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Luka # Küss mein nicht

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Als du mich mit einem Lächeln bei der Hand nimmst, mich aus dem Ballsaal auf die Terrasse ziehst und von der Terrasse in die dunklen Schatten des Gartens, rast mein Herz.

Wie kann es sein?

Ich war mir so sicher, dass deine Zuneigung nicht mir gilt, sondern Robin. Und doch flüsterst du meinen Namen. Ein heißer Hauch in der kühlen Frühlingsnacht, der in mein Ohr eindringt und in meinem Körper vibriert.

Luka …“ Und zum ersten Mal in all den Jahren klingt mein Name richtig.

Luka, ich will dich …“, flüsterst du mir ins Ohr und presst mich gegen den rauen Stamm einer Eiche.

Bist du dir sicher …?“, frage ich, immer noch Zweifel in mir. Ein unsicheres Ego, das so oft gegen Robin verloren hat. Doch anstatt mir zu antworten, ergreifst du meine Hände und platzierst sie auf … deinen Hintern.

Er ist so … so … durchtrainiert. So hart und prall, dass der Neid es beinahe durch meine Verwirrung schafft.

Bist du sicher, dass du das hier nicht lieber mit Robin tun willst?“, frage ich zweifelnd, sehne den Moment herbei, in dem du mich erwählst anstatt Robin.

Dein Blick trifft meinen. Oh, diese wunderbaren Augen! Tief wie die See. Zu schön, um wahr zu sein. Sie passen so gut zu dir. An dieser Stelle hätte ich es wohl wissen müssen. Zumindest erahnen. Und doch klammere ich mich an dem Gedanken fest, dass ein so schönes Wesen wie du mich auserwählen könnte. Nicht Robin.

Dein leises Lachen erfüllt die Abendluft.

Dein Körper gegen meinen gepresst, geht die Bedeutung deiner Worte in der herrlichen Vibration unter, die jeden Zentimeter meines Körpers in Schwingung versetzt.

Hast du noch nichts von meinem besonderen Geschmack gehört, was meine Partner betrifft?“ Und mein Verstand … was nimmt er wahr? Nur das Wort ‚besonders‘, als deine Lippen auf meine treffen und du mir den Atem raubst. Das Denken fällt mir schwer. Mir wird heiß und kalt, als deine Hände auf Wanderschaft gehen. Gänsehaut. So schnell, flink … so geübt, sind die Finger unter meinem Hemd, wandern hinunter zum Hosenbund.

Schnell, viel zu schnell. Doch die Zunge, die in meinen Mund dringt, erstickt jeden Protest.

So ungewohnt. Und doch herrlich. Es ist herrlich, gewollt und begehrt zu werden. Es ist das erste Mal. Noch niemand hat mich so angesehen, so berührt, wie du.

Doch dann tasten deine Finger über den Stoff meiner Unterhose. Sie werden zögerlich. Suchen. Nach was suchen sie?

Plötzlich gefriert die Bewegung deiner Zunge, dein Körper wird steif, deine Hände tasten erneut suchend. Dann weichst du vor mir zurück, als hättest du dich verbrannt, als wäre ich das Böse in Person.

Verwirrung vernebelt noch meinen Geist, als ich deinem vorwurfsvollen Blick begegne.

Mit dem Handrücken wischt du dir den Mund ab, als hättest du etwas widerlich Schmutziges berührt. Und ich kann es nicht erkennen. Obwohl es doch augenscheinlich sein müsste.

Du bist … du hast keine Eier, keinen … keinen … Penis“, stammelst du vor dich hin und ich bin verwirrt, will es nicht sehen.

Ich habe nie behauptet, Eier zu besitzen … oder einen Penis“, erwidere ich und kann dich nur anstarren.

Du hast mich angelogen!“, wirfst du mir entgegen.

Wie bitte? Wir haben kaum zwei Worte gewechselt“, verteidige ich mich.

Du bist kein Jüngling.“

Oh … Mutter aller gestohlenen Gänse und zerquetschten Eier! Das darf nicht wahr sein!

Und du bist keine Frau!“, werfe ich dir vor, obwohl ich es besser weiß. Ich hätte es wissen müssen. Niemand zieht mich Robin vor. Niemand, der …

Ich habe nie behauptet eine zu sein!“, zischst du mich an.

Und der Zauber ist gebrochen.

Der Traum verwandelt sich in einen Alptraum. In den Alptraum meines Lebens.

„Und ich habe nie behauptet, Eier zu haben … oder einen Penis“, wiederhole ich mit so viel Stolz, wie ich aufbringen kann, zupfe meine Kleidung zurecht und in diesem Moment kann ich dir keinen Vorwurf machen. Nicht wirklich.

„Aber deine ganze Aufmachung! Deine Kleidung, dein Körper! Dein Gesicht …“, stotterst du und meine Wangen brennen.

Ja, mein Gesicht.

„Du … du siehst nicht aus wie eine Frau …“, fügst du hinzu, stößt den giftigen Pfeil deiner Worte tiefer in mein Herz.

Und ich seufze. Tief. Es wäre witzig, wenn es nicht so traurig wäre. Wenn es nicht die Tragödie meines Lebens wäre, würde ich lachen.

„Du bist kein Mann … ich habe … ich habe eine Frau geküsst … und sie … dich … sie … eine Frau da unten berührt.“ Und es ist an dir, die Flammen im Gesicht zu tragen. Du spuckst aus, drehst dich um und rennst. Rennst vor mir davon. Weil ich kein Mann bin.

Das meintest du also mit ‚besonderem Geschmack‘. Der Count von Ich-bin-zu-schön-für-diese-Welt steht auf Männer. Ich kratze mich am bartlosen Kinn, spucke seinen Geschmack aus und revidiere meine Aussage.

Nicht Männer. Burschen.

Und ich? Ich sehe aus wie ein Junge. Wie so oft schlucke ich die Scham herunter. Es ist das erste Mal, dass man mich wegen fehlenden männlichen Attributen ablehnt, anstatt wegen den zu wenig ausgeprägten weiblichen. Daher bin ich doch verwirrt und weiß nicht genau, ob ich verlegen, beleidigt, wütend oder traurig sein soll.

Meine Hände wandern zu meinen Brüsten und ertasten … ja was eigentlich …

… kaum erwähnenswert.

Ich hätte wissen sollen, dass kein Mann – präzisieren wir das – kein Mann, der auf Frauen steht, mich meiner Schwester vorziehen würde. Robin, meine wunderschöne Zwillingsschwester, die im Leib unserer Mutter alles Weibliche an sich gerissen hat.

Spätestens als seine Hände nach unten – statt nach oben – gewandert sind, hätte ich es wissen müssen. Unerfahren hin oder her.

Das war er also … mein erster Kuss.

