieden zu gewinnen, an dem Euch Euren eigenen Worten zufolge so viel gelegen ist.«

Der Waffenhändler legte die Finger aneinander, wobei die Steine an seinen Fingern erneut aufblitzten, »Gewiss, Exzellenz. Aber seht, in Zeiten des Friedens blüht für gewöhnlich der Handel. Doch womit soll ich handeln, wenn doch Eure Freunde alles, was ich zu diesem Zwecke besaß, zerstört haben? Soll mir denn abgesehen von der Freude, mich an der Herrlichkeit Eurer Gegenwart zu weiden, nicht auch das Glück vergönnt sein, an dem vielversprechenden Los teilzuhaben, das Ihr in Eurer Größe und Güte für uns als Euer ergebenes und liebendes Volk vorgesehen hattet?«

Kirin tauschte mit Aderuz einen Blick. Der Heiler trat einen Schritt vor und musterte Ferumér intensiv. »Auf wie viel belaufen sich Eure Forderungen, Gildenmeister?«

Als ob er nichts anderes erwartet hätte, zitierte Armész Ferumér mit einem Fingerschnippen den anderen Sklaven herbei, aus dessen Armvoll Pergament er scheinbar wahllos eine Rolle herauspickte. »Ich habe mir erlaubt, hier eine Auflistung all meiner Verluste zu erstellen. Der Heiler Seiner Exzellenz mag diese prüfen und mit meinen Ankauf- und Verkaufslisten abgleichen, um ihren Wahrheitsgehalt nachzuweisen.«

Aderuz nahm dem Waffenhändler die Liste ab und warf einen kurzen Blick darauf. Kirin konnte sehen, wie sich seine Augen weiteten.

»Einhunderttausend Goldstücke? Seid Ihr des Wahnsinns, Ferumér?«

Der Waffenmeister lächelte still sein selbstzufriedenes Lächeln. »Wie Ihr wisst, Meister Aderuz, bin und war ich stets der begehrteste und gefragteste Lieferant meines Berufsstandes. Bis weit über die Landesgrenzen hinaus geht die Kunde über die Qualität meiner Waffen – selbst die Klingen der hohen Generäle sind durch meine Schmieden gegangen. Hervorragende Ware verlangt eben einen hohen Preis.«

»Und diesen Preis«, sagte Kirin, der Aderuz die Rolle aus der Hand genommen und sie selbst überflogen hatte, »soll ich bezahlen, ist es das, was Ihr sagen wollt, Waffenhändler?«

Armész Ferumér faltete die Hände vor seinem dicken Bauch; mit einem Mal war sein schmieriges Gehabe wie weggewischt. »Exzellenz, Ihr wart es, der den Angriff auf diese schöne Stadt geführt hat. Auf Euer Geheiß hin sind die seeräuberischen Barbaren in mein Haus und meine Werkstätten eingedrungen und haben meine Lebensgrundlage zerstört. Es ist nur recht und billig, wenn ich von Euch Genugtuung fordere. Habe ich Euch nicht selbst am Tag Eurer Krönung sagen hören, dass Ihr Wohlstand und Friede in Aracanon mehren wolltet? Und jetzt sehe ich Euch vor mir, nicht willens, eine kleine Wiedergutmachung zu leisten, die für den reichsten Thron der Welt doch kaum mehr als ein Brotkrümelchen sein kann? Ich muss gestehen, Exzellenz, Exzellenz überraschen mich.« Und damit verbeugte er sich tief.

Kirin starrte mit brodelndem Herzen auf den öligen Hinterkopf. Zwei Herzschläge lang herrschte Totenstille, dann sagte er: »Wir werden Euren Antrag überdenken, Gildenmeister, und Euch in Kürze unsere Antwort wissen lassen.«

Der dicke Mann richtete sich auf, ein schiefes Lächeln unter dem Vollbart. »Exzellenz scheinen noch immer unentschlossen. Das bedrückt mein altes Herz, aber ich bin sicher, mit der Zeit wird Exzellenz in sein Amt hineinwachsen und sich seinen Pflichten mit der gebührenden Entschlossenheit widmen.«

»Ihr habt den Entschluss des Großfürsten gehört, Herr Ferumér«, erklärte Aderuz höflich, aber bestimmt. »Erwartet einen Boten, der Euch eine endgültige Antwort überbringen wird.«

Erneut verbeugte sich Armész Ferumér. Ohne aufzublicken, nahm er rückwärtsgehend seinen Platz in der Menge wieder ein, wobei er laut zum Boden hin sprach: »Ich schließe mich mit aller Inbrunst den Gebeten Seiner Exzellenz an, dass eine Zeit des Friedens vor uns liege. Sollte ein Krieg eintreten, so wage ich meine Zweifel auszudrücken, ob eine fremde Besatzungsmacht vor unseren Toren sich derart leicht vertrösten ließe.«

Hie und da brandete leises Gelächter auf, und Armész Ferumér verschwand mit wehendem Umhang in der Menge.

Kirins Wangen loderten heiß, doch er mühte sich, keine Miene zu verziehen. »Wer ist der nächste Audienzbesucher?«, fragte er.

Aderuz rollte die Liste mit Forderungen zusammen und reichte sie einem Palastsklaven, ohne ihr noch einen weiteren Blick zu gönnen. »Exzellenz, der hohe Herr Zanid aus dem Hause Monzù bittet, vorsprechen zu dürfen.«

Die Versammelten machten Platz, um einen einzelnen Mann durchzulassen, dessen Erscheinung sich von der Armész Ferumérs nicht krasser hätte unterscheiden können; er trug leichte, fließende Gewänder, wie sie im niedrigen Adel Aracanons verbreitet waren und die bis auf ihren tiefen Purpurton kein Anzeichen von Reichtum verrieten. Mit leicht hinkenden Bewegungen näherte er sich dem Thron und kniete nieder; er war groß und hager, dazu kahlköpfig und schon relativ alt, wahrscheinlich über sechzig, doch seine dunklen Augen blickten wach und scharf, als Kirin ihm zunickte, damit er sich erhob.

»Exzellenz.« Zanid Monzù ruckte mit dem Kopf. »Es ist mir eine Ehre, mein Haus und meine Familie vor Euch repräsentieren zu dürfen.«

»Die Ehre ist auf meiner Seite, Herr Monzù.« Kirin warf Aderuz einen flüchtigen Blick zu, den dieser mit einem unmerklichen Nicken erwiderte. »Ihr wart im Exil, ist es nicht so?«

Die Mundwinkel des älteren Mannes zogen sich nach unten. »In der Tat, Exzellenz. Als Euer Vorgänger an der Macht war, sprachen mein Bruder und mein Neffe auf einer Versammlung vor den anderen Adeligen gegen ihn. Man fand sie an ihren Eingeweiden am Dach ihres Hauses aufgehängt. Ich wollte Vergeltung für diese Tat, doch die Unterstützung, die Euer Vater genoss, war zu groß, um gegen ihn vorzugehen. Ich hätte ihn zu einem Duell herausgefordert, wenn nicht …« Mit einer verbitterten Bewegung tippte er sich gegen sein rechtes Bein, das, auf dem er hinkte. »Wäre ich gefallen, hätte ich meiner Familie keine Ehre erwiesen. Ich floh wie ein Dieb in der Nacht, um den Fängen des Großfürsten zu entgehen. Als ich von seinem Sturz hörte, kehrte ich in die Hauptstadt zurück, in der Hoffnung, die Gebeine dessen, was von meiner Familie übriggeblieben ist, in Ehren bestatten zu dürfen, was mir bisher verwehrt geblieben ist.«

»Wo sind Euer Bruder und Euer Neffe?«, fragte Kirin, ohne die Augen von dem stolzen, von Gram gezeichneten Gesicht zu nehmen.

»Soviel ich weiß, hat man sie in Schande in einem Acker neben dem Stadtgefängnis verscharrt. Sie waren gute Männer und haben so ein Ende nicht verdient.«

»Das bezweifle ich nicht. Geht und sucht nach Euren Angehörigen. Ich werde Euch Männer mitgeben, die nach ihnen graben. Ich hoffe sehr, dass Ihr fündig werdet.«

Der alte Mann sah Kirin einen Augenblick lang unbewegt an, dann ließ er sich erneut auf ein Knie nieder. »Ich danke Euch, Exzellenz. Mögen ein gutes Herz und ein edler Sinn Euch weiterhin in Eurem Amt begleiten – es sind treuere Verbündete als schwache und verräterische Menschen.«

Kirin lächelte matt. »Ich bitte darum, dass Euer Wunsch in Erfüllung geht, Herr Monzù. Seid herzlich willkommen zu Hause.«

Der alte Mann erhob sich. »Sollte Eure Exzellenz jemals meine Dienste benötigen, so könnt Ihr sicher sein, dass Ihr keinen verlässlicheren Diener finden werdet.« Damit verbeugte er sich noch einmal knapp und kehrte in die Menge zurück.

