Читать книгу Geisterzorn - S. G. Felix - Страница 7
Jack bekommt Besuch
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Am Nachmittag verabschiedete ich mich schließlich von Mrs. Trelawney und bedankte mich für die Erfrischung.
»Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Ich habe zu danken. Und übrigens können sie mich Elizabeth nennen.«
Ich war perplex. »Ich bin Jack«, sagte ich.
»Dann bis zum nächsten Mal, Jack«, sprach sie und winkte zum Abschied.
Ich ging zurück in mein Haus, duschte und aß noch ein Sandwich. Es war halb vier. Um sechs würde ich zu Peter fahren, um ihm sein Geschenk zu überreichen. Danach wollten wir essen gehen zusammen mit Beverly, die ich vorher noch einmal unter vier Augen sprechen wollte. Schließlich war das Essen ihre Idee gewesen.
Beverly Stevens wohnte in der Ixwich Street, welche – wie ich schon vorhin erwähnt habe - ausgehend von der Main Street den alten Friedhof von Lost Haven umschloss und wieder in die Main Street mündete. Beverly war neununddreißig Jahre alt und nach eigenen meist nicht ganz ernst gemeinten Aussagen Künstlerin. Das war keine Überraschung, war doch das Gros der Einwohner gut betuchte Künstler. Lost Haven war kein Ort für ehemalige Banker, die sich in ihrem Ruhestand nach einen Ort sehnten, in dem einst Geister ihr Unwesen trieben. Um hier dauerhaft leben zu wollen, war es unerlässlich, und sei es auch nur latent, an die Spiritualität dieses Ortes zu glauben. Dieser Ort war für viele die Hoffnung, ihrer Kreativität auf die Sprünge zu helfen, sie gar erstmals zu entfachen oder einfach nur zu erhalten. In Wahrheit aber war Lost Haven für viele nur eine Sackgasse, aus der man schwer wieder herauskam. Oder stecken blieb. So wie ich.
Beverly war auch eine sehr spirituelle Person, jedoch nicht im religiösen Sinne. Als sie das erste Mal von Lost Haven gehört hatte, sei sie sofort verliebt gewesen. Sie glaubte an Geister und hatte vor allem deswegen beschlossen, hierher zu ziehen. Sie wollte unbedingt einmal einen Geist sehen, sagte sie mir einmal halb im Scherz.
Ich traf sie zum ersten Mal – wie sollte es auch anders sein – bei Beaver’s Books. Das war vor zwei Jahren.
Kaum hatte ich damals den Laden betreten, sprach mich Beverly auch schon an.
Ich war zunächst von ihrer offensiven und direkten Art, mit der sie auf mich zuging, etwas befremdet, da ich mir über ihre Absichten nicht im Klaren war. Aber nach einem kurzen Gespräch wurde deutlich, dass sie maximal an einem intellektuellen Gedankenaustausch interessiert war. Für mich seit langem endlich wieder eine reizvolle Herausforderung.
Beverly schrieb viel Poesie und Gedichte für Kinder. Über ihr früheres Leben wollte sie aber auf meine Nachfrage hin nicht sprechen. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass man sich mit Gedichten ein Haus in Lost Haven finanzieren konnte. Die Immobilienpreise waren gepfeffert. Selbst nach dem Platzen der Immobilienblase.
Seither trafen wir uns öfter, meist im alten Café am Hafen und sprachen über ganz normale Dinge. Ich vertraute ihr soweit, dass ich ihr meine Situation erklärte. Ich erzählte ihr von meiner Scheidung und meiner Tochter, die ich nur alle paar Monate für ein paar Stunden zu Gesicht bekam. Ich beichtete ihr auch mein Alkoholproblem und die ungewöhnliche Art meines unfreiwilligen Entzugs. Beverly reagierte nicht mit übertriebener Anteilnahme oder falschem Mitleid. Sie unterließ es auch, mich zu kritisieren, sondern blieb vornehm zurückhaltend und enthielt sich eines Kommentars, der mich sowieso vermutlich nur wütend gemacht hätte. Ein Umstand, der mich sehr überraschte, hatte sie doch sonst stets zu allem und jedem eine Meinung. Sie akzeptierte mich so, wie ich war.
