Читать книгу Tage der Wahrheit - Sabine Dittrich - Страница 10

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Was für ein wunderbarer Morgen. Anne öffnete beide Flügel ihres Schlafzimmerfensters und sog die frische Luft ein. Ideale Bedingungen, um mit den guten Vorsätzen zu starten. Schnell schlüpfte sie in Sporthose, Sweatshirt und Laufschuhe. Die Haare noch mit dem dicken Zopfgummi aus dem Gesicht gebunden, dann die Treppe mit möglichst wenig Geknarze hinuntergeschlichen.

Doch Opa Willi war schon auf und steckte den Kopf aus der Küche.

»Guten Morgen, Mädel, herrlicher Sonnenaufgang heute. Ich bleib nach dem Gottesdienst gleich im Dorf. Beim Wirt gibt es Spanferkel mit Klößen. Magst du auch kommen oder kochst du dir selber etwas?«

»Spanferkel ist nicht so mein Ding, Opa. Ich mach mir Gemüsenudeln.«

»Na dann viel Spaß beim Laufen.«

Sie winkte ihm fröhlich zu und trat vor das Haus. Am liebsten mochte sie die Wald-Runde vom Wanderparkplatz aus. Die konnte man spontan um den Teich herum verlängern, wenn man sich noch fit fühlte. Anne begann abwechselnd eine Minute zu laufen, dann eine zu gehen. Am nächsten Tag kam dann die Steigerung auf zwei Minuten laufen, eine gehen. Und so weiter. Spätestens in vier Wochen würde sie erfahrungsgemäß die ganzen fünf Kilometer am Stück durchhalten.

Ist das schön hier. Dieser Tannenduft. Und das lustige Vogelgezwitscher überall. Bestimmt schwatzen sie miteinander. Ob Krähen und Meisen sich verstehen – oder ob jede Vogelart eine eigene Sprache hat?

Was man sich für abgefahrene Gedanken machen konnte, während man durch den Wald schnaufte. Anne grinste vor sich hin. Lächeln beim Laufen war wichtig. Es erleichterte die Anstrengung.

Trotzdem war sie froh, als sie bald darauf an ihrem Lieblingsplatz an den Felsen vorbeikam, denn hier wollte sie eine kleine Pause einlegen. Ein kleiner Trampelpfad bog von dem Waldweg ab und endete nur etwa zwanzig Meter entfernt an einer Gruppe Felsen, die direkt am Abhang standen. Hundert Meter tiefer, unten im Tal, glitzerte das bleigraue Wasser des großen Waldteiches.

Der flache Felsen war schon ganz warm von den Sonnenstrahlen. Sie legte sich auf den Stein, schloss die Augen und lauschte. Wie friedlich es war; man hörte hier nur Naturgeräusche: Vogelgezwitscher, Hummeln, die durch die Heidekrautstauden torkelten, ein leises Knacken in den Bäumen oder ein Rauschen, wenn der Wind die Äste bewegte.

Meistens wurden diese stillen Momente nach einer Weile durch Flugzeuge unterbrochen, die am Himmel ihre weißen Streifen hinterließen. Einmal hatte sie gleichzeitig drei Jets gesehen, die direkt über sie hinweg in unterschiedliche Richtungen davonflogen. Doch heute war es ruhig da oben. Nach einer Weile rappelte sie sich auf, lief zurück auf den Waldweg und nahm das letzte Stück in Angriff.

An der Abzweigung, die zum Teich hinunterführte, zögerte sie. Sollte sie die Extrarunde laufen? Eigentlich hatte sie keine Lust auf den steilen Anstieg, der dann am Ende auf sie warten würde. Aber dort unten am Teich war es immer so idyllisch. Ob schon kleine Frösche aus den Kaulquappen geworden waren? Anne nahm den Pfad hinunter in den Teichgrund, langsam, Schritt für Schritt. Wer sagte denn, dass man unbedingt die ganze Zeit joggen musste? Sie konnte ja auch ein Stück gemütlich spazieren gehen.