Kirin rutschte auf dem Thron hin und her, um es sich bequemer zu machen. Als er Aderuz ein Zeichen gab, fortzufahren, fühlte er sich ein wenig entspannter.

»Der nächste Audienzbesucher ist der hohe Herr Nàszuk aus dem Hause Tumàsz.«

Ein dürrer Mann mittleren Alters bahnte sich seinen Weg durch die Menschen, und noch ehe er Kirin erreicht hatte, gewann dieser den Eindruck, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war; wer ihm nicht schnell genug Platz machte, wurde schlichtweg mit dem Ellbogen beiseite geräumt, und seine weit ausholenden, unbeirrten Schritte machten deutlich, dass es nichts gab, was er zwischen sich und sein Ziel kommen lassen würde.

Aderuz beugte sich zu Kirin hinunter. »Tumàsz‹ Familie war sehr mächtig unter Eurem Vater«, wisperte er unhörbar. »Galihls Sturz hat einen Machtkampf unter den Adeligen ausgelöst, aus dem Tumàsz bisher als Sieger hervorging. Seid wachsam, Eure Exzellenz.«

Mittlerweile hatte sich Nàszuk Tumàsz vor dem Thron aufgebaut; er absolvierte vor Kirin die denkbar knappste Verbeugung, dann richtete er sich auf und sah ihm ungeniert mitten ins Gesicht. Seine Augen, so fiel Kirin auf, waren von einem helleren Braun als die der meisten Arachinen und wirkten dadurch unangenehm stechend. Sein spärliches Haar war nach hinten gekämmt, um eine sich ausdehnende Glatze zu verdecken, und sein vorspringendes Kinn von einem ungepflegten Dreitagebart überwuchert. »Ich stehe vor Euch, Exzellenz, als Vertreter meiner Familie, dem Hause Tumàsz, das über Großfürst Milàk, Eurem Urgroßvater, mit der Fürstenfamilie selbst verwandt ist. Ebenso vernehmt Ihr durch mich die Stimme der übrigen Adelshäuser Aracanons, die vielfach durch Schrecken, Trauer oder Wut vom Hof ferngehalten werden.«

»Schrecken, Trauer und Wut«, wiederholte Kirin langsam; die offenkundige Abneigung in Tumàsz‹ Gesicht ließ die Flammen in seinem Magen wieder auflodern. Von diesem Mann ging eine Gefahr aus, die er nicht unterschätzen durfte. Seine Finger umfassten die Stuhllehnen fester und er zwang sich, dem bohrenden Blick des Adeligen standzuhalten. »Wieso das?«

»Die Nachricht, dass die Hauptstadt in Flammen steht, hat vielen das Blut in den Adern gefrieren lassen«, erwiderte Tumàsz kalt, »und das nicht zu Unrecht. Als ich vor einigen Wochen zurückkehrte, fand ich meine Heimat, den Stolz unseres Landes, in Trümmern vor!«

»Das ist so üblich nach einer Eroberung«, erklärte Kirin und bemühte sich, unbewegt zu klingen. »Die Reparaturen sind in vollem Gange.«

»Dennoch wird es Jahre dauern, bis Nardéz wieder das wird, was es vor Eurem Einfall war«, schmetterte Tumàsz seine Rechtfertigung ab. »Gar nicht zu reden von den hunderten von Toten, die Eure ostländischen Freunde verschuldet haben. Viele der Windreiter der Hauptstadt waren Söhne hochangesehener Familien und werden nie wieder zu ihnen zurückkehren. Gar nicht zu reden von dem Massaker, das Eure Soldaten unter den unschuldigen Bürgern dieser Stadt angerichtet haben!«

Kirin biss sich auf die Zunge; obwohl er diesen Mann von Herzschlag zu Herzschlag weniger leiden konnte, musste er zugeben, dass er Recht hatte. Er hatte die Klagen gehört, davon, dass hunderte wehrloser Bürger von ostländischen Soldaten im Kampfrausch niedergemacht worden waren, von vergewaltigten Frauen und abgeschlachteten Kindern … In den Ländern der Mitte und des Ostens mochte man die Windreiter für grausam halten, doch zumindest beschränkte sich ihre Gewalt auf das Schlachtfeld und die Soldaten dort. Eine Stadt mochte geplündert werden, aber auch das erst, nachdem der oberste Befehlshaber sie freigegeben hatte, und unter den unbeteiligten Bürgern gab es für gewöhnlich keine Opfer. Auch eine Taktik der Windreitergeneräle, hatte Rhùk ihn belehrt, denn wenn man sich neben der Wut der feindlichen Generäle auch noch die der gewöhnlichen Menschen zuzog, hatte man beim Einfall in ein fremdes Gebiet einen wesentlich schwereren Stand. Zwar hatte Kirin Gerüchte gehört von Vergeltungsschlägen in Uvonagh, dem Land, das Galihl als erstes den Rücken gekehrt hatte und zu den vereinigten Heeren übergelaufen war. Die Windreiter hatten Dörfer niedergebrannt und die Bevölkerung dort grausam niedergemetzelt, doch das waren gezielte Strafaktionen gewesen und machten trotz ihrer Schrecken nicht die Regel aus. Was in Nardéz geschehen war jedoch … Kirin musste sich unwillkürlich davon abhalten, die Augen zu schließen.

»Ich entschuldige nicht, was die ostländischen Heere an Furchtbarem angerichtet haben, als sie in die Hauptstadt einfielen«, sagte er mit lauter und klarer Stimme. »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um das Elend der Bevölkerung von Nardéz zu lindern. Außerdem erwarte ich Abgesandte der Heere zu einer Audienz und beabsichtige, mit ihnen über eine Wiedergutmachung zu verhandeln.«

»Keine Wiedergutmachung der Welt wird unseren Söhnen das Leben und den Töchtern ihre Ehre wiedergeben können«, blaffte Tumàsz ihn an. »Von der Schande, die unserem Land zugefügt wurde, ganz zu schweigen.«

Kirin sog tief Luft ein. »Galihl war dem Wahn verfallen, den ganzen Kontinent an sich reißen zu wollen; er war ein blutdürstiger Tyrann, der alles Leben unter seine Herrschaft zwingen und jeden Menschen auf diesem Kontinent unterdrücken wollte. Was für eine Schande kann darin liegen, Wahnsinn und Blutvergießen zu beenden?«

Tumàsz machte einen Schritt auf Kirin zu, und die Verachtung, die auf seinem Gesicht lag, war jetzt nicht mehr zu übersehen. »Das Schlachtenglück lag auf unserer Seite! Unsere Armee hat einen ganzen Kontinent in die Knie gezwungen! Und dann werden durch einen hinterhältigen Trick unsere Hauptstadt eingenommen und unsere siegreichen Truppen zurückgepfiffen wie ungehorsame Köter! Wie wollt Ihr es denn nennen, dass die siegreiche Kriegsmacht gezwungen wurde, wider besseren Wissens den Schwanz einzuziehen und nach Hause zu rennen, nur weil ein Zögling der Ostlinge auf dem Thron sitzt?«

»Hütet Eure Zunge, Herr Tumàsz!«, fuhr Aderuz dazwischen; die Ärmel seiner Robe flatterten, als er sich an Kirins Seite stellte. »Bedenkt, es ist Euer Großfürst und Herr, an den Ihr das Wort richtet!«

Kirin sah Tumàsz‹ Nasenflügel beben; einen Moment lang ballte er die Fäuste, dann öffnete er sie langsam wieder. »Mit Verlaub, Exzellenz, das ist die Lage, wie sie sich präsentiert. Ihr seid ein Fremder, der sich die Herrschaft genommen hat, obwohl sie ihm nicht zustand, und obwohl viele weitere würdige Mitbewerber dabei übergangen wurden.«

»Mitbewerber?« Kirin umklammerte die Lehnen fester und beugte sich nach vorn. »Was soll das heißen, Mitbewerber?«

»Falls es Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, edler Herr, vor Euch sitzt Kirin Phalaér, der einzige leibliche Sohn, den Galihl hinterlassen hat, und sein direkter Nachkomme. Ich meine mich zu erinnern, dass auch Ihr bei der Krönungszeremonie anwesend wart; Ihr habt ihn das Schwarze Schwert führen sehen, womit sämtliche Zweifel ausgeräumt sein sollten, selbst für Euch.«

Kirin konnte Aderuz nicht ansehen, während der diese Worte sprach, und hoffte, dass man ihm nichts anmerkte. Er bemühte sich, jegliche Unsicherheit zu verbergen, indem er Tumàsz aus starren Augen fixierte.