Wie gesagt, ich vertraute ihr.
2
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zur Ixwich Street. Ich hätte laufen können, wollte aber jetzt nicht mehr Zeit verlieren. Es war schon erstaunlich, dass Beverly es fertig gebracht hatte, Peter davon zu überzeugen, mit uns beiden essen zu gehen. Und das auch noch an seinem Geburtstag! Ich hätte bei diesem Vorhaben bei ihm auf Granit gebissen, aber Beverly konnte ziemlich hartnäckig sein. Weil ich nicht riskieren wollte, dass der Abend hässlich enden könnte, wollte ich Beverly vorher noch ein wenig instruieren. Dieses Essen widerstrebte Peter zutiefst, weil er es vorzog, allein zu bleiben.
Er sagte mir einmal, dass er gerne allein, nicht aber gerne einsam wäre.
Er trug, seit ich ihn das erste Mal kennen gelernt hatte, immer einen Schatten in seinem Gesicht mit sich herum. Es war ein Schatten aus der Vergangenheit, der sich nicht lösen konnte. Ein Schicksalsschlag. Vielleicht verstand kaum jemand besser als ich, dass es irgendwann einen Punkt gibt, an dem der Schmerz zu einem Teil von einem selbst geworden ist, und dass man sich nie wieder von ihm befreien konnte. Deshalb wusste ich auch, dass man Peter nicht in die Enge treiben durfte, und deshalb redeten wir nicht über unsere früheren Leben. Es war eine stumme Übereinkunft, die wir nie antasten würden. Nur auf diese Weise war unser Leben hier noch erträglich.
Das Ergründen und Erklären, das Begreifen und das Lernen, mit dem Schmerz umzugehen, so wie man es in einer Therapie machen würde, war für uns keine Option mehr. Denn es änderte nichts daran, dass wir beide etwas verloren hatten, das einem niemand mehr zurückgeben konnte, ohne das wir aber beide nicht mehr vollständig waren. Sicher, wir konnten damit irgendwie weiterleben. Aber zwischen Leben und bloßem Weiterleben liegen Welten. Ich wollte Beverly also zu verstehen geben, dass sie keinesfalls nach Anekdoten aus Peters Leben fragen sollte. Das war mir sehr unangenehm. Nicht nur, weil ich sie nicht bevormunden wollte, sondern auch, weil ich ja praktisch gar nichts über Peters Vergangenheit wusste, was ein Auslöser für eine unangenehme Situation aufgrund einer unbedachten Äußerung hätte sein können.
Beverly stand gerade an ihrem Briefkasten, als ich auf ihre Auffahrt fuhr.
Sie blätterte den Stoß Briefe durch. »Nenne mir mal ein Grund, warum ich den Briefkasten überhaupt noch aufmachen soll«, sagte sie und seufzte.
Ich vermutete, dass ihr die zahlreichen Werbebriefe auf den Wecker gingen.
»Schmeiß sie doch in den Müll.«
Sie sah mich an und deutete zustimmend mit dem rechten Zeigefinger auf mich. »Ein gute Idee, Mister.«
Sie strich sich eine Strähne aus dem Haar. »Also, was wolltest du mir noch schrecklich Wichtiges sagen? O warte! Ich weiß was Besseres! Ich lese es aus deiner Hand«, sagte sie und griff nach meiner rechten Hand, die ich aber schnell genug wegzog. Beverly machte sich nicht selten einen Spaß daraus, mich mit ihrem Esoterik-Kram aufzuziehen. Ich war kein Freund von Horoskopen, und Astrologie hielt ich für ausgemachten Unsinn. Beverly hingegen war von diesen Dingen überzeugt. Sie las zwar nicht jeden Tag ihr Horoskop, glaubte aber fest daran, dass irgendwelche Planetenkonstellationen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben würden. Sie glaubte, dass wir alle in einem Multiversum leben, in dem es unendlich viele Möglichkeiten gibt, und in dem alles schon einmal geschehen ist. Und wie sie nun mal so war, liebte sie es, mich mit derartigen Bemerkungen zu piesacken.
»Wenn ich wissen möchte, wann ich das nächste Mal anständigen Stuhlgang haben werde, dann werde ich deinen sechsten Sinn in Anspruch nehmen«, entgegnete ich.
