Читать книгу Binas Kurzgeschichten - Sabina Ritterbach - Страница 5
Tschiko
ОглавлениеFranz streute sich Zimt mit Zucker auf den Apfelpfannkuchen; er aß schon den Zweiten. Zu Annette, seiner Mutter, die schon mit dem Essen fertig war und ihm noch mit einem Espresso Gesellschaft leistete, sagte er:
„Wir haben seit den Herbstferien einen Neuen auf der Schule, nicht in meiner Klasse, in der Vierten, er ist viel größer als alle anderen und auch älter. Er spricht nicht gut deutsch. Er sagt zu mir immer: „Geht gut?“ Er passt auf mich auf.
„Ich finde das lieb“, sagte Annette, „wie macht er das, das Aufpassen?“
„Er sitzt nur auf der Bank neben der Kastanie und wenn mir einer grob kommt, braucht er nur aufstehen, da lassen sie mich schon in Ruhe.“
„Du hast also so etwas Ähnliches wie einen Schutzengel?“ Franz nickte. „Tschiko heißt er“, sagte er.
„Bring ihn doch mal mit hierher, wäre das nicht schön?“ Franz überlegte kurz.
„Ich glaub er fände die Idee nicht gut. Er will lieber allein bleiben. Er spielt mit Niemanden. Er ist ein wenig komisch.“
Franz aß weiter, er kaute langsam und man konnte sehen, wie ihn das Thema beschäftigte und tatsächlich fuhr er nach wenigen Bissen mit seiner Erzählung fort. „Einmal haben mich welche an die Mauer gedrückt, festgehalten und den Kopf verdreht. Da ist er aufgestanden, hat den Größten um die Taille genommen, hat ihn ein Stück getragen und abgestellt, weiter nichts, als er zurückkam sind die anderen fortgelaufen. Dann hat er sich vor mich hingestellt, mich noch lange angeschaut und gefragt: „Du heißen?“
Einige Wochen später lehnte Franz an der Wand gegenüber dem Lehrerzimmer, er rutschte langsam rückwärts hinunter, bis er neben seinem Tornister auf dem Boden saß. Er zog die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und wartete. „Wäre Tschiko da gewesen, wäre das nicht passiert“, dachte er. Warum habe ich immer wieder diese Kopfschmerzen im ganzen Körper. Er war wieder einmal ganz aus der Kontrolle, sozusagen kopfüber ins Verderben gestürzt.
Man hatte seine Mutter benachrichtigt und nun war sie im Lehrerzimmer. Franz wusste, wie viel Umstände das für sie machte; Termine mussten verlegt werden, sie musste Patienten nach Hause schicken.
„Warum, warum?“, dachte er unglücklich. Er hatte sich doch geschworen, dass das nie mehr geschehen sollte.
Schließlich öffnete sich die Lehrerzimmertür und Annette trat in den Flur. Sie stieß Franz ein wenig mit der Schuhspitze an, er hob den Kopf und sie sah die dicke Beule über der Augenbraue. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn hoch.
„Lass uns heimgehen Krieger!“
Sie nahm Franz den Tornister ab und er trollte beschämt neben ihr her.
„Es ist doch schon viel besser geworden“, sagte sie „und eines Tages hört das einfach ganz von selbst auf. Das fühlst du doch auch.“
Franz nickte und dachte, jetzt tröstet sie mich auch noch, an ihrer Stelle würde ich mir Eine scheuern. Annette musste wieder in die Praxis und Franz war bis zum Mittagessen sich selbst überlassen. Er putzte als Buße ohne Aufforderung den Meerschweinkäfig, streichelte abwesend seine Tiere und ging dann, weil er sich so unruhig fühlte, mit dem Ball in den Hof. Dort hatte ihm sein Vater den Basketballkorb aufgehängt. Franz zielte und warf den Ball und dann noch einmal und immer wieder, aber er war nicht bei der Sache, er traf nicht. Deprimiert setzte er sich auf die Treppe, am liebsten hätte er geweint.
„Tschiko, wo warst du heute“, jammerte er.
Schutzlos war er der Bande, die ihn auf dem Kicker hatte, ausgeliefert gewesen. Schon in der ersten kleinen Pause, hatten sie bemerkt, die Bank unter der Kastanie war leer. Tschiko fehlte, sie hatten freie Bahn. Und dann hatten sie ihn geärgert und er war ausgerastet und hatte einem den Zeigefinger gebrochen. Das ‚Gebrüll’ klang ihm immer noch in den Ohren.
„Kannst du mit der Beule zum Judo“, fragte Annette. „Dir ist doch nicht etwa schwindelig oder so?“, und sie strich ihm zart über die Stirn und das brachte dass Fass zum überlaufen und er fing an zu heulen. Er kippte gegen seine Mutter und sie hielt ihn in ihren Armen. Sie wusste, dass es Zeit brauchte, bis er sich beruhigen würde.
