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Mrs. Trelawney achtet auf ihre Rosen

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1

Ich hatte das Für und Wider sicherlich schon eine ganze Woche gegeneinander abgewogen. Ich hatte mich jedoch nun dafür entschieden, auf die Gefahr hin, dass Peter das Geschenk ablehnen würde. Ich meine, es geht hier schließlich nur um ein Buch für 12 Dollar. Ich kannte zwar den Tag von Peters Geburt, aber nicht sein Alter, das ich jedoch mit ziemlicher Sicherheit auf Mitte Dreißig schätzte.

Obwohl Peter und ich die letzten drei Jahre hier in Lost Haven viel Zeit miteinander verbracht hatten, wussten wir doch nur sehr wenig voneinander. Das Meiste von dem Wenigen, das wir voneinander wussten, beruhte nicht auf Gesprächen, sondern auf reiner Intuition. Peter erzählte mir einmal nur, dass er als Broker gearbeitet und entsprechend gutes Geld verdient hätte, bevor er sich im Zuge der Finanzkrise aus dem Geschäft zurückgezogen hatte. Vorbehaltlich meiner Gewissheit, dass dies nicht der eigentliche Grund war, warum er in Lost Haven gestrandet war, war das alles, das ich von ihm wusste. Ich selbst wiederum habe ihm nur erzählt, dass ich Schriftsteller war, bevor ich hierher gezogen war. Er kannte nicht einmal meinen richtigen Namen, und er wollte ihn auch gar nicht wissen. Das Ausblenden unserer Vergangenheit war das Fundament unserer Freundschaft, was ich später noch genauer ausführen werde. Nur soviel vorweg: Unsere Freundschaft wäre niemals in unseren früheren Leben möglich gewesen, als wir beide noch glücklich und erfolgreich waren. Sie konnte nur hier existieren. Nur jetzt. Denn das, was hier in Lost Haven von uns beiden noch übrig war, war nur noch ein Schatten dessen, was wir einmal waren.

Aufgrund dieser besonderen Art unserer Beziehung zueinander, war die Entscheidung, Peter ein Geschenk zu kaufen eine heikle Angelegenheit. Für einen Außenstehenden mag das vielleicht befremdlich wirken. Aber mein Geschenk – auch wenn es nur ein Roman war – hatte ich nicht auf das Geratewohl ausgesucht, sondern in dem Glauben, Peter würde darin Ähnliches erkennen wie ich. Und genau das war der kritische Punkt. Ich maßte mir an zu wissen, wovon Peter emotional eingenommen werden könnte. Für mich als Autor war das sicherlich ein Reiz, der in gewisser Weise aus einem Reflex heraus entstand. Deshalb geschah dies nicht in böser Absicht. Aber das war auch gar nicht so wichtig, denn Peter hätte mich wohl in dieser Form nie auf die Probe gestellt. So wurde mein Geschenk zu etwas Persönlichem. Und das Persönliche war in dieser fragilen Freundschaft zwischen Peter und mir stets ausgeklammert worden. Im schlimmsten Fall würde ich dadurch eine Grenze überschreiten, die bisher für uns beide selbstverständlich war.

Wird schon schief gehen, dachte ich, während ich die Main Street entlang schritt. Es war ein sehr schöner und warmer Spätsommertag im September.

Um ein Haar hätte ich kurz vor Beaver's Books angehalten und kehrt gemacht, weil ich kalte Füße bekam. Ich schüttelte den Kopf über meine irrsinnige Annahme, mein Geschenk könnte Peter sauer aufstoßen. Ihn vielleicht glauben lassen, ich wollte in seiner Vergangenheit herumstochern. Unmöglich! Und doch... Nein, nein ich wollte es jetzt kaufen. Wenn ich es ihm geben würde, würde ich ihm versichern, dass das Buch kein Versuch meinerseits war, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Ich würde dieses Tabu nicht brechen. Genauso wenig, wie er es tun würde.

2

Beaver’s Books war ein kleines, altes Geschäft, das der Inhaber Henry Beaver von seinem Vater geerbt hatte. Der Laden hatte sich seit Jahrzehnten kaum verändert. Wenn man das Geschäft betrat, fühlte man sich ein Stück in der Zeit zurückversetzt. Es herrschte ein schummriges Licht. Es roch nach alten Büchern. Prallvolle Bücherregale bedeckten jeden Quadratmillimeter Wand. Dieser Laden hatte rein gar nichts mit den modernen, bunten Buchläden gemein. Auch wenn aktuelle Literatur angeboten wurde, so war Beaver’s Books mehr ein Zufluchtsort von Worten, die im heutigen Sprachgebrauch keine Verwendung mehr fanden. Viele alte Schätze lagerten dort neben den neuesten Bestsellern. Doch nur die weniger wertvollen davon bot Mr. Beaver auch zum Verkauf an. Seine Schätze, wie er sie nannte, würde er nie verkaufen.

Ich öffnete die verglaste Tür, an der ein nostalgisches ‚OPEN’-Schild an einer Kette mit Saugnapf an der Innenseite baumelte. Und kaum hatte ich den Raum betreten, hatte ich wiederholt das Gefühl von einer Art Zeitlosigkeit. Draußen vor der Tür lief die Zeit ganz normal weiter, aber hier drinnen war Zeit etwas anderes, sie war zwar existent, aber nicht fassbar. Ich war mir nie ganz sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Gefühl war. Jedenfalls stärkte es jedes Mal meine Sinne. So auch an diesem Tag.

