Читать книгу Die Vergessenen: Baba Jaga - Buch 3 - Sabina S. Schneider - Страница 4
PROLOG
ОглавлениеMit sanften Strichen kämmte sie sich durch ihr langes, blondes Haar. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Bald! Bald würde sie ihren Liebsten wiedersehen und seine Hände auf ihrem Körper spüren. Bei dem Gedanken an seine wunderschönen Augen entschlüpfte ihr ein mädchenhaftes Kichern. Grün wie im Mondlicht leuchtendes Moos, wild und zärtlich zu gleich. Der Druck seiner Hände fordernd und gebend. Ihre Hand zitterte bei der Erinnerung an die Ekstase, die er ihr geschenkt hatte. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte unruhig, als spüre er das Herannahen, der verbotenen Liebesstunden.
Ihre Hand umklammerte die goldene Bürste, die fast so schön im Schein des Feuers leuchtete, wie ihr Haar. Leise knackte das harte Metall. Bedauernd blickte sie auf ihre Lieblingskleinod hinunter. Sie vergaß oft, wie stark sie war. Vor ihr kniete das ganze Rus, viele Götter standen unter ihr und das Leben selbst lag ihr zu Füssen. Denn sie war die Mutter aller und alle beteten sie an. Wie feige Würmer krochen sie vor ihr. Nicht ein einziger war ihrer Macht oder ihrer Schönheit ebenbürtig.
Sie blickte ihrem Spiegelbild fest in die Augen. Stolz, Stärke und Schönheit blitzten ihr in einer Vollkommenheit entgegen, die nur einer Göttin entstrahlen konnte. Ja, sie war eine mächtige Göttin. Und doch raste ihr Herz schneller, nachdem es einen Schlag ausgesetzt hatte und sie daran erinnerte, dass sie bei all ihrer Macht auch eine Frau war. Nur das Flattern der Vorhänge kündigte ihn an. Den Mann, der ihren Körper und ihr Herz erobert hatte.
Seine langen, schlanken Finger legten sich um ihren Hals, drückten zu und ihr entschlüpfte ein leises Stöhnen, als die Erinnerungen an vergangene Nächte ihren Körper marterten. Wie oft hatte er ihr im Taumel seiner Lust die Luft abgeschnürt und die Ekstase noch weiter hoch getrieben? Dann glitten die Finger zärtlich über ihre Haut. Hinterließen Spuren von brennenden Flammen, heißer als die Sonne, obwohl sie kühler waren als Schnee. Wie schaffte er es nur, dass ihr Körper sich so sehr nach ihm sehnte, ihr jede Minute ohne seine Berührung vergeudet schien, obwohl ihnen die Ewigkeit blieb?
Sie kannte das Wesen ihres Geliebten. Seine Zweischneidigkeit und seine gespaltene Zunge. Den Gott des Truges und der List nannte ihn sein Volk. Er war klug, trieb immer Schabernack und doch machte er ihr nichts vor, zeigte ihr sein wahres Wesen und lullte so ihre Vorsicht und Argwohn ein. Er hatte nie den Kern seines Wesens versteckt. Sie wusste, dass seine honigsüßen Worte übertrieben waren und dazu gedacht, zu blenden und zu verführen. Doch das Feuer, das er in ihr entfachte, war ehrlich.
Sie erzitterte von seiner Berührung und ihr Körper forderte mehr. Seine schlanken und doch starken Hände hoben sie hoch, trugen sie zum Bett. Dunkel wie seine Kleidung, war sein Haar schwärzer als die Nacht und die Haut weiß wie Mondschein. Er war so anders als alles, was sie kannte. Seine Grobheit erregte sie, seine Zärtlichkeit ließ ihren Körper für ihn singen und das Feuer in seinen Augen verbrannte sie.
…
Die alte Frau öffnete mit einem Ruck die Augenlider, richtete sich in ihrem Bett schwerfällig auf und rieb sich die Runzeln auf der Stirn so glatt es eben noch ging. Der Blick in die Vergangenheit, auch in Form eines Traumes, war anstrengend und selten gewollt. Ihre alten Glieder froren. Sie schob ihre Beine mühsam über den Bettrand. Das alte Holzgestell ächzte, quietschte und krachte mit ihren Knochen um die Wette. Die Erinnerung an ihr junges Ich war noch frisch, als sie auf ihre runzeligen, krummen Finger blickte.
Jugend wurde immer von Naivität und Leichtsinn begleitet, selbst wenn sie ewig währte. Zu jener Zeit war sie so alt gewesen wie die Welt selbst und doch jung und kräftig. Aber es hatte ihr damals nicht gereicht und es wäre auch jetzt nicht genug. Sie hatte immer mehr gewollt, hatte alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren. Die Rus war aus ihrem Leib geboren. Alle Menschenwesen, die Bäume, die Wälder, die Tiere. Sie war Mutter von allem gewesen und hatte doch mehr gewollt. Sie hatte Frau sein wollen, aus vollem Herzen lieben und geliebt werden, geträumt hatte sie davon, in Leidenschaft zu ertrinken. Die ewige Mutter und doch zu jung, um genügsam zu sein. Doch die Ironie des Schicksals lachte sie aus, wo sie ihr einst zugezwinkert hatte. Jetzt sah sie in ihren Träumen die vergangene Leidenschaft und wollte doch nur eins.