Von einem Mann, der Penis(e) in den Mund nimmt, aber kein Wort für das primäre Geschlechtsteil der Frau findet. Dabei gibt es so viele: Vagina, Muschi, Schlitz, Grotte, Muschel und einiges mehr. Ich kenne noch viele weniger gewählte Ausdrücke. Die Jungs haben in meiner Anwesenheit nie ein Blatt vor den Mund genommen.

Nun, wir wissen ja jetzt alle warum … Weil sie in mir kein Mädchen sehen, geschweige denn eine Frau.

Ich könnte mir sagen, dass ich noch reifen werde, dass sich die Formen einer Frau bei mir schon noch zeigen werden. Doch ein Blick auf Robin und ich weiß, dass sie meinen Anteil mitbekommen hat. Ihre Brüste sind nicht zu übersehen. Bei jedem Schritt wippen sie auf und ab und auf und ab … ich kann verstehen, dass Männer nur dorthin stieren. Es ist einfach hypnotisierend. Dieser Rhythmus … dieses Hüpfen …

Und so frustrierend!

Ich rauf mir meine kurzen Haare, zu widerspenstig und lästig, um sie wachsen zu lassen. Ganz im Gegenteil zu Robins vollem und glatten Haar, das immer makellos aussieht. So verdammt wunderschön, als hätte sie sich gerade aus dem Ei gepellt.

Und da haben wir wieder das Wort: Ei. Oder in Plural: Eier.

Warum zum Teufel habe ich bei der Geburt keine mitbekommen? Wenn doch alles andere an mir so undamenhaft und unweiblich ist, warum haben die Götter mir dann nicht einfach einen Schwanz mitgegeben und einen richtigen Mann aus mir gemacht?

Ich ziehe den Rotz die Nase hoch und spucke ihn aus, als könnte ich damit die verfluchten Gedanken loswerden. Mit Wut im Bauch mache ich mich auf zu den Ställen. Ein nächtlicher Ausritt, das ist es, was ich jetzt brauche. Den Wind im Gesicht. Diesen verfluchten Ball hinter mir.

Licht brennt in den Ställen, als hätte man mich erwartet. Als hätte jemand darauf gewartet, dass ich beschämt und mit eingezogenem, nicht-existentem Schwanz wieder einmal davonrenne.

Und als ich wütend zur Box von Mr. Perfekt trete, wartet er auch schon auf mich. Mit verschränkten Armen über der Brust, leger an die Wand gelehnt. Wissende Augen, die mich anstarren und dieses verfluchte schiefe Lächeln.

„Ich hatte dich gewarnt“, sagt er spöttisch und etwas mitleidig. Doch die Schadenfreude siegt. Das kann ich hören, auch ohne sein verfluchtes Grinsen zu sehen.

Ja, Logan hatte mich definitiv gewarnt. Und ich habe, für einen herrlichen Moment des Selbsttruges, glauben wollen, dass es für seine Warnung ein anderes Motiv gegeben haben könnte. Ich schließe mein verräterisches Herz weg, sperre es ein, kneble es und werfe es in den reißenden Strom der Wut. Hoffe, dass es versinkt und mich nie wieder so in die Irre führt.

Stumm gehe ich an ihm vorbei, will ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen.

„Luka, warte!“, höre ich noch, bevor sich seine Finger um mein Handgelenk schließen und er mich herumwirbelt. Und für einen Augenblick gelingt es meinem geknebelten Herz, mir wieder etwas vorzugaukeln. Einen Traum zu erschaffen, der immer nur das bleiben wird: ein Traum.

Um der Röte in meinem Gesicht eine andere Bedeutung zu geben als die dämliche Verliebtheit eines dummen Mädchen, das sich verzweifelt an Luftschlösser festkrallt, zische ich ihn an: „Hast du Spaß gehabt, als du dir vorgestellt hast, wie es sein wird, wenn er es herausfindet … wenn ich es herausfinde? Oder hast du dich in den Büschen versteckt und deine Palme gewedelt, als du uns zugesehen hast?“ Wut. Wut bringt ebenfalls Wangen zum Glühen. Damit kann ich leben. Ich bin keine dreizehn mehr und weiß, was Männer wie Logan in einer Frau suchen.

„Meine Palme gewedelt …?“ Ein Grinsen steigt auf seine Lippen und verzerrt sie zu einem Bogen. Er lacht über mich. Logan lacht über mich, wie das gesamte, verfluchte Anwesen.

„Lass mich los!“, zische ich ihn an.

Das Grinsen verschwindet und ich blicke ihm tief in die Augen, als ich aushole … und ihm mein undamenhaftes Knie in den Schritt ramme.

Schritt … ein weiteres Wort. Ein neutrales Wort. Es kann sowohl Penis als auch Vagina bezeichnen und es ist an mir, zu grinsen, als Logan gekrümmt zu Boden geht. Es hat durchaus Vorteile, keine Eier zu haben, oder einen Schwanz.

„Deshalb … wegen deines Verhaltens … sieht … dich … keiner als … Frau“, stößt er keuchend hervor.

Ich knie mich zu ihm nieder, hebe sein Kinn an und blicke ihm in die Augen. Suche nach der Wahrheit, die wir beide kennen.

„Ist das so? Sieh mich an! Was ist passiert, als ich das letzte Mal ein Kleid angezogen habe?“, frage ich und suche nach der Scham und finde sie.

„Das … das war vor vier Jahren. Wir waren noch Kinder. Wie oft soll ich mich noch dafür entschuldigen?“, winselt er wie ein schuldiger Hund, der er ist.

Vor vier Jahren … vier Jahre, in denen sich mein Körper nicht verändert hat. Jedenfalls nicht im weiblichen Sinne.

„Lass mich nachdenken! Wie viele haben mit dir gelacht, als du mit dem Finger auf mich gezeigt und dir vor Lachen den Bauch gehalten hast, Logan?“, frage ich und neige nachdenklich den Kopf zur Seite.

„Ich … ich war jung und dumm … ich war neu und wusste nicht … ich wusste nicht, dass du ein Mädchen bist. Ich habe einen Jungen gesehen, der ein Kleid getragen hat. Ich dachte, es sei ein Scherz …“ Seine Stimme wird immer leiser. Verliert aber zu meiner Genugtuung das schmerzvolle Winseln nicht.

Leide! So wie ich gelitten habe.

Doch das Wissen, dass er die Wahrheit sagt, wiegt schwer.

Ich setze mich neben ihn ins Heu. Seufze laut und blicke zum hölzernen Dach.

