Читать книгу Nur ein kleiner Verdacht - Sabine Howe - Страница 5

Maggie 1

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Maggie drehte den Rückspiegel ihres Opels ein wenig nach links, um ihre Frisur zu betrachten. Sie zupfte ein paar Strähnen in die Stirn. Ihr Herz nahm Tempo auf. Ob Karl die neue Frisur gefallen würde? Er mochte – wie sie – eigentlich keine Veränderungen, aber er würde zugeben müssen, dass sie mit den kürzeren Haaren um einiges frischer aussah. Im Hintergrund entdeckte sie Frau Hübel, ihre ehemalige Nachbarin, mit einem großen Plastikpaket unter dem Arm. Maggie kniff die Augen zusammen. „Super Flexi Senior-Erwachsenenwindeln.“ ‚Mein Gott!’ Sie drehte den Spiegel wieder in seine Ausgangsposition, startete den Motor und rauschte davon.

Auf der Einfahrt zu ihrem gelb verputzten Einfamilienhaus nahm sie bei laufendem Motor den Garagentoröffner aus dem Handschuhfach, drückte kurz auf den grünen Knopf, und das Tor öffnete sich. Sie war wirklich froh, dass Karl sich im letzten Winter für die Automatik entschieden hatte. „Kleines“, hatte er nach seinem Bandscheibenvorfall gesagt, „bevor wir uns beide den Rücken ruinieren, muss etwas passieren.“ Vier Wochen später war die neue Automatik eingebaut worden. Wenn Karl erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte, ging alles Weitere ruckzuck. Maggie dachte wieder an Frau Hübel. Die Arme musste ihre Einkäufe immer noch an den neugierigen Augen vorbei hinter den Stores durch die Reihenhaussiedlung schleppen. Wie gut, dass sie diese Zeit hinter sich gelassen hatten. Vorsichtig lenkte sie den Wagen in die Garage.

Im Haus war es still. Karl war noch nicht von der Krankengymnastik zurück. Umso besser, das ließ ihr Zeit, sich vor dem Abendessen noch umzuziehen und zu schminken. ‚Die dunkelblaue Jacke mit den Goldknöpfen müsste hervorragend zu den neuen rotbraunen Strähnchen passen’, dachte Maggie, während sie die Einkaufstüten auspackte.

Den Käse in die gelbe Tupperware.

Als sie heute Nachmittag losgefahren war, konnte sie nicht ahnen, welche Veränderungen dieser Tag für sie bringen würde.

Die Wurst in die blaue Tupperware.

Zunächst war alles wie immer gewesen: Dienstagnachmittag, 16 Uhr, Termin im Salon Küppersbusch bei Brigitte. So ging das seit über zehn Jahren alle acht Wochen. Nur, dass Brigitte heute nicht da war.

„Magendarmgrippe“, unterrichtete sie die junge Auszubildende, deren Namen sich Maggie nie merken konnte. „Ihr wurde mittags ganz übel, da ist sie nach Hause gegangen.“

„Und jetzt?“ Maggie war enttäuscht. Sie hatte sich auf Brigitte gefreut, man konnte so gut mit ihr plaudern. Was es wo gerade im Sonderangebot gab, wer wann wohin gezogen war, welche neuen Gerichte man ausprobiert hatte, das Übliche.

Das Müsli aus der Plastiktüte in das Glas mit Deckel.

„Keine Sorge, ihr Mann vom Salon Scherenschnitt springt heute Nachmittag ein“, versuchte die Auszubildende, sie zu beruhigen. Ihr Mann? Salon Scherenschnitt? Maggie war kurz davor, den Termin platzen zu lassen, als Brigittes Mann hinter dem hellblauen Plastikvorhang, der die öffentlichen von den privaten Räumen trennte, hervorsprang.

„Frau Nienstetten, nehme ich an? Oder darf ich Frau Maggie zu Ihnen sagen? Ich heiße Rainer. Anouschka, nimm der Dame den Mantel ab. Einen Kaffee? Setzen Sie sich!“

Damit nahm das Schicksal seinen Lauf. „Da müssen Reflexe rein. Sie sollen strahlen! Und ruhig zehn Zentimeter ab – Kinnlänge! Das verleiht Konturen! Und vor allem: Tragen Sie das Haar hinter dem Ohr! Das macht sie noch jünger.“

Nachdem sie den Salat angefeuchtet und in einer Plastiktüte verschnürt im Gemüsefach verstaut hatte, zog Maggie ihr Portemonnaie aus der Handtasche und zählte die Geldscheine. Knapp zweihundert Mark.

Nicht schlecht fürs Monatsende, und das trotz der ungeplanten Mehrausgaben beim Friseur.

Hundertfünfzig Mark steckte sie in die Sparbüchse, der Rest kam zu dem Budget für die weiße Bluse, die sie sich zu dem lindgrünen Hosenanzug kaufen wollte. Die Gedanken an die verschiedenen Möglichkeiten, eine weiße Bluse mit anderen Kleidungsstücken zu kombinieren gingen nahtlos in die Überlegung über, ob sie zum

Abendessen überbackenen Toast Hawaii oder Salat mit Ei und Kochschinken zubereiten sollte. Sie entschied sich für den Hawaiitoast und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Eiskaltes Wasser floss über ihre Handgelenke, als das Telefon durch das rauschende Wasser schrillte. Vielleicht war das Susanne, das wäre jetzt ihre Zeit. Obwohl – gab es überhaupt eine Zeit für Susanne? Mit tropfenden Händen lief sie zu dem Telefon im Schlafzimmer.

„Hallo, Maggie.“

„Oh, Andrea.“

„Kannst du gerade sprechen?“

Maggies Blick fiel auf den beigefarbenen Leinenvorhang, der sich links aus der Schiene gerollt und zu mindestens einem Drittel gelöst hatte. Das musste der Putzfrau passiert sein. Wahrscheinlich war ihr die Gardine in den Sauger geraten. Wo war der Stopper?

„Entschuldige“, unterbrach Maggie ihre jüngere Tochter, während ihre Augen den Boden absuchten. „Ich habe im Moment überhaupt keine Zeit. Ich rufe dich später zurück!“

„Aber vergiss es nicht!“, rief Andrea noch aus der Muschel, während sie mit dem Hörer nach der Station tastete. Der Stopper konnte unmöglich weg sein. Sie ließ sich auf die Knie hinab. Die Putzfrau hatte ihn doch nicht versehentlich eingesaugt!? Aber nein, da lag er seelenruhig unter dem Bett! Maggie streckte sich flach auf dem Boden aus und versuchte, den Stopper zu greifen, doch ihr Arm war zu kurz. Sie probierte es von der anderen Seite. Ihre Fingerspitzen berührten das kleine Teil, aber sie bekam es nicht zu fassen. Nächster Versuch mit einem Kleiderbügel.

Mit Schwung beförderte sie den Stopper unter dem Bett hervor.

Maggie kletterte auf den Sessel am Fenster und langte nach der Vorhangschiene, aber sie war zu klein. Auf dem Weg in den Keller, wo der Tritt stand, traf sie Karl. So hatte sie die erste Begegnung zwischen ihrem Mann und ihrer neuen Frisur nicht geplant.

„Wie siehst du denn aus, Kleines?“

„Ich kann jetzt nicht“, murmelte Maggie und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, um die neue Frisur fürs Erste zu vertuschen.

Sie lief weiter in den Keller.

„Ist was passiert?“, fragte Karl, als sie mit dem Tritt in der Hand die Stufen wieder hinaufkam.

„Nein, nein – nur der Schlafzimmervorhang.“ Sie hastete weiter ins obere Stockwerk.

„Brauchst du Hilfe?“, rief Karl ihr nach.

„Nein. Mach doch schon mal den Fernseher an, die Nachrichten kommen gleich.“

Durchatmen und der Reihe nach: erst der Vorhang.

Nachdem sie die letzten Rollen in die Schiene geschoben und den Stopper festgezogen hatte, ging sie ins Badezimmer. Ein leichtes Make-up, ein wenig blauer Lidschatten passend zur Jacke, Rouge, die Haare hinters Ohr – perfekt! Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher. Karl stellte neuerdings so laut, ob er schwerhörig wurde? Das würde ihm nicht gefallen. Sie beschloss, die Sache im Auge zu behalten.