Ihrer Jugend, Schönheit und Kraft beraubt, strebte sie immer noch nach dem Unmöglichen. Sie wollte Rache, selbst wenn das Schicksal der Schöpfung auf der Waagschale lag, wie auch die Seelen ihrer Kinder, aus denen sie die Kraft schöpfte, ihren verwelkten Körper von einem Tag in den nächsten zu schleppen. Sie lebte von gestohlener Energie aus ihrer eigenen Schöpfung. Und er allein war schuld daran. Die Erinnerung an seine glühenden Augen erfüllte sie immer noch mit Verlangen, das sich jedoch seit einer Ewigkeit mit brennendem Hass vermischte.
Ihr Äußeres passte zu ihrem verfaulenden Inneren, denn schon lange hatte sie nur ein Ziel. Lokis Pläne zu durchkreuzen, war ihr nicht genug. Sie wollte all seine Hoffnungen und Träume vernichten und seinen verdorbenen Geist in Millionen Teilchen zerfetzen. Ihr weißes, lichtes Haar, einst voll und wallend, fiel ihr über die Schultern, als sie aufstand und gebeugt zum Feuer humpelte. Früher hätte ihr kleiner Finger gereicht, um das Trauerspiel einer hölzernen Hütte, in dem sie schon seit Jahrhunderten lebte, in Asche zu verwandeln. Jetzt packte sie mit schwachen, zitternden Händen nach einem Holzscheit und warf ihn ins sterbende Feuer.
Ein Bein knickte ihr weg und sie fiel hin. Knochen brachen, als die alte, ledrige Haut mit dem Holzfußboden kollidierte. Sie verfluchte sich innerlich. Zu lange hatte sie wieder gewartet. Ihr Körper war brüchiger als Zwieback geworden. Die Erde bebte unter ihr, als ihr treuster Gefährte ihr Leid erkannte. Er streckte seine Beine, vergrub seine Krallen in der tauenden Erde, lief wie das kopflose Huhn, das er war, zum See und schüttelte sich im Wasser wie ein nasser Hund.
Die Feuchtigkeit, die den alten Knochen der alten Frau nicht gut tat, drang durch das Haus auf Hühnerbeinen. Das dumme Ding war direkt in den See gesprungen! Sie musste sich überlegen, wie sie mehr Gehirn in ihre dumme Hütte packen konnte. Das Ufer hätte doch gereicht! Langsam, wie die nasse Kälte, kroch Energie in ihren Körper und gab ihr neue Kraft. Die gebrochenen Knochen fügten sich wieder zusammen. Stück für Stück.
Ein Heulen erreichte ihre fast tauben Ohren und als sie sich langsam und zittrig erhob, war sie von ihnen umringt. Nass waren ihre Kleider und Haare. Die Gesichter ausgemagert und hungrig, schrien sie nach dem Leben, das man ihnen genommen hatte. Sie saugten ihrer Umgebung alle Lebensenergie aus, um ihr trauriges Dasein zu erhalten. Die rusalki, ihre Töchter. Es wurden immer mehr, sie drängten sich hinein, umzingelten das zappelnde Hühnerhaus und erfüllten den See mit ihrem Klagelied.
Jeder Ton erinnerte Baba Jaga an ihren eigen Zorn und ihre Wut. Endlich erfüllte Hass sie mit neuer Kraft. Nie mit Jugend, doch immer mit Kraft. Aber trotz der Energie, die ihre Töchter ihr weiterleiteten, war es nicht genug. Nicht heute. Sie hatte zu lange gewartet.
„Bringt mir die unter euch, die sich am besten genährt hat!“, krächzte sie mit der Stimme des Alter und versuchte, nicht an den jugendlichen Singsang zu denken, der einst, schöner als das Lied jeder Nachtigall, ihre Kehle verlassen hatte. Ein Heulen ging durch die Reihen und vor Baba Jaga erschien eine schöne, junge Frau. Ihre Wangen waren voll und rosa von der Energie, an der sie sich vor kurzem noch gelabt haben musste. Jaga fühlte in ihr die Lebenskraft eines starken, jungen Mannes. Genau das, was sie jetzt brauchte! Sie öffnete ihren Mund immer weiter und weiter. Dann atmete sie tief ein und das schöne Mädchen, mit den langen, nassen Zöpfen und den einladenden Hüften, verdünnte sich zu einer Spirale, wurde in Jagas Maul gesogen und verschwand in dem schwarzen Loch ihres Magens.
Gesättigt, grinste die alte Frau zufrieden. Sie fühlte sich kraftvoll und jung. Auch wenn sie wusste, dass es nichts an ihrem scheußlichen Äußeren änderte und die Energie vom Verfaulungsprozess bald verschlungen sein würde, genoss sie den Augenblick. Die anderen jungen Frauen verschwanden zurück ins Wasser, warteten lauernd auf ihre Beute, um ihr ihre Energie zu rauben und Jaga zu Füßen zu legen.
Als die Euphorie verlogen war, seufzte Jaga, befahl ihrer Hütte wieder an Land, zu einer trockenen Stelle zu eilen. Eine Tochter hatte sie ihrem Hunger geopfert, das bedeutete, sie brauchte zwei neue. Doch woher sollte Jaga sie nehmen? Sie richtete ihre lange Nase in die Luft und sog alle Gerüche des Waldes in sich ein. Da! Der Geruch von alterndem Fleisch kitzelte in ihrer Nase. Sterblichkeit stank nach faulen Eiern, während der Tod süßlich roch. Nicht weit von hier lag ein kleines Dörfchen. Jaga musste nur ein unglückliches Mädchen nahe genug an den See locken. Am besten ein verliebtes. Die schmeckten am besten. Verzweiflung, Hoffnung, naiver Glaube und Dummheit waren ideale Gewürze und viel besser als Salz und Pfeffer.