Читать книгу Binas Kurzgeschichten - Sabina Ritterbach - Страница 6

Die Perle

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Er war der Coolste, den es überhaupt gab. Er trug T-Shirts, Mützen und Jacken mit dem richtigen Label. Seine Hosen hingen da, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten. Lässig hielt er sie mit einem gedrehten Strick zusammen. Alles was er tat, war cool und nachahmenswert und so sah man auf dem Schulhof schon jede Menge um die Hüfte geschlungene Stricke. Natürlich schauten auch die richtigen Schuhe unter den gestauchten, leicht fransigen Jeans hervor.

Das braune, leicht gewellte Haar, fiel ihm wie ein Schleier auf die Schulter, über die Stirn und die Augenbrauen. Der Blick war cool, die Augenfarbe ein warmes Bernstein.

Seine schulischen Leistungen waren hervorragend. Er musste dafür weder hart lernen, noch büffeln. Also, war er auch kein Streber. Er spielte Klavier, Gitarre, Tennis, Fußball, es fiel ihm leicht, es machte Spaß. Er war nicht sehr gesellig, redete nicht viel, aber wenn, waren seine Worte cool und hatten Gewicht.

Er war schön, in seiner sehnig, schlaksigen Art.

Einen besten Freund hatte er nicht, aber eine treue Gefolgschaft.

Immer und überall wurde er eingeladen und es war eine Ehre, wenn er auf einer Party erschien. Er macht sich rar. Seine Geschenke, wenn er welche hatte, wurden mit innerer Erregung entgegengenommen und ausgepackt.

Eine Schnecke mit gelben Häuschen, auf einem Blatt, im Marmeladenglas, war seine letzte Gabe. Die bunten Origamivögel wurden mit Freudenquikern begrüßt.

Er verschenkte Gutscheine z.B. für eine Stunde Aussicht auf dem World Trade Center und niemand fand es makaber, oder einen Zoobesuch in Sydney, Versteckspielen im Louvre. Bevorzugte, wurden ins Auenland geladen. Die Bevorzugten allerdings, hatten das Fest auszurichten. Am Rhein in einer sandigen Bucht wurde das Lager aufgeschlagen. Es wurde reichlich für Essen und Trinken gesorgt. Campingdecken, Fackeln und viele Teelichter sorgten schon in der Dämmerung für die richtige Stimmung. Kam er dann, mit seinem Gitarrensack wiegenden Schritts zwischen den Weiden auf sie zu, ja, erst dann wurde das Fest das, was sie sich erträumt hatten.

Viel brauchte er nicht zu tun, ein wenig an den Gitarrenseiten zupfen, leise ein Lied singen oder summen, das reichte, die Mädchen waren fertig.

Die anderen Jungen brauchten Alkohol um sich locker zu machen und dann wurde oft mit muntermachendem Grölen und exstatischem Springen übers Feuer gesungen.

An dererlei Spielen beteiligte er sich nie, er flirtete unverbindlich mit den Mädchen, gesellte sich freundschaftlich zu den Jungs und immer hatte man das Gefühl, er wäre gar nicht richtig anwesend. In einem unbeachteten Augenblick war er dann fort, immer allein.

Beobachter wurden das Gefühl nicht los, er warte auf etwas. Er war auf der Suche.

Die Sommerferien waren plötzlich da und der Freundeskreis wurde für sechs Wochen auseinander gerissen.

Er machte Urlaub in den Staaten und dort sorgte er für den Winter vor, in seinem Gepäck befand sich ein supercooles Snowboard mit allem drum und dran. In der ersten Englischstunde, sprach er ein cooles Amerikanisch.

Aber noch war Sommer. Im nächsten Jahr würde es ernst werden, dann waren sie in der Oberstufe.

Der Mathelehrer brachte sie ins Klassenzimmer mit. Er stellte kurz die Klasse vor, dann stellte sie sich vor, keiner hörte genau hin, nur der Name „Rosalie“ blieb hängen. Komischer Name, blöder Name, altmodischer Name. Ja, ein wenig wie der Name war auch sie, altmodisch. Das Gegenteil von cool. Rosalie würde es im Klassenverband nicht leicht haben. „Was für blöde Klamotten, Geschmack wie eine Kuh,“ hörte Rosalie und sie hörte es nicht, es schien sie nicht zu interessieren.