Der Adelige reckte unerschrocken das Kinn. »Gewiss, Heiler, aber er ist ein Bankert, ein unehelicher Sohn, der außer im Fall einer ausdrücklichen Ernennung kein Anrecht auf den Thron seines Vaters hat. Jeder andere männliche Nachkomme hätte ebenso das Recht …«

»Dummerweise gibt es keine anderen Nachkommen«, schnitt Aderuz ihm das Wort ab. »Großfürst Galihl selbst hat zu seinen Lebzeiten dafür gesorgt, dass seine sämtlichen lebenden Verwandten ausgerottet wurden, abgesehen von der Herrin Asusza«, bei diesen Worten neigte er respektvoll den Kopf in Richtung der Frau, die still und reglos wie ein Berg hinter Kirins Thron Wache stand, »und Prinzessin Aszka, die noch immer im selbst gewählten Exil weilt. Beide Blutbindungen an den ehemaligen Großfürsten sind aber weniger eng als die Seiner Exzellenz, und da Prinzessin Aszka noch nicht geruht hat, zurückzukehren und General Asusza offen ihre Unterstützung zu ihrem Neffen bekundet, sehe ich keinen Grund …«

»Aber ich sehe einen Grund, Meister Aderuz. Ich und einige andere sehr hochrangige Vertreter des arachinischen Adels, in deren Namen ich heute ebenso hier stehe wie in meinem eigenen.« Tumàsz stemmte die Hände in die Hüfte. »Im Lauf der Geschichte ist es oft vorgekommen, dass ein Kriegsherr sich eines Titels bemächtigt hat, der ihm nicht zustand. Sagt selbst, wollt Ihr Euch wirklich diesen Ruf aneignen? Den eines Usurpators? Wollt Ihr nicht einmal zulassen, dass andere, vielleicht besser geeignete Kandidaten ihre Ansprüche wenigstens vortragen?«

»Die Herrschaft über Aracanon bindet sich an den Besitz des Schwarzen Schwertes«, hörte Kirin sich selbst sagen; seine Stimme zitterte, und das nicht nur vor Wut. »Wollt Ihr Euch Nàrdarell ausleihen und sehen, ob Ihr in der Lage seid, es zu führen, Herr Tumàsz?«

Für einen winzigen Augenblick stockte der Adelige, und Kirin wusste, wieso: Das Schwarze Schwert Nàrdarell, seit unzähligen Generationen in Besitz der Fürstenfamilie Phalaér, konnte nur von den wahren Erben dieses Blutes geführt werden; jeder, der nicht aus der direkten Linie der Großfürsten stammte, fand einen grauenvollen Tod, wenn er versuchte, das Schwert zu berühren. Die Magie des Schwertes, die älter war als der zweite Zyklus, verbrannte jeden, der so kühn war, es zu versuchen, zu Asche, und wer von der Klinge verletzt wurde, fand ein ebenso sicheres und grausames Ende.

Die Verunsicherung des Adeligen währte jedoch nur kurz; kaum einen Lidschlag später fasste er sich wieder und erwiderte ungerührt Kirins Blick. »Exzellenz, wart Ihr es nicht, der die Bindung an dieses verfluchte Schwert als unheilvoll bezeichnete? Habt nicht Ihr es aus den Augen jeder Menschenseele verbannen lassen, damit die Untaten, die damit begangen wurden, vergessen gehen? Wie könnt Ihr jetzt, da es Euch nützt, so plötzlich Eure Meinung gegenüber dieser Waffe ändern?«

Kirin krampfte unbewusst die Finger seiner linken Hand zusammen, der Hand, mit der er selbst bei seiner Krönungszeremonie Nàrdarell aus der Scheide gezogen hatte. Sie schmerzte allein bei der Erwähnung des Schwertes, und damit in einem Raum zu sein, war schon vor Monden für ihn unerträglich geworden.

»Mir wurde wiederholt vorgeworfen, dass ich mich zu wenig um die Traditionen dieses Landes kümmere«, entgegnete Kirin scharf. »Ich bin daher stets bemüht, das zu ändern.«

»Seht Ihr, Exzellenz, das ist das Problem: Ihr bemüht Euch. Ihr versteht nicht. Ihr seid kein Teil dieses Landes, wie Eure Zeugung auch immer zustande gekommen sein mag. Das größte Land des Kontinents einem Jungen zu überlassen, der kein Verständnis für dessen Kultur und Vergangenheit – seine Seele, mit anderen Worten – hat, das, so viel müsst Ihr einsehen, ist himmelschreiender Unsinn.«

Kirin bemerkte erst, dass er aufgestanden war, als Larniax ihm eine Hand auf die Schulter legte, wie um ihn zurückzuhalten. »Gebt auf Euren Ton Acht, Tumàsz! Ich mag nicht der wahnsinnige Mörder sein, der Galihl war, aber ich werde Eure Unverschämtheiten nicht tolerieren!«

Tumàsz musterte ihn für einen Augenblick sichtlich amüsiert. »Ich glaube nicht, dass Ihr mich angreifen werdet, Exzellenz. Abgesehen davon, dass Ihr in Euren Reden stets den Frieden und die Abkehr von der Gewalt gepredigt habt, dürftet Ihr Euch große Schwierigkeiten einhandeln, wenn Ihr es versuchtet. Wie ich schon sagte, bin ich mit dem Segen und der Ermächtigung der meisten großen Adelshäuser Aracanons hierhergekommen. Wir alle sind der Ansicht, dass Ihr uns, die wir das Fürstenhaus stets mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützten, mit Eurer Thronbesteigung übergangen habt. Die Ostländer haben Euch eingesetzt, als Fremdkörper könnte man sagen, und das, ohne sich zu überlegen, was für dieses Land das Beste ist. Alles, was die Ausländer wollten, war, den Dorn aus ihrem Fleisch zu ziehen, zu dem der frühere Großfürst für sie geworden war, und ihn durch einen möglichst bequemen Kandidaten zu ersetzen. Die Angst, dass Aracanon zu einer Provinz des Hohen Rates wird, ist verbreitet unter meinen Gefährten, und gewiss nicht unbegründet.«

»Ich versichere Euch, sie ist unbegründet«, sagte Kirin schneidend. »Ich mag ein Fremder in diesem Land sein, aber ich habe dennoch nicht die Absicht, seine Einwohner und seine Kultur den ostländischen Politikern zum Fraß vorzuwerfen. Ich habe genügend von ihnen kennengelernt, um zu wissen, dass ich mich niemals an einen von ihnen binden werde. Und dasselbe gilt für jede andere Art von politischen Machtmenschen.« Er bedachte Tumàsz mit einem Blick von ausgesuchter Verachtung.

