Читать книгу Dionysos und der schlimme Winter - Sabine Hoffelner - Страница 6
Ein verhängnisvoller Spaziergang
ОглавлениеGenüsslich streckte der rundliche Kater erst eine Pfote von sich, dann die nächste. Er blinzelte. Eigentlich wollte er noch gar nicht aufwachen. So gemütlich war es hier auf seinem Lieblingsplatz am Wohnzimmerfenster. Wieder blinzelte er. Draußen hatte sich eine weiße Decke über den Garten des Hauses gelegt, das er seit dem Frühling zusammen mit seinem Professor bewohnte. Anfangs hatte er sich hier überhaupt nicht wohlgefühlt. Doch inzwischen mochte er dieses dörfliche Haus mit dem Garten drum herum ganz gern. Hier hatte er seine Freundin Alesa kennengelernt, die nebenan im Schuppen lebte.
Alesa war seine Gefährtin geworden und die Mutter seiner drei Kinder Mimi, Poldi und Harry. Er seufzte. Harry war der Einzige, der noch bei ihm lebte. Die beiden anderen waren im Sommer zu Hilda gezogen, einer Nichte des Professors.
Dio ließ die Augenlider wieder zufallen und dachte wehmütig an den Sommer zurück. Er mochte die warme Jahreszeit viel lieber als den Winter. Er liebte es, faul in der Sonne zu dösen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten schätzte er inzwischen das Gefühl, weiches Gras unter den Füßen zu haben. Und es bereitete ihm großes Vergnügen, unvorsichtige Insekten zu jagen.
Ja, das Jagen gefiel ihm. Aber als Speise schätzte er dann doch eher die Schälchen mit Feinschmecker-Menü, die ihm sein fürsorglicher Mensch regelmäßig kredenzte. Dio spürte einen leichten Anflug von Appetit in seinem Bauch. Na ja, Appetit hatte er immer. Sein Professor hatte ihm schon gesagt, dass man ihm das deutlich ansah.
Seufzend setzte er sich auf und begann, sein rötliches Fell zu putzen. Es war ihm egal, ob man ihm seinen Appetit ansah. Er war völlig mit sich zufrieden.
Als er mit der Körperpflege fertig war, blickte er wieder nach draußen. Überall lag dieses seltsame weiße Zeug herum. Früher, als er zusammen mit seinem Professor noch in der kleinen Wohnung in der Stadt gelebt hatte, hatte er so etwas nur durch das Fenster gesehen. Damals hatte er keine Ahnung davon gehabt, wie scheußlich es sich unter den Pfoten anfühlte. Es war kalt und nass. Außerdem konnte man darin regelrecht einsinken, wenn man einen falschen Schritt machte. Nein, das war nichts für ihn. Harry hatte damit weniger Schwierigkeiten. Ihn zog es bei jedem Wetter hinaus. Auch heute hatte er gleich nach dem Frühstück durchgesetzt, dass der Professor ihn hinausließ.
Bedrückt blickte der Kater wieder zu diesem weißen Elend hinaus. Seitdem es Winter geworden war, ging Harry immer öfter seiner eigenen Wege. Er hatte Freunde gefunden, mit denen er viel Zeit verbrachte. Dio wusste nicht, ob es am Winter lag. Aber er hoffte sehr, dass sich das mit dem Frühling wieder änderte.
Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür und der Professor betrat den Raum. „Na, da ist ja jemand aufgewacht!“
Der alte Mann schlurfte zum Fensterbrett und begann, den Kater zu streicheln. Unwillkürlich musste Dio schnurren. O, wie er das liebte! Er streckte sich der kraulenden Hand entgegen und drehte sich, damit sein Mensch auch den Bauch erreichen konnte. Da erschrak er. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sich an der streichelnden Hand festzukrallen, um nicht auf den Boden zu purzeln.
„Na, nicht so ungestüm, mein guter Dionysos!“, rief der Professor und schob dabei seinen Kater wieder zurück auf die Fensterbank.
Dankbar rieb Dio seinen Kopf an die hilfreiche Hand. Sein Professor war der wunderbarste Mensch, den er kannte. Es gab nur wenige Dinge, bei denen sie unterschiedliche Meinungen hatten. Eines dieser Dinge waren die Namen, die er verteilte. Aber darüber sah der Kater großzügig hinweg. Als pensionierter Philosophie-Professor kannte man wahrscheinlich keine ordentlichen Namen.
Er selbst mochte „Dio“, wie Alesa ihn nannte, viel lieber als „Dionysos“. Auch für die Katzenkinder hatte der Professor sehr eigenartige Namen gefunden, die Dio und Alesa schnell geändert hatten. Aus Herakles war Harry geworden, Artemis hieß Mimi und Apoll war in Katzenkreisen Poldi.
„Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Nur weil Winter ist, müssen wir doch nicht die ganze Zeit hier drinnen sitzen.“ Der alte Mann stupste seinen Kater verschmitzt am runden Bauch. „Gerade dir würde etwas Bewegung gut tun, meinst du nicht auch?“
Nein, Dio meinte das überhaupt nicht. Schon der Gedanke, seine Pfoten in dieses weiße Ekelzeug setzen zu sollen, ließ ihn erschauern. Was ihm viel besser tat als die Kälte draußen, war dieser wunderbare Platz über der Heizung am Fenster, mit dem warmen Kissen unter sich und einer Hand, die leider schon wieder aufgehört hatte, ihn zu streicheln.
„Na los, Dionysos! Heb deinen Hintern vom Fensterbrett weg und geh mit mir zusammen ein Stück spazieren. Wir bleiben nicht lange. Es wird dir gefallen. Schau, es fängt gerade an zu schneien. Ganz dicke hübsche Flocken tanzen durch die Luft, schau!“
Dio schloss die Augen. Nein, es würde ihm nicht gefallen! Der Schnee war schon unangenehm genug, wenn er am Boden herumlag. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er angenehmer sein würde, wenn er um ihn herum durch die Luft wirbelte.
„Sobald wir wieder nach Hause kommen, machen wir es uns gemütlich und du bekommst was Leckeres.“
Mit freudig blitzenden Augen setzte Dionysos sich auf. Das war doch gleich etwas anderes. Auf eine Leckerei hatte er immer Lust. Nur, in dieses kalte nasse Zeug da draußen wollte er trotzdem nicht hineintreten. Was sollte er deswegen bloß machen? Da hatte er eine Idee.
Er sprang zu Boden und schritt so würdevoll, wie es sein üppiger Körperbau zuließ, in den Flur. Sein Mensch folgte ihm.
„Na, da hatte ich wohl das richtige Argument, um dich doch noch zu überzeugen!“ Grinsend zog sich der Professor eine warme Jacke, Mütze und Schuhe an.
Da ergriff Dio seine Chance. Er spannte seine Muskeln an, sprang und landete auf der rechten Schulter des alten Mannes. Der geriet kurz aus dem Gleichgewicht, dann begann er zu lachen.
„So war das nicht gedacht!“ Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, mit der anderen hielt er den Kater fest, damit dieser nicht abstürzte. Dionysos rieb seine Wange an der seines Menschen.
„Na gut, wenn du meinst“, seufzte der alte Mann. Ächzend erhob er sich und hielt dabei seinen Kater fest. „Aber falle mir bloß nicht herunter!“
Damit war Dio einverstanden. Er streckte sich lang aus, bis er wie ein dicker Fellschal aussah, der von einer Schulter des Professors bis zur anderen reichte.
Als der Mann die Haustür öffnete, wehte dem Kater ein eisiger Luftzug um die Ohren. Er verzog das Gesicht. Wie hatte sein Mensch ernsthaft vorschlagen können, er solle dort hinausmarschieren? Nein, da war diese Lösung doch viel besser.
Der Professor stapfte los, und Dio krallte sich an dessen dicker Jacke fest. Er zog den Kopf ein und plusterte sein Fell auf.
Sie verließen das Dorf, hielten erst auf den nahen Waldrand zu und bogen dann in einen Feldweg ab, der zwischen verschneiten Wiesen hindurchführte. Außer ihnen war dort niemand zu sehen. Das wunderte Dio nicht. Die anderen Leute waren eben viel vernünftiger.
Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, hatte Dio von diesem Ausflug die Nase gestrichen voll. Von der Herumschaukelei auf den Menschenschultern war ihm schlecht. Seine Füße hatte er anfangs zwar einigermaßen trocken- und warmhalten können, jetzt waren sie das nicht mehr. Und diese weißen Kristalle schossen immer aggressiver in sein Gesicht, so dass er die Augen zukneifen musste. Doch das war noch nicht das Unangenehmste. Die Schneeflocken deckten ihn zu wie ein weißer Pelz. Und durch seine Körperwärme begann dieser Pelz, allmählich in seine Unterwolle hinein zu schmelzen. Er fror.
Dio überlegte gerade, wie er seinem Menschen klarmachen konnte, dass es seiner Meinung nach jetzt Zeit für den Heimweg war, als der Professor plötzlich aufschrie. Der Kater kreischte, dann rumpelte es. Einen Moment später lag er im Schnee.