Bald war allen klar, Rosalie hatte kein Geld, die Familie besaß kein Auto, keinen Garten, kein Internet, und sie versuchte auch nicht diese Tatsachen zu vertuschen. Wie sagten die Mädchen, „sie lässt es sogar raushängen“. Na gut, Babysitten, das ging noch, aber Kisten ordnen im Getränkeshop und den Boden wischen, peinlich. Am schwarzen Brett in der Schule bot sie Nachhilfestunden an. Zähneknirschend waren sich alle einig, dafür war sie geeignet, mit ihren schulischen Leistungen, konnte sie beinahe dem Klassenidol das Wasser abgraben. Brauchte jemand aus der Klasse Hilfe, war sie freundlich, unkompliziert und kompetent. Sonst war sie fast unsichtbar.

Rosalies Platz war schräg hinter Lorenz. Beugte er sich über seine Bücher, sah sie nur den braunen, seidig schimmernden Vorhang. Erst wenn er sich aufrichtete und er sein Haar in den Nacken schüttelte, sah sie sein klassisches, ein wenig strenges Profil.

Seine ernst vorgetragenen klugen Antworten, besonders in Philosophie und Ethik überzeugten sie. Es dauerte keine zwei Monate und Rosalie war verloren. In ihrem Kopf summte es „Rosalie und Lorenz, Lorenz und Rosalie“.

Rosalie war etwas für den Kennerblick, man entdeckte sie erst auf den zweiten oder dritten Blick. Sie war blass, nein nicht blass, schimmernd wie edles Porzellan. Ihre Augen grün-blau, ruhiger, abwartender Blick, freundlich, leicht verträumt. Das Haar nicht richtig blond, heller, silbriger und davon so viel. Wenn sie nicht diese straff zurückgekämmten, zwei im Nacken zusammen gebundenen Zöpfe tragen würde - dieser glänzende Wasserfall wäre eine Sensation. Die Frisur war praktisch, Wasserfälle waren nicht im Programm.

Lorenz hatte den Kennerblick, er sah sie und war beunruhigt. Außerdem wusste er, ganz so lässig wie sonst, würde er in Zukunft nicht mehr an seine Schularbeiten rangehen können. Er spürte das erst mal eine harte Konkurrenz im Nacken. Und so kam es, das sich die Beiden, sozusagen leistungsmäßig, hochglänzten.

Beim Sport sah er sie über die Aschebahn fliegen, mühelos hängte sie die anderen ab, mühelos erreicht sie das Ziel.

Rosalie sah Lorenz und sie sah, dass er sie beobachtete. Sie nahm Anlauf, spannte ihren Körper und mit einem Jauchzer schraubte sie sich über die Hochsprunglatte.

„Olympiaverdächtig“ rief der Lehrer.

Ein Zopf hatte sich gelöst und wie eine silberne Fahne zog sie ihr Haar hinter sich her, als sie lachend vom Platz rannte.

Es war Winter als Rosalie krank wurde. Drei Tage dauerte es bis die Klassenkammeraden ihr Fehlen bemerkten. Nur Lorenz hatte ihren leeren Platz bestürzt sofort bemerkt, drei endlose Tage hörte er nichts, innerlich war er von Sorge zerfressen, äußerlich gab er sich cool wie immer. Am dritten Tag wurde er erlöst, der Klassenlehrer berichtete Rosalie wäre ziemlich krank und würde wohl für einige Zeit ausfallen. Lorenz atmete auf. Rosalie war krank, sie würde gesund werden, sie würde wiederkommen.

Trotz dieser Nachricht war für ihn nichts mehr wie sonst. Die Kaffeehausbesuche nach der Schule, die er doch so genoss machten ihm plötzlich keine Freue mehr, er war unruhig.

Es gelang ihm nicht, seine Beine lang auszustrecken, seinen Rücken tief in die Polster zu drücken und die schöne entspannende Stimmung und den herrlichen Kaffee zu genießen.

Er ging nach Hause, warf sich aufs Bett und starrte die Zimmerdecke an. Verwirrt wälzte er sich hin und her. Er warf sich auf den Bauch, biss ins Kissen und stöhnte: „Rosalie“ in die Federn. In wilder Hast sprang er auf, zog seine Sportschuhe an und joggte mit scharfem Tempo in den Stadtwald. Das Wetter war extrem widerlich, es war ihm Recht. Das Einzige, was er bewusst wahrnahm, war egal wie schnell oder wie langsam er lief, das Taktmaß war “Rosalie“.