„Du hattest recht. Ich bin nicht für Kleider geschaffen. Sie sind unpraktisch, man kann in ihnen weder rennen, raufen noch reiten. … Aber weißt du was? Als ich damals das Kleid angezogen habe, … ich … ich habe es damals für dich angezogen. Ich hatte mich in dich verknallt. Eine alberne Mädchenschwärmerei …“, sage ich und setze ein Lachen hinterher. Logan weiß es, jeder weiß es. Wenn ich zuerst darüber lache, tut es weniger weh.

Das habe ich mir jedenfalls jahrelang eingeredet.

„Es … es tut mir leid, Luka. Ich wusste nicht … Ich wusste es nicht.“ Logans Atem geht noch schwer. Er muss noch Schmerzen haben und dieser Gedanke zaubert ein Lächeln auf meine Lippen.

„Eigentlich muss ich dir danken, du hast mir einen großen Teil meiner mädchenhaften Dummheit ausgetrieben. Ich dachte, für immer. Nun, ich sehe das heutige Ereignis einfach als eine Erinnerung an. Eine Erinnerung daran, dass ich kein Mädchen bin. Dass ich, wenn überhaupt, den Charme eines Jünglings besitze“, setze ich nach und lache länger, lauter.

Kann man Schmerz und Scham weglachen? Ich müsste die Antwort kennen, habe ich es doch mein Leben lang versucht.

Logan setzt sich auf, legt einen Arm um mich und ich lehne den Kopf an seine Schulter. Obwohl er Teil der Quelle meines Schmerzes ist, tut es gut. Seltsam. Warum?

„Luka, du bist, wer du bist … und es gibt Menschen … die dich so mögen, wie du bist“, sagt er tölpelhaft und ungeschickt.

„Rotzfrech, ungewaschen, nach Pferd stinkend?“, frage ich, ohne zu lachen.

„Genauso!“, jubelt er mir entgegen und trotz allem entreißt sich meiner unweiblichen Brust ein Lachen. Ein ehrliches Lachen. Ohne jede Spur von Spott.

Logans Worte tun gut … und doch wieder nicht.

„Was du beschreibst, lieber Freund, ist ein Lausbub, ein Junge. Keine Frau und kein Mann. Eine Weile mag es reichen. Doch was wird in wenigen Jahren sein? Ich kann nicht immer zwischen den Welten stehen. Nicht Frau, nicht Mann. Wie soll ich einen Partner finden, wenn ich weder das eine noch das andere bin?“, frage ich laut und die Unruhe ergreift mich wieder.

„Glaubst du, dass zwei gigantische, ständig auf und ab springende Brüste aus dir eine Frau machen könnten?“, fragt Logan.

„Sicher, genauso, wie ein Gehänge zwischen meinen Beinen, einen Mann aus mir machen würde“, entgegne ich nüchtern.

Logan widerspricht mir nicht und wir beide wissen, dass Letzteres passender wäre. Sehr viel passender.

„Wie ist es eigentlich beim Reiten? Stört das denn nicht?“, frage ich und blicke zu ihm hoch.

„Du kannst Fragen stellen“, erwidert er und lacht etwas verschämt. „Ist es als Frau nicht unbequem? Aufreibend?“, setzt er aus Rache nach.

„Reibung kann Spaß machen“, erwidere ich verschmitzt, als wüsste ich, wovon ich spreche.

„Ich wusste, es gibt einen Grund, warum du so gerne reitest!“, ruft er aus und mein Ellbogen landet in seinen Rippen. Und das nicht gerade sanft. Das Lachen vergeht ihm, zu meinem Genuss.

„Logan …“

„Ja …“, erwidert er etwas atemlos und reibt sich die verdient malträtierten Rippen.

„Es gibt einen Brunnen im verbotenen Wald, der einem Wünsche erfüllen kann“, sage ich und weiß noch nicht, wohin ich will. Natürlich kennt Logan die Geschichte mit dem Brunnen, habe ich ihn doch belauscht, wie er Robin davon erzählt hat. Als würde Robin einen Wunschbrunnen brauchen. Sie hat doch alles.

„Er heißt nicht um sonst verbotener Wald. Und Wunschbrunnen sind dummer Aberglaube“, erwidert Logan und mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Wieso wollte er mit Robin dorthin, aber mit mir nicht? Eine dumme Frage, auf die ich die Antwort doch schon so lange kenne.

„Und das aus dem Munde des Sohnes unseres hauseigenen Alchimisten“, versuche ich, ihn zu necken und mich abzulenken.

„Alchemie ist nicht gleich Magie und Zauberei“, erwidert er trotzig und rückt etwas von mir ab.

Die tröstende Wärme seines Körpers fehlt mir …

„Ach nein? Versucht dein Vater nicht Gold herzustellen?“, frage ich und ziehe mich in mich selbst zurück, umklammere meine Knie fest mit beiden Armen.

„Das ist nicht seine Hauptaufgabe, es ist mehr ein privater Zeitvertreib. Und gelungen ist es ihm noch nicht“, verteidigt Logan seinen Vater. Nimor Nihilor – ein Mann so seltsam wie sein Name. An sich kein Mensch, mit dem man freiwillig Zeit verbringen will. Aber ein Charakterzug macht ihn für mich mehr als sympathisch: Robins Abneigung ihm gegenüber. Manchmal glaube ich sogar, dass es Angst ist. Ein kleiner Vogelschiss auf dem sonst so perfekten Spiegelbild von Robin, der die Sonne nicht reflektieren kann, der beim Hinsehen einen nicht so sehr blendet, dass man sich vor Schmerzen die Augen auskratzen möchte.

„Er meinte neulich, er stünde kurz davor“, gebe ich zu bedenken, während ich weiterhin an Vogelscheiße denke.

„Das behauptet er seit Jahren“, erwidert Logan und fühlt sich dabei sichtlich unwohl. Es ist keine Scham. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er sich für seinen Vater schämt. Und doch ist ihm dieses Thema unangenehm. Logan scheint mir das Gegenteil seines Vaters zu sein. Nimor Nihilor strahlt trotzt des ungesunden Weiß‘ seiner Haut Schwärze aus, als hätte sich die Nacht selbst in seinen Haaren und Augen verfangen. Logan dagegen scheint bei der Geburt von der Sonne geküsst worden zu sein. Seine Haare haben die Farbe von Sonnenstrahlen, seine Auge gleichen dem Himmel und seine Haut erinnert an halbgetrockneten Sand. Und das auf die schönste Art, die überhaupt möglich ist.

Mir wird von meinen eigenen Gedanken schlecht und ich wünschte, ich könnte sie ein für alle Mal auskotzen.

„Das stimmt wohl. Aber seine Majestät, der König, er hat einen Hofzauberer“, gebe ich zu bedenken und lenke Logans Gedanken von seinem Vater zur Magie – und meine weg von Logans Aussehen.