»Ich bin entzückt!«
»Jetzt mal ernsthaft Beverly: Ich wollte noch kurz mit dir über Peter reden.«
»Ja, ja ich weiß. Ich soll ihm nicht zu nahe treten. Ich soll ihn nicht ausfragen. Ihr beide seid schon zwei komische Vögel, weißt du.«
»Immerhin geht er nur mit uns aus, weil er uns, respektive dir einen Gefallen tun möchte. Wer weiß, an was ihn sein Geburtstag erinnert? Es wäre sein gutes Recht, allein zu bleiben.«
»Darf ich denn wenigstens atmen, wenn wir im Restaurant sind?«, stichelte Beverly.
Ich presste die Lippen zusammen und zog die Brauen hoch.
»Schon gut, schon gut, tut mir Leid. Ich werde dich oder Peter nicht in Verlegenheit bringen. Für was hältst du mich?«
»Ich wollte ja nur...«
»Ja, ja ich habe es schon verstanden. Ich weiß doch, wie wichtig er dir ist.«
Ich schwieg.
Beverly musterte mich abschätzend. Ich mochte das nicht.
»Es wird euch aber gewiss nicht schaden, mal ein wenig unter Leute zu kommen. Peter und auch du, Ihr verkapselt euch doch sonst nur. Du wirst mir vielleicht gleich widersprechen, aber du solltest das Essen heute ein bisschen lockerer nehmen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Der eine mehr, der andere weniger. Peter ist ein erwachsener Mann. Du brauchst nicht auf ihn aufzupassen.«
Ich runzelte die Stirn und wollte schon widersprechen. Aber ich musste mir eingestehen, dass Beverly recht hatte. Vermutlich wollte ich nur nicht, dass Peter genauso abstürzte, wie es bei mir der Fall gewesen war. Kein Wunder, dass ich Beverly so zu schätzen wusste. Sie konnte einem die Dinge aus einer anderen Perspektive erklären, ohne dabei verletzend zu sein.
Ich lächelte. »Okay, ich glaube du hast recht«, sagte ich.
»Ihr holt mich dann ab?«
»Natürlich«, sagte ich, stieg wieder in den Wagen und fuhr nach Hause.
3
Pünktlich um 17.30 Uhr klingelte ich an der Tür von Peter Fryman. Peters Haus im Lexington Drive, nur etwa fünfhundert Meter entfernt von meinem Haus, war eines der kleineren in Lost Haven. So war auch das Grundstück nur etwa 500 Quadratmeter groß. Dafür aber bot es einen fantastischen Blick auf den Atlantik, weil das Grundstück gut 40 Meter über den Meeresspiegel ragte. Aus diesem Grund waren die Grundstücke auch hier die begehrtesten und folgerichtig die teuersten.
Ich musste daran denken, wie ich mit dem Kauf meines Hauses hier ein großes finanzielles Wagnis eingegangen war. Zum Glück war es gut gegangen. Während ich darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde, wippte ich nervös auf meinen Zehenspitzen und warf einen prüfenden Blick auf das Geschenk in meinen Händen. Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Tür geöffnet und zum Vorschein kam ein etwas müde wirkender Peter. Seine Haare wurden von Mal zu Mal, die wir uns sahen, länger. Aber was mir an diesem Tag besonders auffiel, war, dass er mächtig gealtert aussah. Peter sah erst mich und dann das in blaues Geschenkpapier verpackte Buch an. Er starrte einen Augenblick darauf, so als ob er zum ersten Mal in seine Leben ein Geschenk gesehen hätte. Dann sah er wieder mich an. »Was soll das denn?«, fragte er mit wenig Begeisterung. Jeder andere in meiner Situation hätte zu Recht beleidigt reagiert, hatte man doch mit seinem Präsent eigentlich eine andere Reaktion gewünscht. Aber wie ich bereits zuvor andeutete, war ein Geschenk für Peter eine heikle Angelegenheit.
»Es ist nichts Besonderes. Nur ein Buch«, sagte ich zurückhaltend.