Das kleine Malheur hatte ihren Zeitplan ein wenig durcheinandergebracht. Normalerweise aßen sie – wenn keine Gäste kamen oder Karl nicht seinen Sauna- oder Schwimmabend hatte – zwischen den 19-Uhr- und 20-Uhr-Nachrichten zu Abend. Das war knapp, aber noch zu schaffen. Sorgfältig deckte sie das Backblech mit Papier ab. Dann legte sie die Toastbrotscheiben auf das Blech – für jeden zwei, das sollte reichen. Wenn Karl noch Hunger hatte, würde sie ihm noch ein Schinkenbrot machen. Sie beträufelte den Toast mit Öl, verteilte den Kochschinken, die Ananasscheiben und obendrauf den Schmelzkäse. Sie hatte die Ofentür gerade zugeklappt, als das Telefon wieder klingelte. Andrea! Die hatte sie über die Aufregung ganz vergessen, aber jetzt passte es auch nicht. In einer Dreiviertelstunde fing ihr Italienischkurs an, bis dahin musste sie aufgedeckt, gegessen und abgedeckt haben. Sie lief zum Telefon, lüftete den Hörer ein paar Zentimeter und legte ihn wieder zurück auf die Gabel.

‚Morgen ist auch noch ein Tag’, dachte sie, während sie das Tablett vorbereitete.

„Jetzt zeig mir mal deine neue Frisur.“

Karl stand direkt hinter ihr. Er nahm sie an den Schultern, drehte sie zu sich um und fasste ihr unter das Kinn.

„Ganz schön was ab.“

„Gefällt’s dir?“

„Flott, aber das muss nicht sein.“

Mit beiden Händen holte er rechts und links ein paar Strähnen hinter ihrem Ohr hervor und strich sie ihr ins Gesicht. „So ist es besser. Nicht so streng.“

Sie hatte es geahnt. Er hatte es nie gemocht, wenn sie ihr Haar hinter den Ohren trug. Sie würde ihn langsam daran gewöhnen müssen, vielleicht erst einmal mit einem freien Ohr. „Heute Abend gibt’s diesen Krimi mit dem vergesslichen Kommissar, den du so magst. Du weißt schon …“

„Heute Abend habe ich Italienisch“, unterbrach sie ihn. „Aber schau du ihn dir an, du magst ihn doch auch.“

„Keine Zeit, ich muss mich um die Steuererklärungen kümmern.“

„Übrigens – Anne und Theo können an diesem Donnerstag nicht. Sie haben gefragt, ob es auch Mittwoch passt. Ich habe gesagt, im Prinzip schon, aber ich muss dich erst fragen. Ausnahmsweise könntest du doch deinen Saunaabend verschieben, oder?“

„Wieso können wir das Essen nicht um eine Woche verschieben?“

„Weil sie dann für vier Wochen in Südfrankreich sind.“

„Dann machen wir es eben später.“

„Bitte, Karl – dieses eine Mal. Ich habe schon alles eingekauft.“

„Also ist es jetzt schon beschlossene Sache? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich es nicht mag, wenn du über meinen Kopf hinweg entscheidest?“

„Och, komm schon. Ich frage dich hiermit offiziell, ob du ausnahmsweise bereit wärst, deinen Saunaabend für ein Abendessen mit deinem Freund Theo und seiner Frau Anne zu verschieben.“

„Ausfallen zu lassen.“

„Ja, meinetwegen auch ausfallen zu lassen. Obwohl deine Saunafreunde vielleicht auch mal einen Tag später können.“

Schweigen. „Das bleibt aber eine Ausnahme!“

„Versprochen!“

Beim Abendbrot war ihr Mann schweigsam. Maggie hatte ihm eigentlich von ihrem Erlebnis beim Friseur erzählen wollen, aber sie spürte, der Moment war nicht passend.

„Die Steuer?“, fragte sie nach dem sechsten Happen.

Er nickte.

„Wenn ich dir doch nur dabei helfen könnte.“

„Sei froh, dass du dich damit nicht belasten musst! Außerdem bin ich mir nicht sicher, was dabei herauskäme. Du kannst dir ja nicht mal meine Termine merken.“ Er tätschelte ihre Hand.

Maggie stand auf, räumte den Tisch ab und verstaute das Geschirr in der Spülmaschine. Sie hatte ihren zweiten Toast nicht gegessen. Sorgfältig schlug sie das Brot in Stanniol-Papier ein und legte es in den Kühlschrank. Vielleicht hatte sie nach dem Italienischkurs wieder Appetit.

Sie war nicht die Erste an diesem Abend. Vor dem Klassenzimmer in der Grundschule warteten bereits drei weitere Kursteilnehmer. Insgesamt waren sie zwölf Personen. Eine überschaubare Zahl. Man kam wenigstens ab und zu an die Reihe.

„Ciao“, begrüßte sie die anderen.

„Ciao, wie geht’s?“

„Ist Giuseppe noch nicht da?“

„Anscheinend nicht, der Klassenraum ist noch verschlossen“, sagte Angela, eine der jüngeren Frauen in der Runde. Langsam füllte sich der Vorraum immer weiter, bis schließlich alle zwölf Italienisch-Anfänger zusammenstanden.

„Warst du beim Friseur?“, fragte Angela.

„Ja, heute Nachmittag.“

„Sieht gut aus. Tolle Farbe und die freien Ohren, das steht dir!“ Maggie nannte den Namen des Salons.

Die Sekretärin kam aus ihrem Büro.

„Giuseppe hatte auf dem Weg hierher einen Unfall. Nichts Schlimmes, nur ein Blechschaden. Aber die Stunde fällt heute aus.“

Schade. Maggie hatte sich schon ausgemalt, wie Giuseppe auf ihre neue Frisur reagieren würde: „Maggie – due siehste aus dieci Jahre jünger ...!“ Die Italiener waren immer so übertrieben – das amüsierte sie.

Zuhause steckte sie den Schlüssel leise ins Schloss. Karl saß wahrscheinlich über der Steuer und wollte nicht gestört werden. Sie schlich auf Strümpfen in die Küche, setzte Teewasser auf und machte sich auf den Weg nach oben, um sich warme Socken zu holen.

Als sie an Karls Büro vorbeikam, hielt sie kurz inne und lauschte. Nichts. Vielleicht war er eingeschlafen. Sie wollte gerade weitergehen, da dröhnte es plötzlich durch die Tür:

„Hallo Kleines!“

Von wegen, schwerhörig!

„Hallo“, sagte sie.

„Na, wie war dein Tag?“

Wie bitte? Sie hatten doch schon miteinander gesprochen. Maggie setzte zu einer Antwort an, als ein lautes Lachen aus dem Zimmer polterte. „Da musst du mich auch mal mit hinnehmen … Nein, diesen Mittwoch kann ich nicht. Ich habe einen geschäftlichen Termin, den ich unmöglich verschieben kann.“

„Deshalb rufe ich ja an, Kleines.“ Maggie strich mit den Zehen ihres rechten Fußes die Fransen der persischen Brücke, die im Flur lag, gerade, bis alle wieder in eine Richtung zeigten.

„Ja, nein. Es tut mir leid. Wie wär’s stattdessen mit Donnerstag? … Ja? … Fein. Ich hole dich ab … Mach’s gut, Kleines. Nicht traurig sein!“

Kleines?

Das war doch sie.

Klack, der Hörer wurde aufgelegt. Ein fröhliches Pfeifen drang aus dem Zimmer.

Maggie schlich nach oben ins Badezimmer. Sie schloss die Tür von innen ab und setzte sich auf den Wannenrand.

Merkwürdiges Muster, das ihre neuen schwarzen Schuhe auf den weißen Tennissocken hinterlassen hatten. Dünne Wellenlinien, die quer über den Spann liefen. Ob das beim Waschen wieder rausging?