Viele Büsche wuchsen jetzt am Ufer. Viel mehr als früher. Anne zwängte sich durch die Äste. So ein blödes Gestrüpp! Der schmale Pfad war darin kaum zu erkennen. Ach du Schreck, da war jemand auf dem kleinen Steg. Ein Angler. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte umkehren. Doch er hatte sie schon entdeckt.

»Anneli – was machst du denn hier?«

»Nichts. Und du?«

»Auch nichts, wie du siehst«, lachte Sven, »ich warte nur, dass das Mittagessen endlich anbeißt.«

Er klemmte die Angel zwischen den Brettern des Steges fest.

»Magst du Kaffee? Komm, ich gieße dir einen ein.«

Sven holte eine silberfarbene Thermoskanne aus seinem Rucksack.

Sie machte zwei Schritte auf ihn zu und blieb unschlüssig stehen.

»Setz dich doch ein bisschen. Das Holz ist ganz trocken und warm.«

»Nein, lieber nicht.«

»Dann musst du eben im Stehen trinken.« Sven reichte ihr das Getränk. Der Becher hatte keinen Henkel. Ihre Finger berührten sich.

»Joggst du regelmäßig?«

Der lauwarme Kaffee schmeckte stark und süß.

»Habe ich wieder vor, ja.«

»Ich renne nicht mehr so gerne durch die Landschaft, seit ich das berufsmäßig musste.«

»Ich dachte immer, es hätte dir bei der Bundeswehr gefallen.«

»Seit zwei Afghanistaneinsätzen nicht mehr.«

Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander auf dem Steg und sahen in die gleiche Richtung zum gegenüberliegenden Ufer.

Die Fichten, zwischen denen sie sich geküsst und liebkost hatten, waren ein ganzes Stück gewachsen.

»Ich hätte nie von hier weggehen dürfen, Anneli.«

Sie schluckte. Er drehte sich zu ihr.

»Seine erste große Liebe vergisst man nie.«

Wie selbstverständlich fasste er mit der Rechten sanft ihren Nacken, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Der Kaffeebecher entglitt ihr und rollte die Holzbretter entlang.

Sven umarmte sie fester, sie spürte deutlich das Begehren seines muskulösen Körpers. Sein Kuss wurde leidenschaftlicher. Dann fühlte sie seine Finger an ihrem Oberschenkel nach oben gleiten.

Sie stieß ihn von sich und ging rückwärts.

»Nein, Sven, bitte nicht.«

Er musterte sie halb ungläubig, halb belustigt und breitete die Arme aus.

»Los, spring, so wie früher. Ich fang dich auf.«

»Nichts ist wie früher.«

»Du bist noch genauso süß.«

»Ich bin nicht süß und nicht mehr Anneli.«

»Da drüben am anderen Ufer, weißt du noch?«

»Du bist verheiratet. Und zwar mit Jutta. Und auch wenn du es nicht wärst: Das ist vorbei, für immer. Begreif das endlich!« Sie ballte die Hände zu Fäusten, stampfte auf und zitterte am ganzen Körper.

Sven starrte sie an, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Spöttisch zog er einen Mundwinkel hoch und schüttelte bedächtig den Kopf.

»Anne Lischka, immer noch ganz die hysterische Heilige.«

Sie schnappte nach Luft, drehte sich um und quetschte sich durch die Sträucher zurück auf den Weg.