Peter begann zu grinsen. »War nur Spaß. Ich habe es nicht so gemeint.«
Ich war erleichtert »Schon in Ordnung. Wenn du bei mir mit einem Geschenk aufgetaucht wärst, hätte ich sicherlich ähnlich reagiert. Nur habe ich das Glück, dass du meinen Geburtstag nicht kennst.«
»Also, mit einem Präsent hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.«
»Du kannst es später aufmachen. Also, kann es losgehen?«
»Lässt sich ja wohl kaum vermeiden«, antwortete Peter resigniert.
Nachdem wir Beverly abgeholt hatten und endlich im Restaurant am Hafen 'The Eagle' auf der geräumigen, von der Abendsonne verwöhnten Terrasse saßen, hatte ich den Eindruck, dies könnte wirklich ein ganz lustiger Abend werden. Peter und ich, wir waren in unserer momentanen Verfassung ganz bestimmt nicht die angenehmsten Gesprächspartner. Beverly aber verstand es, dieses Manko durch ihren flotten Witz und ihren unerschöpflichen Fundus an Anekdoten komplett wett zu machen. Kurz: Sie rettete den Abend.
Als wir uns das Dessert bestellten, kam es jedoch dann so, wie ich befürchtet hatte.
»Hmm! Das Himbeer-Sorbet ist fantastisch! Meint ihr nicht auch?«, fragte uns Beverly.
Ja, das Sorbet war wirklich vorzüglich. Aber für Peter und mich waren solche Wahrnehmungen nur noch rudimentär vorhanden. Für uns hatte die Welt an Farbe und an Geschmack verloren. Und das machte es schwierig, sich den Sinn für das Schöne zu bewahren.
»Ist wirklich toll«, sagte ich. »Oder, Peter?«
Ich blickte zu Peter, der rechts von mir saß, während ich das Sorbet mechanisch in mich hinein schaufelte. Peter hatte aufgehört zu essen und starrte mit bleichem Gesicht auf sein Dessert. Ich wusste genau, dass das, was er dort gerade sah, kein Sorbet war. Er ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten und war am ganzen Körper angespannt.
Es ist nicht aufzuhalten. Du kannst es nicht wegsperren. Irgendwann bricht es aus dir heraus, dachte ich traurig als ich erkannte, dass mein Freund gerade eine Panikattacke durchlitt. Ich selbst hatte davon schon genug gehabt, um das zu erkennen.
»Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte Peter auf einmal, sprang von seinem Stuhl auf und stürmte ins Innere des Restaurants Richtung Toiletten.
Ich blieb regungslos sitzen und sah Beverly in dieAugen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie auf eine Weise anzusehen, die sagte: Verstehst du jetzt, warum ich so vorsichtig bin?
Es vergingen ein paar Sekunden.
»Vielleicht gehst du besser mal nach ihm sehen«, schlug Beverly vor. Sie wirkte ein wenig zerknirscht und sprach viel leiser, als ich es von ihr gewohnt war.
»Geben wir ihm noch eine Minute«, sagte ich ruhig.
Beverly senkte enttäuscht den Blick. »Das hier«, sagte sie und deutete auf den Tisch, »war wohl doch keine so gute Idee.«
»Doch, das war es. Er fängt sich schon wieder«, tröstete ich sie. Sie hatte sich den ganzen Abend solche Mühe gegeben, für gute Stimmung zu sorgen. Und jetzt sah ich, dass sie sich nun schuldig fühlte.
»Ich gehe dann mal zu ihm«, sagte ich nach einer Weile.
Peter stand in der Herren-Toilette an einem der vier Waschbecken und ließ den Kopf zwischen den Schultern hängen. Zum Glück war gerade niemand außer uns in dem Raum.
»Und? Wolltest du nachsehen, ob ich mich in der Toilettenschüssel ertränkt habe?«, fragte Peter, ohne mich anzusehen.
»Nein«, sagte ich, schlenderte an ihm vorbei und steuerte das nächstbeste Urinal an. »Ich musste nur pinkeln. In meinem Alter kann man es nicht mehr so lange halten. Aber davon verstehst du Jungspund ja nichts.«
Peter hob immerhin wieder die Mundwinkel. Als ich fertig war, stellte ich mich an das Nachbar-Waschbecken und wusch mir gemächlich die Hände.