Als sie aufblickte, sprang ihr ein Gesicht im Spiegel entgegen, das sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Knallrote Flecken auf Wangen und Hals, ein Mund, schmal und ausdruckslos wie eine Erdspalte, Augen, für die der Zusatz „Glubsch“ untertrieben wäre. Dazu eine Frisur, die jetzt mehr als lächerlich wirkte. Mit beiden Händen zog Maggie ihr Haar hinter den Ohren hervor und strich es sich ins Gesicht. Zu kurz, zu flott, völlig unangemessen für ihr Alter. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können! Und dann diese Strähnchen! „Helles Haar macht jünger, Frau Maggie. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche!“

Eine zweite Erinnerung verdrängte die erste. Wann war es gewesen?

Im Winter vor zwei Jahren? Oder erst letzten Winter? Auf jeden Fall im Winter. Auf der Rückfahrt hatte es geschneit.

Sie waren zum fünfzigsten Geburtstag von Karls ehemaliger

Sekretärin eingeladen. Eigentlich hatte sie sich an diesem

Tag nicht besonders wohlgefühlt, eine Erkältung war im Anflug. Aber Karl bestand darauf, dass sie mitkam.

„Kleines – du bist Frau Nienstetten. Meinst du, ich kreuze da als Einziger alleine auf?“

„Du bist doch gar nicht allein. Du triffst deine alten Kollegen. Ich stehe nur daneben.“

„Ich will nichts mehr hören – zieh dir etwas Schickes an und mach dich zurecht. Um acht müssen wir da sein.“

Er hatte sie unters Kinn gefasst und ihr in die Augen geschaut. „Ich brauch’ dich – das weißt du doch.“

Zwei Stunden später lehnte sie in einer Ecke des riesigen und für Maggies Empfinden viel zu schwarz-weißen Wohnzimmers von Frau Mertens, besser gesagt Fräulein Mertens – Karls Sekretärin hatte nie geheiratet – und nippte an ihrem Weißwein.

Ihr Mann lachte, umrundet von vier oder fünf seiner früheren Mitarbeiter.

Die Mitarbeiter lachten ebenfalls. Es war schon reichlich Alkohol geflossen. Fräulein Mertens steuerte freundlich auf sie zu.

„Frau Nienstetten. Sie stehen hier so allein. Kommen Sie doch zu uns an den Tisch.“ Maggie folgte ihr. Ihr Kopf schmerzte, endlich sitzen. Sie nahm neben einer elegant gekleideten Dame gleichen Alters Platz und schlug die Beine übereinander.

„Guten Abend“, begrüßte sie die Dame. „Ganz schön anstrengend, so ein Haufen alter Haudegen, nicht wahr? Ich heiße Bettina von Bettstein und bin die Frau von Armin von Bettstein. Und Sie?“

„Maggie Nienstetten“, hatte Maggie geantwortet. „Die Frau von Karl Nienstetten.“

Die Dame namens Bettina von Bettstein stutzte für einen Moment. „Dem Karl Nienstetten dort drüben?“

„Genau dem.“

„Ach nein. Dann sind wir uns doch schon mal begegnet, warten Sie mal, so vor etwa zwei Jahren! Beim Italiener – wie hieß er noch gleich? Erinnern Sie sich? Sie saßen mit Ihrem Mann in der Ecke beim Aquarium, als wir reinkamen, und es war ganz deutlich, dass Sie an diesem Abend unter sich bleiben wollten. Ich war fast ein bisschen neidisch, Sie wirkten so, wie soll ich sagen, so liebevoll miteinander. Aber ich muss zugeben, ich hätte Sie nicht wiedererkannt. Waren Sie beim Friseur? Sie waren doch blond!“

Maggie lachte. „Nein, nein, das müssen Sie verwechseln. Ich war schon immer brünett.“

„Tatsächlich? Dann muss ich mich vertan haben. Wir sind so viel unterwegs. Man verliert den Überblick.“

„Das kann passieren. Ich habe auch ein schlechtes Personengedächtnis.“

An dieser Stelle endete die Unterhaltung, denn Frau von Bettstein wurde plötzlich müde. Sie gähnte, verabschiedete sich und zog ihren Mann am Ärmel aus seiner Männerrunde. Ein letzter Blick, ein Lächeln, kurz darauf verließen beide das Fest.

‚Was für eine dämliche Geschichte’, dachte Maggie auf dem Badewannenrand. Die Klinke ging.

„Bist du da drin, Maggie?“

„Ich bin auf der Toilette.“ Sie sprang auf und zog die Spülung.

„Seit wann schließt du ab? Wieso bist du überhaupt zuhause?“

„Der Kurs ist ausgefallen.“

„Warum sagst du keinen Ton, wenn du zurück bist?“

„Ich wollte dich nicht stören. Du warst ja an der Steuer.“

„Sag Bescheid, wenn du fertig bist.“

Karls Schritte entfernten sich. Maggie drehte den Wasserhahn auf, versuchte, ihre glühenden Wangen mit Wasser zu kühlen, bürstete sich das Haar (zwecklos), trug ein wenig Lippenstift auf (etwas besser) und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Diese Steuererklärungen machen mich fertig.“

Karl kam mit einer Flasche Rotwein in der linken und dem Korkenzieher in der rechten Hand in die Küche.

„Was das angeht, kostet mich diese freiberufliche Arbeit der letzten Jahre mehr Nerven als 40 Jahre Festanstellung.“

Das heiße Teewasser dampfte in Maggies Tasse mit dem Aufdruck: „Wenn dein Pferd tot ist, steig ab.“

Susanne hatte sie vor Jahren mit nach Hause gebracht, ein Werbegeschenk einer Autofirma.

„Hat jemand angerufen?“, wollte Maggie wissen.

„Niemand.“ Karl entkorkte den Wein.

Maggie schaute ihn an, er lächelte.

„Sehen wir uns den Rest des Krimis an, Kleines“, schlug er vor.

„Ich habe keine Lust mehr auf Steuern. Ach übrigens – ich hab meinen Saunaabend auf Donnerstag verschoben.“

„Hat’s doch noch geklappt.“

„Ja, aber nur mit viel Überredungskunst!“

Am nächsten Morgen erwachte Maggie früh. Sie stand immer vor Karl auf, um das Frühstück vorzubereiten. Aber heute war es besonders früh. Sie schlüpfte in ihre Fellpantoffeln und den chinesischen Morgenmantel, den Karl ihr von einer Dienstreise aus Shanghai mitgebracht hatte, und schlich aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer drückte sie den elektrischen Rollladenheber. Das leise Summen des Motors noch im Ohr, setzte sie den Kaffee auf. Träge tröpfelte das Wasser durch den Filter, bevor es kurz vor Ende zischte und gurgelte. Maggie nahm ihren Teebecher vom Vorabend, spülte ihn aus, füllte Kaffee hinein und ging in den Garten. Ein paar Krähen pickten im Rasen. Normalerweise hätte sie in die Hände geklatscht, um die Vögel zu verjagen, aber sie wollte nicht, dass Karl aufwachte. Ein paar der Rosen, die sie erst in diesem Frühjahr an den linken Terrassenrand gepflanzt hatte, ließen die Köpfe hängen. Blattläuse! Sie würde ein neues Ungeziefervernichtungsmittel kaufen müssen. Wo gab’s das kürzlich noch im Angebot? Es wollte ihr nicht einfallen. Sie stellte den Kaffeebecher auf den weißen Gartentisch und ging in den Schuppen hinten im Garten, holte die Rosenschere und begann, die morbiden Blüten abzuschneiden. Ein Dorn ratschte ihr den Zeigefinger auf.

Sie schaute zu, wie das Blut aus der Wunde quoll. „Du hast die schönsten Hände der Welt, Kleines“, hatte Karl früher immer gesagt.

KLEINES!

Hatte sie sich verhört?

Stimmte etwas mit ihrem Kopf nicht? Das sollte es geben. Sie hatte einmal von einer Frau gelesen, die gleichzeitig vier verschiedene Personen war, und keine wusste von der anderen. Aber sie war sich mehr als im Klaren darüber, dass sie es war, die gestern vor Karls Bürotür gestanden hatte. Vielleicht hatte er mit ihrer Tochter Susanne in Amerika gesprochen. Das wäre die Erklärung.

Quatsch! „Ich hole dich Donnerstag ab“ – aus Amerika? Sehr witzig!