Der Adelige wirkte alles andere als eingeschüchtert; er griff in seinen Ärmel und beförderte ein Dokument zutage. »Wie dem auch sei: Das hier ist ein Schreiben, aufgesetzt und unterzeichnet von vierzehn Vertretern der größten Häuser dieses Landes. Darin werdet Ihr aufgefordert, Euch gemeinsam mit selbigen in einem Rat einzufinden, wie er auch im vergangenen Großkönigreich üblich war. Dieses Gremium, das wir in Ermangelung eines besseren Wortes Fürstenrat nennen wollen, hat die Aufgabe, Euch während Eurer gesamten Regierungszeit zu beraten und Euch bei allen wichtigen Entscheidungen zur Seite zu stehen. Außerdem hat es das Recht, Beschlüsse Eurer Exzellenz, die nach Ansicht des Rates dem Wohle des Landes zuwiderlaufen, für ungültig zu erklären. Das ist ein Erfordernis«, fügte er etwas lauter hinzu, denn bei diesen Worten war lautes Gemurmel überall im Raum aufgebrandet, »ein Erfordernis, das uns allein in Anbetracht der Jugend Eurer Exzellenz, ganz zu schweigen aber von Eurer Unerfahrenheit und Unkenntnis unserer Gebräuche und der politischen und rechtlichen Lage absolut notwendig und nicht verhandelbar scheint.«

Aderuz räusperte sich vernehmlich; er sah aus, als wäre ihm für einen Augenblick die Sprache weggeblieben. »Was Ihr da vorschlagt oder vielmehr Euch zu fordern erdreistet, ist in höchstem Masse unüblich, Herr Tumàsz! Für solche Tätigkeiten hat Seine Exzellenz schließlich Berater!«

»Mit anderen Worten: Euch. Euch und diesen anderen ausländischen Jüngling, der ohne nennenswerte Abstammung auskommen muss«, fügte Tumàsz verächtlich hinzu, wobei er Larniax mit den Augen kaum streifte. »Was ganz und gar nicht ausreicht, mich und den Rest des Hochadels zu beruhigen! Ich ermahne Euch, besinnt Euch rasch, oder Ihr werdet die Konsequenzen zu tragen haben.«

»Wollt Ihr mir etwa drohen, Adeliger Tumàsz?« Kirin spürte das Blut in seinen Ohren pulsieren und zwang sich nur mit äußerster Mühe, seine Hände ruhig zu halten.

Tumàsz deutete ein weiteres winziges Kopfrucken an. »Keine Drohung, Exzellenz. Aber seht, auch für viele Eurer Soldaten ist unverständlich, warum sie sich nach so großen militärischen Erfolgen aus den eroberten Gebieten zurückziehen mussten, nachdem man ihnen doch Reichtümer und Ehren versprochen hatte. Noch gelingt es den für die jeweiligen Bezirke zuständigen Adeligen, sie mit Goldprämien und Ablenkung in Form von übermäßigen Nahrungslieferungen an die Kasernen ruhig zu halten. Aber wenn Eure Exzellenz uns kein Entgegenkommen zeigt … nun, dann werden die einen oder anderen von uns vielleicht eher geneigt sein, dem Zorn der Windreiter Verständnis entgegen zu bringen. Eure Exzellenz möge darüber entscheiden.«

Kirin brauchte einige Herzschläge, um sich wieder zu fassen. Wie gerne hätte er diesem aufgeblasenen Widerling einfach die Faust ins Gesicht geschlagen und dabei zugesehen, wie seine Zähne der Reihe nach ausfielen! Doch solche Ausfälle hatte er sich erlauben können, als er noch ein Schützling der ostländischen Heerführer gewesen und unter den Soldaten als Hoffnungsträger hochgejubelt worden war. Jetzt, als Großfürst, musste er jede Handlung doppelt und dreifach überdenken. Wie er es hasste.

Aderuz trat an seine Seite und legte nun an Larniax‹ Stelle die Hand auf seine Schulter. Kirin mochte kurz versucht gewesen sein, sie wegzuschlagen, doch ein Blick in Aderuz‹ Gesicht zeigte ihm, dass der Heiler genauso wütend war wie er selbst.

»Dann geht zurück zu Euren Freunden und beruft Euer Gremium ein! Hier in der Hauptstadt! Damit Seine Exzellenz die Gesichter derer sehen kann, die es wagen, seinen Anspruch mit Füßen zu treten.«

Tumàsz verbeugte sich, was hieß, dass er spöttisch mit drei Fingern seine Stirn berührte, dann drehte er Kirin demonstrativ den Rücken zu und ging davon.

Aderuz trat vor Kirin hin und versperrte ihm so die Sicht auf dessen Hinterkopf. »Atmet jetzt tief durch, Exzellenz«, flüsterte er so, dass es in dem immer lauter werdenden Gemurmel der Menge niemand hören konnte. »Bewahrt Haltung, so schwer es auch fällt.«

»Ich muss hier raus, Aderuz!«, stieß Kirin hervor, »ich muss raus, oder ich erschlage jemanden!«

Der Heiler nickte. Er wandte sein Gesicht den Versammelten zu und rief laut und deutlich über den Lärm hinweg: »Die Audienz ist unterbrochen! Seine Exzellenz wird sich morgen zur Mittagsstunde erneut hier einfinden und die weiteren Besucher und Gesandten empfangen! Möge der Segen der Drei über euch sein!«

Das Murmeln schwoll wenn möglich noch lauter an, doch der Heiler ignorierte es; an Kirins und Larniax‹ Seite stieg er das Podium hinunter und steuerte die Tür zum Fürstinnenflügel an.

Hinter sich hörte Kirin Asusza rufen: »Die Audienz ist beendet! Räumt den Saal! Räumt den Saal, Seine Exzellenz zieht sich zurück!«

Mit klingelnden Ohren stapfte Kirin Larniax und Aderuz voraus die Gänge entlang und stieß schließlich die Tür zu einem Gesellschaftszimmer auf, in dem sich einige kleine Tische und Sofas befanden. Er wartete, bis Larniax die Tür wieder sicher hinter sich geschlossen hatte, dann fuhr er auf: »Wie kann er es wagen! Was denkt der, wer er ist?«

Aderuz verbarg seine Hände unter den Ärmeln der Heilerrobe. »Ein Angehöriger des mächtigsten Adelshauses außerhalb der Fürstenfamilie und, wie es scheint, Sprecher für sämtliche anderen Familien, die von Belang sind. Sein Einfluss unter den Adeligen scheint in den wenigen Monden seit dem Sturz Eures Vaters noch gewachsen zu sein. Das ist schlecht.«

»Sie wollen mich zur Seite drängen! Das ist alles, was hinter seinen Reden von Sorge um sein Land steht! Er und seine hochwohlgeborenen Freunde wollen mich als Marionette vor sich herschieben, wie die ostländischen Heerführer es taten!«

Aderuz neigte abwägend den Kopf von einer Seite auf die andere. »Ich glaube nicht, Exzellenz. Meine Befürchtung ist, dass sie es darauf anlegen, Euch ganz vom Thron zu stoßen. Mit ihrem Gremium wollen sie Euch ihre Einigkeit beweisen, und sobald sie eine Schwäche erkennen, werden sie nicht zögern, Euch durch einen aus ihren Reihen zu ersetzen – Tumàsz, das ist offensichtlich, macht sich die größten Hoffnungen, diese Rolle selbst einzunehmen. Ihr habt die Nachdrücklichkeit gehört, mit der er seine Verwandtschaft zum Fürstenhaus betonte – er begehrt Eure Stellung, und er wird nichts unversucht lassen, sie sich zu nehmen!«

»Aber das ist Verrat!«, rief Kirin. »Hochverrat! Sie verschwören sich gegen mich, gegen ihren Großfürsten!«

»Exzellenz, ich fürchte, dass das den Adeligen sehr wohl bewusst ist«, merkte Aderuz an. »Aber ebenso fürchte ich, dass sie sich davon nicht einschüchtern lassen. Eure Stellung ist noch ungefestigt, die Unruhen in der Windreiterarmee, die Tumàsz angedeutet hat, sind leider bittere Wahrheit.«

Larniax, der bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf: »In der Tat. Ich habe Meldung erhalten, dass die Truppen, die sich in die Provinz von Sri Iliant aufgemacht haben, daran gehen, unter sich einen neuen Anführer zu wählen. Auch die Abteilungen in Uvonagh und Agoraekh sind unwillig, nach Hause zurückzukehren – zu verlockend ist die Nähe der Macht.«

Kirin vergrub die Stirn in den Händen; die Kopfschmerzen, die ihn vor einigen Monden über längere Zeit hinweg verfolgt hatten, drohten zurückzukehren.