»Geht es wieder?«, fragte ich und sah Peters Spiegelbild an.
»Ja, aber ich glaube, ich möchte jetzt nach bald Hause. Ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen. Ob Beverly...«
»Sie wird es verstehen«, unterbrach ich seine Frage.
Und Beverly verstand es wirklich. Als wir wieder zu ihr an den Tisch kamen, hatte sie bereits die Rechnung beglichen.
»Eigentlich wollte ich...«, begann ich.
»Keine Diskussion! Ich zahle. Es war meine Idee.«
»Vielen Dank Beverly. Das war wirklich ein schöner Abend«, sagte Peter, wobei ihm die Worte nur schwer, aber überzeugend über die Lippen kamen.
Wir setzten Beverly zu Hause ab. Es gelang mir dann doch noch, Peter zu überreden, für eine Weile zu mir zu kommen, um den Abend ausklingen zu lassen.
»Das Bier musst du aber selber mitbringen«, witzelte ich. Ich hatte Peter erzählt, dass ich keinen Alkohol mehr trank. Mehr jedoch nicht.
»Kein Problem. Ich gebe mich mit einer eiskalten Cola zufrieden.«
4
Es wurde zehn Uhr am Abend. Wir saßen in meinem großen Wohnzimmer, dessen komplette Rückseite zum Garten hin verglast war. Michelle beschwerte sich früher immer, dass, obwohl das Wohnzimmer aufs Meer zeigte, man eben jenes nicht sehen konnte, weil ein kleiner Hügel, der sich über mehrere Grundstücke erstreckte, die Sicht versperrte. Ein anderes Haus stand damals jedoch entweder nicht zum Verkauf oder überstieg mein Budget. Mir war das jedoch ganz recht, weil das Haus dadurch besser vor dem Wind geschützt war.
Peter und ich saßen hier oft gemeinsam bis spät in die Nacht zusammen. Wir ließen es dunkel und hatten, wenn überhaupt, dann nur den Fernseher als Lichtquelle stumm laufen. Viel geredet wurde nicht. Und wenn, dann sprachen wir über Sport. Meistens über Basketball. Ab und zu warfen wir beide auch ein paar Körbe auf meiner Garagenauffahrt.
An diesem Abend verfielen wir, wie so oft, wenn uns die Vergangenheit einholte, in ein langes Schweigen.
Irgendwann stand ich von meiner Couch auf und ging zur Hifi- Anlage, über der ich in einem großen Regal meine umfangreiche CD-Sammlung aufbewahrte. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Für diese Momente hatte ich immer die passende CD. Und was würde in dieser Nacht besser passen als Beethoven Mondscheinsonate? Es war Peters Lieblingsstück. Immer wenn der Druck zu groß wurde und wenn die Erinnerung zu schmerzhaft war, bedienten wir uns der Musik. Wir mussten nicht über das sprechen, was uns bedrückte. Das übernahm die Musik für uns, denn sie war unser Kommunikationsinstrument. Wenn wir der Musik lauschten, bedurfte es keinerlei Worte. Nur wenn die Musik spielte, gab es unter uns ein einvernehmliches Verstehen, ein Teilen, das zwar nicht tröstlich, aber notwendig war. Notwendig zum Weiterleben.
Wir ließen die Klavierklänge durch den Raum driften, bis sich unsere Gedanken auf die gleiche Frequenz einstellten. Ich dachte daran, wie es wäre, wenn ich wieder mit meiner Tochter zusammen wäre. Wie ich sie zum Lachen bringen würde, und wie sie stolz auf ihren Papa wäre. Das mag für Sie vielleicht naiv oder infantil klingen, aber ich werde mich dafür garantiert nicht schämen, weil es ungeheuer gut tat. Peter, der auf dem Sessel mir schräg gegenüber saß, sah das, was nur für seine Gedanken bestimmt war, und was für ihn unerreichbar war. Und so saßen wir im Dunkeln, lauschten der Musik, schauten durch uns hindurch und blickten in eine Gegenwart, die nicht existierte.
5
Es war weit nach Mitternacht, als Peter schließlich gehen wollte.