Maggie brachte die Gartenschere zurück in den Schuppen und ging ins Haus, um die Wunde zu desinfizieren.

Oben rumorte Karl im Badezimmer. Sie schaute auf die Uhr. Schon halb neun. Eilig steckte sie das Brot in den Toaster und begann, den Tisch zu decken. Karl liebte ein perfektes Frühstück. „Das ist der Grundstein für einen erfolgreichen Tag!“

Früher, als er noch festangestellt gewesen war, hatte er meistens nur hektisch eine Tasse Kaffee hinuntergekippt, sich eine Banane oder einen Apfel geschnappt und weg war er. Aber seitdem er von seinem Managerposten in dem Pharmaunternehmen zurückgetreten war, „um dem Nachwuchs nur noch beratend zur Seite zu stehen, sofern das denn überhaupt erwünscht ist“, wurde das Frühstück im immer gleichen Rhythmus zelebriert. Maggie war für das leibliche Wohl zuständig, und Karl wertete die Tageszeitung aus. In der Regel überließ er ihr den Regionalteil, während er sich den großen Themen Weltpolitik und Wirtschaft widmete. Wenn er auf etwas Besonderes stieß, las er es laut vor. Ansonsten schwiegen sie den längsten Teil des Morgens und genossen die Ruhe, die in ihr Leben eingekehrt war, seitdem die beiden Mädchen aus dem Haus waren. Bevor Maggie nach etwa einer Dreiviertelstunde wieder abräumte, besprachen sie kurz den Tagesplan. Wenn Karl keine Termine hatte, hielt er sich vormittags in seinem Büro auf, um seinen Geschäften nachzugehen: Telefonate führen, Briefe lesen, Rechnungen schreiben. Sagte er zumindest. Maggie glaubte, dass er hauptsächlich Zeitung las. Und warum auch nicht? Er hatte in seinem Leben genug gearbeitet. Sie machte erst die Küche, dann die Betten. Danach putzte sie das Bad. Karl mochte es, wenn jeden Tag frische Handtücher an den Haken hingen und die Becken sauber glänzten. Er hatte viel Zeit seines Managerlebens in Hotels verbracht, und sie wollte nie, dass er sich dort wohler fühlte als zuhause. Was sie anging, so liebte sie ihr Heim und ihren strukturierten Tagesablauf, und es erfüllte sie mit Stolz, wenn sie ihre Haushaltsplanung am Ende des Monats mit Gewinn abschloss.

Nach dem Mittagessen legte sich Maggie in der Regel hin. Das tat sie schon seit 30 Jahren.

„Meine Frau konnte ihr Leben lang mittags einen Schönheitsschlaf halten“, bemerkte Karl manchmal augenzwinkernd. „Deshalb sieht sie auch so gut aus.“ Sie war nie sicher, ob er das ironisch oder liebevoll meinte, aber sie entschied sich für die zweite Option.

Wenn es sich ergab und beide nachmittags zuhause waren, tranken sie zusammen Tee. Donnerstags ging Maggie morgens zur Gymnastik, montags- und freitagvormittags kaufte sie auf dem Wochenmarkt ein. Jeden Mittwoch- und jeden Freitagabend traf sich Karl mit Freunden in der Stadt. Einmal zum Saunen mit anschließendem Essen und einmal zum Schwimmen mit anschließendem Essen. Dann wurde es immer spät, und Maggie schlief schon, wenn er nach Hause kam. Sie selbst ging jeden zweiten Donnerstagabend mit ihrer Freundin Karin ins Theater. Ein Abonnement. Und natürlich zum Italienisch – dienstags.

Heute war Mittwoch, und Karl musste um 10 Uhr bei der Krankengymnastik sein. Er verließ den Frühstückstisch zeitig und verabschiedete sich nach oben zum Toilettengang. Danach würde er sich anziehen – noch 20 Minuten, dann musste er los. Maggie räumte die Lebensmittel zurück in den Kühlschrank. Dabei fiel ihr Blick auf den Hawaii-Toast in Alufolie vom Vorabend. Ihr Magen rumorte, und nachdem sie das Silberpäckchen ein paar Sekunden lang unentschlossen angestarrt hatte, packte sie es und warf es wütend in den Müll. Zum ersten Mal in ihrem Leben warf Maggie etwas Essbares weg.

Karl rief ihr aus dem Flur einen Abschiedsgruß zu und ließ die Tür krachen. Maggie lauschte auf das Surren des Garagentors, dann sprang der Motor an, und das Tor klappte leise wieder zu. Sie setzte sich auf einen Hocker in der Küche und starrte auf die Uhr. ‚Zehn Minuten’, hatte sie sich vorgenommen. Mühsam zuckte der Zeiger von Minute zu Minute. Sieben Minuten ließ sie verstreichen, dann siegte die Ungeduld und sie schlich in den Flur. Leise, als könnte jemand sie hören, öffnete sie die Tür zu Karls Heiligtum, seinem Büro. Hier durften weder die Putzfrau noch sie selbst aufräumen. Nur wenn er persönlich zugegen war, ließ er sie ab und zu mit dem Sauger durchgehen. Doch spätestens nach fünf Minuten störte ihn der Lärm, und Maggie musste aufhören. Als Erstes fielen ihr die Wollmäuse in der vorderen linken Ecke auf. Normalerweise hätten die keine Sekunde überlebt, aber heute hatten sie Glück. Auf Zehenspitzen schlich Maggie zu Karls schwerem Mauser-Schreibtisch. Ein scheußlicher, glänzender schwarzer Klotz, der sich kaum putzen ließ. Jede Berührung hinterließ Spuren auf der gelackten Oberfläche. Karl war der Meinung, sie verstünde nichts von Design und Qualität, aber das war Quatsch. Dieses Ding war einfach nur unpraktisch. Einen Batzen Geld hatte er dafür ausgegeben.

„Lass das meine Sorge sein.“

Klar, Karl war der Finanzminister. Das war schon immer so gewesen.

„Kleines“, hatte er nach ihrem vierten Treffen gesagt. „Wenn du mich heiratest, sorge ich für dich. Mein Leben lang, das verspreche ich dir.“ Dann hatte er sie so feste gedrückt, dass ihr fast die Luft weggeblieben war.

Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche, legte es um den Eingriff der oberen Schublade des Aktenschrankes und zog. Obenauflagen ein paar Zettel. Notizen und Visitenkarten, nichts Besonderes: die Adresse eines Rechtsanwaltes. Das hatte sicher mit der Wohnung ihrer Mutter zu tun. Karl wollte sie verkaufen. Ein Rezept für ein Medikament gegen Sodbrennen, das schon vor über einem Jahr ausgestellt worden war, ein ausgerissener Zeitungsartikel mit der Überschrift „Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit“, eine Gebrauchsanleitung für das neue schnurlose Telefon und verschiedene Papierschnitzel, auf denen nichts Nennenswertes notiert war. Maggie platzierte den Stapel in der Reihenfolge, in der sie ihn vorgefunden hatte, auf dem Schreibtisch und nahm die darunterliegende Schicht Papier heraus: ein Block, auf dem nichts geschrieben stand. Maggie hielt die obere Seite schräg gegen das Licht – keine Schrift. Die Aufnahmeerklärung des Sportstudios, dem Karl wegen seines Rückens beigetreten war, eine alte Autozeitschrift, ein Bildkalender mit Schwarzweiß-Motiven aus New York, aus dem Jahr 1986, den Susanne ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt hatte. Eines der Bilder (das mit den Arbeitern, die auf einem Gerüst in schwindelerregender Höhe zwischen den Wolkenkratzern Pause machen) hatte Karl gerahmt und in seinem Büro an die Wand gehängt. Darunter noch eine alte Parkscheibe, ein paar leere Klarsichthüllen, belangloser Kram. Sie begann, die Schubladen rückwärts Zettel für Zettel einzuräumen. In den anderen Schubfächern fanden sich Landkarten, Fotos, Gebrauchsanleitungen und Beipackzettel von Medikamenten. Blieben noch die vielen Aktenordner im Regal. Aber auch hier: Fehlanzeige. Nur amtliche Unterlagen, Steuern, Versicherungen, Kaufverträge, Mietverträge. Maggie sackte auf den Schreibtischstuhl, starrte aus dem Fenster und überlegte, wo sie weitersuchen sollte, als sie hinter sich ein Rascheln hörte, das sich in ein leichtes Schaben verwandelte. Sie wollte sich umdrehen, aber die Befehlsleitung vom Gehirn an die Muskeln war blockiert – ihr Nacken war steif und meinte, Karls Hand darauf schon zu spüren, als ein leichter Luftzug das Zimmer durchwehte. „Miau.“