»Wenn Ihr die Armee nicht hinter Euch habt, Exzellenz, fehlen Euch die Stärke und der Rückhalt, um gegen Tumàsz und die Seinen vorzugehen. Von dem Kontingent, das hier in der Hauptstadt stationiert ist, werden sie sich nicht einschüchtern lassen – wie Tumàsz uns freundlicherweise mitgeteilt hat, sind er und seine Freunde eifrig dabei, die Windreiter zu bestechen, um sich ihre Treue zu erkaufen.«

»Ich dachte, die Ehre der Windreiter sei unverletzlich!«, hielt Kirin wütend dagegen und ließ die Hände sinken. »Ich hörte, ihre Loyalität wäre grenzenlos und mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen!«

Aderuz lächelte traurig. »Das ist in der Tat so, Exzellenz, wenn sie auf ihren Großfürsten eingeschworen sind. Für Galihl, da bin ich sicher, wäre jeder seiner Soldaten in den Tod gegangen. Aber jetzt …«

» … jetzt sitzt ein von den Ostländern eingeschleuster kleiner Bastard auf dem Thron, der die Hauptstadt geschleift und den geliebten Herrscher getötet hat. Ich weiß schon.«

Aderuz kam näher und berührte Kirin vorsichtig am Arm. »Das ist es, was viele Windreiter gerüchteweise hörten. Und was die Adeligen eifrig weiter verbreiten werden.« Er nahm die Hand weg und räusperte sich. »Macht nicht den Fehler zu glauben, Tumàsz oder einer seiner Gefährten sei traurig über Galihls Tod. Oh, seine Eroberungen verschafften den Adeligen Macht, gewiss, aber auch sie zitterten vor dem Zorn des Großfürsten. Er hat sie alle ebenso verachtet, wie Ihr es noch lernen werdet, und hätte keinen Moment gezögert, sich ihrer zu entledigen, wenn er einen günstigen Zeitpunkt dafür gesehen hätte.«

»Ich hätte nie geglaubt, dass ich das je sagen würde«, sagte Kirin, die Augen finster ins Leere gerichtet, »aber in diesem Punkt kann ich ihn verstehen.«

Larniax grinste, und Aderuz setzte sich auf ein Sofa und entrollte das Dokument, das Tumàsz ihm gegeben hatte. »Ja«, murmelte er leise und fuhr mit dem Finger an der Liste mit Unterschriften entlang, »Idalér, Norkész, Pelarusz … die einflussreichsten Häuser Aracanons. Exzellenz, ich fürchte, Ihr müsst Euch auf einen nahenden Sturm vorbereiten.«

Fest schlossen sich Kirins Finger um den Griff des Dolches, der an seiner Hüfte baumelte. »Das fürchte ich auch.«

Als Kirin einige Stunden später alleine auf der Terrasse vor seinen Gemächern stand, fühlte er sich unsäglich alt. Er war noch nicht einmal achtzehn, aber während er der Sonne dabei zusah, wie sie weit hinter der Stadt am Horizont verschwand, kam er sich so müde vor, als trüge er die Last von hunderten von Jahren auf den Schultern. Frustriert lehnte er an einer mit Kletterpflanzen überwachsenen Säule und beobachtete einen Kolibri, der scheinbar schwerelos von Blüte zu Blüte flog und den Nektar trank. Er schwebte nur eine Armlänge über Kirins Kopf und erweckte den Eindruck, wenn man bloß die Finger nach ihm ausstreckte, könnte man ihn fangen, doch Kirin hatte seit seiner Ankunft in Nardéz viele der Tiere gesehen und wusste, wie sehr er sich auch anstrengte, er würde nie schnell genug dafür sein. Beinahe neidisch sah er dem Vogel bei seiner Arbeit zu, verfolgte, wie mühelos er immer höher stieg, dabei seitwärts und rückwärts flog und plötzlich schneller als ein Blinzeln verschwand. Langsam ließ sich Kirin auf die Treppenstufe sinken. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf; das Gespräch mit Tumàsz, die Drohungen, Larniax‹ Erzählung von Aufständen und Aufrührertum in der Armee, Aderuz‹ Ankündigung des nahenden Sturms … und immer wieder drängte sich ungebetenerweise die Erinnerung an die Krähe dazwischen; auch wenn der Rest des Traums mittlerweile völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden war, den Vogel schien er nicht abschütteln zu können. Unwillkürlich schauderte er in einer aufkommenden Brise und schlang die Arme um seine Knie.

Er fühlte sich einsam und wünschte, seine Freunde wären hier, die einzigen beiden Freunde, die er hatte: Der spöttische Windreiter Rhùk und die Heilerin Megan Dwayne, die mit ihm gezogen war. Es war noch nicht lange her, wenige Monde erst, seit sie fortgegangen waren, und doch kam es Kirin so vor, als sei es die längste Zeit seines Lebens. Megan war es gewesen, die Kirin in der Großen Bibliothek die Sprache der Arachinen gelehrt und ihm feine Manieren beigebracht hatte, nachdem er zuvor sechzehn Jahre das Leben eines einfachen Bauern hatte führen müssen. Sie hatte ihn auf seiner Reise zum Treffpunkt der vereinigten Heere begleitet, und während dieser Reise hatte er auch die Wahrheit über sie erfahren. Darüber, was sie wirklich war.

Ein Halbblut.

Seit seiner Kindheit hatte er immer wieder Geschichten gehört über die Westlichen, Kreaturen, die in den Wäldern im Norden Aracanons hausten, unnennbare Horrorgestalten, deren Aussehen keiner kannte, die jedoch jedes Kind bereits in der Wiege zu fürchten lernte. Natürlich glaubte heutzutage keiner mehr so recht daran, dass es sie wirklich gab, aber der Gedanke an sie war eine gute Gelegenheit, sich zu gruseln.

Und dann hatte er Megan kennengelernt und erfahren, dass Märchen wesentlich mehr sein konnten als nur Märchen. Megan war ein Halbblut, ein Wesen, das der grauenhaften Verbindung zwischen Mensch und Ungetüm entsprang, ein Abkömmling der Westlichen und mit deren Fähigkeiten ausgestattet. Ihr Vater, Lord Andru von Westfurt, war in seiner Jugend in die Wälder gezogen und dort von diesen Kreaturen gefangen worden, auch wenn er Zeit seines Lebens nie über dieses Erlebnis gesprochen hatte. Megan war aus dieser Begegnung hervorgegangen und einsam und verbannt in der Bibliothek von Egasté aufgewachsen, wo Kirin ihr erstmals begegnet war. Sie hatte ihm nicht gesagt, was sie war, bis sie auf ihrer Reise von agoraekhischen Soldaten überfallen worden waren und er das verderbliche Ausmaß ihrer Kräfte mit eigenen Augen gesehen hatte. Er schauderte erneut, als er an den furchtbaren Schrei dachte, den Megan damals ausgestoßen und der allein den Tod von dreißig Angreifern verursacht hatte, und daran, wie ihre Augen geglüht hatten, als das Wüten zu Ende gewesen war.

Er hatte damals den Fehler begangen, sich von ihr abzuwenden, doch glücklicherweise waren sie sich wieder begegnet und hatten gemeinsam bis zum Ende gegen Galihl und die Windreiter gekämpft. Tatsächlich war es Megan gewesen, die Kirin dazu gebracht hatte, den entscheidenden Schlag gegen Galihl zu führen und Nardéz anzugreifen; sie war gemeinsam mit einer Handvoll Heerführer von den Windreitern verschleppt worden, und Kirin hatte allen gegenteiligen Ratschlägen zum Trotz darauf gedrängt, sie zu befreien. Es war gelungen, auch wenn Lord Andru und viele andere dabei ihr Leben gelassen hatten. Und jetzt war er hier, und sie war fort. Gemeinsam mit Rhùk davongezogen, wussten die Drei allein, wohin.

Sie wollte ihm keine zusätzlichen Scherereien verursachen, indem sie bliebe, hatte sie gemeint. Nein, beim Schatten, davon hatte er wahrlich mehr als genug!

Doch da war noch etwas … Megan war der einzige Mensch abgesehen von ihm, der sein letztes und finsterstes Geheimnis kannte, die Wahrheit hinter der mangelnden Entschlossenheit in seinen Erwiderungen, wenn ihm seine Feinde Frevel und Thronraub vorwarfen … Megan wusste, warum seine Hand immer schmerzte, wenn Nàrdarell in der Nähe war, und hätte man Galihls Leiche damals nicht verbrannt, hätte sie auch erklären können, wie die furchtbare Verletzung an der linken Hand des arachinischen Großfürsten entstanden war.

Als hätte ihm der Gedanke einen Schlag versetzt, stand er auf und marschierte kurzentschlossen davon, über die Terrasse und eine schmale Steintreppe hinunter, die in die weit verzweigten Gartenanlagen des Palastes führte. Unterwegs begegnete er stumm ausharrenden Wachsoldaten, doch kein einziger von ihnen drehte den Kopf, als er an ihnen vorbeiging. Was der Großfürst machte, hatte sie nicht zu interessieren, nur seine Sicherheit. Wieder dachte er an Rhùk, und ein Gefühl von Dankbarkeit durchflutete ihn.