»Ich werde morgen noch mal Beverly anrufen und mich bei ihr für den schönen Abend bedanken. Ich dachte schon, ich würde heute alles versauen«, sagte Peter, als er sich seine Jacke anzog.
»Das wird sie bestimmt freuen.«
»Glaubst du, dass sie sauer auf mich ist, weil wir den Abend so plötzlich abgebrochen haben?«
»Mach dir keine Sorgen. Wir reden hier schließlich über Beverly. Sie wäre die Letzte, die nachtragend wäre.«
Peter nickte und schaute mich nachdenklich mit müden Augen an. »Danke noch mal für dein Geschenk. Ich werde es zu Hause gleich aufmachen.«
»Das kann auch bis morgen warten«, sagte ich.
Als Peter das Haus verlassen hatte, schloss ich die Tür und hielt inne. Es war kurz vor ein Uhr morgens. Absolute Stille. Peters Panikattacke hatte mich viel mehr aufgewühlt, als ich mir gewünscht hätte.
Irgendwann bricht es durch dich durch. Alles vergeht. Ich kann es nicht aufhalten. Ich bin gezwungen, es zu spüren. Ich muss mit ansehen, wie die Welt jeden Tag um eine Farbnuance ärmer wird. Ich höre jeden Tag ein Vogellied weniger. Schmecke nur noch bitter. Kann das Meer nicht mehr riechen. Merke mir jeden Tag einen Namen weniger. Träume jede Nacht einen Traum weniger. Ich sehe nur noch eine Konstante. Den Pfad, den man nur einmal betritt.
Viel zu oft hatten Peter und ich zusammengesessen und Musik gehört, während wir Träumen nachjagten. War das genug? Reichte das zum Weiterleben? Ich wunderte mich nicht, als in mir die Erkenntnis reifte, dass wir unsere Zeit nur deshalb mit Träumen vergeudeten, weil uns letztlich der Mut fehlte, dieser traurigen Existenz ein Ende zu setzen.
Warum eigentlich nicht?
Wie oft war ich schon an diesem Punkt angelangt? Wie oft hatte ich mir schon Gedanken darüber gemacht, mich umzubringen?
Warum eigentlich nicht?
Wie viele Möglichkeiten hatte ich nicht schon in Erwägung gezogen, es zu tun? Wie oft war ich schon kurz davor gewesen, es zu tun? Und wie oft hatte ich kurz davor den Schwanz eingezogen und war weinend in mein Bett gekrochen? Es war ein merkwürdiges, fast unbeschreibliches Gefühl, als ich alleine im Flur meines Hauses stehend sagte: »Nein, heute kann ich es tun.« In dieser Nacht verspürte ich das erste Mal diesen Mut, der sonst gefehlt hatte.
»Warum eigentlich nicht?«, sagte ich und griff wie in Trance nach den Autoschlüsseln auf der Kommode, als plötzlich das Quietschen einer Tür im ersten Stock meine Gedanken unterbrach und mich zusammenzucken ließ.
Das Quietschen kannte ich nur zu gut. Es war die Tür zu meinem Schlafzimmer. Sie quietschte immer ein wenig, wenn man sie auf den letzten Zentimetern ganz langsam zu- oder aufzog.
Aber von alleine hatte sie noch nie gequietscht, auch dann nicht, wenn es im Haus Zug gab, weil ein paar Fenster offen standen. Verunsichert horchte ich in die anschließende Stille und schaute die Treppe hoch, an deren Ende es dunkel war. Ich bin kein ängstlicher Mensch. Aber ich spürte, wie mein Herz pochte, weil ich wusste, dass ich immer die Tür zum Schlafzimmer geschlossen hielt, wenn ich mich nicht dort drin befand.
»Hallo?«, fragte ich in die Dunkelheit. Kaum hatte ich das getan, kam ich mir reichlich dämlich vor.