Mr. Beaver saß wie immer, wenn ich den Laden betrat, hinter der großen Verkaufstheke und starrte auf den Bildschirm seines Lesegeräts. Nur selten wandte er sich von jenem Bildschirm ab. Henry Beaver verfügte nur noch über eine etwa 15- prozentige Sehfähigkeit. Bücher konnte er nicht mehr ohne technische Hilfe lesen. Eine einfache Leselupe reichte da nicht aus. Sein Lesegerät hatte Ähnlichkeit mit einem Computer. Ein Buch oder eine Zeitung wurde auf ein kleines Podest gelegt, über dem in ca. dreißig Zentimetern Entfernung eine Kamera an einem Teleskoparm angebracht war. Direkt darüber an einem beweglichen Arm befestigt war ein großer Flachbildschirm, der die gedruckten Worte in variabler Einstellung vergrößert darstellte. Dies war eines der besseren Geräte, so dass es sehr teuer war. Mr. Beaver hätte es sich selbst kaum leisten können, dafür gab sein geliebter Buchladen viel zu wenig her. Und auch wenn er das Geld gehabt hätte, hätte er es niemals für sich ausgegeben, sondern nur für seine Tochter Melissa. Sie war es, die das Lesegerät letztlich gekauft hatte, nachdem sie mit meiner bescheidenen Unterstützung einen 'anonymen Spendenaufruf' gestartet hatte, der zu meiner und ihrer Überraschung derart positiv aufgenommen wurde, dass das Geld schnell zusammen kam.

»Ah, Mr. Rafton. Wie geht es Ihnen heute?«, begrüßte mich Mr. Beaver. Er erkannte mich immer aufgrund meiner Schritte. Nach dem Befinden fragte er mich immer, sobald ich den Laden betrat. Wenn man so eine Frage stellt, erwartet man wohl kaum eine ehrliche Antwort. 'Zum Kotzen' kann man ja schlecht erwidern. Stattdessen bleib ich höflich: »Alles bestens, Mr. Beaver. Darf ich fragen, welche Lektüre Sie heute beim Wickel haben?«

Mr. Beaver schmunzelte leicht und blickte wieder auf seinen großen Bildschirm. »Ein altes Märchen, Mr. Rafton. Nur ein altes Märchen.«

Er starrte einige schweigsame Sekunden auf den Bildschirm. »Melissa ist gleich bei Ihnen«, fügte er regungslos hinzu. Melissa war im Hinterzimmer, das vornehmlich als Lager diente, beschäftigt. Sie war siebzehn. Nicht nur ich war der Meinung, dass sie viel zu viel Zeit dort verbrachte. Andere junge Frauen in ihrem Alter hatten wohl ganz andere Dinge im Kopf als alte verstaubte Bücher, und Melissa selbst war kein Bücherwurm. Sie konnte schlicht ihren Vater nicht allein lassen. Sie glaubte, er würde ohne sie nicht zurechtkommen, obwohl ich der Meinung war, dass Henry Beaver durchaus sehr eigenständig leben konnte, trotz seiner Sehbehinderung. Melissa jedoch liebte ihren Vater viel zu sehr, als dass sie ihn verlassen würde. Lost Haven war kein Ort für so junge Menschen wie sie, wenn man kein Tourist war. Mr. Beaver sah das ähnlich wie ich, aber er hatte nicht die Kraft, seine Tochter davon zu überzeugen, ihn zu verlassen. Er war in eine melancholische Starre verfallen, die er zwar versuchte sich nicht anmerken zu lassen, die aber dennoch greifbar war, sobald man ihn sah.

Ich genoss für einige Sekunden die absolute Stille dieses Ortes, bis Melissa schließlich an die Verkaufstheke herangeschwebt kam. Und wenn ich schweben sage, dann meine ich schweben. Müsste ich mir ein Synonym für Jugend ausdenken, würde mir als erstes Melissa Beaver einfallen. Sie war eine grazile und gewitzte Persönlichkeit. Eine brünette Schönheit. Ihrem Lächeln konnten selbst die grimmigsten Herzen nicht widerstehen.

Wäre ich in ihrem Alter, hätte ich wohl alles getan, um ihr Freund zu werden. Aber wenn ich aus diesem Tagtraum erwachte und sie dabei ansah, fühlte ich mich mit meinen 44 Jahren einfach nur alt. Und deprimiert.

»Hallo Mr. Rafton«, sagte sie und strahlte mich dabei an, dass es schon fast weh tat.

Für sie war ich nicht irgendein Kunde. Melissa kannte jedes Detail meiner Karriere als Schriftsteller und hatte nach eigenen Angaben alle meine Romane gelesen. Ich war für sie ein Tor zu einer Welt von Kreativität und Erschaffung. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich ob ihrer Bewunderung nicht geschmeichelt fühlte. Und dennoch: Es war eine Ironie, denn diese Welt, nach der sie sich so sehnte, war für mich nur noch eine blasse Erinnerung, die in immer weitere Ferne rückte. Und im Übrigen eine Welt, an die ich seit Jahren keinen Gedanken mehr verschwendete.

»Ihr Buch ist heute Morgen gekommen. Mr. Fryman wird sich sicher sehr freuen. Soll ich es für Sie einpacken?«, fragte Melissa.

»Ja, das wäre toll. Ich kann so was nicht«, sagte ich und lächelte.

Sorgfältig und mit geübter Hand packte Melissa das Buch für Peter ein. Sie hatte deshalb darin viel Übung, weil die meisten Besucher von Beaver’s Books Touristen waren, die sich irgendein Buch als Geschenk für Freunde und Verwandte kauften. Diese Touristen waren für Beaver’s Books eine wichtige Einnahmequelle. Es gab auch eine entsprechende Empfehlung in diversen Reiseführen, ohne die Beaver’s Books wohl nicht mehr existieren würde.

Obwohl Melissa sicherlich schon abertausend Mal Bücher verpackt hatte, ließ sie sich bei diesem ungewöhnlich viel Zeit. Ich ahnte schon, worauf es hinauslaufen würde.

»Und Mr. Rafton, was macht die Kunst?«, fragte sie.

»Du meinst nicht zufällig eine bestimmte Kunst?«, erwiderte ich.

Melissa druckste herum. »Nun, ich dachte, Sie würden bald wieder an einem neuen Roman arbeiten«, sagte sie und vermied es, mich anzusehen.