„Dessen Kräfte unbekannt sind“, entgegnet er und ich glaube, so etwas wie Sehnsucht in seiner Stimme zu hören.

„Man sagt, er kann fliegen, das Wetter beeinflussen und Tote wieder zum Leben erwecken“, sinniere ich nachdenklich und stelle mir vor, wie es wäre, solche Kräfte zu besitzen. Magie existiert, so viel ist klar. Doch sie ist nur einigen wenigen vorbehalten und ich habe sicher kein Körnchen Zauberkraft in mir.

„Gerüchte, nicht mehr. Außerdem hört sich das eher nach einer Hexe an“, fügt Logan hinzu, als wisse er, wovon er spricht. Ich blicke ihn verwundert an, doch er weicht meinen Augen aus, als hätte er ein Geheimnis. Doch das ist lächerlich. Logan und ich sind beste Freunde. Wir erzählen uns alles. Mehr als ich eigentlich hören möchte.

„Ich muss es versuchen. Dieser Körper … er ist weder Fisch noch Fleisch“, lenke ich von Logan ab und bin wieder bei mir und meinem Dilemma.

Wir schweigen eine Weile, während ich kurz darüber empört bin, dass Logan nicht einmal ansatzweise widerspricht.

Dann räuspert er sich und fragt: „Was würdest du wählen?“

„Ist das nicht eindeutig?“, frage ich ihn überrascht.

„Ich meine nicht das, was die anderen in dir sehen. Was möchtest du sein?“, fragt er erneut und in einem Ernst, der mich aus der Fassung bringt.

Wenn ich die Wahl hätte … würde ich eine Frau oder ein Mann sein wollen? Die Antwort müsste leicht sein. Ich bewege mich wie ein Junge, ich benehme mich wie einer. Ich genieße die Freiheiten, die mir dieses Dasein erlaubt. Ich reite und trainiere gerne und raufe mich mit Freuden … und doch … wenn ich an den Moment zurückdenke, als Count Zu-schön-um-wahr-zu-sein mich mit Begehren angesehen hat, fand ich es … angenehm. Mehr sogar.

Wenn ich einen weiblichen Körper bekommen würde, was würde sich ändern? Man würde mich als Frau anerkennen. Müsste ich mich dann wie Robin kleiden und benehmen? Die Anziehungskraft von Kleidern habe ich nie verstanden. Korsetts, Absätze und Wimpernzangen sind für mich Folterinstrumente, Erfindungen von Männern, die ihre Beute am liebsten unbeweglich haben. Mutter hat es schon lange aufgegeben, mich in Frauenkleider zwängen zu wollen. Und seit der Geschichte vor vier Jahren wagt es niemand das Thema mir gegenüber auch nur zu erwähnen – Narrenfreiheit, die teuer erkauft worden ist.

Und wenn ich ein Mann werden würde, einen echten Schwanz hätte, dann … dann würde ich so bleiben können, wie ich bin. Ich würde nur Frauen hinterherjagen. Oder Männern, wie der Count. Ist der Count im Herzen weiblich und sucht deshalb nach männlichen Partnern?

Wäre ich dann wie der Count?

Zu welchem Geschlecht fühle ich mich hingezogen?

Ich blicke zu Logan und wieder fällt mir ein, wie mein Herz einen Sprung gemacht hat, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Wie es sich angefühlt hat, bevor ich die Schmetterlinge, einen nach dem andern, in Magensäure ertränkt habe.

Für den Count habe ich mich ebenfalls interessiert.

Und für Frauen? Habe ich schon einmal eine Frau angesehen und wollte sie anfassen? Küssen? Geküsst werden?

„Ich weiß es nicht“, gebe ich kleinlaut zu.

„Findest du es nicht gefährlich, zu einem Wunschbrunnen zu gehen, der irgendwo in einem verbotenen Wald herumsteht, wenn du nicht einmal weißt, was du dir wünschen sollst?“, fragt Logan und es liegt kein Hohn in seiner Stimme, sondern echte Sorge. Und was mich vor allem trifft, ist, dass die Idee aus Logans Mund albern klingt.

Doch ich muss mich irgendwann entscheiden. Bereits jetzt ist es nicht mehr angemessen, wie ein Bursche zu fluchen und herumzulaufen.

Oder?

„Wie ist es, mit einer Frau zu schlafen?“, frage ich Logan.

Sein Kopf läuft rot an und ich muss kichern.

„Bist du etwa noch eine Jungfrau?“, witzele ich.

„Da... da… das geht dich überhaupt nichts an!“, erwidert er stammelnd und weicht vor mir zurück.

„Willst du es mit mir tun? Bevor ich mich entscheide? Ich sage dir, wie es für eine Frau ist und du beschreibst, wie es sich für einen Mann anfühlt“, schlage ich vor und meine es … irgendwie ernst. Auch wenn es keine Liebe ist, jedenfalls nicht für ihn, wäre es so schlecht, meine verfluchte Jungfräulichkeit an Logan zu verlieren?

Und zum ersten Mal sehe ich Wut in Logans Gesicht. Er ist schnell, drückt mich zu Boden, seine Augen funkeln. Ohne Vorwarnung presst er seine Lippen auf meine und ich wünsche mir, dass das hier mein erster Kuss wäre und nicht der zuvor. Heu, das mein Ohr kitzelt, statt raue Rinde, die meinen Rücken aufreibt.

Dann sind seine Lippen an meinem Ohr.

„Glaubst du wirklich, ich würde mein erstes Mal an eine Frau verschwenden, die mich nicht liebt?“, flüstert er. Dann fühle ich die Wärme seines Körpers nicht mehr. Er ist weg. Und aus irgendeinem Grund laufen mir Tränen über die Wangen. Ich habe so hart daran gearbeitet, ihn nicht zu lieben, mich selbst und die Welt davon zu überzeugen, dass meine Gefühle nicht mehr als eine kurze Verliebtheit eines naiven Dummchens waren. Und jetzt, nach all den Jahren und dem Erfolg, schmerzen seine Worte und ich wünsche mir, sie wären wahr.

Für einen Moment lasse ich den Gedanken zu: Ich will ihn nicht lieben. Warum reicht das nicht? Dieser verfluchte, verblödete Logan! Warum ist er es immer, der mich zum Weinen bringt? Seine Worte tun so viel mehr weh als alles, was der Count gesagt hat oder hätte sagen können. Dann reiße ich den Geistern der ermordeten Schmetterlinge erneut die Flügel aus und stelle mir vor, wie sie sich in Magensäure zersetzen. Und es ist segenreiche Wut, die dabei aufschäumt.