Ich betätigte den Lichtschalter an der Treppe für das Obergeschoss. Dann ging ich entschlossenen Schrittes nach oben. Im Obergeschoss gab es drei Schlafzimmer, ein Bad und ein kleines Arbeitszimmer, in dem ich früher vorhatte, meine Romane zu schreiben. Heute diente es nur noch als Rumpelkammer. Mein Schlafzimmer war auf der dem Garten beziehungsweise der zum Meer zugewandten Seite. Die Treppe verlief auf dieses Zimmer gerade zu. Oben angelangt stellte ich fest, dass die Schlafzimmertür tatsächlich ein Stück weit offen stand. Ich zögerte einen Moment. Dann machte ich die Tür ruckartig ganz auf und schnellte mit der Hand zum Lichtschalter. Ich atmete erleichtert auf, als ich mein Schlafzimmer so vorfand, wie ich es erwartet hatte. Leer. Ich griff mir mit spitzen Fingern an meine Brille und schob sie zurecht. »Trottel.« Ich hatte wohl einfach vergessen, die Tür zu schließen, auch wenn das nicht erklärte, warum sie sich überhaupt bewegt hatte. Alle anderen Türen und Fenster im Obergeschoss waren verschlossen. Aber das war mir in dem Moment egal. Ich war unglaublich müde. Vergessen waren die Selbstmordgedanken. Mal wieder.
Ich ging ins Bad und wollte noch mal duschen, bevor ich schlafen ging. Als ich mich ausgezogen hatte und den Hahn aufdrehte, hörte ich plötzlich ein lautes Poltern von unten. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich in der Dusche fast ausgerutscht wäre. Hektisch schloss ich den Wasserhahn, krallte mir ein Handtuch und stürmte die Treppe runter. Während ich die Stufen hinunter hastete, fiel mir ein, dass ich den Fernseher nicht ausgemacht hatte. Vielleicht war der Ton plötzlich angesprungen? Ich machte überall Licht. Zuerst im Flur, dann im Wohnzimmer und dann in der Küche. Der Fernseher war zu meiner Überraschung aus.
Hatte ich ihn ausgemacht? Nein.
Vielleicht hatte Peter ihn ausgeschaltet, als ich nicht hingesehen hatte. Aber das war eigentlich völlig egal, denn woher kam das verdammte Poltern? Nacheinander kontrollierte ich alle Fenster und die Verandatür. Alles dicht. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich ratlos in meinem Wohnzimmer um. Wie es in meiner Natur lag, suchte ich nach einer rationalen Erklärung.
Der Fernseher! Vermutlich hatte er sich aufgrund einer Störung von selbst ausgeschaltet, als ich oben im Bad war und hatte dabei ein Störgeräusch über die Lautsprecher ausgegeben. Sogleich griff ich nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ein. Bild und Ton waren ganz normal. Ich wartete noch einen Moment, dann stellte ich den Fernseher endgültig ab und zog sicherheitshalber den Stromstecker aus der Steckdose. Da ich die Möglichkeit eines potentiellen Einbrechers nicht ausschloss, überprüfte ich nochmals sämtliche Räume im Haus und drehte mit einer Taschenlampe eine Runde durch den Garten. Anschließend entschloss ich mich, überall Licht brennen zu lassen und ließ überall die Jalousien runter. Ich duschte danach noch ganz leise, immer ein Ohr nach draußen gerichtet. Aber es blieb still. Müde sackte ich in die Mitte des Ehebettes und legte meine Brille auf den Nachttisch am Fenster. Die Schlafzimmertür ließ ich ein großes Stück weit offen. Ich löschte das Licht und blickte zum Türspalt. Es drang genug Licht zu mir herein, so dass ich mich sicher fühlte, aber nicht soviel, dass es zu hell wurde. Normalerweise schlief ich immer bei völliger Dunkelheit, weil ich so einen besseren Schlaf bekam.
Ich lag noch eine gute Stunde so da, den Blick auf den Türspalt gerichtet.
Es dauerte bis halb vier Uhr morgens, bis ich endlich eindöste. Doch bevor ich in richtigen Schlaf versank, verspürte ich auf einmal einen stechenden Kopfschmerz, der von der linken Schläfe ausstrahlte und sich dann schnell im ganzen Kopf ausbreitete.
»Mann! Was ist das denn jetzt wieder?«, sagte ich entnervt und rieb mir die Schläfe. Ich litt nur sehr selten unter Kopfschmerzen. Nach so einem Tag wie heute war für mich ein Brummschädel jedoch keine große Überraschung. Als ich noch getrunken hatte, bekam ich nie Kopfschmerzen. Der Gedanke, jetzt aufzustehen zu müssen, ins Bad zu gehen, um mir Kopfschmerztabletten zu nehmen, missfiel mir, da ich gerade noch kurz vorm Einschlafen gewesen war.