Mr. Beaver räusperte sich demonstrativ, um seiner Tochter klar zu machen, sie solle mich nicht schon wieder mit dieser Frage belästigen. In der Tat fragte sie mich fast jedes Mal, wenn ich hier war, ob ich gerade etwas schreibe. Ich habe ihr – wenn auch nicht eindeutig – versucht klar zu machen, dass ich nichts mehr schreiben möchte. Aber das wollte sie nicht akzeptieren.

»Ich schreibe nicht mehr. Das weißt du doch, Melissa. Für mich ist dieses Kapitel beendet.«

Melissa runzelte die Stirn, während sie langsam die Geschenkverpackung mit Tesafilm fixierte. »Hm. Aber ist es nicht irgendwann an der Zeit, umzublättern und das nächste Kapitel zu beginnen?«, fragte sie und sah mich eindringlich an.

»Melissa!« Mr. Beaver hatte seinen Kopf vom Bildschirm weg gedreht und sah seine Tochter mahnend an. Mehr als einen schemenhaften Umriss konnten ihm seine Augen nicht übermitteln, dennoch wirkte sein fixierender Blick täuschend echt.

»Schon gut«, sagte ich in Richtung von Mr. Beaver.

Dann wandte ich mich an Melissa und schob meine schwarz geränderte Brille über der Nase zurück. Eine Bewegung, die ich schon unzählige Male gemacht hatte. »Irgendwann ist man aber am letzten Kapitel angelangt. Danach ist das Buch zu Ende.« Meinem Gegenüber gefiel die Antwort überhaupt nicht. Melissa setzte einen gekonnten Schmollmund auf. Sie schaffte es so tatsächlich, dass ich mich schlecht fühlte, weil ich sie enttäuschen musste.

»Das macht dann genau zwölf Dollar«, sagte sie kühl.

Ich verzog ein wenig die Miene und bezahlte. Melissa sagte nichts. Vorbei war ihr strahlender Glanz. Sie wollte mir unmissverständlich deutlich machen, dass sie mich bestrafen wollte.

»Also ich hoffe wirklich, dass es Peter gefällt«, sagte ich in der Hoffnung, die Wogen wieder etwas zu glätten.

»Wenn nicht, kann er es gerne umtauschen«, erwiderte Melissa schnippisch.

»Melissa, jetzt reicht es aber!«, sagte Mr. Beaver laut.

Ich musste mir etwas einfallen lassen. Sie würde mich sonst wochenlang mit finsteren Blicken strafen, sollte ich es wagen, das Geschäft wieder zu betreten.

Ich drehte mich gen Ladentür und tat einen Schritt. Melissa ließ mich nicht eine Sekunde aus den Augen. Dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich blieb stehen und drehte mich wieder zum Tresen. »Warum schreibst du eigentlich nicht?«

Das hatte gesessen.

»Äh, ich?«, stammelte sie, sichtlich aus der Fassung gebracht.

»Hast du mir nicht einmal erzählt, du hättest es selber schon probiert?«

Jetzt wurde Melissa langsam rot. Und ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie zwischen Verärgerung darüber, dass ich sie aus dem Konzept gebracht hatte, und gewecktem Ehrgeiz, ein eigenes Buch zu schreiben, schwankte.

»Ach, das ist doch schon lange her«, sagte sie unsicher.

»War es nicht eine Vampir-Geschichte?« Jetzt wurden ihre haselnussbraunen Augen ganz groß. Ich hatte sie am Haken und musste innerlich lächeln, weil sie leichter zu beeinflussen war, als ich dachte.

»Und hast du mir nicht gesagt, dass es dir richtig Spaß gemacht hätte?«, legte ich nach.

»Ja, aber ich glaube nicht, dass es jemand lesen wollen würde.«

»Aber darum geht es doch gar nicht«, warf ich ein.

Daraufhin erntete ich nur einen irritierten Blick.

»Es geht nicht darum, dass du schreibst, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Du schreibst, weil es dir Freude bereitet. Das Beste, was du tun konntest, war, eine Geschichte über ein Thema zu schreiben, das dir gefällt. Besser kann man an die Schriftstellerei nicht herangehen. Das ist ganz wichtig. Vielleicht gefällt sie auch anderen und, wer weiß, vielleicht kannst du deine Geschichte auch veröffentlichen. Und wenn nicht, dann schreibst du eine neue Geschichte und probierst etwas anderes aus.«

In Melissas Gehirn arbeitete es angestrengt. Ich erkannte, dass ich bis zum Äußersten gehen musste: »Wenn du willst, lese ich deine Geschichte mal oder das, was du bereits fertig hast.« Ich hasste Geschichten über Herz-Schmerz-Vampire.

Melissas Widerstand zerbarst just in dem Augenblick, in dem ich anbot, sie beim Schreiben zu unterstützen.

»Das würden Sie tun?«, fragte sie. »Ich meine, es ist nicht besonders gut, und ich hab ja erst angefangen, und...«

»Mach dir mal keinen Kopf. Wir können das ja ganz ruhig angehen«, beruhigte ich sie.

Melissa überlegte. »Und sie lachen mich auch nicht aus, wenn sie es lesen?«

»Glaubst du, ich würde dir anbieten, es zu lesen, um dich hinterher auszulachen?«, fragte ich mit betont gekränkter Stimme.

»Nein«, sagte sie und senkte den Blick.

»Also, dann haben wir eine Abmachung. Ok?«

»Ok«, wiederholte sie und lächelte. Da war er wieder, der Glanz.

»Wiedersehen Mr. Beaver!«

Der alte Herr hob nur zum Abschied grüßend die Hand, ohne sich von seinem Bildschirm zu lösen. Das machte er öfter so.

»Tschüss, Melissa!«

»Gehen sie jetzt gleich zu Mr. Fryman?«, fragte Melissa noch schnell.