Als er sein Ziel am äußersten Rand der Palastgärten erreichte, war es schon fast dunkel geworden; Fackeln erleuchteten den kleinen hölzernen Bau vor ihm, der den Eindruck machte, als sei er in äußerster Hast zusammengezimmert worden. Dahinter erstreckten sich ein eingezäunter rechteckiger Platz mit sandigem Untergrund und eine freie Wiesenfläche, die extra für diesen Zweck von Zierbüschen und anderen Pflanzen gesäubert worden war. Als Kirin die Baracke betrat, sprangen die beiden jungen Windreiter auf, die gemeinsam an einem Tisch gesessen und gegessen hatten.

»Bleibt sitzen«, meinte Kirin leichthin, die Augen auf einen Punkt hinter den beiden gerichtet. »Ich wollte nur kurz nachsehen, wie es ihm geht.«

Der Windreiter, der näher bei der Tür gesessen hatte, lächelte. »Oh, er macht sich hervorragend, Exzellenz. Wir haben seine Futterration erhöht, er baut täglich Muskeln auf. Bald ist er so schnell wie der Wind, Herr.«

Kirin ging an dem Tisch vorbei auf den Gegenstand des Gesprächs zu, einen hochgewachsenen, kräftigen jungen Hengst. Seine Hinterläufe und Kruppe waren noch dunkel gefleckt, aber schon jetzt war zu sehen, dass er einmal ganz weiß werden würde. Das Tier stieß ein leises, freundliches Wiehern aus, als er Kirin näherkommen sah, und beschnüffelte gierig die Hand, die er nach ihm ausstreckte.

Die Verbindung der Windreiter zu ihren Pferden, die sie Windpferde nannten, war legendär, und Kirin war entschlossen, ihnen zumindest in diesem Punkt keinen Grund zur Klage zu geben. Rhùk hatte ihm beigebracht, wie ein Windreiter zu reiten, und als Großfürst brauchte er ein passendes Pferd. Aderuz hatte ihm vorgeschlagen, sich Szàrad zu nehmen, Galihls Pferd, doch abgesehen davon, dass der graue Hengst niemanden außer Galihl auf seinem Rücken duldete, war Kirin unerklärlicherweise abgestoßen davon gewesen. Da unter den Windreitern bereits Reibereien auszubrechen drohten, wer sonst das herrliche Tier für sich beanspruchen durfte, hatte Kirin kurzerhand entschieden, dem Hengst die Freiheit zu schenken. Er erinnerte sich an den Tag, als Szàrad unter dem tosenden Jubel der Windreiter die Straße hinunter aus dem Haupttor der Stadt hinausgaloppiert war, seine lange silberne Mähne wie eine Fahne hinter sich herflatternd. Mit dieser Geste hatte sich Kirin aus unerfindlichen Gründen den Respekt vieler Windreiter gesichert, die ihn feierten wie einen, der gerade eine Hundertschaft Kriegsgefangener befreit hatte. Da Kirin aber im Laufe der vergangenen Monde hatte feststellen müssen, dass viele Windreiter die Ehre ihrer Pferde höher schätzten als das Leben ihrer Verbündeten, hätte ihn das eigentlich nicht überraschen dürfen.

Was ihn anging, so hatte er sich ein Jungpferd aus der fürsteigenen Zucht ausgesucht, den Hengst, der jetzt vor ihm in seiner Box stand und auf den Namen Rýsz hörte, was in der arachinischen Sprache so viel wie ›Neuling‹ bedeutete. Kirin selbst hatte ihm diesen Namen gegeben; angesichts seiner eigenen momentanen Position empfand er ihn als durchaus passend. Er klopfte dem Pferd den Hals, lobte die beiden Windreiter für die gute Unterbringung und machte sich dann auf den Rückweg. Als er aus dem Fackellicht in die Dunkelheit eintauchte, kehrten seine Gedanken noch einmal zu Szàrad zurück. An dem Abend, an dem Kirin und seine Gefährten sich durch die Windreiterstallungen in die Stadt geschlichen hatten, hatte das Tier sie beinahe verraten, indem es den halben Stall zusammengeschlagen und einen Höllenlärm veranstaltet hatte. Er erinnerte sich, dass einer seiner Begleiter gemeint hatte, der Hengst habe dasselbe böse Blut in seinen Adern wie Galihl. Ein weiterer Grund, dass er ihn nicht in seinem Besitz haben wollte. Abgesehen davon, dass er kein Recht dazu gehabt hätte, denn …

Kraa.

Kirin zuckte zusammen und blickte auf; auf einem Baum zu seiner Rechten saß ein Vogel und starrte in der immer tiefer werdenden Finsternis auf ihn herab.

Kraa.

›Ein Rabe‹, dachte Kirin, ›oder eine Krähe‹.

Instinktiv wich er zurück. Er konnte nur die Silhouette des Tieres vor dem etwas helleren Abendhimmel sehen, doch er war sicher, dass der Vogel ihn beobachtete.

Kraa.

Ein leises Kribbeln breitete sich in seiner Schulter aus, und ein zweites, viel stärkeres in seiner linken Hand.

Kraa. Kraaa … rin.

Kraaa … rin.

Der Vogel sagte seinen Namen.

Ohne dass es ihm bewusst war, schloss sich seine Hand um das Schwert über seiner linken Schulter. Er zog sich langsam weiter zurück, einen Schritt, dann noch einen.

Kraaa … rin. Kraaa … rin.

Kroon.

Kraaoot.

Kron kraaoot.

Kron gekraooot.

Geklaooot.

Kirins Fuß berührte eine steinerne Stufe, und er fuhr zusammen. Er warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass er wieder bei der Treppe zur Terrasse angekommen war. Unwillkürlich musste er lachen.

›Idiot!‹, schalt er sich selbst. ›Du durchwanderst den halben Kontinent, siehst Blut und Tod und Schlachten und hast Angst vor einem albernen Vogel!‹

Langsam ließ er die Hand sinken und suchte mit zusammengekniffenen Augen nach der Krähe im Baum. Sie war noch da und beobachtete ihn mit schräg geneigtem Kopf.

»Na, du?«, brachte er halbherzig hervor. »Hast du dich verflogen?«

Kraaa … rin, machte der Vogel unbeirrt. Kraarin Ard. Bas … taaard.

Ein eiskalter Schauer lief Kirin über den Rücken. Er wünschte, er hätte einen Bogen, mit dem er das blöde Vieh von seinem Ast herunterschießen könnte, aber in diesem Augenblick flog der Vogel auf und flatterte über die Baumwipfel davon, in einen dunkleren Teil der Nacht.

Kirin sah ihm noch einen Augenblick lang nach, dann eilte er die Treppe hinauf auf seinen Balkon. Er kam sich lächerlich vor, wie er einen letzten, prüfenden Blick zurück ins Dunkel warf, beinahe sicher, dass die Krähe noch immer irgendwo auf ihn lauerte. Dennoch konnte er einen weiteren Schauer nicht unterdrücken.

›Es war nur ein Traum‹, sagte er sich, ›ein dämlicher Albtraum. Er bedeutet nichts.‹

Und trotzdem, so sehr er sich auch bemühte, er schaffte es nicht, sich einzureden, dass die Worte, die er gehört hatte, nur eingebildet gewesen waren. Der Vogel hatte ihn einen Bastard genannt, und einen, der die Krone gestohlen hatte.

Er wich in den Schutz der Säulen zurück, in dem Moment, als eine Windböe die Blüten in den Kletterpflanzen zum Rascheln brachte. Eine davon löste sich und trieb auf dem kalten Wind davon wie ein dem Untergang geweihtes Boot auf dem stürmischen Ozean.

Verärgert schüttelte er den Kopf, wie um sich aufzuwecken. »Das ist doch idiotisch!«, murmelte er in der Hoffnung, dass niemand außer ihm es hörte. »Ich werde mich doch von einem bisschen Wind und Nacht nicht einschüchtern lassen! Und von einem dummen alten Vogel, der …«

›… die Wahrheit sagt.‹

Die Stimme drang harsch und ungefragt in seinen Kopf und ließ ihn einen Moment die Fäuste ballen. Kirin durchmaß den Vorraum und stieß seine Schlafzimmertür auf, wobei er feststellte, dass einer der Diener … der Sklaven die Lampen darin angezündet hatte. Dankbar näherte er sich den tröstlichen Lichtern und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder.