Die Katze sprang vor ihr auf den Schreibtisch. Maggie stieß sich aus dem Stuhl. „Mein Gott, Pucki!“ Sie schrie beinahe. „Wie kannst du mich so erschrecken?“ Die Katze ließ sich genüsslich vor ihr auf dem Schreibtisch nieder, und Maggie sank zurück in den Sessel, bevor ihre Beine versagten. Wie hätte sie Karl das erklären sollen? Die Katze schnurrte, und um sich zu beruhigen, kraulte Maggie ihr mechanisch den Rücken. Pucki räkelte sich vor Wonne über ihr doppeltes Glück: Sie wurde nicht nur gekrault, sie lag auch noch auf dem verbotensten Platz im ganzen Haus. Und als ob sie es nicht fassen könnte, stand sie immer wieder auf, blickte sich kurz um, um sich dann wieder vor Maggie zusammenzurollen. Als sie sich zum dritten Mal erhob, verschob die Katze die lederne braune Schreibunterlage auf dem schwarzen Schreibtisch um ein paar Zentimeter. Ein Zettel lugte hervor, offenbar eine Rechnung. Gedankenverloren las Maggie die unteren Posten. Getränke: 1 Flasche Wasser für 6 DM, 1 Flasche Chianti für 48 DM, einmal Steinbeißerfilet mit Salat für 17,50 DM, ein Rinderfilet mit Steinpilzen für 22,50 DM, eine Zabaione für 6,50 DM und eine Crème Brûlée für 6 DM. Espressi für zusammen 4 DM, darunter die Gesamtsumme von 110,50 DM und ein Restaurantname, den sie noch nie gehört hatte: Da Pasquale.

„Tut mir leid, Pucki“, tröstete Maggie die Katze, die es sich jetzt auf dem Schreibtisch gemütlich gemacht hatte, „aber ich muss da mal ran.“ Beleidigt sprang Pucki vom Tisch und verließ den Raum. Maggie suchte das Datum auf der Rechnung: 25. August. Sie rechnete nach. Das war ein Freitag gewesen. Freitag – seit wie vielen Jahren ging Karl am Freitagabend mit seinen Freunden schwimmen? Seit sieben? Zehn? Noch länger! Maggie lüpfte vorsichtig die lederne Unterlage und fand einen ganzen Stapel Rechnungen. Sie zog den Papierhaufen hervor und las:

‚Rinderfiletspitzen mit Pfannengemüse und Tagliatelle in Käsesahnesauce, Spaghetti mit Pesto und Zanderfilet in Blätterteig, Osso buco und Steinpilzrisotto.’

Dazu: Salat, Wein, Wasser, Espresso. Immer freitags, immer für zwei Personen, immer im „Da Pasquale“.

Seit neununddreißig Jahren war sie mit diesem Mann verheiratet.

Sie waren 1956 zusammen aus dem Osten in die Nähe von München geflohen, hatten zwei Kinder bekommen, sich ein paar Jahre später ein Reihenhaus gekauft. Jedes Jahr machten sie Urlaub am Chiemsee. Sie hatten gemeinsame Freunde und Bekannte und unternahmen, besonders, seitdem Karl freiberuflich tätig war, an den Wochenenden (an denen er nicht auf kurze Geschäftstrips musste) Wanderungen oder Radtouren. Natürlich hatte es auch harte Zeiten gegeben, zum Beispiel, als Maggie 1978 wegen einer Blinddarmoperation für zehn Tage ausgefallen war und Karl eine Geschäftsreise nach Vancouver machen musste, die er nicht verschieben konnte. Zum Glück war damals Frau Hübel eingesprungen. Oder als Karl bei einem Bauherrenprojekt dreißigtausend Mark in den Sand gesetzt hatte. Aber hatten sie nicht alles zusammen durchgestanden, sogar die vielen Schwierigkeiten mit Andrea? Überhaupt Andrea, eigentlich hingen alle Probleme, die sie jemals gehabt hatten, mit diesem Mädchen zusammen. Da hatte einfach nichts gepasst.

Ja, sie hatten einiges durchgemacht. Aber sie waren stark. Zusammen waren sie stark. Wie oft hatte Karl gespottet, dass andere Ehen wegen Nichtigkeiten auseinandergingen: „Die Jahnkes lassen sich jetzt scheiden. Hat mir der Kurt erzählt. Angeblich will sie mehr Freiheit. Sie hat keine Lust mehr, für ihn zu kochen. Einfach so, nach 30 Jahren. Soll er doch ins Restaurant gehen oder sich eine Köchin zulegen. Sie möchte ihre Zeit jedenfalls nicht länger in der Küche verschwenden. Sie malt neuerdings. Grauenhaft, wenn Frauen sich im Alter plötzlich selbst verwirklichen wollen. Haben die nichts Besseres zu tun? Setzen ihre Ehe aufs Spiel wegen ein paar Bildchen. Die kann sie doch nebenbei malen. Dafür muss man doch nicht gleich alles hinwerfen. Nur gut, dass du nicht so eine Alters-Emanze bist, Kleines.“

KLEINES, dieses Wort hatte fast 40 Jahre lang nur eine Bedeutung gehabt. „Mach’s gut, Kleines!“

Aus der Ferne drang das Surren des Garagentors zu ihr durch. Hastig legte sie die Rechnungen, die sie noch in den Händen hielt, an ihren Platz zurück, stand auf und ging zur Tür. Im Rahmen warf sie einen letzten Blick in das Zimmer. Auf dem Boden lag noch das Papiertaschentuch, das sie benutzt hatte, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Rasch lief sie hin und hob es auf. Unten drehte sich der Haustürschlüssel im Schloss.

Den Nachmittag hatte Maggie sich reserviert, um das Projekt „weiße Bluse“ anzugehen, aber im dritten Damenoberbekleidungsgeschäft gab sie auf. Sie war nicht in der Stimmung für Einkäufe. Selbst das Schnäppchen in ihrer Lieblingsboutique konnte sie nicht überzeugen. Von 98,00 DM auf 45,00 DM runtergesetzt. Auch noch in ihrer Größe, 38. Aber der Kragen war zu weit ausgeschnitten. Das betonte ihren Hals, und der war ihre Schwachstelle. Die Falten zogen sich wie Rauten über ihren Nacken nach vorn. Ein Muster, auf das sie nicht auch noch aufmerksam machen wollte. Außerdem waren die Ärmel zu lang.

In dem neuen Café an der Ecke suchte sie sich einen Platz am Fenster, legte ihren Mantel auf den Stuhl und ging mit ihrer Handtasche an die Theke.

„Was soll’s denn sein?“, fragte die junge Frau.

„Einen …“ Maggie geriet bei dem Wort ins Stocken. „Einen Espresso.“ Auf dem Weg zu ihrem Fensterplatz hatte sie Mühe, die kleine Tasse zu balancieren. ‚Wenn ich es zum Fenster schaffe, ohne etwas zu verschütten, habe ich einen Wunsch frei’, nahm sie sich vor. Kurz vor dem Ziel schwappte ein Schlückchen über den Rand. Es landete auf dem Keks auf der Untertasse. Das Café war leer. Am Tresen putzte die junge Bedienung die Kaffeemaschine. Sie war groß, schlank und hatte einen braunen Pferdeschwanz, wie Susanne. Plötzlich verspürte Maggie den brennenden Wunsch, die Stimme ihrer älteren Tochter zu hören. Wann hatten sie zuletzt telefoniert? Letzten Freitag, oder war es Samstag gewesen? Sie hatte durchgerufen, um Bescheid zu geben, dass sie mit ihrem neuen Freund übers Wochenende ans Meer fahren würde. „Mama!“, hatte sie ins Telefon gerufen. „Das ist der Richtige. Ich fühle es. So war es noch nie.“

Diese Worte hatte Maggie schon öfter gehört, aber dieses Mal klangen sie anders, überzeugter. Außerdem hatte Susanne noch kein schlechtes Wort über ihn verloren. Sonst gab es schon nach ein, zwei Treffen das erste ‚Aber’.

