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„Schwester Michaela, es ist dringend!“

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Nach überstandener Depression ist Schwester Michaela selbstbewusster als früher und wieder voller Lebensfreude. Ihre Ministricksocken zeigen psychisch Erkrankten: Mit kleinen Schritten wird man wieder gesund.

Sie ist ihr Leben lang sorgende „Schwester“. Zuerst als ältestes Kind einer Bergbauernfamilie, später als Ordensschwester, als Krankenschwester und als Pflegedienstleiterin einer Seniorenresidenz. Dort muss sie mit immer weniger Personal auskommen, was die bis dahin fröhliche, engagierte Frau innerlich zerreißt. Doch auf ihre Grenzen zu achten, hat Schwester Michaela nie gelernt. Sie arbeitet sogar noch, als sie aufgrund einer schweren Depression Suizidgedanken hegt. Nach einem völligen Zusammenbruch dauert es Jahre, bis sie ganz genesen ist. Doch sie wird wieder lebensfroh und lernt, auch sich selbst zu lieben. Heute ist die Ordensschwester eine wertvolle Stütze für andere Menschen, die psychisch erkrankt sind.

Auf einem Bergbauernhof in 1 300 Metern Seehöhe muss jeder mitanpacken. Ganz besonders Michaela, die älteste von fünf Geschwistern. Die „große“ Schwester. Nicht nur die Mithilfe im landwirtschaftlichen Betrieb ist ihr Tagewerk. „Pass auf die anderen auf“, sagen die Eltern. „Du könntest doch gescheiter sein“, bekommt sie, die Älteste, zu hören. Sie hat ihre Aufgabe und die muss erfüllt werden. Für Michaelas Bedürfnisse gibt es zu wenig Zeit, zu wenig Geld und zu viel Arbeit.

Meine eigenen Gefühle habe ich nicht gekannt und durfte sie auch nicht wahrnehmen. Ich habe gar keine eigenen Bedürfnisse gehabt, weil ich immer geschaut habe, was die anderen brauchen.

Als junge Erwachsene verlässt die große Schwester den Bergbauernhof. Doch ihr Weg scheint schon festgeschrieben zu sein. Sie tritt in eine Ordensgemeinschaft ein und wird somit immer für andere da sein.

Nein sagen habe ich noch nie können. Außerdem habe ich immer gerne geholfen. Ich habe einen guten Hausverstand und bin geschickt. In vielen Notsituationen habe ich eine Lösung gewusst.

Die junge Frau entscheidet sich für ein weiteres Schwesterndasein: Sie wird Krankenschwester. Für diesen sorgenden Beruf empfindet sie Leidenschaft. Sie ist in ihrem Element. Viele Jahre arbeitet sie mit großer Freude in zwei Salzburger Landspitälern. Ihren Tagesablauf – beten, arbeiten, essen – und einen Teil der freien Zeit verbringen die Mitschwestern miteinander. Sie wohnen im Personalhaus auf dem Spitalsgelände. Im Orden haben die Schwestern neben ihrer Arbeit Spaß beim Kartenspielen oder bei Theaterprojekten. Das Leben miteinander zu gestalten genießt die Bergbauerntochter. In ihren Urlauben geht sie mit einer Freundin jeden Tag Schwammerl suchen und genießt es, beim Wandern die Natur zu erleben. Auf der Männerstation arbeitet die Krankenschwester besonders gerne. Wenn sie heute an die Zeit zurückdenkt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Nach einer kurzen Nachdenkpause schildert sie im Lungauer Dialekt, wie erfüllend sie diese fordernde Arbeit empfunden hat.