»Nein, erst heute Abend. Vorher habe ich noch ein Date mit Mrs. Trelawney«, sagte ich augenzwinkernd, während ich durch die Tür nach draußen verschwand.

3

Eigentlich wollte ich an diesem Tag mit dem Auto zu Beaver’s Books fahren, auch wenn es nur fünfzehn Minuten Fußweg waren. Aber an einem so sonnigen Tag wie diesem wollte ich mir etwas Gutes tun, die frische Luft genießen und den Kreislauf etwas in Schwung bringen für meine bevorstehende Arbeit bei Mrs. Trelawney. In meinem Haus angekommen, zog ich mich rasch um und legte mir meine Gärtnerkluft, wie ich sie nannte, an.

Bevor ich durch die rückwärtige Verandatür mein Heim verließ, ging ich an meinem Kalender vorbei, blieb stehen und ging noch mal zurück, um ihn mir genauer anzusehen. Der heutige Tag war der 14. September. Ich hatte ihn rot umkringelt, um Peters Geburtstag nicht zu vergessen. Dann schaute ich mir den einzigen zweiten Kringel an. Den 8. Oktober. Beim Betrachten dieses Datums bekam ich wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Der Tag rückte immer näher und näher. Um es kurz zu machen: Ich hatte einen Mordsschiss vor diesem Tag.

»Das wird schon irgendwie«, sagte ich zum Kalender und machte mich auf zu Mrs. Trelawney.

4

Der Garten meines Grundstücks und der von Mrs. Trelawney waren durch keinerlei künstliche Barriere getrennt. Nur ein paar Eiben und Rhododendron entlang einer gedachten Linie markierten ungefähr die Grundstücksgrenze. Ihr Haus war das letzte in der Kennington Street. Und es war eines der größten Grundstücke.

Als ich unser Haus zusammen mit Michelle gekauft hatte, habe ich mich – wie es sich gehört - unserer Nachbarin artig vorgestellt und gefragt, ob sie wünsche, dass ich einen Zaun errichten solle. Ich erinnere mich noch genau, wie sie fast empört war und mir deutlich zu verstehen gab, dass sie sich durch einen Zaun eingesperrt fühlen würde.

Den hinteren Teil ihres Grundstücks – zur Meeresseite hin - wollte sie verwildert lassen. Alles was der Wind hierher trug, durfte gedeihen. Hier gab es nur sehr wenig für mich zu tun. Dem vorderen zum Haus gelegenen Teil galt ihre ganze Aufmerksamkeit, und dies war sozusagen mein Tätigkeitsschwerpunkt. Sie werden sich jetzt bestimmt fragen, wieso ich bei meiner Nachbarin einer gärtnerischen Tätigkeit nachging. Nein, ich war nicht auf diesen Job angewiesen. Ich machte ihn einfach gern. Er lenkte mich ab. Er lenkte mich vom Nachdenken ab. Und das schätzte ich so an dieser Arbeit. Aber ich glaube, ich sollte meine Beziehung zu Mrs. Trelawney ein wenig näher erläutern.

5

Bevor ich allein in die Kennington Street einzog, hatte ich Mrs. Trelawney nur ganz selten gesehen, geschweige denn gesprochen. Wir waren vorher auch nur zwei Sommer lang hier gewesen, und das nur für wenige Wochen. Als ich wie gesagt vor drei Jahren kurz nach meiner Scheidung hier einzog, war ich ein total alkoholkrankes Wrack.

Die ersten Wochen ging ich überhaupt nicht vor die Tür. Ich soff und schaute Fernsehen. Und wenn ich mal einen klaren Gedanken fassen konnte, dann drehte er sich nur darum, wie ich mir am effektivsten das Leben nehmen könnte. Aber jeder praktische Versuch, dies anzugehen, endete in einem erniedrigenden Besäufnis. Das Schlimmste an diesen Exzessen war immer, dass ich Michelles Stimme hörte, wie sie mich auslachte. »Nicht mal dich umbringen kannst du. Was bist du nur für ein Versager«, sagte sie immer. Dann schrie ich meist, sie solle ihre verdammte Schnauze halten, und manchmal warf ich sogar eine leere Schnapsflasche nach ihrem imaginären Bild.

An meinem 42. Geburtstag – es war der erste überhaupt in meinem Leben, den ich ganz allein verbrachte – griff ich zum Telefonhörer und wollte zuhause bei Michelle anrufen, um mit Amy zu sprechen. Wenigstens an diesem Tag wollte ich einmal die Stimme meiner Tochter hören. Nachdem es zweimal geklingelt hatte, meldete sich zu meinem Schrecken Michelle am Apparat.

»Was willst du?«, fragte sie angewidert.

Obwohl ich mich selbstverständlich betrunken hatte, um überhaupt Mut für diesen Anruf aufzubringen, war ich doch noch klar genug, um mich über Michelles dreiste Art, mit mir zu sprechen, aufzuregen. Es war schließlich mein Geburtstag. Mein zweiundvierzigster Geburtstag!

»Keine Sorge, ich möchte mit Amy sprechen«, sagte ich.

»Sie ist nicht hier.«

»Heute ist Samstag. Willst du mir vielleicht erzählen, Amy wäre in der Schule?«

»Tut mir Leid, sie ist nicht da«, sagte Michelle.

»Wo ist sie?«, fragte ich zornig.

»Als ob dich das was kümmern würde!«

»Ich will jetzt mit meiner Tochter sprechen!«, schrie ich in den Hörer.

»Hast du wieder gesoffen?«

Ja, natürlich hatte ich gesoffen! Wie hätte ich denn sonst, ohne zu zittern den Hörer halten sollen? Wie hätte ich denn sonst, ohne zu stottern sprechen können?

Michelle machte mich rasend vor Wut und im Geiste begann ich, sie genüsslich zu würgen.