Und jetzt? Kein Satz enthielt ein ‚Aber’.

Sie musste auch noch Andrea zurückrufen. Das hatte sie vollkommen vergessen. Ein junges Paar spazierte eisessend an dem Fenster vorbei. Plötzlich knickte der Kugelberg des Mädchens ab und fiel auf die Straße. Der junge Mann wollte sich ausschütten vor Lachen. Wütend trat das Mädchen gegen sein Schienbein. Warum waren Männer oft so schadenfroh? Sie erinnerte sich daran, wie sie vor mehr als 25 Jahren mit Karl nach Geschäftsschluss durch eine kleine Ladenstraße gebummelt war, die neu eröffnet hatte. Diese abendlichen Spaziergänge halfen ihrem Mann, nach Feierabend auf andere Gedanken zu kommen. Ein neues Pelzgeschäft hatte eröffnet, und gemeinsam sahen sie sich die Auslagen an.

„Ist der nicht ein Traum?“, hatte sie gefragt und auf einen Nerzmantel gezeigt, den sie schon ein paar Tage zuvor entdeckt hatte.

„Ich weiß nicht, Kleines, so etwas steht dir doch gar nicht. Das passt zu deiner Mutter! Du bist ein sportlicher Typ.“ „Nein – ein Nerz ist zeitlos.“

„Kleines, haben wir dir nicht erst letztes Jahr diesen wunderbaren Wintermantel gekauft, der innen gefüttert ist und sogar Wasser abweist?“

„Das ist doch etwas ganz anderes. Außerdem ist das schon zwei Jahre her.“

„Dann wird er ja wohl noch ein weiteres Jahr halten.“

„Aber sieh‘ doch mal, so ein Nerz ist wie ein Schmuckstück, an dem man sein Leben lang Freude hat. Etwas, das nie vergeht.“

Verträumt hakte sie sich bei Karl unter und schlenderte mit ihm weiter. „Sogar Frau Hübel besitzt eine Nerzstola. Dabei haben die es wirklich nicht dicke. So ein Pelzmantel ist wie ein Erbstück, unvergänglich, den kann ich später auch noch an unsere Töchter weitergeben.“

„Gnädigste“, raunte ihr jemand von der Seite ins Ohr. „Wären Sie meine Frau, würde ich Sie mit Pelzmänteln überhäufen.“ Erschrocken blickte Maggie zu der Stimme auf, die so liebevoll mit ihr sprach. Oh mein Gott! Sie hatte sich bei einem wildfremden Mann untergehakt. Hilfesuchend sah sie sich nach Karl um. Da stand er, immer noch vor dem Pelzgeschäft, und bog sich vor Lachen. Sie murmelte eine Entschuldigung. Der Fremde bekundete sein Bedauern, nicht zu Diensten sein zu können und verschwand.

„Gnädigste“, höhnte Karl. „Wären Sie meine Frau, würde ich Sie mit Pelzmänteln überhäufen. Was war das denn für ein Lackaffe?“

„Einer, der seiner Frau einen Nerz kaufen würde.“ „Na, na, na. Du weißt genau, dass wir in diesem Jahr das Geld für einen neuen Wagen brauchen.“

„Deinen neuen Wagen.“

„Ja, meinetwegen meinen neuen Wagen – aber ich würde mal sagen, Frau Nienstetten hat auch nichts dagegen, sich ab und zu in einem Ford Granada chauffieren zu lassen.“ Seitdem hatte Karl sicherlich zwanzigmal den Wagen gewechselt.

Sie fuhr immer noch seinen abgelegten Opel. Einen Nerz hatte er ihr nie geschenkt.

Maggie kehrte früher als geplant von ihrem Stadtbummel zurück. Das hatte den Vorteil, dass sie mehr Zeit hatte, das Abendessen für Theo und Anne vorzubereiten. Theo war Architekt. Karl hatte ihn bei dem Anbau ihres Wintergartens vor fünfzehn Jahren kennengelernt. Damals war er noch mit Eva verheiratet gewesen. Drei Jahre später hatte er sie wegen der erheblich jüngeren Anne verlassen. Maggie hatte Eva nie gemocht. Sie war irgendwie undurchsichtig. Nach der Scheidung war sie fünfhundert Kilometer weit weg in die Schweiz gezogen, wo sie jetzt Paare therapierte, indem sie tagelang mit ihnen wanderte und irgendwelche Hütten aus Reisig baute. Anne war das Gegenteil von Eva: offen, herzlich, verbindlich. Die beiden Frauen hatten sich auf Anhieb gemocht, und der Altersunterschied von über zwanzig Jahren hatte nie eine Rolle gespielt. Anne war auch Architektin und inzwischen fast erfolgreicher als ihr Mann, der ohnehin nur noch zeitweise arbeitete. Maggie bewunderte Annes Tatkraft und ihre Unabhängigkeit. Aber andererseits hatte Anne keine Kinder. In Maggies Augen eine Grundvoraussetzung für eine Frau, um einen Beruf erfolgreich auszuüben. Maggie hatte nach dem Krieg Schreibmaschine und Stenografie gelernt. In der DDR hatte sie im Sekretariat eines Chemielabors gearbeitet, später im Westen hatte Dr. Steinbrecher sie eingestellt, ein Anwalt für Schadenersatzansprüche. Dr. Steinbrecher war nicht verheiratet und machte keinen Hehl daraus, dass er etwas für Maggie empfand. Das machte Karl rasend. Eines Tages kam er überraschend mit einem Strauß Margeriten in die Kanzlei. Er grinste, küsste Maggie in den Nacken, schaltete das kleine Radio auf ihrem Schreibtisch ein, nahm sie bei der Hand und forderte sie zum Tanz auf.

„Dr. Steinbrecher!“, rief er. „Kommen Sie aus Ihrer muffigen Bude und werfen Sie einen letzten Blick auf diese Kostbarkeit, die Sie nie besitzen werden.“

Die Tür ging auf.

„Das hier ist nämlich meine Frau, falls Ihnen da etwas entgangen ist. Und die kündigt heute! Fristlos!“

Dr. Steinbrecher sah erst Karl, dann Maggie und dann wieder Karl an. Auch Maggie verstand nichts.

„Das war heute dein letzter Arbeitstag“, jubelte Karl.

„Befördert. Ich bin befördert worden. Du bist jetzt die Frau eines Abteilungsleiters, und die braucht nicht mehr zu arbeiten! Nimm deine Jacke, und dann nichts wie weg hier.“

Karl nahm sie bei der Hand und zog sie aus dem Büro. Maggie durchströmte es heute noch warm, wenn sie an diesen Moment dachte.

Danach nahmen die Dinge ihren Lauf. Erst kam Susanne, und zwei Jahre später Andrea.

„Was duftet denn hier so köstlich?“, fragte Anne, als sie die Küche betrat. Sie lüftete den Topfdeckel.

„Oh mein Gott, Maggie, du übertriffst dich mal wieder selbst. Osso buco – mein Leibgericht!“

Einen winzigen Moment durchfuhr es Maggie, aber das war Unsinn. Anne hatte schwarzes Haar.

„Mit Steinpilzrisotto. Dazu Tomatensalat mit Mozzarella. Und anschließend Zabaione.“

„Lust auf Italien?“

„Keine Ahnung, war einfach so eine Idee.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung.“

Sie deckten den Tisch. Die beiden Männer standen an der Gartentür und unterhielten sich beim Wein. Ein Abend, wie sie ihn schon oft erlebt hatten. Ein Abend, an dem Maggie normalerweise die Wärme genossen hätte, die das Kaminfeuer verbreitete.

Sie setzten sich zu Tisch.

„Kleines, was ist los mit dir?“ Karl sah sie mit sorgenvollem Blick an. „Sollen wir das Fleisch mit den Fingern essen?“

„Oh, entschuldigt!“ Maggie sprang auf, um Besteck zu holen.