Widerwillig zog ich die Bettdecke weg und just in diesem Augenblick überfiel mich eine eisige Kälte, die mir schlagartig eine Gänsehaut bescherte. Zunächst dachte ich mir nichts Schlimmes dabei, sondern hoffte nur, dass ich nicht Schüttelfrost und Fieber infolge einer Infektion bekam.
Doch dann, kurz bevor ich mich im Bett aufrichtete, quietschte die Schlafzimmertür. Ich schrie auf und riss den Kopf herum. Irgendein schwarzer Umriss bedeckte einen Teil des Türspalts und verhinderte das Eindringen des Lichts von draußen. Ohne meine Brille konnte ich nichts Genaueres erkennen. Panisch streckte ich meinen Arm nach der Nachttischlampe auf der anderen Seite des Bettes aus. Statt den Schalter zu ergreifen, schlug ich ungelenk die Lampe zu Boden. Ich krabbelte an den Rand des Bettes und tastete mit den Händen nach der Lampe. Statt der Lampe ergriff ich sofort den Schalter am Stromkabel und drückte drauf. Zu meinem Glück funktionierte die Lampe noch. Ich warf mich im Bett herum und starrte auf den Türspalt. Es war nichts zu sehen, soweit ich das ohne Brille beurteilen konnte. Mit dem Blick auf die Tür gerichtet, tastete ich nach meiner Brille auf dem Nachttisch. Sie war aber nicht mehr dort, weil ich sie zusammen mit der Lampe auf den Boden befördert hatte.
»Verdammt!« Ich sah noch einmal zur Tür, dann stand ich auf und suchte auf dem Boden nach meiner Brille. Es schien endlos lange zu dauern, bis ich sie endlich fand und mir auf die Nase schob.
Auf Knien hinter dem Bett hervorlugend schaute ich zur Tür. Und wartete ab. Mehrere Minuten. Nichts geschah. Immer noch auf Knien sackte ich mit dem Kopf aufs Bett und seufzte erleichtert. Langsam kehrte mein logisches Denken wieder zurück, und ich fahndete fieberhaft nach einer nachvollziehbaren Erklärung.
»Das hast du dir eingebildet, du Arsch!« Anders war das Erlebte nicht zu erklären. Ich war kurz vorm Einschlafen gewesen. Da vermischen sich schon mal Traum und Realität.
Prüfend betrachte ich erneut die Tür.
Hatte ich sie nicht viel weiter aufstehen lassen, als sie es jetzt war? Jetzt war sie bis auf ein paar Zentimeter zugezogen.
»Nein«, sagte ich zu mir. Oder doch?
Wenn sie doch vorher weiter aufgestanden hatte, dann musste das Ding, das ich gesehen hatte, sie von draußen zugezogen haben. Das heißt, das Ding war im Hinausgehen begriffen, was wiederum heißen würde, dass das Ding vorher schon hier in diesem Raum war!
Die Kälte!, dachte ich erschrocken. Da war nichts!
»Ah, komm wieder zu Verstand«, sagte ich und schlug mir mit flachen Händen gegen die Stirn.
Da fielen mir die Kopfschmerzen ein. Sie waren verflogen, als sei nichts gewesen. Wie konnte das sein?
Das Adrenalin, Dummkopf!
Ich atmete ein paar Mal tief durch. Dann erhob ich mich und machte wieder eine Runde durch das Haus, kontrollierte Fenster und Türen. Ich kam mir vor wie ein dummer Junge, der Angst vorm Dunkeln hatte, als mein Rundgang ergebnislos endete. Ich ging wieder nach oben, legte mich aufs Bett und ließ alle Lichter im Haus brennen. Die Schlafzimmertür machte ich dieses Mal fest zu. Einen Schlüssel dafür gab es nicht. Ich war hundemüde, zwang mich aber, wach zu bleiben. Erst als es dämmerte, traute ich mich, das Licht im Schlafzimmer zu löschen und schlief einen traumlosen und kurzen Schlaf.