Rosalie fror und schwitzte im Fieberwahn. In ihrem Kopf hämmerte es, hinter ihren Augen hämmerte es, in ihren Ohren hämmerte es und das Geräusch hatte einen Namen, “Lorenz“.

Immer wenn sie hoffte, heut hab ich es gepackt, jetzt geht’s aufwärts, erfassten sie neue Fieberschübe und das Spiel begann von vorn. Eines Tages blieb das Fieber weg und kehrte nicht mehr zurück und sie begann sich zu rappeln. Sie ließ sich nicht hängen, die Treppen rauf und runter trainierte sie, bis sich langsam ihr Kreislauf stabilisierte und das Gefühl gleich umzukippen verschwunden war. Das erste Mal in ihrem Leben war sie, nach einem Blick in den Spiegel, über ihr Aussehen beunruhigt. Es war nach dem Duschen. Sie rieb den Spiegel trocken und durch die Dampfschwaden hatte sie ein fast unwirkliches Gespenstlein gesehen. Jeden Tag machte sie nun die Spiegelprobe, mehrere Male. Sie versuchte sich mit fremden Augen zu sehen. Mit Lorenz Augen und sie war unzufrieden. Gib dir Mühe, ermunterte sie sich. Ihre Mutter musste ihr ein Stück Haare abschneiden, soviel bis das Haar auf die Schulter fiel und ihr Gesicht einrahmte.

Die Schulunterlagen waren ihr in den Briefkasten geworfen worden und solange sie konnte, saß sie mit Kissen im Rücken im Bett und arbeitete.

Auch Lorenz arbeitete fast wütend. Beim Tennis verlor er kein Spiel. Er machte sich fertig. Er fühlte sich krank. Er bekämpfte sich und gleichzeitig war es so als kämpfe er um sein Leben. War er ausgelaugt und todmüde, konnte er es trotz allem nicht verhindern, dass es Rosalie in ihm schrie, wenn er zu Ruhe kam.

Rosalie hatte den Unterrichtsstoff nachgeholt. Das Referat, über die Demokratie und die Rolle der katholischen Kirche in Lateinamerika, war geschrieben, sie konnte zur Schule gehen.

Eine milde Wintersonne schien durch die Klassenfenster und Rosalie stand in diesem milchigen Licht. Lorenz hob den Kopf und sah sie an und sie schaute in seine Augen. „Lorenz“, formten ihre Lippen ungewollt. „Rosalie“, willenlos bewegten sich seine Lippen und sein Kennerblick sah eine reine, eine makellos weiß schimmernde Perle.

Es wurde nach dem Referat gefragt, Rosalie hob als erste die Hand. Sie las nicht sehr laut, aber klar und deutlich.

„Schön, dass sie wieder da sind“, sagte der Lehrer, „das hat uns gefehlt, das war ausgezeichnet“.

„Ausgezeichnet“, äffte eine Stimme. „Oft hat es Dummheit leichter, als Intelligenz“, sagte der Lehrer leise, aber gut hörbar.

Das Wetter hatte sich verschlechtert und so genoss man die Pause im Atrium. Rosalie war erschöpft und lehnte an einem Pfeiler. Sie lauschte ins Stimmengewirr. Sie wollte Lorenz Stimme heraushören. Sie strengte sich an und deshalb hörte sie die Frage auf der anderen Seite des Pfeilers: „Wie findest du denn eigentlich Rosalie?“

Es entstand eine winzige Pause und Rosalie lugte interessiert hinter dem Pfeiler hervor.

Lorenz stand ihr fast gegenüber, nur zwei Schritte entfernt. Noch hatte er sie nicht bemerkt. Er hielt seinen Kopf gesenkt, seine Haare fielen über seine Augen. „Ätzend“, sagte er scharf und schaute auf und schaute in ihre Augen. Er hörte einen fast lautlosen verzweifelten Ton. Todunglücklich und mit schreckensweiten Augen starrten sie sich an und Lorenz musste mit ansehen, wie sich eine große graue Muschel, eine Auster, fest um eine kostbare Perle schloss.


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