Anne kam hinterher.

„Manchmal kann er wirklich eklig sein“, sagte sie, aber Maggie winkte mit den Messern in der Hand ab.

„Du kennst ihn doch. Er ist halt ein Perfektionist.“

Als sie wieder hereinkamen, referierte Karl über seine neueste Theorie, dass die Summe des Unglücks bei jedem Menschen stets auf gleichem Niveau bleibe. Es käme auf jeden selbst an, wie er das Leben sehe. Ein Optimist würde auch in schlechten Zeiten seine Stimmung über die Wirklichkeit stellen, ein Pessimist auch in guten Zeiten dafür sorgen, dass er genügend Sorgen hatte. Maggie kannte diese These bereits, Karl hatte sie ihr schon mindestens dreimal dargelegt, seitdem er sie kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte.

Anne war anderer Meinung.

„Wenn deine Theorie stimmen würde, wäre Glück ja eine rein subjektive Empfindung, die durch äußere Faktoren nicht zu beeinflussen wäre.“

„So ist es!“, rief Karl triumphierend. „Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit!“

„Woher hast du denn den Satz?“, fragte Theo.

„Habe ich mir eben ausgedacht!“

Maggie musste lachen.

„Was gibt es da zu lachen?“

„Nichts, nichts. Du hast es nur so komisch gesagt.“

„Also ich schließe mich eher Anne an“, meinte Theo.

„Nehmen wir an, jemand lebt ein sehr glückliches und zufriedenes Leben. Dann hat er einen Unfall und verliert beide Beine. Danach verliert er obendrein, ihr verzeiht mir den in diesem Fall makaberen Ausdruck, den Boden unter den Füßen. Er ist einfach nicht mehr derselbe. Sein ganzes Leben gerät aus den Fugen. Er kann nicht mehr arbeiten, wird ein Pflegefall, hat ständig Streit mit seiner Frau. Am Ende zerbricht seine Ehe, er landet in einem Heim für Behinderte und erhängt sich. War er jetzt Schmied seines eigenen Glückes?“

„Natürlich!“, rief Karl. „Als Optimist hätte er auch aus dieser misslichen Lage das Beste gemacht. Er hätte seine Arme trainiert, wäre zum Sport gegangen oder besser gesagt gefahren, hätte anderen geholfen, mit demselben Schicksal fertigzuwerden und wäre am Ende ein erfüllter Mensch geworden, der jeden Moment seines Lebens genießt.“

„Deiner Meinung nach gibt es also keine Schicksalsschläge oder Ereignisse, die einen Menschen unglücklich machen können?“, fragte Maggie.

„Nein.“

„Und wenn man zum Beispiel merkt, dass sein ganzes Glück, alles, woran man geglaubt hat, nur auf Sand gebaut ist?“

„Es ist doch ganz egal, ob man nur in einem Traum lebt, solange man glücklich ist.“

„Solange man nicht aufwacht“, fügte Maggie hinzu.

Karl schaute sie an, ein kleines Zucken um seine Augen. „Dass Du heute so spitzfindig bist.“ Er stand auf, um eine neue Flasche Wein zu holen.

Der Rest des Abends verlief in gewohnter Heiterkeit und Harmonie, und weil Anne am nächsten Tag früh rausmusste, wurde es nicht spät.

Als sie nebeneinander im Bett lagen und Karl seine Leselampe gelöscht hatte, fragte Maggie in die Dunkelheit:

„Wie ging noch mal der Spruch, den du dir vorhin ausgedacht hast?“

„Aus Glück und Leid wird Mäßigkeit!“

„Komisch, mir ist, als hätte ich den schon irgendwo einmal gehört.“

„Das kann gar nicht sein, Kleines!“, gab Karl schläfrig zurück.

Mitten in der Nacht schrillte das Telefon. Maggie fuhr hoch. Sie blinzelte auf die Uhr. 4.14 Uhr. Sie war erst vor einer Stunde eingeschlafen. Hastig stand sie auf und ging an den Apparat.

„Hallo?“

„Hallo Mama.“

Susanne. Obwohl sie achttausend Kilometer entfernt war, konnte Maggie hören, dass sie weinte.

„Was ist los, mein Schatz?“

„Ach, Mama.“ Ein Schluchzen zog sich durch die Leitung.

Karl drehte sich brummend auf die andere Seite.

„Warte“, flüsterte Maggie. „Ich stelle nach unten durch.“

Sie wählte die Eins, legte den Hörer auf die Gabel und lief durch den dunklen Flur nach unten in die Diele, wo der Apparat leise schnurrte. Sie nahm den Hörer ab.

„Er ist verheiratet. Tom ist verheiratet“, heulte ihre Tochter am anderen Ende.

„Ich bin nur seine Geliebte. Er hat eine ganz reguläre Frau, und ich bin seine Gespielin.“

„Woher weißt du das?“

„Ich habe es herausgefunden. Als wir neulich für ein paar Tage in Santa Cruz am Meer waren, hat er jeden Abend um dieselbe Zeit unten aus der Zelle telefoniert. Mir hat er gesagt, er gehe joggen. Aber ich habe ihn beobachtet. Er hat immer erst telefoniert und ist dann losgelaufen. Am letzten Abend bin ich runter und habe die Wahlwiederholung gedrückt.“

„Und?“

„Es meldete sich eine Frauenstimme mit seinem Namen. Mrs. Jones. Ich habe nach ihrem Mann gefragt. Sie sagte, er käme erst heute Abend von einer Geschäftsreise zurück. Dann habe ich einfach aufgelegt. Mama?“

„Ja, ich bin noch dran. Das ist ja ein starkes Stück.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“

„Und wenn du ihn einfach fragst?“

„Wie denn? ‚Sag mal, gibt es da noch eine andere in Deinem Leben?’ Meinst du, dann sagt er: ‚Ach ja, ich hatte ganz vergessen, dir zu erzählen, dass ich verheiratet bin. Das macht dir doch sicher nichts aus.’ Super Idee, Mama.“

„Du hast ja Recht. Was sagt dir denn dein Gefühl? Liebst du ihn?“

„Natürlich liebe ich ihn, das habe ich zumindest bis gestern Abend geglaubt. Im Moment hasse ich ihn.“

„Vielleicht solltest du ihn dir besser aus dem Kopf schlagen.“

„So schnell gebe ich nicht auf, Mama. Ich doch nicht.“ Langsam schien sie sich wieder zu fassen. „Wer weiß, was für einen Besen der zuhause hat. Wahrscheinlich ist sie genauso alt wie er und schlaff wie eine alte Zitrone. Solche Frauen kennt man doch. Die richten sich in ihrer Ehe gemütlich ein, lassen sich gehen und machen ihren Männern die Hölle heiß. Und im Bett läuft schon lange nichts mehr. Oder kennst du eine Beziehung, in der ein Paar nach zehn oder zwanzig Jahren Ehe noch Sex hat? Mama?“

„Ich? … Keine Ahnung.“

„Gegen diese alte Schnalle bin ich doch ein junges Hühnchen. Und Männer, das weiß ich inzwischen, Mama, Männer denken immer nur an Sex. Wenn sie überhaupt denken können. Der wird sich vor Liebe und Leidenschaft nach mir verzehren. Dafür werde ich sorgen. Also, leg dich wieder hin, ist ja schon so spät bei euch.“

„Mach’s gut, mein Schatz“, sagte Maggie. Sie ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und setzte sich damit im dunklen Wohnzimmer aufs Sofa. ‚Ich habe schon wieder vergessen, Andrea anzurufen’, fiel ihr ein. Aber offenbar hatte das Mädchen sich auch nicht mehr gemeldet. Der Kontakt war nicht sehr regelmäßig, oder, um es mit Karls Worten auszudrücken, war ‚ihr Verhältnis gestört’. Aber wer konnte ihr das übelnehmen – auf Andrea hatte von Anfang an kein Segen gelegen. Sie sollte als Junge geboren werden und war stattdessen ein krankes Mädchen, das sofort nach der Geburt in eine Spezialklinik gefahren werden musste. Ja, natürlich war das schrecklich, aber es war doch nicht ihre Schuld. Infolge der Trennung bekam Maggie eine handfeste Brustentzündung. Ihr wurde noch heute übel, wenn sie an die Schmerzen dachte, die sie damals erleiden musste. Jeden Tag kam eine Schwester und drückte an ihren hart geschwollenen Brüsten herum, damit der Milchstau sich löste. Dazu kam Fieber, und ihre Mutter musste kommen, um auf Susanne aufzupassen.