»Ruf wieder an, wenn du halbwegs nüchtern bist. Oder sauf dich zu Tode, mir egal«, sagte Michelle kalt.

»Wage es nicht aufzulegen, sonst...« Aber da war es schon zu spät. Ein Klacken und dann war Stille.

Ich schrie vor Wut. Ich schrie solange, bis mir einige Äderchen in den Augen platzten.

Ich überlegte, noch einmal anzurufen, aber Michelle würde einfach nicht ran gehen. Stattdessen entschied ich mich dazu, was ich immer in ähnlichen Situation tat: Ich trank noch mehr. Aber dieses Mal war es besonders schlimm. Ich trank soviel, dass ich in einen komaähnlichen Zustand fiel. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustand gedämmert habe. Jedenfalls verbrachte ich meinen zweiundvierzigsten Geburtstag im Delirium liegend auf dem Teppichboden in meinem Wohnzimmer, nur eine Idee davon entfernt, an meinem eigenen Erbrochenen zu ersticken.

Tiefer ging es nicht. Ich erwachte am nächsten Tag. Es war bereits Nachmittag. Als ich es schaffte, wieder aufrecht zu stehen ohne umzufallen, war es bereits dunkel. Ich schleppte mich völlig erschöpft in den ersten Stock in das Schlafzimmer und hoffte nur, dass ich den nächsten Tag nicht mehr erleben würde. Weit gefehlt! Wahnsinnige Kopfschmerzen weckten mich am nächsten Morgen. Irgendein hämmerndes Geräusch prallte gegen meine Trommelfelle. Es schien so laut zu sein, dass ich dachte, sie würden jeden Moment platzen. Ich richtete mich im Bett auf, während ich mir die Ohren zuhielt. Das hämmernde Geräusch hatte pausiert. Ich merkte, dass ich kaum den Mund auf bekam, weil er völlig verklebt war. Ich hatte keinen Tropfen Speichel mehr in meinem Mund. Ich tastete auf dem Nachttisch nach meiner Brille, konnte sie jedoch nicht finden. Ich war kurzsichtig mit etwa 4,9 Dioptrien. Ohne Brille sah ich alles, was weiter als vierzig Zentimeter entfernt war, nur verschwommen. Wie ich erst später herausfinden sollte, hatte ich meine Brille unter mir begraben, während ich auf dem Fußboden gelegen hatte. Zum Glück hatte ich noch ein paar Ersatzbrillen in der Kommode unten im Flur. Michelle hatte mich früher immer gedrängt, eine Augen-OP machen zu lassen. Das würde jeder heute tun, der ein wenig Geschmack hätte, war ihre Meinung. Eine Brille sei nicht mehr zeitgemäß. Ich sah das ein wenig anders. Ohne Brille fühlte ich mich nackt. Schließlich fing ich vor wenigen Jahren an, mir hin und wieder eine neue Brille anfertigen zu lassen. Vier Stück besaß ich insgesamt. Alle Modelle sahen sich recht ähnlich, so dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit meiner Sammelwut berechtigterweise gestellt werden konnte. Ich konnte jedoch keine einleuchtende Antwort finden. Erst die letzten Tage in Lost Haven sollten meine Ersatzbrillen unentbehrlich machen. Fast so, als hätte ich es schon Jahre zuvor geahnt, dass ich sie mal eines Tages alle brauchen würde. Ohne Brille also schlurfte ich unsicher ins Bad, riss den Einhebelmischer am Waschbecken nach oben und trank gierig aus der Leitung, bis mir übel wurde.

Wieder hämmerte es. Es kam von unten.

»Scheiße«, wimmerte ich nur und hielt mir wieder die Ohren zu. Jemand war unten an der Tür. Ich ertrug den für mich ohrenbetäubenden Lärm noch eine Weile, bis es endlich aufhörte.

In halb gebückter Stellung hielt ich inne, um sicher zu gehen, dass derjenige unten an der Tür endlich verschwinden würde. Ich hätte nicht gewusst, wer mich besuchen wollte. Peter kannte ich damals noch nicht. Ich hatte seit meinem Einzug mit niemandem aus Lost Haven gesprochen. Als ich sicher war, dass endlich Ruhe herrschen würde, öffnete ich die verspiegelte Tür vom Alibert und griff nach den Aspirin-Tabletten. Ich bezweifelte zwar, dass sie helfen würden, aber ich hatte nichts anderes da. Ich nahm vier Stück. Das sollte für das Erste reichen. Ich schaffte es, mich zu duschen und schlüpfte in einen Bademantel. Danach aß ich in der Küche einen Erdnussbutter-Toast. Langsam fühlte ich mich besser. Plötzlich klopfte es wieder. Diesmal aber nicht an der Haustür, sondern an der Verandatür. Ich blieb einfach am Esstisch sitzen und hoffte, dass der ungebetene Besuch endlich von der Tür verschwinden würde. Aber es klopfte wieder. Und wieder. Und immer wieder. Meine Kopfschmerzen drohten, wieder zurückzukommen.

»Verdammt!«, stieß ich aus und stand auf. Ungewöhnlich schnellen Schrittes durchquerte ich das Wohnzimmer, zog den Vorhang vor der Glastür zurück, öffnete sie, ohne nachzusehen, wer dahinter stand, und... blickte einer erschrockenen Mrs. Trelawney in die Augen.

»Du meine Güte! Sie sehen ja furchtbar aus! Sind sie krank?«, sagte sie, während sie sich die flachen Hände an die Wangen schlug.

Mrs. Trelawney war eine nette alte Dame, aber in diesem Moment wünschte ich sie zum Teufel. »Ja, ich äh, ich habe mit einem Infekt zu kämpfen«, sagte ich und zupfte mir meinen Bademantel zurecht.

»Tatsächlich?«, begann Mrs. Trelawney. »Das muss aber ein übler Virus sein. Ich kämpfe selber gerade gegen eine Grippe. Das Schlimmste habe ich aber schon hinter mir.«

»Eine Grippe? Geht es Ihnen auch wirklich gut?«, fragte ich, weil Mrs. Trelawney nicht mehr die Jüngste war. Ich schätzte sie auf Anfang Achtzig.