Er ist groß geworden, dachte sie und fühlte seine knochigen Schultern, kein Babyspeck mehr, das kleine Kind war dahin. Annette versank in Erinnerung, sie hörte die Stimme am Telefon, das war schon so lange her, aber es war alles unvergessen, ganz nah.
Annette und ihr Mann hatten eine so lange Prüfung und Wartezeit hinter sich gebracht, ihre Hoffnungen waren schon begraben. Annette hatte ihre Krankengymnastik-Praxis ausgebaut, das Kinderzimmer war schon lange zweckentfremdet. Und dann dieser Anruf, welche Aufregung.
Das Kind, ein Kleinkind, ein Junge, er kam aus dem Krankenhaus, verschreckt, nervös, zurückgeblieben. Er hieß Micha. Er schrie und schrie bis Annette fast am Ende war. Wochenlang trugen Annette und Theo, ihr Mann, ihn abwechselnd. Er klammerte sich an sie, als würde er ertrinken. War er nicht auf ihrem Arm, lief er neben ihnen her, voller Panik, als fürchte er man würde ihn verlassen.
Eines Morgens entdeckte er über einen Stuhl liegend Theos rot- weiß gestreiftes T-Shirt. Mit einem Aufschrei riss er das T-Shirt vom Stuhl und warf sich schluchzend darauf. Er ließ dieses Teil nicht mehr los. Er schleppte es mit sich, er flüsterte mit ihm. Es gehörte zu seinem Leben und war nun schon ganz schlapp und löchrig. Noch immer lag er jede Nacht mit dem Gesicht auf diesem T-Shirt.
Die Pausen zwischen seinem Schreiereien und Wutanfällen wurden länger. Die Eltern atmeten auf und schöpften Hoffnung.
Kurz nachdem er drei Jahre geworden war, wurde ihnen mitgeteilt, dass seine leibliche Mutter verstorben war. Sie verstarb an einer Lungenentzündung, ihr von Drogen gebeutelter Körper hatte keine Kraft mehr gehabt.
Die Adoption war nur noch eine reine Formsache.
Es wurde gefeiert, eine richtige Familienfeier und der kleine Sohn wusste genau was gefeiert wurde. Er redete, lachte und rannte zwischen Großeltern, Tanten und Onkeln hin und her. Er saß auf Vater Theos Schoß, wie ein Prinz und hielt Hof. Es wurden Gläser gehoben und Tost ausgesprochen. Der frischgebackene Großvater war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, hatte aber das Bedürfnis eine Rede zu halten; das konnte auch die Oma nicht verhindern. Er hielt sich an der Tischkante fest und rief: „Hoch auf unseren jüngsten Berger“, viel mehr fiel ihm nicht ein, aber Oma sagte, „Micha jetzt hast du einen neuen Namen, unseren Namen, wir freuen uns.“ Und Opa rief: „Du darfst dir etwas wünschen.“
Der Vater ermunterte Micha, als er sah, dass dieser in tiefe Nachdenklichkeit versunken war.
„Los, sag es“ flüsterte er ihm zu. „Los, sag deinen Wunsch.“
„Ich wünsch mir noch einen neuen Namen.“ Gelächter erfüllte den Raum.
„Er kriegt den Hals nicht voll“, schrie Opa voll Vergnügen. Die Gesellschaft konnte sich kaum beruhigen. Sie achteten nicht auf den Jungen, aber der Vater merkte an seiner Körperhaltung, dass er verängstigt war. Und nur zu ihm gewandt, sagte er: „Wie willst du heißen?“
„Frantek“, wurde ihm ins Ohr geraunt.
„Gut“, sagte der Vater, „wir machen alles neu.“
„Micha, erinnerst du dich noch an Antonio in Eraclea?“ Der Kleine nickte.
„Antonio würde bei uns Anton heißen und Frantek heißt bei uns Franz, verstehst du?“
„Ja“, sagte Micha gedehnt, „aber ganz manchmal, wirklich nur ganz manchmal, sagt ihr auch ‚Frantek’ zu mir.“
„Okay, und nun sag ihnen wie du heißt!“
„Franz Berger, Franz Berger“ rief er von Vaters Schoß rutschend und machte ein kleines Freudentänzchen. Darauf wurde noch sehr oft das Glas gehoben.
Nach diesem glücklichen Abend, schrie und tobte Franz, er war nicht zu beruhigen. Irgendwann schlief er dann erschöpft auf dem rot-weiß geringelten T-Shirt ein. Die jungen Eltern waren ratlos und verzweifelt.
Theo und Annette nahmen psychologische Hilfe in Anspruch und sie vertrauten der Zeit. Und richtig, die Anfälle wurden seltener. Franz war ein süßes Kind, lebhaft und gescheit. Der Kindergarten machte ihm Spaß, er fand Freunde. Ab und wann erschreckte er die Erzieherinnen, wenn er aggressiv ausrastete und um sich schlug.