Verärgert wische ich den Rotz und die Tränen mit dem Ärmel weg und mache mich daran, Mr. Perfekt zu satteln, führe ihn nach getaner Arbeit hinaus und streichle ihm über die weiche Mähne, die selbst im Mondlicht silbern leuchtet. Sein Fell fängt jeden noch so kleinen Lichtstrahl auf und wirft ihn als Geschenk an die Welt zurück. Am Tag macht er der Sonne Konkurrenz und in der Nacht verblassen die Sterne bei seinem Anblick. Seine Schönheit ist Balsam für meine Seele, ihn kann ich von Herzen lieben, ohne Angst vor Ablehnung oder Gelächter.

Sein Name passt zu ihm. Mr. Perfekt – der Vollkommene. Viel ist vom Neu-Schlenglischen-Unterricht nicht hängen geblieben – ich habe einfach kein Talent für Sprache … oder sonst irgendetwas … – aber bei der langwierigen Namenssuche für das schönste Fohlen der Welt hat sich die jahrelange Quälerei als hilfreich erwiesen. Der ideale Name für einen treuen Freund und Gefährten. Unabhängig davon ob Männlein oder Weiblein.

Warum ist das Geschlecht bei Menschen so wichtig? Wäre Mr. Perfekt Mrs. Perfekt, würde ich ihn genauso lieben. Ich steige auf, schnalze mit der Zunge und drücke sanft meine Fersen in seinen Bauch. Mehr braucht es nicht. Wir sind ein eingespieltes Team und er galoppiert mit Freuden vom Hof.

Es ist dunkel und wenn ich und vor allem Mr. Perfekt den Weg nicht kennen würden, wäre es sicher gefährlich. Doch wir sind ihn schon unzählige Male zusammen geritten und der Vollmond beleuchtet mit den Sternen die Felder, die wir in einem rasenden Tempo hinter uns lassen. Und je weiter der Hof und das Haus, der Ball und das Gelächter in die Ferne rücken, desto leichter wird mein Herz, desto leiser werden die Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann.

Als der Wind mir Tränen in die Augen treibt und die Welt mit weicheren Konturen für mich zeichnet, wünsche ich mir, dass er auch meine Gesichtszüge neu definieren könnte. Mein zu eckiges Kinn, die zu lange Nase und zu schmalen Lippen, die Brauen, die einem Gestrüpp gleichen, meine nichtssagenden braunen Augen und diese Ohren, die zu groß für meinen Kopf sind, wegwischen und neu formen würde.

Es ist nicht nur der fehlende Busen und die männliche Kleidung, die mich burschikos aussehen lassen, es ist vor allem mein Gesicht. Zu grob, um zu einem Mädchen zu passen, geschweige denn zu einer Frau.

Wenn ich Bartwuchs hätte und ein Gehänge, würde ich aussehen wie ein Mann. Ich benehme mich auch wie einer. Aber bin ich innen drin ein Mann? Oder eine Frau? Wo liegt der Unterschied? Im Moment könnte ich Kinder gebären, wenn ich einen willigen Partner finden würde. Doch möchte ich das?

Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich Kinder zeugen. Die Geburt und die Erziehung der Frau überlassen und nur ab und an mit ihnen herumtoben und sie abgeben, wenn sie in die Hose gemacht haben oder sonst irgendwie stören.

So wie Vater.

Das klingt um so vieles besser.

Doch wenn ich an Robins tanzende Brüste denke, dann spüre ich Neid und nicht Verlangen. Wenn ich eine andere schöne Frau sehe, blicke ich ihr nach, nicht weil ich mich in ihrer Schönheit verliere, sondern weil ich ihre Schönheit besitzen möchte.

Wenn ich an Verlangen denke, dann sind es männliche Hände, die mich streicheln. Eine dunkle, tiefe Stimme, die mir Komplimente ins Ohr flüstert.

Wenn mein Sexualtrieb weiblicher Natur ist, bedeutet das, ich bin im Inneren eine Frau?

Das Hufgetrampel von Mr. Perfekt schlägt mir diese Gedanken aus dem Kopf. Verscheucht die Unsicherheit und ich verliere mich in dem schnellen Rhythmus. Wir preschen durch den Wald. Ich überlasse Mr. Perfekt die Entscheidung und er bringt mich zu dem idealen Platz, zu unserer Lichtung.

Ich steige ab, nehme Mr. Perfekt das Zaumzeug ab und lasse ihn grasen, lege mich auf den Rücken und blicke zum Himmel hinauf, suche nach den Sternzeichen, die mein Vater mir gezeigt hat. Der große Bär mit dem kleinen, der Löwe, daneben das Rhinozeros und nicht weit davon das Einhorn. Natürlich sind alles erfundene Namen für Punkte im Himmel. Das wusste ich schon früh. Doch es hat Spaß gemacht und das Einhorn, das ist auf meinen Mist gewachsen.

Während Robin immer an Mutters Rockzipfel hing, habe ich mit und auch ohne Vater die Welt erkundet. Und hier, das Gras im Nacken, die Sterne über mir und den kühlen Frühlingswind auf meinen Wangen, mag ich mein Leben, so wie es ist … oder so wie es war.

Ich wünschte, ich könnte es festhalten und in diesem Moment ewig leben. Doch ich werde älter. Die Zeit lässt sich nicht anhalten und ich muss mich entscheiden. Entweder ich werde zum Mann oder zur Frau. Selbst wenn es körperlich nicht geht, wenn mir niemand ein Gehänge in den Schritt zaubern kann, muss ich mich entscheiden, ob ich bleibe, wie ich bin: Burschikos, für immer ein bartloser Jüngling, der wild durch die Gegend reitet und alleine bleibt, weil ihm das fehlt, was eine Frau glücklich machen und ihr eine Familie schenken kann.

Oder versuche ich, die Kanten und Ecken und Büsche in meinem Gesicht mit Creme und Schminke zu überdecken, und stopfe mir Kissen unters Kleid in der Hoffnung auf eine Partie, die nicht zu schlecht ausfällt? Unsere Familie ist nicht arm. Viele würden mich wegen des Geldes heiraten. Doch keinem Mann, der sich nach einem Frauenkörper sehnt, würde ich je genügen.

Und ein leiser Gedanke, eine Hoffnung, die mich vor vier Jahren betrogen hat, die mir heute Nacht etwas vorgegaukelt hat, flüstert mir ins Ohr: Vielleicht gibt es ja doch jemanden da draußen, der mich so mag, wie ich bin. Wenn auch nicht als Frau oder als Mann, dann als Mensch. Als Freund. Und dieser verfluchte Gedanke treibt mich von selbst wieder zu Logan und ich glaube, seine Lippen auf meinen zu spüren.

Ich wende mich von den Sternen ab und denke über das Kloster nach. Im Kloster könnte ich weder Mann noch Frau sein, doch das Leben in Schweigen, mit der Nase in Büchern, erscheint mir ebenfalls nicht lebenswert.