»Immer noch besser als ein … ein Ehebrecher«, schrie sie außer sich. Wieder auf dem Weg rannte sie los. Mit letzter Kraft keuchte sie den steilen Wiesenpfad vor ihrem Haus hinauf. Ihre Waden brannten wie Feuer, sie zitterte immer noch am ganzen Körper. Obwohl sie allein im Haus war, schloss sie sich in ihrem Schlafzimmer ein, warf sich bäuchlings aufs Bett und schluchzte in ihr Kopfkissen. Mit der Zeit ließ die Anspannung nach. Sie lag noch ein bisschen still da, stand dann auf und ging unter die Dusche. Hinterher war ihre Haut krebsrot. Die Vorstellung, das Peeling habe jede Hautschuppe weggeschmirgelt, die mit Sven Kittel in Berührung gekommen war, gefiel ihr. Sie cremte sich dick mit ihrer Lieblingslotion ein, die so herrlich nach Jasmin und Bergamotte duftete, legte ein dezentes Makeup auf und zog sich ein Kleid an. Irgendwie war ihr nach Feiern zumute. Und sie hatte Hunger.

Das Beste an einem Sonntagnachmittag war, dass man einfach machen konnte, worauf man Lust hatte. Jedenfalls seit Papa und Mutter an der holländischen Grenze wohnten und nur an Weihnachten und Opas Geburtstag auftauchten. Papa konnte einen einfach nicht faul herumliegen sehen. Immer hatte er Vorschläge, was man stattdessen Sinnvolles tun könnte. Echt nervtötend. Auch Oma Hilde hatte den Garten früher nicht als Entspannungsoase betrachtet, sondern als Anbaufläche für diverse Gemüse-, Kräuter- und Obstsorten. Besonders gemütlich war es nicht gewesen, im Liegestuhl zu liegen, während sie nebenan in den Beeten hantiert und immer betont hatte, wie viel Arbeit so ein Garten mache.

Mit Opa allein war alles viel entspannter.

Jetzt durfte auch mal ein Unkraut wachsen, angebaut wurde längst nicht mehr so viel. Und wenn Opa Kirschen vom unteren Ende des Gartens, wo der Baum stand, mit der Dampflok und den Schüttgutwaggons seiner Gartenbahn nach oben transportierte, war das ein Riesenspaß – genau wie zu Kindertagen.

Anne holte den Liegestuhl aus dem Schuppen, wischte den Winterstaub ab und platzierte sich dann in die Sonne. Opa Willi war auch schon vom Mittagessen zurück. Er hatte wieder eines seiner karierten Flanellhemden und die Arbeitshose mit den obligatorischen Hosenträgern angezogen.

»Stört dich das, wenn ich mal nach meinen Gleisen gucke, Mädel?«

»Überhaupt nicht, mach nur. Lässt du heute noch einen Zug fahren?«

»Erst mal sehen, ob alles funktioniert. Nicht, dass irgendein Mäuschen über den Winter wieder mein Kabel angefressen hat.« Opa lachte. Die Garteneisenbahn war sein großes Hobby. Inzwischen nur noch zum Zeitvertreib, früher hatte er als Werkzeugmacher bei einer Firma gearbeitet, die solches Männerspielzeug herstellte.

Anne war mit der Modelleisenbahn aufgewachsen. Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte sie sich schon als Kind von Opa für die kleinen Züge begeistern lassen. Was eine Ludmilla war, eine 01 oder eine V 100 – sie konnte schon im Grundschulalter viele Lokomotivtypen auseinanderhalten. Auch wenn ihr auf der echten Bahnstrecke eine begegnete. Die kleinen Modelle waren ja absolut detailgetreu nachgebaut. Willis Schrullerei – so hatte Oma Hilde das Hobby ihres Mannes genannt und dabei meist liebevoll mit den Augen gezwinkert.

Später genossen sie das erste Mal in diesem Jahr den Kaffee draußen am Gartentisch.