Wir haben sehr viel Spaß gehabt. Auf der Männerstation ist es lustig gewesen, wir haben aber auch sehr viel gearbeitet. Abends oder nach zwölf Stunden Nachtdienst bin sehr müde, aber auch sehr zufrieden ins Bett gefallen. Meine Mitschwester und ich waren immer zu irgendeinem Blödsinn aufgelegt. Humor hat mir bei der Arbeit immer geholfen. Meine christliche Lebenseinstellung hat mein Leben geprägt. Ich war von Anfang an Krankenschwester aus Leidenschaft. Was die Patienten brauchten, was sie wollten – das habe ich immer genau gewusst. Ihre Dankbarkeit hat mich motiviert. Ich bin für andere da gewesen, habe immer Zeit gehabt und meine eigenen Grenzen nicht gekannt. Aber das ist für mich in dem Alter kein Problem gewesen. Es ist mir ja gut gegangen. Ich habe alles gehabt, was ich zum Leben gebraucht habe. Meine Aufgaben habe ich erfüllt.

Ihre Aufgaben erfüllt die Bergbauerntochter so gut, dass ihr eine Führungsposition übertragen wird. Ohne lange zu überlegen, willigt die Ordensschwester ein, die Pflegedienstleitung einer großen Seniorenresidenz zu übernehmen. Zwar vermisst sie den täglichen Umgang mit den Spitalspatienten, doch es gilt jetzt, neue Herausforderungen zu bewältigen. Schwester Michaela muss dafür sorgen, dass die Heimbewohnerinnen und -bewohner bestmöglich betreut und gepflegt werden. Sie hat auch darauf zu achten, dass es dem Personal gut geht. Diesen Spagat zu meistern erweist sich als sehr schwierig. Weitere Umstände verschärfen die Lage: Das Alter und die Pflegebedürftigkeit der Bewohner steigen mit den Jahren, die Anzahl des Pflegepersonals dagegen wird ständig reduziert. Wie so oft geht es ums Sparen.

In das Seniorenheim sind immer mehr sehr alte und schon sehr pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner gekommen. Das Haus hat vier Stockwerke gehabt. Überall, wo ich im Haus hingekommen bin, hat mir das Pflegepersonal gesagt: „Schwester Michaela, wir brauchen ganz dringend mehr Personal. Unsere Bewohner brauchen immer mehr Pflege. Wir schaffen das nicht mehr.“ Ich als Krankenschwester weiß, was für eine professionelle Pflege nötig ist. Darum habe ich in den Sitzungen mit der Heimleitung ständig gesagt: „Wir brauchen mehr Personal, die Arbeit ist zu viel geworden.“ Aber meine Bitten sind völlig ins Leere gegangen. Der Sparkurs ist sogar noch verschärft worden. Es hat nur geheißen: „Michaela, wie stellst du dir das vor? Das Personal ist das Teuerste im Haus. Wir können keine Stellen mehr nachbesetzen.“

Während die Ordensschwester über ihre Jahre als Führungskraft erzählt, spricht sie leiser. Sie wirkt nachdenklich.

Ich bin im Spagat zwischen Verwaltung und Pflegepersonal gestanden. Das hat mich innerlich zerrissen. In der Schwesterngemeinschaft hat es zusätzlich allerlei Arbeiten gegeben. Ich bin die Jüngste gewesen und habe allerlei Zusatzarbeiten übernommen. Irgendwann hat das Grenzen.

Die machen sich aber erst bemerkbar, als Schwester Michaela sie bereits lange überschritten hat. Sie geht so weit über ihre physischen und psychischen Grenzen hinaus, dass sie sich immer weniger spürt und schließlich ihre einstige Lebensfreude verliert. An einem sonnigen Apriltag 1994 kommen ihr zum ersten Mal Suizidgedanken.

Ich habe gedacht: Jetzt schaffe ich es nicht mehr. Ich habe mich ausgebrannt gefühlt und daran gedacht, mein Leben zu beenden. Es ist so aussichtslos gewesen. Damals bin ich in eine lange suizidale Lebensphase gerutscht. Aber kaum jemand hat davon etwas bemerkt. Ich bin eine ausgezeichnete Schauspielerin gewesen. Meine Familie hat am wenigsten davon erfahren. Die Mitschwestern haben es teilweise mitbekommen. Sie sind aber mit dieser schwierigen Situation überfordert gewesen.