Entsetzt schüttelte Dionysos das nasse Zeug von sich ab. Der Schnee hatte seinen Sturz ein wenig abgefedert. Dafür war er ihm jetzt sogar dankbar. Doch was war passiert? Wo war der Professor? Hektisch drehte Dio sich einmal um seine eigene Achse, und dann sah er ihn. Der alte Mann lag ein Stück entfernt regungslos am Boden.
Der Kater sprang auf ihn zu, umrundete ihn und stupste ihn an. Aber der Professor rührte sich nicht. Er sah aus, als würde er schlafen. Doch seine Augen waren nicht geschlossen. Sie starrten eigenartig leer und abwesend nach oben. Nein, schlafen tat sein Mensch nicht. Aber wach war er auch nicht. Dionysos schlich um den Kopf des Mannes herum. Da sah er, dass die graue Wollmütze verrutscht war und sich am Rand rot verfärbte. Jetzt bekam Dionysos Angst. Genauso hatte es damals bei Alesa ausgesehen, als sie schwer verletzt worden war. Was sollte er bloß tun?
Aus einem Instinkt heraus begann er, das Blut abzulecken. Aber als er sah, dass das nichts half und immer wieder neues nachlief, hörte er damit auf. Nein, das war jetzt nicht das Richtige. Aber was dann? Was sollte er bloß tun? Er musste Hilfe holen!
Verzweifelt blickte er sich um. Weit und breit war niemand unterwegs. Oder doch? Er zwickte die Augen zusammen. Da vorn war jemand. Ein junger Mann, und er kam bereits in ihre Richtung. Er musste sie gesehen haben.
Jetzt begann der Fremde, die letzten Schritte zu rennen. Als er sie erreicht hatte, beugte er sich über den Professor, schüttelte ihn und rief ihn an. Doch der Alte gab keinen Laut von sich. Da holte der Fremde ein schmales glänzendes Brettchen aus seiner Jackentasche, tippte darauf herum und hielt es sich ans Ohr.
Einen Augenblick später redete er mit irgendjemand, aber Dionysos konnte vor lauter Angst nicht verstehen, was er sagte. Sein Professor lag hier und rührte sich nicht mehr!
Verzweifelt drängte Dio sich an seinen Menschen. Der fühlte sich so kalt an! Und wenn er noch lange hier herumlag, würde er nie wieder warm werden. Wieso hatte der Professor heute bei diesem Mistwetter nur hier herumlaufen müssen? Und warum hatte er, Dionysos, sich von der Aussicht auf ein Leckerchen dazu bestechen lassen, mitzukommen? Anstatt den Professor zum Daheimbleiben zu bewegen. Dann wäre das nicht passiert!
Immer enger kuschelte er sich an seinen Menschen. Er schnurrte, um sich selbst zu trösten. Und vielleicht konnte es der Professor ja spüren. Vielleicht konnte es irgendwie helfen. Dio spürte, wie sich der fremde Mann neben ihn hockte und sanft über sein Fell strich. „Es wird schon alles wieder gut werden“, hörten seine Ohren. O wenn es nur so wäre!
Auf einmal durchbrach ein lauter werdendes Motorengeräusch die bedrückende Stille. Dio hob den Kopf und sah eine dieser Stinkekisten, die die Menschen benutzten, um irgendwo hinzufahren. Diese Kiste, die sich gerade näherte, war größer als die seines Professors. Und lauter. Dio bekam es so sehr mit der Angst, dass er ein paar Schritte zurückwich, auch wenn er seinen Menschen eigentlich nicht allein lassen wollte.
Jetzt sprangen zwei Fremde aus dem Gefährt und liefen heran. Der junge Mann, der ihnen zu Hilfe gekommen war, sprach mit den beiden. Dann wuselten sie geschäftig um den alten Mann herum. Sie luden ein seltsames Gestell aus dem Wagen, wuchteten den Professor darauf und schoben alles zusammen wieder hinein. Dann stiegen sie ein, starteten den Motor, und noch bevor Dio begriff, was da vor sich ging, fuhren sie auch schon davon. Mitsamt seinem Professor.
Mit einem lauten „Mau!“ sprang er dem Wagen ein paar Sätze hinterher. Aber schnell wurde ihm klar, dass er ihn nicht einholen konnte.
Als er entsetzt stehen blieb, bemerkte er, dass der junge Mann ihm nachgelaufen war. Nun hockte er sich hin und sprach beruhigend auf den Kater ein. „Hab keine Angst. Die Sanitäter bringen deinen Freund ins Krankenhaus. Dort kümmert man sich um ihn und er wird bald wieder gesund sein.“
Dio hörte diese Worte wie aus großer Entfernung. Er spürte, wie der Fremde ihm sanft über den Rücken streichelte. Danach stand der Mann auf und ließ ihn allein.