Die Wahrheit.

Er war ein Bastard, ja, aber das war bei weitem nicht das Schlimmste. Was nur er und Megan Dwayne wussten, war, dass er nach Recht und Gesetz niemals den Thron von Aracanon hätte besteigen dürfen. Ihnen beiden hatte Limrian An’Bry, ein Vertreter des Hohen Rates von Semja und der Drahtzieher um die ganze Geschichte mit Kirin, die Wahrheit um seine Geburt offenbart: Limrian hatte Galihls Kind zwar kurz nach seiner Geburt aufgespürt und versucht, es zu retten, aber der Junge war an Entkräftung gestorben. Der Bauer, der Galihls Sprössling gefunden hatte, hatte allerdings ebenfalls einen Sohn gehabt, den Limrian daraufhin mitgenommen und als den von Galihl ausgegeben hatte. Der Bauer und seine Frau waren bei einem auf Limrians Befehl hin gelegten Feuer umgekommen, und da die Sklavin Szarell nach ihrer Ergreifung spurlos verschwunden war, war niemand in der Lage gewesen, den Schwindel aufzuklären. Limrian wiederum hatte Kirin in einem kleinen Dorf in Yorenin versteckt und mit sechzehn in die Große Bibliothek bringen lassen, um ihn als Galihls Bastardsohn zu präsentieren. Mit ihm als Zögling, so hatte Limrian geplant, wollte er seinen eigenen Einfluss unter den ostländischen Adeligen und Kriegsherren vergrößern. Allerdings war Limrian bei der Schlacht um Nardéz tödlich verwundet worden, sodass seine ganzen schönen Pläne sich in nichts aufgelöst hatten. Im Sterben liegend, hatte er Kirin und Megan die ganze Geschichte erzählt.

Kirin erinnerte sich an sein Entsetzen in diesem Augenblick, an seine Entschlossenheit, alles aufzuklären und den Thron Aracanons anderen zu überlassen. Megan war es gewesen, die ihn davon abgehalten hatte mit der Begründung, dass ein weiterer Krieg die Folge wäre und man Kirin möglicherweise wegen Verrats festnehmen würde. Er hatte lange und gründlich darüber nachgedacht (so versuchte er jeweils, sich zu trösten, wenn die Gewissensbisse ihn plagten) und sich schließlich dafür entschieden, die Lüge aufrecht zu erhalten. Das Problem war nur gewesen, dass eine Berührung Nàrdarells ihn getötet hätte, da in seinen Adern kein Tropfen Phalaér-Blut floss. Also hatte Megan Kirins Hand mit einem speziell von ihr entwickelten Gebräu behandelt, das sie auch für Verätzungen verwendete, die von ihr, das hieß von Halbblütern, zugefügt worden waren. Und dann hatte sie die Haut von der linken Hand des toten Galihl abgezogen und sie Kirin übergestreift wie die grauenhafte Karikatur eines Handschuhs. Kirin hatte das Schwarze Schwert ziehen können, allerdings hegte er die Befürchtung, dass, auch wenn es ihn nicht getötet und ihm keine sichtbaren Verletzungen zugefügt hatte, er auf eine Art und Weise versehrt worden war, die er nicht näher beschreiben konnte. Allein das Schwert sicher in seiner Scheide verwahrt auf dem Rücken zu tragen, war ihm seither unerträglich geworden. Die Nähe zu Nàrdarell verursachte ihm körperliche Schmerzen, sodass er seine ursprüngliche Entscheidung, das Schwert irgendwo in die dunklen Tiefen der Kerker wegsperren zu lassen, mehr als gerne eingehalten hatte. Glücklicherweise hatte bisher niemand diesen Entschluss infrage gestellt, sodass Kirin sich einigermaßen sicher wähnte. Jedermann fürchtete das Schwarze Schwert, das außerhalb Aracanons noch immer vielerorts für einen weiteren furchtbaren Mythos gehalten wurde, und keiner am Hof bedauerte es, nicht unmittelbar seiner Bedrohung ausgesetzt zu sein. Allerdings, so dachte Kirin verbittert, erlaubte das Leuten wie diesem Tumàsz, anmaßende Forderungen zu stellen, ohne fürchten zu müssen, dass Kirin sie im nächsten Moment in einen Haufen Asche verwandelte.

»Kein Wunder, dass ich langsam Gespenster sehe«, murmelte er der nächststehenden Kerze zu und drückte mit den Fingern den Docht aus.

In diesem Augenblick klopfte es, und Kirins Herz machte einen Satz. »Ja?«, fragte er heiser; wütend auf sich selbst stand er auf und rieb sich die Brust.

Larniax trat ein. »Verzeiht die Störung, Exzellenz, ich wollte nur nachsehen, ob Ihr noch irgendetwas braucht?«

»Eine meiner Wurfmaschinen vielleicht und eine genaue Angabe, in welchem Haus in Nardéz Nàszuk Tumàsz untergebracht ist.«

Larniax feixte. »Damit kann ich leider nicht dienen, aber ich dachte mir, ein Becher Wein würde Euch ebenfalls guttun?«

Kirin zuckte die Schultern. »Die Freude wird zwar nicht die gleiche sein, aber es hört sich trotzdem nicht übel an.«

Gemeinsam kehrten sie in Kirins persönliches Aufenthaltszimmer zurück, das etwa die doppelte Größe der Eingangshalle des Statthalterhauses in Yorenin hatte, in welchem Kirin als Diener aufgewachsen war. Er und Larniax setzten sich in zwei gemütliche Lehnstühle mitten im Raum, direkt unter dem schimmernden und mit dutzenden von Kerzen besetzten Kronleuchter.

»Ich könnte mir denken, Euch geht einiges durch den Kopf«, meinte Larniax nach einiger Zeit.

Kirin nippte an seinem Wein – mit Wasser verdünnt – und dachte darüber nach, wie es wäre, all seine Gedanken und Befürchtungen in Worte zu fassen. Vermutlich säßen sie beide dann morgen Abend noch hier, also würde er es besser gleich bleiben lassen.

»Das tut es«, sagte er daher nur.

Larniax schien einen Moment mit sich zu ringen, dann sagte er: »Tumàsz ist nicht so stark, wie er glaubt. Ihr habt die Audienz heute unterbrochen, aber morgen werden sich Gesandte der Ostländer hier einfinden, Boten des Rates, die Ihr um Hilfe bitten könnt. Ihr könntet mächtige Verbündete in den Ländern der Mitte und des Ostens gewinnen, wenn Ihr ihren Beistand …«

»Nein«, sagte Kirin bestimmt. »Ich war einmal ein Werkzeug in den Händen ostländischer Puppenspieler, das werde ich nie wieder sein. Außerdem, wenn ich den Rat und die anderen Länder um Hilfe bitte, tue ich genau das, was Tumàsz von mir erwartet. Es wäre Öl in dem Feuer, das er gegen mich entfachen will: Die ausländische Marionette, die Aracanon zu einer bloßen Provinz degradiert. Diese Genugtuung werde ich ihm auf keinen Fall geben.«

Larniax nahm seinerseits einen Schluck Wein. »Ihr könntet selbst Boten zu den Windreitertruppen im Ausland schicken. Lasst sie von Euren Taten erzählen und davon, wie Tumàsz die Linie der Phalaér durchbrechen will, um das Land in zersplitterte Baronien für sich und seine Adelsfreunde aufzuteilen.« Kirin verzog den Mund. »Gerüchte und Intrigenspiele sind nicht meine Stärke. Außerdem glaube ich nicht, dass Erzählungen in diesem Fall viel helfen werden. Ich werde mich allein gegen Tumàsz behaupten müssen, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich mir das Vertrauen und den Respekt der Windreiter verdienen kann.«

Der Mann von den Inseln betrachtete Kirin einen Moment lang, dann zog sich ein schiefes Lächeln über sein Gesicht. »Eine Logik, Exzellenz, der man schlecht widersprechen kann. Also dann: Auf Euch.«

Kirin stieß mit seinem Becher gegen den von Larniax, allerdings ohne rechte Überzeugung. Ehe jedoch einer von beiden einen Schluck nehmen konnte, ertönte erneut ein leises Klopfen an der Tür. Verblüfft blickten die Männer auf, und einen Herzschlag später kam ein Windreiter in den Saal gestolpert; seine schlaksige, leicht gebeugte Erscheinung machte auf Kirin eher den Eindruck eines Gelehrten oder Bibliothekars als die eines Kriegers, doch die Bewegung, mit der er sich auf ein Knie niederließ, war geschmeidig und anmutig und verriet jahrelange Übung. »Verzeiht, Exzellenz, Herr Zanid Monzù wünscht zu Euch vorgelassen zu werden.«

Kirin tauschte einen Blick mit Larniax. »Was kann der noch wollen?«, fragte der junge Krieger.