»Mir geht es jedenfalls wesentlich besser als Ihnen, Mr. Rafton.« Sie musterte mich nochmals von Kopf bis Fuß. »Sie sind ja leichenblass!«

»Ja, aber ich fühle mich schon wieder ganz gut. Ähm, wollten Sie etwas Bestimmtes von mir?«

»Oh, nein. Es ist nicht so wichtig. Ruhen Sie sich erst mal aus. Sie brauchen Bettruhe. Das ist das Allerwichtigste.«

»Sagen Sie, soll ich Ihnen bei etwas helfen?«, hakte ich nach.

»Ach es ist nur ein schwerer Ast von meiner Trauerweide, der auf meine Veranda gefallen ist und mir nun die Treppe versperrt.«

»Wie ist das denn passiert?«

»Na, haben Sie denn nicht den schweren Sturm heute Nacht gehört?«, fragte sie.

»Nun, ich habe einen sehr tiefen Schlaf«, sagte ich und erkannte sofort, dass mir die alte Dame nicht glaubte. Dabei habe ich wirklich nichts gehört.

»Ich ziehe mich nur schnell an, dann räume ich den Ast beiseite«, sagte ich, obwohl es mir schon an diesem Morgen schwer gefallen war, meinen Toast mit Erdnussbutter hochzuhalten und zum Mund zu führen.

»Aber danach verschwinden Sie sofort ins Bett! Verstanden?«, sagte Mrs. Trelawney mit erhobenem Zeigefinger.

»Verstanden, Ma'am.«

6

Die Trauerweide stand meines Erachtens viel zu dicht am Haus. Mrs. Trelawney hatte Glück, dass der Baum nicht umgestürzt war. Dann wäre das gesamte Dach der Veranda zertrümmert worden. Mit pochendem Herzen und Schweißperlen auf der Stirn zerrte ich den schweren Ast von der Veranda-Treppe zur Seite. Als ich fertig war, sah ich schwarze Punkte vor den Augen und glaubte, gleich ohnmächtig zu werden.

»Vielen Dank, Mr. Rafton. Und jetzt marsch, marsch ins Bett!«, befahl sie in strengem Tonfall.

Ich wollte nicht widersprechen. »Sie sollten sich auch besser ausruhen, Mrs. Trelawney. Nach einer Grippe sollte man sich nicht zu viel zumuten«, sagte ich leicht schwankend.

Die alte Dame grinste nur amüsiert. »Ich habe das Schlimmste schon hinter mir«, sagte sie. »Sie, Mr. Rafton, aber anscheinend noch nicht.« Wie recht sie damit hatte, würde ich erst später auf leidvolle Weise herausfinden.

Den Rest des Tages nutzte ich tatsächlich zur Erholung, und schon am darauf folgenden Tag glaubte ich, wieder fit genug zu sein, um mir einen kurzen Klaren zu gönnen. Aber bevor ich mit der Schnapsflasche in Berührung kam, begann am Abend für mich die Hölle.

7

Typisch für eine richtige Grippe bekam ich schnell hohes Fieber und Gliederschmerzen. Mrs. Trelawney hatte mich angesteckt. Das hatte noch gefehlt! In den ersten Stunden, in denen ich mich mehrmals übergab, ärgerte ich mich am meisten darüber, dass ich mich wegen der alten Dame nicht besaufen konnte. Das Letzte, an das ich mich noch klar erinnern kann, war, dass ich vor Anbruch der Nacht vierzig Grad Fieber gemessen und meine letzten Aspirin aufgebraucht hatte. Was danach folgte, waren Krämpfe, entsetzliche Kopfschmerzen und Halluzinationen. An die meisten davon kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern.

Fünf Tage dauerte es, bis ich wieder etwas bei mir behalten konnte. Das war zwar nicht die erste Grippe, die ich in meinem Leben hatte - und ich bin bestimmt kein Weichei - aber diese Grippe war besonders hartnäckig und keineswegs normal. Eigentlich sollte man wohl wenigstens zum Arzt gehen, aber ich hätte es nicht mal zum Telefonhörer geschafft. Das einzig Positive an der Sache war, dass ich nicht wusste, ob die Schmerzen, die Krämpfe und das Kotzen von der Grippe oder vom Alkoholentzug herrührten.

Am sechsten Tag hatte ich trotz entsetzlicher Kopfschmerzen und einer bleiernen Schwäche Hunger, musste aber feststellen, dass ich außer verschimmeltem Toastbrot nichts mehr vorrätig hatte. Ich rief bei einem mobilen Einkaufsservice an und ließ mir noch am selben Tag alles Mögliche liefern. Ich hatte mich die letzte Woche nur von vertrocknetem Brot und Wasser ernährt und brauchte nun wieder Kalorien. Gleich nachdem die Lieferung eintraf, machte ich mir vier große Spiegeleier und schlang sie mit frischem Baguette und einem Liter Orangensaft hinunter. Danach kroch ich wieder ins Bett und wollte schlafen. Doch bevor ich einschlafen konnte, überkam mich noch ein letztes Mal der heftigste Kotzreiz, den ich während dieser Monster-grippe hatte. Nachdem ich mich zum gefühlt hundertsten Mal übergeben hatte, konnte ich endlich erstmals entspannt schlafen.

Danach ging es langsam bergauf. Am achten Tag nach dem ersten Fieber, stellte ich erstaunt fest, dass ich seit zehn Tagen keinen Alkohol mehr getrunken hatte. Aber das Beste daran war, dass ich überhaupt kein Verlangen mehr danach verspürte. Gewiss, es war noch viel zu früh, um auch nur daran zu denken, eventuell von diesem Teufelszeug losgekommen zu sein, doch ich war guter Dinge. Die folgenden zwei Wochen kam ich ganz langsam wieder auf die Beine. Ich fühlte mich zwar noch immer elend, aber ich dachte, dass ich auf einem guten Weg war. Und das gab mir den Antrieb, den ich brauchte, um morgens überhaupt aus dem Bett aufzustehen.