Wo ich auch hinsehe …

… gibt es kein Leben für mich, in dem ich bleiben kann, wie ich bin und trotzdem glücklich werde?

Dann höre ich es, das Pfeifen. Wolken verdunkeln den Mond, verschlucken jeden Lichtstrahl. Hat der Wolf wieder den Mond gefressen? Doch das kann nicht sein. Dafür ist es noch viel zu früh. Etwas stimmt hier nicht. Meine Eingeweide ziehen sich schmerzhaft zusammen. Auch Mr. Perfekt scheint es zu spüren, und wiehert aufgeregt. Bevor ich aufspringen und zu ihm rennen kann, bäumt er sich auf und bricht panisch durch das Unterholz.

Ich rufe seinen Namen und will ihm folgen, habe Angst, dass er sich in der Dunkelheit verletzt, als die Schwärze um mich herum von weißem Nebel aufgefressen wird. Zuerst kriecht er meine Stiefel hoch, färbt das Schwarz der Dunkelheit weiß, als wäre die Realität nur eine Tuschezeichnung und als hätte der Schöpfer dieses Kunstwerkes sich dazu entschlossen, sie auszuradieren und neu zu erschaffen.

Ich müsste Angst haben, doch ich kann nur fasziniert zusehen, wie der Nebel meine Knie hochsteigt, über meine Hüften zu meiner Brust kriecht und schließlich meine ganze Welt bedeckt. Vorsichtig schließe ich meine Augen und sehe Schwarz. Ich öffne meine Lider und die Welt um mich ist weiß. Alles, was mich definiert, was mir Form gegeben hat, ist verschwunden und für einen Moment bin ich frei von Zweifel, Sorgen und der Frage, wer oder was ich bin.

Ich verliere mich in dem Weiß des Nichts, in dem Moment der vollkommenen Stille. Dann dringt das Echo von Hufgetrampel und einem panischen Wiehern an meine Ohren und ich stolpere blind in die Richtung, aus der die verzweifelten Laute kommen. Mein Mr. Perfekt hat Angst, ich muss zu ihm! Dieser Gedanke nimmt mich vollkommen ein, verdrängt das Nichts und die Ruhe, erfüllt mich mit Sorge und ein kleiner Teil von mir trauert dem Nichts nach.

Wie lange ich in der Milchsuppe herumirre, weiß ich nicht. Es fühlt sich an, als würde ich durch Wasser laufen. Der Nebel saugt sich in meine Kleidung, erschwert mir jeden Schritt und doch treibt mich die Sorge immer weiter. Jede Bewegung kostet Kraft. Meine Glieder schmerzen, meine Beine weigern sich weiterzugehen, doch ich zwinge sie, zwinge mich.

Dann, als ich glaube, dass ich keinen Schritt weiter kann, fällt der Nebel von mir ab und ich werde so leicht, dass ich nach vorne stolpere und mich gerade noch so fangen kann, als sich mein linker Knöchel in irgendetwas Biegsamen verfängt und ich mit dem Gesicht in einer Matschpfütze lande. Schön mit Schmackes und Geplatsche. Wundervoll.

Ein seltsames Gefühl, etwas Weiches, Lebendiges presst sich gegen meine Lippen und ich spüre einen Stich, als würde eine dünne Nadel in die empfindliche Haut dringen. Panisch zerre ich meinen Kopf aus dem Schlamm.

Mein schöner Anzug ruiniert, meine Unterlippe brennt. Hat mich ein Wurm gebissen? Haben Würmer überhaupt Zähne? Ist es vielleicht eine giftige Schlange gewesen? Vorsichtig richte ich mich auf und als ich mir den Dreck aus den Augen wische, glaube ich, ein Lachen zu hören. Doch ich muss mich irren. Das Lachen … es kommt aus der Pfütze … aus der Erde? Ich durchsuche mein Gehirn vergeblich nach Geschichten über lachende Würmer, kann nur Umrisse erkennen und erst nach mehrmaligem Blinzeln fokussiert die Welt sich durch den Dreckschleier und ich sehe verschwommen einen Brunnen und nicht weit von ihm ein Gefäß.

Halbblind stolpere ich darauf zu und ertaste einen Holzeimer. Ich lange hinein und bin froh, als ich Wasser durch meine Finger rinnen fühle. Es ist eiskalt und ich reinige gerade so viel von meinem Gesicht, dass ich wieder sehen kann und finde vor mir doch tatsächlich einen Brunnen.

Ein Brunnen, mitten im Wald?

Ich blicke um mich herum und sehe … Bäume. Ich bin auf einer Lichtung. Doch sie wirkt … seltsam. Die Bäume bilden einen perfekten Ring um den Brunnen, der direkt in der Mitte steht. Ein Kreis, um einen Kreis.

Kann es sein?

Bin ich so weit gelaufen, dass ich im verbotenen Wald angekommen bin?

Ist das der Wunschbrunnen, über den Logan gesprochen hat? Das ist nicht möglich … oder?

Vorsichtig wage ich mich an den Rand und blicke hinein.

„Hallo?“, rufe ich hinunter.

… „Hallo!“, erklingt es nach einer Weile.

„Hallo, Echo!“, sage ich aus einem Anfall von Dummheit und panischem Humor heraus.

„Echo ist nicht hier, meine Schwester bevorzugt Berge und Hänge“, schallt es mir entgegen.

Erschrocken zucke ich zusammen. Ist das ein Scherz?

„Und … wer bist du?“, frage ich nervös, ängstlich und doch rast mein Herz vor Aufregung.

„Ich bin das Wasser. Wen erwartest du sonst noch in einem Brunnen?“, antwortet es mir.

„Das Wasser also … hallo, Wasser“, entgegne ich albern und schiebe das der Nervosität zu.

„Nun, ich habe einen Namen“, sagt das Wasser.

„Und … der wäre?“, frage ich und schlucke jeden Kommentar zu einem Wesen, das sich als Wasser vorstellt, anstatt mit seinem Namen.

„Gut, ich habe viele Namen“, kriege ich zum Dank für meine Zurückhaltung. Das ist eine Steilvorlage gewesen! Sie zu ignorieren, hat mich viel Mühe und Selbstbeherrschung gekostet. Doch ich schlucke den Ärger hinunter und erwidere nur: „Einer würde mir reichen.“

„Hm … Rusalka hat mir immer gefallen, auch wenn es das nicht ganz trifft.“ Was für ein albernes Wasser … Ich knirsche mit den Zähnen und erwidere nur: „Ach nein?“ Etwas, das mich viel Anstrengung kostet. Und habe ich die Selbstbeherrschung erwähnt?

„Ich sauge niemandem die Lebensenergie aus … jedenfalls nicht bis zum Tod.“ Stolz klingt in der Stimme mit.

