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Prolog Erfurt. Ende September 1525

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Die Augen des kleinen Jungen waren blau. Blau wie die Farbe, die der Regensburger Tuchmacher Peter Kerner gerade bei einem Waidhändler hier in Erfurt gekauft hatte. Es war das besondere Blau und die Tiefe des Blickes, mit dem ihn der kleine Junge unverwandt musterte: Diesen Moment behielt Peter Kerner immer im Gedächtnis, denn er sollte sein ganzes Leben verändern.

Das Kind war etwas mehr als ein Jahr alt und hielt sich an der Sitzfläche eines Stuhles fest.

»Na, kleiner Junker«, brummte Peter freundlich, »dich hab ich hier ja noch nie gesehen.«

Der kleine blondlockige Kerl strahlte über das ganze Gesicht und kam langsam näher, bis er sich an den Knien des Regensburger Tuchmachers festhalten konnte.

»Mias, lass die Leut’ in Frieden!«, schimpfte die Schankmagd und hob den widerstrebenden Jungen auf den Arm. »Verzeiht, Herr, er ist mir aus der Küche entwischt.«

»Ist das dein Kind?«

»Nein, er gehört zu einer Witwe, die bei uns Quartier macht.«

»Lass ihn ruhig bei mir, er stört mich nicht. Bring mir etwas zu essen, sei so gut. Und noch einen Krug Dünnbier.«

Achselzuckend stellte die Magd Mias wieder auf den Boden und schlurfte auf ihren Holzpantinen davon. Kerner nahm ihn hoch und setzte ihn auf seine Beine. »Nun reiten wir auf dem Pferd. Hopp, hopp, hopp. Hüh Pferd und hott.« Er ließ Mias auf seinen Knien wippen. Der Junge legte den Kopf in den Nacken, riss die Arme hoch und jauchzte vor Vergnügen. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr sich Tuchmacher Peter Kerner und seine Frau Agnes nach so einem kleinen Menschenkind sehnten, das man auf den Knien hüpfen lassen konnte. Vier Jahre waren Peter und Agnes nun schon verheiratet und noch immer ohne Kinder.

Mias erinnerte sich später nicht mehr an diese erste Begegnung mit Tuchmacher Peter Kerner, aber sie sollte auch sein Schicksal bestimmen.

Die Schankmagd tischte Braten und Bier auf, nahm Mias von Kerners Knien und zog ihn an der Hand fort in die Küche.

Später setzte sich die Wirtin zu dem Tuchmacher an den Tisch. Sie kannten sich. Kerner machte immer in diesem Gasthof Station, wenn er in Erfurt Handel hatte.

»Der arme Junge«, seufzte sie kopfschüttelnd. »Bald wird er ganz allein auf der Welt sein.«

»Wie das?«, wollte Kerner wissen.

»Erst der Vater aus dem Leben gegangen, jetzt liegt die Mutter mit Fieber. Gestern hat sie ein Kind tot geboren. Sie wird es wohl nicht überleben.«

»Kann man etwas tun, braucht’s Geld für einen Arzt?«

»Ach Meister Kerner, Ihr seid ein guter Mensch. Der Medikus war schon da, er hat auch keine Hoffnung mehr. Sie hat zu viel Blut verloren.«

»Und es gibt keine Verwandten, die das Kind aufnehmen würden?«

»Nein, ganz sicher nicht.«

»Kann ich mit der Mutter sprechen?«

Erstaunt riss die Wirtin die Augen auf. »Meister Kerner, ich weiß nicht, ob das geht. Vielleicht hört sie gar nichts mehr in ihrem Fieberwahn.«

Kerner stand auf. »Bitte, bringt mich zu ihr, ich hab etwas mit ihr zu bereden.«

Die Wirtin ging erst zögernd voran, blieb dann stehen und drehte sich um. »Meister Kerner, bitte, Ihr wisst ja nicht, wen Ihr da vor Euch habt. Nicht, dass Ihr es bereut …«

»Nur zu, Frau Wirtin. Das werden wir schon sehen.«

Die Frau auf dem Lager wirkte so unendlich zerbrechlich. Ihr bleiches von nussbraunem Haar umrahmtes Gesicht war tief ins Kissen gesunken. Als Kerner herantrat, öffnete sie erschrocken die Augen. Ein unendlich trauriger Blick, ein wenig fiebrig, aber nicht wirr.

Sie bewegte die Lippen, doch es kamen keine Töne heraus. Sie schien sehr schwach.

»Ihr wisst, wie es steht?«, fragte Kerner leise.

Die Frau nickte. »Ich gehe bald heim zu meinem Heiland«, flüsterte sie.

»Und Ihr Söhnchen? Die Wirtin sagt, kein Verwandter will ihn zu sich nehmen?« »Jeremias.« Ein Schluchzen. Tränen rollten über ihre bleichen Wangen.

»Ich bin Peter Kerner, Tuchmacher zu Regensburg. Mein Weib Agnes und ich sind nach vier Jahren Ehestand immer noch ohne Kinder. Ich könnte Mias mit nach Regensburg nehmen. Er würde als mein Ziehsohn aufwachsen. Er hätte es gut bei uns. Was meint Ihr?«

Die Frau winkte Kerner näher zu sich. Er musste sein Ohr nahe über ihren Mund halten, um zu hören, was sie ihm zu sagen hatte. Nun verstand er, warum hier in Erfurt keine Familie, nicht einmal die Barmherzigen Schwestern, Mias zu sich nehmen würde. Und auch in Regensburg dürfte er die wahre Herkunft des Jungen niemals preisgeben.

Kerner rief nach der Wirtin und bat sie, Mias mitzubringen. Der Junge hüpfte fröhlich auf den Tuchmacher zu, umklammerte seine Knie und rief »Hopp, hopp!«. Über das Gesicht der Mutter lief ein leises Lächeln. Sie nickte zustimmend, als Kerner der Wirtin von dem Plan erzählte, Mias mit nach Regensburg zu nehmen. Noch einmal flüsterte die Todkranke Peter Kerner etwas ins Ohr. Der Tuchmacher nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. »Das schwör’ ich Euch bei meiner Ehr’.«

Am nächsten Morgen stand Kerners Fuhrwerk vor dem Gasthof. Die Wirtin reichte ihm Mias nach oben auf den Kutschbock. Außerdem gab sie ihm noch ein kleines in einen Stoffsack gewickeltes Bündel.

»Sie ist ganz ruhig eingeschlafen, die Mutter. Meister Kerner, Ihr seid ein guter Mensch. Der Herrgott wird’s Euch vergelten.« Sie schnäuzte sich in ihre Schürze. Mias Augen hatten alles Leuchten verloren. »Mutsch!«, schluchzte er immer wieder. »Mutsch!« Kerner drückte ihn unbeholfen an sich. Wie ging man mit einem Kind um, das so viel Schlimmes erlebt hatte? Wie ging man überhaupt mit einem kleinen Kind um? Das mussten Agnes und er nun schnell lernen.


Im Schatten der Verschwörung

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