Gewohnt, keine Schwäche zu zeigen, überspielt die Pflegedienstleiterin ihre Depression und ihre bedrohliche Situation. Sie ist am Ende, kann es sich aber nicht leisten, vor 100 Angestellten schwach und psychisch krank zu sein. Dann könnte sie ja ihre Rolle als Führungsperson nicht mehr erfüllen. Die Arbeit ist da, doch ihre Kraft ist verschwunden. Theoretisch ist sie nicht mehr arbeitsfähig. Praktisch ist das für sie aber undenkbar. Dafür ist sie viel zu leidenschaftlich Krankenschwester und Pflegedienstleiterin.

Dieser bedrohliche Zustand geht über Jahre. Schwester Michaela nimmt zwar neben der Arbeit eine Zeit lang Psychotherapiestunden, lässt diese aber bald wieder sein. Einmal nimmt sie eine Auszeit, hofft, dass drei freie Monate ihre Situation verbessern. Doch das passiert nicht. Im Gegenteil. Jahr um Jahr sieht sie weniger Sinn im Leben. Sie wird kraftlos, verliert ihre Lebensfreude und jeglichen Antrieb. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt kehrt sie sofort wieder in ihr Arbeitsfeld zurück. Was sie damals noch nicht weiß: Wenn sie immer wieder zurück in ihre Arbeit und in ihr Umfeld geht, kann sie nicht gesund werden. Sie selbst gesteht sich nicht zu, ihre Stelle zu verlassen. Niemand erkennt, wie dramatisch die Lage ist. Wie sehr die Depression durch die anhaltende Überlastung schon fortgeschritten ist. Die Pflegedienstleiterin steht in diesen Jahren direkt am Abgrund.

Das Schlimme war, dass ich in dieser Zeit immer daran gedacht habe, mein Leben zu beenden. Meine Gedanken haben so ausgesehen: „Wenn ich diese Stunde noch aushalte, gut. Wenn ich die nächste nicht mehr aushalte, dann nicht mehr.“ Mit meinem Leben Schluss zu machen, wäre für mich damals überhaupt kein Problem gewesen. Ich bin voll davon überzeugt gewesen: „An einer psychischen Krankheit kann man genauso sterben, wie an einem Karzinom.“ Ich nehme mir selber ja nur dann das Leben, wenn ich keinen anderen Ausweg mehr sehe.

Trotz allem habe ich weitergearbeitet. In ganz schlimmen Zeiten habe ich mich jede Stunde bei meiner Ärztin melden müssen. Eigentlich kann man da nicht mehr von Arbeiten sprechen. Das Ganze war grenzwertig. Für eine Krankenschwester ist es kein Problem, das eigene Leben mit Medikamenten zu beenden. Ich habe Zugang zu allen Medikamenten gehabt und hätte mir einfach eine Infusion legen können. Im schlimmsten Fall hätte ich alles gehabt, um Schluss zu machen. Durch meinen Kopf ist immer wieder derselbe Satz gegangen: „Wenn ich es nicht mehr aushalte, brauche ich nicht mehr lange zu überlegen. Dann weiß ich, was ich tue.“

Letztlich zögert die schwerkranke Frau aber immer wieder. Dass sie sich nicht das Leben nimmt, hat mit ihrer langen Erfahrung zu tun. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen im Krankenhaus hat sie oft erlebt, dass jemand aus Verzweiflung 20 Tabletten geschluckt hatte. Dass sie diesen Patientinnen und Patienten den Magen ausgespült haben. Dass diese danach fünf Stunden geschlafen haben und die Sache ist erledigt gewesen – oder auch nicht. Die Krankenschwestern haben es bei etlichen Betroffenen mitbekommen, dass diese durch ihren Suizidversuch eine dauerhafte Beeinträchtigung erlitten haben. Einzelne sind bis an ihr Lebensende pflegebedürftig geblieben. Das schreckt die Pflegedienstleiterin ab.