Doch dann kam plötzlich der Einbruch: Mir wurde, befreit vom Dunst des Alkohols, bewusst, was aus mir geworden war. Mir wurde klar, dass meine Familie zerstört war. Dass ich meine Tochter verloren hatte, und dass meine Karriere in Trümmern lag. Ich war nur noch ein Häufchen Elend, das in einem Bademantel am Küchentisch saß und Ananas-Scheiben aus der Dose aß.

Mit diesen Gedanken trug ich mich die folgenden fünf Wochen. Währenddessen unternahm ich abermalig einen Versuch mit meiner Tochter sprechen zu dürfen, aber dieses Vorhaben scheiterte kläglich an meiner eisernen Ex-Frau, der ich daraufhin die Pest an den Hals wünschte.

Nicht ein einziges Mal habe ich während dieser Zeit das Haus verlassen. Ich wunderte mich über mich selbst, denn hätte ich nicht stolz darauf sein sollen, nichts mehr zu trinken? Hätte ich mich nicht wie neugeboren fühlen sollen? Das Gegenteil war der Fall. Die Realität, die ich mir literweise schön gesoffen hatte, fuhr über mich wie eine Keule.

Manchmal saß ich nur vor dem Fernseher und sah mir an, was gerade lief. Manchmal lag ich stundenlang in meinem Bett und weinte. Manchmal stand ich regungslos vor dem Spiegel und betrachtete grüblerisch mein schweigendes Spiegelbild. Ich aß, ich trank, ich wusch und rasierte mich. Ich funktionierte immer noch. Aber ich war alt genug, um mir nichts vorzumachen. Ich war zerbrochen.

8

Auf den Tag genau vier Wochen, nachdem ich krank geworden war, klopfte es wieder an meiner Verandatür. Ich saß gerade vor dem Fernseher. Es lief gerade eine Homeshopping-Sendung, in der ein neue, noch nie da gewesene Bratpfanne angepriesen wurde. Ich musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass es Mrs. Trelawney war.

»Die hat Nerven«, grummelte ich den Fernseher an.

Ich hatte alle Jalousien heruntergelassen, sodass sie mich nicht sehen konnte. Ich dachte, irgendwann würde sie schon wieder verschwinden. Aber da irrte ich mich.

Es klopfte erneut.

»Hallo Jack! Sind Sie da?«, schallte ihre gedämpfte Stimme in mein Wohnzimmer.

Die geht nie, dachte ich.

Ich stand auf und öffnete schließlich die Tür.

Mrs. Trelawney sah gesund und rosig aus.

»Ich habe so lange nichts von Ihnen gehört, da dachte ich, ich schaue mal nach und sehe, wie es Ihnen geht«, sagte sie.

Ich war ziemlich verstimmt. Sie hätte schließlich ja schon mal eher hier auftauchen können.

»Mir geht es bestens, danke der Nachfrage«, erwiderte ich in einem Tonfall, der unmissverständlich deutlich machte, dass es mir in Wahrheit beschissen ging.

»Sie sehen immer noch nicht gut aus, Mr. Rafton.«

Ich fühlte mich fast ein wenig geschmeichelt, denn ich fand beim Betrachten meines Spiegelbildes, dass ich große Ähnlichkeiten mit einer Leiche aufwies.

»Ich habe mir wohl noch auf meinen Infekt etwas drauf gesetzt«, sagte ich lauernd.

»Oh! Ich habe Sie doch nicht etwa angesteckt, oder? O, das tut mir aber furchtbar Leid. Aber das ist doch schon so lange her. Sind sie sicher, dass es nicht etwas Ernstes ist?«

»Nein, es ist nicht ernst Mrs. Trelawney, und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gern...«

»Ich wollte Sie keineswegs stören, sondern nur heute Nachtmittag einladen auf meine Veranda, eine kühle Limonade zu trinken«, unterbrach sie mich.

Ich war baff. Stets war ich nämlich der Ansicht gewesen, dass Mrs. Trelawney es vorzog, allein zu bleiben. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie Besuch gehabt hätte.

»Nun, ich... Ja, warum nicht. Sehr gern.« Ich fühlte mich überrumpelt, aber ich war ihr nicht mehr böse. Schließlich war letztlich sie es, die mich vom Alkohol weggeholt hatte.

Wie versprochen erschien ich pünktlich auf Mrs. Trelawneys Veranda um fünf Uhr nachmittags. Es war ein sehr warmer und sonniger April-Tag. Ich setzte mich auf einen alten Gartenstuhl aus Holz, der dringend imprägniert werden musste, und Mrs. Trelawney saß auf einer breiten Bank, auf der sie wohl immer zu verweilen pflegte. Ihre angebotene Limonade war wirklich außerordentlich schmackhaft. Sie schmeckte nach Limette. Der Geschmack erinnerte mich an irgendetwas aus meiner Kindheit. Zunächst redeten wir nur über Belangloses. Über das Wetter, über die Touristen und über den Ort Lost Haven.

Sie schien mich ein bisschen über meine Lebensgeschichte ausfragen zu wollen, und ich erzählte nur soviel, wie sie wissen musste. Zum Glück gab sie sich damit zufrieden und bohrte nicht nach. Über sich selbst plauderte sie auch ein wenig. Sie erzählte mir, dass es auch einmal einen Mr. Trelawney gegeben hatte, dass dieser aber schon vor vielen Jahren verstorben war. Ihr genaues Alter verriet sie mir natürlich nicht, und ein Gentleman fragt auch nicht danach, aber je länger ich mit ihr auf ihrer Veranda saß, desto unsicherer wurde ich bezüglich ihres Alters. Hier an diesem Ort sah sie viel jünger und lebendiger aus als auf meinem Grundstück.