„Das ist … beruhigend?“ Ich hoffe, ich kann den Hohn und ja, ich gebe es zu, die Angst, gut in meiner Stimme verdecken.

„Was willst du?“, fragt die Stimme plötzlich angenervt, als würde ICH die mehrdeutigen Antworten geben.

„Meinst du meinen Wunsch?“, erwidere ich hoffnungsvoll und etwas ängstlich … nun gut, ich gebe es zu: ängstlich und etwas hoffnungsvoll.

„Was für einen Wunsch?“, entgegnet es mir prompt. Warum unterhalte ich mich mit einem Wesen, das in einem Brunnen haust? Vor allem noch mit so einem unhöflichen?

„Ist das nicht ein Wunschbrunnen?“, frage ich mit dem letzten Funken Höflichkeit in mir.

„Wenn, dann wäre das hier nicht EIN Wunschbrunnen, sondern DER Wunschbrunnen“, tönt es eingeschnappt von unten.

„Gut … ist das hier nicht DER Wunschbrunnen?“, entgegne ich Zähne knirschend.

„Wenn du es gerne so möchtest.“ … ist das ihr Ernst? Es muss eine sie sein.

„Kann er denn Wünsche erfüllen?“, frage ich nach und bin schon in Gedanken dabei, dieses dumme sprechende Wasser samt Brunnen hinter mir zu lassen.

„Wer?“, wird mir verwirrt entgegengeworfen

„Der Brunnen!“, schreie ich hinein.

„Sei nicht albern! Wie soll ein Brunnen Wünsche erfüllen?“ Das kann nicht ihr Ernst sein. Ich werde hier doch verarscht.

„Dann ist das hier kein Wunschbrunnen. Danke für … äh … das Gespräch!“ Ich zwinge meine Finger den Stein, in den sie sich frustriert gekrallt haben, loszulassen, drehe mich um und gehe.

„Warte!“, ruft es plötzlich von unten her.

„Warum?“ Ja, warum sollte ich meine Zeit hiermit verschwenden?

„Du hast mir deinen Wunsch noch nicht gesagt.“ Ich bin fassungslos.

„Ich dachte der Brunnen kann keine …“, erwidere ich stupide und mit einem weniger höflichen Unterton.

„Dummer Mensch! Der Brunnen nicht, aber ich vielleicht. Kommt auf den Wunsch an. Also?“ Die Stimme klingt von angenervt bis fröhlich. Dieses beschissene Brunnenwasser genießt es, mich auf den Arm zu nehmen! Ich fass es nicht!

„Also?“, wiederhole ich. Mir liegen eine Tonne Beleidigungen und scharfe Erwiderungen auf der Zunge und alles, was ich herausbringe, ist dieses Wort?

„Nenn‘ mir deinen Wunsch!“, fordert dieses … Ding!

„Ich bin mir nicht sicher“, erwidere ich aus irgendeinem Grund ehrlich.

„Du bist dir nicht sicher? Was willst du dann hier?“, empört sich das schale Brunnenwasser.

„Der Nebel hat mich hierhergeführt.“ Verdammt noch eins! Jetzt gehe ich aber wirklich!

„Nebel führen niemanden, … ich zweifle langsam wirklich an deiner Intelligenz“, wagt es sich, dieses Brunnenwässerchen zu erdreisten!

„Und ich an meinem Geisteszustand“, erwidere ich und bin wieder kurz davor zu gehen, bleibe aber, sicher aus Gewohnheit, stehen.

„Da sind wir uns ja einig. Also … was überlegst du dir zu wünschen?“, fragt der Wassergeist. Die Nicht-Rusalka.

„Ähm … also …“, stottere ich und fühle mich von einer unsichtbaren Stimme verspottet und in die Enge gedrängt.

„Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. WAS WILLST DU?“, schreit der geistesgestörte Brunnen mich an.

„Ich denke darüber nach, ob ich ein Mann sein will oder eine Frau“, entschlüpft mir die Wahrheit. Einfach so. Ohne mein Zutun.

„…“

„Hallo?“, rufe ich hinein.

„…“

„Hallo?“, versuche ich es noch einmal. So gar keine Reaktion auf mein Herzensproblem zu bekommen, ist beleidigend.

„Ruhe! Ich suche in meinem Gedächtnis. Soweit ich mich entsinnen kann, habt ihr Menschlein keine Wahl. Steht das nicht bei eurer Geburt schon fest?“, fragt das Brunnengewässer etwas unsicher nach.

„Eigentlich … ja …“, erwidere ich.

„Eigentlich?“

„Nun … ich bin technisch gesehen eine Frau“, gebe ich zu.

„Aber du fühlst dich zu Frauen hingezogen? Das dürfte kein Problem sein. Es gibt Welten, in denen die gleichgeschlechtliche Liebe anerkannt ist. Ich könnte dich in so eine Welt bringen“, erwidert die Stimme großzügig.

„Könntest du?“, frage ich und mein Interesse ist wirklich geweckt.

„Wenn du dir das wünschst“, sagt die Stimme und ich kann ihr Achselzucken hören. Diese Beiläufigkeit ist wirklich nervtötend.

„Nein!“, schreie ich in den Brunnen.

„Nein?“

„Ich bin gerne hier“, wiederhole ich, um sicherzugehen, dass ich richtig verstanden werde. Ich zweifle an der Kompetenz dieses Wunschbrunnens. Für alle Fälle sollte ich klarstellen, dass ich mir das nicht gewünscht habe.

„Okay … was fehlt dir denn, um eine Frau zu werden?“, fragt der Brunnen wie ein Arzt nach Symptomen.

„Brüste!“, erwidere ich automatisch.

„… … … Wie bitte?“

„Brüste!“, wiederhole ich. Warum halte ich nicht einfach die Klappe und gehe?

„Du hast keine Brüste?“, fragt die Stimme … interessiert. Ja, wirklich, ich kann das neu erwachte Interesse hören.

„Doch … aber sie sind klein … eher winzig. Kaum der Rede wert.“ Hach … es auszusprechen tut weh und tut doch gut. Ein seltsames Gefühl.

„Wahnsinn! … deine Eitelkeit muss tief reichen, wenn sie dich hierher geführt hat“, ist der Dank für meine Ehrlichkeit.

„Ich bin nicht eitel!“ Ich wurde noch nie von irgendjemand als eitel bezeichnet!

„Ach nein? Würdest du deine Seele für größere Brüste verkaufen?“, fragt die Stimme wieder mit mehr Interesse.

„Natürlich nicht!“, schrei ich ihr entgegen. Was für eine Frage!

„Dann willst du keine größeren Brüste … nicht wirklich. Was würde dir zum Mann-Sein fehlen?“, fragt der Brunnen weiter.