Du hast keine Gewähr, dass der Suizid gelingt. In der richtigen Minute kommt dann noch wer und es geht schief. Ich wollte nicht mit 50 Jahren irgendwo als Pflegefall liegen. Also habe ich meine Rolle weiterhin ausgefüllt. Das Überspielen meiner Krankheit ist mir später auf den Kopf gefallen. Meine Mitschwestern haben meine Not nicht verstehen können und gemeint, es fehle mir doch an nichts. Nur zwei haben meine stumme Sprache verstanden.

Die Spirale dreht sich unaufhörlich abwärts. Schwer depressiv empfindet die Pflegedienstleiterin ihr Leben zunehmend als aussichtslos. Sie hat keine Kraft und keine Hoffnung mehr. Im Jahr 2006 bricht sie völlig zusammen. Erst jetzt, als sie ihre Krankheit nicht mehr überspielen kann, bespricht sie mit ihrer Psychiaterin, was sie tun und in welches Krankenhaus sie gehen soll.

Es wird zehn Jahre dauern, bis Schwester Michaela wieder gesund ist. Neun Wochen wird sie in der Psychiatrie behandelt. Am Ende der neun Wochen erlebt sie keine Änderung, keine Besserung – so weit ist ihre Erkrankung schon fortgeschritten. Doch sie wird entlassen. Nach den Worten der Oberärztin ist sie „austherapiert“. Für sie ist das eine schlimme Aussage. Austherapiert zu sein heißt für die Schwester: Da kann man nichts mehr machen. Es geht ihr so schlecht, dass sie für eine Psychotherapie nicht geeignet ist. Manchmal kann sie nicht einmal „ja“ oder „nein“ sagen. Sie hat oft das Gefühl, dass sie völlig leer ist. Die Luft ist raus. Eine vertraute Mitschwester begleitet sie während dieser schlimmen Zeit. Was ihr damals geholfen hätte? Das weiß sie erst heute.

Ich hätte mir jemanden gewünscht, der das „Nicht-Aushaltbare“ mit mir aushält. Jemanden, der gesagt hätte: „Ich habe auch einmal so eine schlimme Zeit erlebt. Die Zeit wird wieder besser.“ Jemanden, zu dem ich hätte sagen können: „Es ist immer noch gleich schlecht und das Ganze ist einfach ‚scheiße‘.“

So eine Person gibt es damals nicht für Schwester Michaela. Durch die Arbeitsunfähigkeit und durch ihren schlechten Allgemeinzustand rutscht ihr Selbstwert unter null. Allein für das morgendliche Aufstehen, Duschen und Anziehen braucht sie manchmal zwei Stunden. Ihre größte Sorge ist, dass sie allein nicht mehr leben kann. Dass sie Sachen von der Apotheke nicht mehr selbst holen kann, dass sie immer jemanden um Hilfe bitten muss. Sie hat das Gefühl, überhaupt nichts mehr allein tun zu können. Doch wer sollte diesen Zustand wirklich ermessen können, wenn er ihn noch nicht am eigenen Leib erfahren hat?

Nur wer eine Depression selbst erlebt hat, weiß, wie sich das anfühlt. Das habe ich schmerzlich zu spüren bekommen. Psychiater lernen im Studium, welche Krankheitsbilder es bei psychischen Krankheiten gibt und welche Psychopharmaka sie verordnen müssen. Selber erleben sie die Krankheit aber nicht und verstehen daher auch nicht wirklich, wie schlecht es schwer depressiven Menschen geht. Ich erinnere mich deutlich an zwei Beispiele.