»Exzellenz, er meinte, er wolle Euch etwas mitteilen, das allein für Eure Ohren bestimmt sei. Er ließ sich nicht abweisen.«

Kirin stellte seinen Becher auf den Tisch und stand auf. »In Ordnung, bitte ihn herein.«

Der Windreiter, dessen Name Mìszak oder so ähnlich lautete, erhob sich und ging rückwärts aus dem Raum. Nur wenige Herzschläge später kam er zurück, den großen dürren Mann im Schlepptau, dessen Hinken im Laufe des Tages noch schlimmer geworden war. Er trug dieselben Kleider wie bei der Audienz, nur hatte er sich mittlerweile ein gebogenes Einhandschwert auf den Rücken geschnallt.

Larniax stand ebenfalls auf und stellte sich dem Adeligen in den Weg. »Waffen sind in Gegenwart seiner Exzellenz nicht erlaubt«, erklärte er barsch.

Der alte Mann lächelte ein winziges, seltsam trauriges Lächeln. »Seine Exzellenz ist vierzig Jahre jünger als ich und hat selbst zwei prächtige Schwerter auf seinem Rücken. Wenn er sich von mir bedroht fühlt, wird er auch ohne Euch in der Lage sein, mir das klarzumachen.«

Für einen Moment war Larniax zu verblüfft, um etwas zu erwidern, was Zanid Monzù sofort ausnutzte; er wandte sein ausgezehrtes Gesicht Kirin zu und ließ sich schwerfällig auf ein Knie sinken. »Exzellenz mögen mir die späte Stunde verzeihen; ich komme soeben von den Ruhestätten vor dem Stadtgefängnis, wo man anhand ihrer Kleidung meinen Bruder und seinen Sohn identifizieren konnte. Sie werden in diesem Moment in mein Haus gebracht, wo man sie angemessen reinigen wird, damit sie aufgebahrt und verbrannt werden können.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Kirin aufrichtig und bedeutete Monzù, aufzustehen. Der alte Mann gehorchte, wobei er die hilfreich ausgestreckte Hand ignorierte. »Ich kam nur vorbei, um Eurer Exzellenz persönlich zu danken. Ihr habt mir damit einen größeren Dienst erwiesen, als es Euch vielleicht bewusst ist.«

»Ich bin froh, dass es zumindest Euch so geht. Es gibt zu viel Leid in dieser Stadt, das ich nicht so einfach lindern kann.«

Monzù nickte schwer. »So ist es. Aber Euer Heiler, so habe ich gehört, hat dafür gesorgt, dass sich viele seiner Gilde in der Stadt eingefunden haben, um Verletzte zu behandeln. Außerdem sind die Kornspeicher gefüllt, das Volk leidet zurzeit keinen Hunger.«

»Das stimmt«, gestand Kirin. »Es scheint, als hätten die Ostländer … meine Verbündeten die verborgenen Kornkammern des Palastes und der Stadt nicht gefunden. Allerdings sind die sonstigen Schäden erheblich.«

»Tag für Tag treffen neue Forderungen nach Wiedergutmachungen ein«, stimmte Larniax zu; er schien dem alten Adeligen die Zurechtweisung noch immer übelzunehmen, aber zumindest beschränkte er sein Schmollen auf einen Ausdruck verhaltener Ungeduld.

Monzù verzog verächtlich den Mund. »Wie ich heute selbst bezeugen durfte. Wenn ich einen Rat geben darf, Exzellenz: Bezahlt dem alten Gierschlund von Armész ein paar hundert Goldmünzen und lasst Euch von seinem Geheule nicht erweichen. Wartet ein paar Wochen, dann schickt ihm noch einmal tausend, begleitet von einer guten Flasche Wein und einem oder zwei hübschen Mädchen, dann wird er den Mund halten. Er ist ein Raffzahn und versucht zu profitieren, wo er nur kann, aber er ist schnell zu beruhigen. Nur rate ich Euch, ihn nicht zu ignorieren; Armész wütend zu machen, kann schnell zu einer Handelsblockade führen, die weit über das Waffengeschäft hinausgeht.«

Kirin musterte den Alten neugierig. »Ich danke Euch für diesen Rat, Herr Monzù. Es tut gut zu wissen, dass nicht alle Adeligen Aracanons gegen mich sind.«

Zanid Monzù schnaubte leise. »Diese elenden Ehrgeizlinge und Halsabschneider! Sie alle würden ihre Schwestern und Mütter in die Steppen verkaufen, um eine Parzelle Land oder einen Posten bei Hofe zu ergattern, aber keiner von ihnen hat auch nur einen Funken Ehre im Leib! Ich verachte sie, elende Menschenschinder und Fresser und Säufer, die alle zu feige waren, sich gegen den Tyrannen zu erheben! Oder zu sehr von seiner Herrschaft profitierten, um sich darum zu kümmern, was aus den anderen ihres Standes wurde.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, ballte er die Fäuste. »Sie alle sind beiseitegetreten und haben kommentarlos zugesehen, wie man Priester und Heiler, Gelehrte und hochrangige Adelige ermordet hat, weil sie sich weigerten, dem Großfürsten zu folgen! Mein Bruder und mein Neffe waren die letzten, die aufstanden in dem Versuch, den Mut in den Herzen ihrer Gefährten zu wecken. Vergeblich. Vergolten wurde ihnen ihre Tapferkeit mit Verrat, Folter und Tod.«

Schwer holte der alte Adelige Luft, dann fuhr er mit etwas ruhigerer Stimme fort: »Aber nun werde ich in der Lage sein, die Toten ruhen zu lassen. Für Euch, Exzellenz, fängt der Kampf erst an.«

»Das tut er. Und so wie es aussieht, werde ich ihn allein austragen.«

Zanid Monzù musterte ihn einen Augenblick lang wortlos, dann legte er seine Rechte auf den Griff seines Schwertes, langsam und getragen, um die Absicht dahinter zu vermitteln. »Ich sagte Eurer Exzellenz heute schon einmal, dass Ihr jederzeit auf mich zählen könnt, wenn Ihr mich braucht. Ich kenne diesen Tumàsz und viele seiner Helfershelfer schon ihr ganzes Leben lang, und selbst wenn mein Haus in ihren Augen Schande auf sich geladen hat, so gehöre ich noch immer zum Adel meines Landes, und meine Stimme hat Gewicht. Wenn Eure Exzellenz es mir erlauben wollen, so werde ich Seite an Seite mit Euch gegen diese Saatkrähen antreten. Wir werden sehen, ob sich ihr Ehrgeiz und ihre Gier nicht ein wenig abkühlen lassen.«

Kirin wusste für einen Augenblick nicht, was er sagen sollte. Larniax hingegen trat vor, die Augen ungläubig auf den alten Mann gerichtet. »Seid Ihr Euch sicher, was Ihr da sagt, Herr Monzù? Ihr werdet Euch isolieren, wenn Ihr Euch offen gegen Tumàsz und die Seinen stellt.«

Monzù reckte das Kinn. »Solange ich lebe, werde ich nicht zulassen, dass derselbe Abschaum, der sich unter den Rockzipfeln des Schlächters Galihl versteckt hat, die Herrschaft über mein Land an sich reißt. Eher gehe ich Seite an Seite mit Seiner Exzellenz unter, als dass ich das zulasse.«

Kirin war bewegt, auch wenn diese Worte einen Haufen beunruhigender Möglichkeiten offenbarten. Er räusperte sich. »Herr Monzù, ich danke Euch und nehme Euer Angebot an. Ich hoffe aufrichtig, dass nie der Augenblick kommt, in dem Ihr diese Entscheidung bereuen werdet.«

»Das bezweifle ich, Exzellenz.« Und damit zog der alte Adelige sein Schwert und reichte es Kirin mit dem Heft voran.

Die Chroniken der drei Kriege

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