Während wir saßen und unseren Limetten-Drink tranken, fiel mein Blick häufiger auf den Garten meiner Nachbarin, der zu dieser Zeit in einem sehr verwilderten Zustand war. Auch das Haus in dem die alte Dame wohnte, war schon ein wenig heruntergekommen. Überall pellte sich die weiße Farbe von den Holzlatten ab. Ganz besonders auf der Veranda.

Meine Blicke blieben nicht unbemerkt. »Ja, es ist ein altes Haus, aber ich liebe es, und ich würde nie von hier fortgehen. Für Renovierungen habe ich nicht genug Geld. Und ehrlich gesagt, möchte ich es auch gar nicht renovieren. Das Haus soll genauso altern, wie ich es tue«, sagte sie.

Ich lächelte. Der Gedanke gefiel mir.

»Und der Garten?«, fragte ich.

»Früher kam immer Mr. Hatch hierher und kümmerte sich rührend um meinen schönen Garten. Als er vor acht Jahren starb, konnte ich mir keinen Ersatz mehr leisten. Mr. Hatch, müssen sie wissen, arbeitete immer umsonst hier, weil er ein alter Freund der Familie war.«

Ich betrachte den Garten, das wilde Gras, die Trauerweide, und die großen Rhododendron an der Grenze zu meinem Grundstück.

»Ich könnte ja ein wenig ihren Garten in Schuss bringen«, schlug ich vor.

Mrs. Trelawney's Augen begannen zu leuchten. »O, aber Mr. Rafton. Das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Sie haben bestimmt Besseres zu tun, als für eine alte Frau den Garten zu gestalten.«

»Ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe nichts Besseres zu tun. Es würde mir Spaß machen. Mein Garten macht sich im Prinzip von selber. Da brauche ich nur ein paar Mal Rasen mähen. Das ist alles. Ich würde mich gerne um Ihren Garten kümmern«, sagte ich, und ich meinte es so, wie ich es gesagt hatte.

Mrs. Trelawney grinste und schien überglücklich. »Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet«, sagte sie und fasste sich an den Brustkorb. »Hach, ich bin ganz aufgeregt!«

»Dann stoßen wir darauf an«, sagte ich und hob mein Limettensaft-Glas.

Mrs. Trelawney wiederholte meine Geste.

»Auf den Garten«, sagte sie.

»Auf den Garten.«

Und so kam es, dass ich regelmäßig im Frühling mindestens dreimal die Woche und im Sommer in der Regel zweimal die Woche – abgesehen von meinen Einsätzen beim Rasensprengen – bei meiner Nachbarin die Gartenarbeit verrichtete. Es war für mich fast so etwas wie eine Therapie. Die ganzen negativen Gedanken konnte ich zuhause lassen. Auch nach dem Alkohol sehnte ich mich nicht zurück. Ich aß wieder mehr und kam zu Kräften. Und aus meinem Gesicht wich allmählich die Leichenblässe. Ich grub fast den gesamten vorderen Teil des Gartens um und säte neuen Rasen aus. Die Trauerweide und die Rhododendron bekamen neue Formschnitte. Außerdem pflanzte ich große Rosenbüsche in kleinen Inseln mitten im neuen Rasen. Mrs. Trelawney liebte Rosen. Als der Garten zu einem ansehnlichen Zustand zurückgefunden hatte, kam es, wie es kommen musste: Ich renovierte auch die komplette Veranda neu. Farbe abbeizen, Grundieren und Lasieren. Wenn ich nicht bei Mrs. Trelawney arbeitete, war ich im Baumarkt, um Werkzeug, Pflanzen, Lasur und dergleichen zu beschaffen. Selbstverständlich bezahlte ich alles aus eigener Tasche.

Die alte Dame war überglücklich und ich war, jedes Mal, wenn ich mein Tagwerk vollendet hatte, dankbar.

9

Aber zurück zu dem 14. September, an dem ich im Garten meiner lieb gewonnenen Nachbarin Rasen mähte.

Wie immer saß Mrs. Trelawney schon auf ihrer neu lasierten Bank mit der renovierten und in Elfenbeinweiß gestrichenen Veranda. Der obligatorische Limetten-Drink war bereits eisgekühlt bereitgestellt. Ich freute mich schon ganz besonders darauf, wusste ich doch, dass Mrs. Trelawney sich mit dem kalten Erfrischungsgetränk diesmal besondere Mühe gegeben hatte. Schließlich war der Sommer praktisch vorbei. Im Herbst kam ich nur selten, um das Laub zu harken. Und im Winter sahen wir uns manchmal wochenlang nicht.

Wie alles andere für den Garten auch, hatte ich den großen Benzin-Rasenmäher gekauft. Das kam mir sehr gelegen, denn für meinen Rasen leistete die schwere Maschine ebenfalls gute Dienste. Mrs. Trelawney döste stets vor sich hin, während ich den Rasen mähte – inklusive Rasenkanten schneiden, dauerte es immerhin gut zwei Stunden. Nur an einer einzigen Stelle, wenn sich die Maschine der vordersten Insel mit der Rose bedrohlich näherte, beugte sich meine Nachbarin vor und rief zu mir hinüber: »Passen Sie bitte auf den Rosen-Stamm auf.« Genau diese Worte sagte sie bei jedem meiner Einsätze. Und dann musste ich inne halten, mich umdrehen und ihr bestätigend winken. Dann umschiffte ich mit dem Mäher, mittlerweile übertrieben vorsichtig, die Rose, und wenn ich sie passiert hatte, sank Mrs. Trelawney wieder zufrieden zurück in ihre Bank. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum wir dieses Ritual wieder und wieder absolvierten. Aber ich glaube, nach dem Grund zu suchen, ist gar nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass es unser Ritual war.

Geisterzorn

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