Eine Oberärztin der Psychiatrie hat mich stets mit folgenden Worten begrüßt: „Gell, heute geht es Ihnen schon ein bisschen besser.“ Mir ist es aber um kein Haarbreit besser gegangen, sondern Tag für Tag hundselendig schlecht. Und sie hat immer wieder gesagt: „Gell, heute ist es schon besser.“

Eine fromme Assistenzärztin ist tagelang zur Visite gekommen. In ihrer Hilflosigkeit hat sie begonnen, mit mir zu beten. Ohne mich zu fragen, ob ich das möchte. Ich habe nicht beten können. In meiner Kraftlosigkeit habe ich mich damals nicht wehren können. Im Glauben habe ich überhaupt keine Kraft gefunden. Von der Vernunft her wusste ich, woraus mein Ordensschwesterdasein besteht. Aber der Begriff „Glaube“ war zehn Jahre lang so weit weg, als wäre er nie da gewesen.

Es wird zum damaligen Zeitpunkt noch Jahre dauern, bis die Schwester gegen solche Behandlung aufbegehrt. Acht Jahre nach ihrem Psychiatrieaufenthalt fährt sie nach Schwarzach, um der Oberärztin der Psychiatrie von damals zu sagen: „Jeder Mensch mit einer Depression hat das Recht zu sagen, dass es ihm noch immer ganz schlecht geht.“ Mit der frommen Assistenzärztin, die damals immer wieder zum Beten in ihr Krankenzimmer gekommen ist, wird sie Jahre später ebenfalls sprechen und dabei erfahren, dass diese inzwischen Glaube und Medizin trennt.

Während ihres Spitalsaufenthaltes hatte es auch schöne Szenen gegeben. Eine Ärztin hatte mit einer einfachen, sehr menschlichen Geste Schwester Michaelas Herz berührt.

Während des stationären Aufenthaltes auf der Psychiatrie habe ich weiter meine Suizidgedanken überspielt, mich nur selten dem Pflegepersonal anvertraut. Deshalb haben sie mir gesagt, ich solle mich melden, wenn ich wieder so schlimme Suizidgedanken hätte. Eines Abends ist es mir richtig schlecht gegangen. Ich habe Bescheid gegeben. Die Schwestern haben mir gesagt, sie schicken mir die Ärztin. Die hat sich zu mir ans Bett gesetzt und gesagt: „Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie schlafen.“ Das war so ein feines Gefühl. Sie hat mich gefragt, ob ich meine Medikamente genommen habe, noch ein paar Worte geredet und ich bin eingeschlafen. Diese kleine Geste hat mich so berührt. Sie hat mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin und dass ich ein Stück weit verstanden werde. Acht Jahre später habe ich sie mit einem Gugelhupf besucht und mich noch einmal bedankt. Und siehe da: Die Ärztin hat sich auch noch genau an den Abend erinnert.

Schwester Michaela vor ihrer Krise: Sie war Krankenschwester aus Leidenschaft, für jeden Spaß zu haben und immer bereit dazu, anderen zu helfen. Ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen kannte sie nicht.

Menschen, die sie annähernd verstanden haben, waren der Ordensschwester neben der fachärztlichen Begleitung die größte Hilfe auf dem Weg der Besserung. Ganz langsam ist sie wieder auf die Beine gekommen. Auf ein Blatt Papier zeichnet Schwester Michaela mit Kugelschreiber eine Linie. Setzt eine kleine Stufe, dann wieder eine lange Linie bis zur nächsten kleinen Stufe. Die Treppe symbolisiert ihren Genesungsverlauf: Immer wieder geht es ihr in den ersten Jahren nach dem stationären Psychiatrieaufenthalt monatelang gleich schlecht. Dann kommt ein kleiner „Hupser“ – ein Tag, der ein bisschen besser ist. Danach wieder eine lange schwierige Phase und es macht wieder einen „Hupser“. Die Schwester zeigt auf die oberste Stufe ihrer Zeichnung.