Der erste Schultag – wieder ein Familienfest. Schulisch hatte Franz keine Probleme und auch sportlich war er sehr gut. Aber es gab Klassenkammeraden, die sofort merkten, womit sie ihn außer Kontrolle bringen konnten. Sie piesackten Franz und trieben ihn in die Enge. Sie freuten sich, wenn er so richtig tobte und sich damit ins Unrecht setzte.
Franz hatte sich beruhigt, sein lautes Heulen, war in Schluchzen und Wimmern übergegangen, es dauerte noch ein Weilchen, dann war Ruhe. Annette schob ihn sanft vom Schoß. Sie ging in die Praxis und Franz machte Hausaufgaben.
Am nächsten Morgen nach der Prügelei begleitete Annette ihren Sohn in die Schule. Sie hatten eine große Packung Legos gekauft, die sollte der verletzte Junge bekommen und Franz musste sich entschuldigen. Er hatte Angst und flehte innerlich „lieber Gott, laß Tschiko da sein.“
Annette begleitet ihn nur bis zum Schultor, alles andere musste er selbst machen, da half ihm nichts.
Der Finger war gegipst, die Riesenpackung Lego wurde bewundert, der Patient wurde beneidet. In der Pause herrschte Waffenstillstand. Tschiko war nicht da. Es vergingen weitere Tage, immer noch Ruhe auf dem Schulhof und Tschikos Platz blieb leer.
„Mama, ich mach mir solche Sorgen um Tschiko“, sagte Franz.
„Wenn er bis zu den Weihnachtsferien immer noch nicht in die Schule gekommen ist, soll ich mich dann mal erkundigen?“ Franz nickte dankbar.
Am Nachmittag gingen Annette und Franz einkaufen. Die Stadt war weihnachtlich herausgeputzt. Franz fieberte der Einkaufspassage entgegen. Dort gab es einen großen Spielwarenladen und das Schaufenster war mit Szenen aus „Herr der Ringe“ dekoriert. Es gab alles, was auf Franzens Wunschzettel stand. Zauberstab, Schwert und furchterregende Helme.
Die Passage war wunderbar dekoriert, überall glitzerte und funkelte es. Weihnachtliche Musik brachte die Kundschaft in Stimmung. Es war sehr warm. Franz riss sich die Mütze und den Schal herunter und stopfte alles – samt Handschuhe – in Annettes Einkaufstasche. Beide öffneten ihre Anoraks.
Sie hatten schon die wichtigsten Einkäufe erledigt und waren nun auf der Zielgeraden zum Spielwarenladen, da blieb Franz abrupt stehen, klammerte sich an Annettes Hand und zeigte zitternd vor Aufregung in Richtung Spielwarenschaufenster. Franz war vollkommen außer sich und Annette versuchte den Grund dafür herauszubekommen. Sie schaute in die Richtung, dahin, wo seine wildfuchtelnde Hand hinzeigte, dort sah sie einen kräftigen blonden Jungen stehen. Der Wärme wegen hatte er seinen Anorak ausgezogen. Er hielt ihn lässig in der Hand. Er trug ein rot-weiß geringeltes T-Shirt und schaute vollkommen versunken in die Zauberwelt, die sich ihm dort hinter der Scheibe bot.
„Tschiko, Tschiko“, hörte Annette durch das Wimmern von Franz.
Annette starrte auf den blonden fremden Jungen, der sah und hörte nichts. Er hörte auch nicht die Rufe einer Frau, die eben aus dem Drogeriemarkt gegenüber gekommen war. Die Frau rief ungeduldig: „Frantek, Frantek komm endlich, wir müssen weiter.“
Annette kniete sich hin und hielt Franz fest, sonst wäre er auf die Fliesen gestürzt. Franz schrie und schrie, denn er hatte das Gefühl immer kleiner zu werden. Er war nun ganz klein und hilflos und man zerrte an ihm, seine kleinen Fäuste hatten sich in ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt verkrallt und er wurde von einem Jungen gehalten, der genau so schrie wie er, aber man trennte sie und er fühlte nur noch Krankenhaus.
Annette hielt ihren schreienden Jungen fest in den Armen, er schrie nur ein Wort: „Frantek!“.
Durch die Menschenmenge, die sich gesammelt hatte, bahnte sich Tschiko einen Weg zu den beiden. Als er nah genug bei ihnen war, riss Franz mit beiden Händen das T-Shirt an sich und vergrub sein Gesicht darin. Der große Junge hielt ihn fest, Annette rappelte sich hoch und schaute hilflos auf die beiden.
„Micha“, sagte der große Junge und streichelte den kleinen und dann lächelte er und schaute Annette in die Augen und das Lächeln vertiefte sich und er sagte: „Bruder“.