»Ivi hat jetzt auch so eine Höllenmaschine mit Kaffeekapseln. Schmeckt ja gut – ist aber ziemlich teuer.«

»Und der ganze Blech-Müll von den Näpfchen, überleg mal. Unsere Reste beim Kaffeekochen werden wenigstens zu Kompost. Ach, Mädel, wenn wir gerade so schön sitzen: Ich wollte dich was fragen.«

»Was denn?«

»Könntest du eventuell im Mai zwei oder drei Tage Urlaub nehmen? Ich habe eine Einladung zu einem Treffen nach Prag bekommen und würde gerne hin. Es findet in einem schönen Hotel statt mit einem tollen Besichtigungsprogramm für Begleitpersonen. Ich bezahle alles, darum musst du dir keine Gedanken machen.«

Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Opa – eine mehrtätige Reise? Ins Ausland? Seit wann denn das?

»Ist es wohl ein Modellbahnertreffen?«, fragte sie vorsichtig. Sie hatte ihn schon nach Dresden auf die Ausstellung Erlebnis Modellbahn begleitet. Da waren sie aber am selben Tag hin und zurück gefahren.

»Nein, nein, es ist – wie soll ich das erklären? Warte, ich hole dir den Prospekt.« Opa verschwand im Haus und kehrte kurz darauf mit einem großen braunen Briefumschlag zurück.

»Schau, hier ist das Programm für Begleitpersonen. Man muss es aber nicht mitmachen. Du könntest auch auf eigene Faust Prag erkunden, wenn dir das lieber ist.«

Führung durch die Altstadt mit Besichtigung des jüdischen Viertels, Ausflüge nach Theresienstadt und Schloss Štiřin. Empfang im Milíč-Haus.

Weitere Programmpunkte werden nach Wunsch der Gäste zusammengestellt: Schwarzlichttheater, Kafka-Museum, typisch tschechische Kneipe und mehr. Wir sprechen: Deutsch, Tschechisch, Ivrit, Englisch.

Der Veranstalter hieß Cafe Setkání – Verein für kulturelle Begegnung.

Mysteriös. Wie kam Opa denn zu so etwas?

»Und was machst du in Prag, während ich auf Besichtigungstour gehe?«

»Ich treffe mich mit Leuten. Mit alten Freunden aus meiner Jugend. Wir haben auch ein kleines Programm. Zu den Schlössern fahren wir mit euch gemeinsam.«

»Aha. Warum trefft ihr euch ausgerechnet in Prag?«

»Weil wir uns dort auch kennengelernt haben. Es ist eine uralte Geschichte, weißt du. Ich erzähle dir vorher noch alles. Aber – hättest du denn grundsätzlich Lust?«

Sie überlegte. Bei dem Gedanken, dass Opa ohne sie vermutlich auf eigene Faust mit der Bahn – oder schlimmer noch: mit dem Auto – nach Prag fahren könnte, war es ihr nicht wohl. Zu lang, zu gefährlich, zu anstrengend für den alten Herrn.

Und warum eigentlich nicht? Jeden Abend träumte sie sich in ferne Länder – da konnte sie doch schon mal mit einer echten Pragreise anfangen.

»Ich spreche morgen mit Renate, ob ich Urlaub nehmen kann. Momentan ist viel zu tun, du weißt ja.«

Opa Willi strahlte. »Ich glaube, der Tapetenwechsel würde dir richtig guttun.« Er stand auf und widmete sich wieder seiner Gartenbahn.

Ehrlich gesagt, war sie ziemlich neugierig auf »die uralten Geschichten«. Mit wem wollte er sich dort in Prag wohl treffen? Doch ihn jetzt danach auszufragen, würde erfahrungsgemäß nicht klappen. Opa konnte ganz schön kurz angebunden sein, wenn er nicht in Erzählstimmung war. Er untersuchte gerade mit der Taschenlampe den großen Tunnel und schob dann mit einem Handfeger Laub heraus. Offensichtlich hatte wieder ein Igel darin überwintert.

Später ließen sie noch probeweise den roten Schienenbus durch den Garten rattern. Alles funktionierte bestens. Die Mäuse hatten letzten Winter vermutlich schmackhafteres Futter gefunden als Opas Kabel.

Tage der Wahrheit

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