Auf der obersten Stufe bin ich nach mehr als zehn Jahren angekommen. Es ist immer auf und ab gegangen. Das war ein langer Gesundungsprozess. Mit der Zeit habe ich endlich erkannt: Wenn sich an meinem Zustand etwas verändern soll, kann und muss ich meinen Beitrag dazu leisten. Und verbessern kann sich nur dann etwas, wenn ich alte Verhaltensweisen loslasse und neue annehme. Endlich habe ich mir zugestanden: „Heute geht es schwer, aber morgen geht es wieder leichter.“ So denken zu dürfen, das habe ich mühsam lernen müssen, doch es hat mich viel gelassener und wieder zuversichtlich gemacht. Sehr geholfen hat mir, dass ich seit dem Klinikaufenthalt alle sechs Wochen zur Oberärztin der Psychiatrie gehen darf. Außerdem nehme ich Psychotherapiestunden und meine Tablette. Die Tablette will ich gar nicht lassen, denn ich will das nie, nie wieder erleben. Zu den Mitschwestern sage ich immer: „Ihr müsst mir eine Packung Cipralex in den Sarg legen. Sicher ist sicher!“

Inzwischen geht es der Ordensschwester wieder gut. So gut, dass sie mit ihrer Krankheits- und Gesundungserfahrung heute als Genesungsbegleiterin eine wertvolle Stütze für psychisch erkrankte Menschen ist. Die Schwester, die jetzt Zivilkleidung trägt, arbeitet seit 2016 mehrmals pro Woche im Peer Center Salzburg. Seit 2018 leitet sie diesen vom Land Salzburg finanzierten Verein, der kostenlose Beratung und Gruppenangebote anbietet. Hier arbeiten ehrenamtlich weitere Genesungsbegleiterinnen und -begleiter. Diese müssen selbst einmal an einer psychischen Krankheit gelitten haben, Psychotherapie absolviert haben und Psychopharmaka genommen haben. Dazu gehört auch, dass sie auf dem Weg der Gesundung schon ein gutes Stück vorangekommen sind.

Was unsere Teammitglieder sich während ihrer eigenen Erkrankung gewünscht hätten, das leisten sie im Peer Center für Betroffene. Wir hier wissen, wie sich beispielsweise eine Depression wirklich anfühlt. Dadurch fühlen sich unsere Besucherinnen und Besucher verstanden. Man ist hier auf Augenhöhe. Allen ist gemein, dass sie persönliche Erfahrungen mitbringen. Die Besucherinnen und Besucher müssen nicht erklären, was sie gerade empfinden. Wir kennen die Probleme. Das haben viele unserer Besucher in der Klinik oder bei ihren Therapeuten vermisst. Einen Menschen, mit dem man ohne Tabus auf Augenhöhe über die eigene Krise reden kann. Einen Menschen, der sagen kann: „Ich habe das auch erlebt. Wenn du willst, begleite ich dich durch diese schwere Zeit.“

Mittlerweile Seniorin, blüht Schwester Michaela in ihrer neuen Arbeitsstelle auf. Man sieht es ihr an. Wenn sie von ihrer ehrenamtlichen Arbeit redet, strahlt sie über das ganze Gesicht. Die Arbeit macht ihr Freude. In den Jahren ihrer Genesung hat sie gelernt, zu ihren Bedürfnissen zu stehen. Endlich weiß sie, was zu tun ist, wenn sie sich einmal schlecht fühlt. Sie geht auch weiterhin wöchentlich zu ihrer Psychotherapeutin und alle zwei Monate zu ihrer Psychiaterin. Und endlich hat diese Krise etwas Gutes. Schwester Michaela gibt mit Herzblut all das weiter, was sie gelernt hat. Beispielsweise, dass Betroffene niemals sofort ihre Tabletteneinnahme abbrechen sollen, auch wenn es ihnen momentan besser geht. Oder dass sie nach einem Psychiatrieaufenthalt möglicherweise ihren Arbeitsplatz und ihre privaten Lebensumstände ändern müssen.