„Das ist doch eindeutig“, erwidere ich, gefangen in dem Hin und Her von … was eigentlich? Direkte Beschimpfungen sind es nicht und doch fühle ich mich beschimpft und beleidigt.

„Ist es das?“, fragt es zu mir hoch.

„… ein Gehänge“, rufe ich laut hinunter.

„… Wie bitte?“

„Ein Gehänge. Zwei Eier und einen Penis.“ Deutlicher kann ich nicht werden.

„… bei den Eiern könnte ich dir helfen. Ich kenne eine Freundin, die hat ein paar Hühner.“ Ist das zu fassen?

„Das ist lächerlich.“ Mehr kann ich nicht dazu sagen. Ich habe mich schon zu lange hier aufgehalten.

„Finde ich auch“, stimmt mir die Stimme zu.

„Dann gehe ich jetzt. Das hier bringt nichts.“ Und zum ersten Mal sehe ich das Ende dieses Teufelskreises.

„Bist du dir sicher?“, fragt mich das Brunnenwasser doch glatt.

„Dass das hier nichts bringt? Ziemlich“, erwidere ich und will dieses Mal wirklich gehen.

„Dass du gehen willst. Diesen Brunnen findet ein Mensch nur einmal in seinem Leben“, sagt die Stimme.

„Ach … und was soll ich machen, wenn ich nicht weiß, was ich will und wenn du mir weder das eine noch das andere geben kannst?“ Ich spitze die Ohren, bin doch gespannt auf diese Antwort.

„Wenn ich nicht in der Lage bin, dir deinen Wunsch zu erfüllen, kann ich dich zu jemandem bringen, der die Macht hat.“

Ich zögere … das ist mehr als lächerlich, albern … das muss ein Traum sein. Bin ich auf der Lichtung eingeschlafen? Hoffentlich fange ich mir keine Erkältung ein. Und doch kann ich nicht einfach gehen. Ich seufze und erwidere: „Dann bring mich zu jemandem, der mir helfen kann.“

„Wirf den Eimer hinein und zieh mich heraus!“

„Das ist kein Trick oder? Du wirst nicht über mich herfallen?“ Ich kann es bildlich vor mir sehen.

„Von dem, was ich aus unserem Gespräch herausgehört habe, bist du nicht mein Typ.“

„…“

„Ich verspreche hoch und heilig bei Wasser, Erde, Feuer und Luft, dass ich dich weder auffressen, noch ein Unglück über die Menschheit bringen werde. Zufrieden?“

„Klingt plausibel.“ Ich greife nach dem Eimer, der noch an der Schnur hängt, und werfe ihn hinunter. Das hier ist alles nur ein Traum und mein Handeln wird keinerlei Konsequenzen haben.

„Pass doch auf, du Trampel! Du hättest mich beinahe mit dem Eimer erschlagen.“ Oh, ich habe verfehlt? Wie schade … „Nur beinahe?“, frage ich sicherheitshalber noch einmal nach.

„Nicht so frech! Sonst kannst du sehen, wo du bleibst!“ Wo da wäre?

„Es tut mir leid …?“, versuche ich es mit Höflichkeit. Traum hin oder her. Einen Geistesgestörten wütend zu machen, erscheint mir unklug.

„Worauf wartest du?“, zischt es nach oben.

„Bitte?“

„Du sollst mich hochziehen!“

Ganz schön frech, dieses Biest. Zähneknirschend greife ich nach dem Seil und ziehe … und ziehe … und ziehe. Mit aller Kraft, die in mir steckt. Meine Hände brennen, doch ich packe fester zu. Das Seil beginnt sich rot zu färben. Rot von meinem Blut. Und doch kann ich nicht loslassen. Bin ich verzaubert? Was geht hier nur vor?

Ich will aufhören. Loslassen. Doch es ist, als ob mein Körper nicht mehr mir gehört. Er zieht und zieht weiter. Und als ich nur noch Schweiß bin und am ganzen Körper zittere, sehe ich blaugrünes Haar, einen Kopf, golden glänzende Haut … die beschuppt ist … und riesige Brüste.

Meine Augenbrauen treffen sich in der Mitte und ich lasse das Seil einfach los.

Doch Nicht-Rusalka springt auf den Brunnenrand und faucht mich wütend an: „Pass doch auf, du Tölpel!“, während das Surren eines fallenden Eimers die Nachtluft erfüllt. Ich wünschte, sie wäre mit dem Eimer zurückgefallen.

Ich drehe mich um und gehe.

„Warte! Willst du meine Hilfe nicht mehr?“, ruft die vollbusige Nixe.

„Deine Hilfe? Wie soll mir jemand helfen, der nicht im geringsten verstehen kann, wo mein Problem liegt?“, erwidere ich und begehe den Fehler, mich umzudrehen. Mein Blickt saugt sich wieder an den Kurven der Wassernixe … oder ist sie eine Brunnennixe (?)… fest.

Dann stehe ich plötzlich direkt vor ihr, ohne mich bewegt zu haben. Ihr schlanker Finger bohrt sich in meine nichtvorhandene linke Brust.

„Das ist dein Problem, nicht meins. Und ich werde dir helfen.“ Dann schließen sich ihre Finger um mein Kinn und ihre Lippen pressen sich auf meine. Spitze Zähne beißen in meine Unterlippe, die noch von der Erde brennt, und sie saugt an mir …

Ich schubse sie weg, verliere die Balance und wäre in den Brunnen gefallen, hätte sie mich nicht an meinem Hosenbund festgehalten. Ein kalter Wind weht über meinen nackten Hintern.

„Was zum Teufel?“, schreie ich wütend, wage es jedoch nicht, mich zu bewegen.

„Also Eier hast du wirklich nicht“, sagt sie beiläufig.

„Und auch kein Gehänge!“, füge ich hinzu.

„Nein, das auch nicht. Du bist nicht sehr weiblich, aber weiblich dennoch.“

„Danke …“

„Wofür?“

„Dass du mich nicht in den Brunnen hast fallen lassen.“

„Ach das. Das war nur ein Reflex. Ein unnötiger“, entgegnet sie.

„Wieso?“, frage ich dämlich.

„Weil du sowieso in den Brunnen musst.“

„Wie bitte?“

Dann sind ihre Arme um mich geschlungen, ich sehe ihre rasiermesserscharfen Zähne durch ihr Lächeln leuchten. Sie sieht schön aus, aber grausam und gemein. Und ich falle mit ihr in die Tiefe des Brunnens. Falle unendlich, bis ich auf Wasser treffe. Ich strample panisch, versuche, nicht zu atmen. Das habe ich davon! Ich hätte bei der ersten Beleidigung gehen sollen.

Luka & Robin

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