Aus meiner Krise habe ich viele Erfahrungen mitgenommen. Als ich gesehen habe, dass ich damit vielen Leuten helfen kann, wollte ich das tun. Das ist wohl das Wesen einer Krankenschwester, da habe ich lebenslänglich bekommen. (Sie lacht laut auf.) Aber ich habe während meiner Genesung gelernt, auch mich selbst zu lieben und meinen Bedürfnissen Platz zu geben. Inzwischen kann ich schon viel besser nein sagen. Ich bin selbstbewusster geworden und mache mir für meine Arbeit jetzt einen genauen Zeitplan. Wenn ich Energie brauche, gehe ich in die Natur, male, stricke, höre Musik oder gehe mit Freundinnen auf ein Eis. Dann fühle ich mich gleich wieder ruhiger, freudiger und stärker. Meine allerwichtigste Erfahrung aus dem Ganzen ist: Dass ich selber erlebt habe, wie man aus einer völlig aussichtlosen Situation, wo der Selbstwert unter null ist, etwas ganz Neues machen kann. Und zwar so, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Ich weiß heute, dass diese Krise zum größten Segen meines Lebens geworden ist.

Weil sie das Wesen einer großen Schwester, einer Krankenschwester noch immer in sich trägt, setzt sich die Lungauerin mit Herz und Seele für das Peer Center ein. Sie berät Besucher, sie hält Wahrnehmungsgruppen, Frühstücks-Gesprächsgruppen und das Team zusammen. Zusätzlich macht die Genesungsbegleiterin Zeitungsredaktionen auf das Center aufmerksam und trommelt, wo sie kann, um Geld. Denn die Fördermittel von Land und Stadt, um Miete, Öffentlichkeitsarbeit und Informationsbroschüren zu bezahlen, sind sehr knapp bemessen. Mit ihrer offenen Art gewinnt die Seniorin immer wieder Förderer. Denen erklärt sie anschaulich, was ihr Team hier macht und redet dabei, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Manchmal muss sie schimpfen. Es ist etwas Rebellisches in ihr zum Vorschein gekommen. Sie weiß, wofür sie kämpft.

Unlängst habe ich der zuständigen Dame beim Land gesagt: „Wissen Sie, wir arbeiten alle ehrenamtlich und müssen dauernd Anträge schreiben, damit wir annähernd genügend Geld zum Überleben des Peer Centers haben. Wir ersparen ja der Gesellschaft Geld, wenn Leute, die wir beraten, nicht mehr ins Spital müssen.“ Kurz darauf hat sich das Fördergeld leicht erhöht.

Ganz ohne ist ihr Einsatz nicht. Er kostet viel Zeit und Energie. Bekannte sagen im Spaß, sie habe im Peer Center ihren Zweitwohnsitz. Wenn manchmal die ehrenamtliche Arbeit zu viel wird, macht sie einen Tag Pause. Sie denkt dann: „Heute könnt ihr mich gernhaben.“ Die Schwester kümmert sich immer noch sehr viel um andere. Aber heute sorgt sie endlich auch für sich selbst. Arbeit und Zuhause sind getrennt. Sie schaut auf sich, kennt ihre Bedürfnisse und richtet sich nach ihnen.

An einem warmen Junimittwoch sitzt Schwester Michaela im gelb gestrichenen Frühstücksraum des Peer Centers. In blauem Shirt und blauer Hose sieht sie sportlicher aus als früher. Für heute ist Schluss mit der Beratungsarbeit. Schwester Michaela trinkt ihre Kaffeetasse leer und räumt ab. Sie geht zu ihrem Fahrrad und radelt in der Abendsonne nach Hause. Sie freut sich auf morgen, da hat sie frei.

Der Bruch

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