Und Andrea? Die Diagnose lautete Blutunverträglichkeit. Maggie und Karl hatten überhaupt keine Ahnung, was das sein sollte. Ihre Blutgruppen vertrugen sich nicht – seit wann denn das? Bei Susanne hatte es doch auch keine Probleme gegeben.

Andrea sollte eigentlich Andreas heißen. Stattdessen lag jetzt ein krankes Mädchen in einer anderen Klinik und wartete auf Blut, Überlebenschance dreißig Prozent.

Nach zwei Tagen riefen sie aus der Spezialklinik an: Es hatte sich ein russischer Emigrant gefunden, der dem Mädchen Blut spendete. Ausgerechnet ein Russe, als läge nicht ohnehin ein Fluch auf dem Kind. Andreas Leben war vorerst gerettet, aber die Ärzte wussten nicht, ob das Gehirn durch den Sauerstoffmangel Schaden genommen hatte. Das Mädchen verbrachte noch zwei weitere Monate im Krankenhaus. Maggie kam nach zehn Tagen aus der Klinik und schickte Ihre Mutter noch am selben Tag nach Hause. Die Nähe zu der Frau war ihr unerträglich geworden.

Sie musste sich jetzt besonders um Susanne kümmern, die ihre Mama vermisst hatte. Es blieb keine Zeit, das neue Baby im Krankenhaus zu besuchen. Wie hätte sie das anstellen sollen? Sie hatte kein Auto, die Klinik lag weit weg und war mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen. Diese Odyssee mit der zweijährigen Susanne an der Hand – unmöglich! Außerdem, was hätte sie schon tun können? Sie war ja einmal da gewesen, nach zwei Wochen. Das Kind lag in einem Glaskasten, mit vielen Schläuchen an Brust und Kopf, und machte kaum die Augen auf.

Nach acht Wochen rief das Krankenhaus an. „Sie können Andrea morgen abholen.“

„Morgen schon?“, stammelte Maggie.

„Ja, endlich. Ist das nicht wunderbar?“, rief die Schwester. „Sieht aus, als wäre alles gutgegangen.“

Als Maggie am nächsten Tag das Zimmer betrat, in dem ihre Tochter die letzten acht Wochen verbracht hatte, erlitt sie einen Schock. Das sollte ihre Tochter sein, dieser dünne, verknitterte Säugling? Susanne schien der Anblick nichts auszumachen. Sie lief zu dem Bettchen und streichelte dem Neugeborenen über das schwarze Haar.

„Sind Sie sicher, dass sie gesund ist?“, fragte sie den Arzt.

„Gesund schon. Aber sie hat sehr abgenommen in den letzten Wochen. Sie leidet unter einer unreifen Darmflora, das Immunsystem war durch den Blutaustausch sehr geschwächt. Sie vertrug keine Milch. Wir konnten sie die ersten sechs Wochen nur mit Tee ernähren. Jetzt ist es an Ihnen, sie aufzupäppeln. Füttern Sie ruhig schon feste Nahrung zu. Dann wird sie rasch zunehmen.“

Er drückte ihr das Bündel in den Arm und verabschiedete sich. Zum Glück fragte niemand, warum sie in den letzten sechs Wochen nicht einmal bei ihrem Säugling gewesen war.

Zuhause angekommen, schrie Andrea ununterbrochen. Karl war noch im Betrieb, und Maggie wusste nicht, was dem Kind fehlte. Sie mochte es nicht im Arm halten und legte es auf die Couch, aber es hörte nicht auf zu schreien. Schließlich wurde es ihr zu viel und sie legte das Baby in Susannes alte Wiege, schob sie ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Doch das Schreien ging weiter und elektrisierte die ganze Wohnung. „Baby Hunger“, sagte Susanne. Maggie packte ihre ältere Tochter, ließ die kreischende Andrea allein und eilte zur Drogerie an der Ecke, um Instant-Reisbrei zu kaufen. Zuhause löste sie das Pulver mit Wasser auf und versuchte den dünnen Säugling, wie es der Arzt empfohlen hatte, mit einem Löffel zu füttern. Aber das Mädchen wollte nicht schlucken. Immer wieder schob es die zähe Masse mit der Zunge aus dem Mund, und das Geschrei wurde lauter und lauter. Es war zum Verzweifeln. Warum wollte sie das verdammte Zeug nicht essen? Maggie stopfte ihr den Löffel in den Mund. Runter damit! Stattdessen kam alles wieder hoch. Sie steckte das Kind zurück in die Wiege, zog sich eine frische Bluse an, schnappte sich Susanne und machte einen Spaziergang an der frischen Luft. Als sie nach einer Stunde zurückkamen, war Ruhe. Das Mädchen schlief.

Die nächsten Wochen verliefen nach einem ähnlichen Muster, und bald war Maggie mit den Nerven am Ende.

Wenn Karl nach einem langen Arbeitstag nach Hause kam, saß sie weinend in der Sofaecke, Susanne auf dem Schoß an sich gedrückt. Und das Baby schrie und schrie und schrie. Karl verlor die Geduld. „Wenn ich abends nach Hause komme, erwarte ich, dass meine Frau sich hübsch angezogen hat, die Kinder bettfertig sind und etwas zu Essen auf dem Tisch steht! Das wird doch wohl zu machen sein.“

Bis vor kurzem hatten sie ein glückliches Familienleben geführt, und nun saß sie in einem einzigen Chaos. Am liebsten hätte sie das Mädchen zurück in die Klinik gebracht und alles wäre wie früher. Aber nichts war wie früher. Karl kam immer später nach Hause.

„Ich halte dieses Chaos nicht aus.“

Irgendwann blieb er über Nacht weg.

„Ich schlafe heute Nacht im Hotel. Zuhause bekomme ich ja kaum noch Schlaf.“ In den nächsten Wochen schlief er immer häufiger im Hotel. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie in dieser Zeit nicht Susanne gehabt hätte, die sie jede Nacht tröstete?

„Was, wenn sie behindert ist?“, fragte Maggie eines Abends, als Karl zu Besuch zum Abendbrot kam.

„Wieso sollte sie behindert sein?“

„Sie kann nicht richtig schlucken. Sie schreit und spuckt dauernd. Weißt du nicht mehr, was die Ärzte gesagt haben? Sie haben gesagt, dass es sein kann, dass das Gehirn bei dem Blutaustausch nicht mit genügend Sauerstoff versorgt worden ist.“

Karl starrte Maggie an, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, sah sie Angst in seinen Augen. Er sagte nichts.

„Es könnte doch sein …“

„Willst du mich erpressen?“

„Wir können diese Möglichkeit nicht ausschließen!“

„Sie ist nicht behindert“, antwortete er.

„Woher willst du das wissen?“ Maggie schrie jetzt.

„Wir können es ja gar nicht wissen.“

Karl sprang auf und hielt ihr den Mund zu. Maggie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien.

„Du tust mir weh.“

„Dann halt den Mund.“

„Dann bleib zuhause und kümmere dich um deine Familie. Sie ist schließlich auch dein Kind!“

Abrupt ließ er sie los, drehte sich um und knallte die Tür.

In dieser Nacht schlief er wieder zuhause und in den folgenden auch.

Aber Andrea blieb ein Fremdkörper.

Der nächste Tag war ein Donnerstag. Alles lief wie immer.

Abends kam Karl frisch rasiert und gut gelaunt ins Wohnzimmer. Maggie bügelte.

„Also. Ich bin dann mal weg.“

„Wo esst ihr eigentlich immer?“

„In dem Clubraum vom Schwimmverein. Kennst du sowieso nicht. Mach’s gut, Kleines. Schlaf schön. Wird sicher spät.“

Die Tür klappte.

Sie bügelte weiter. Nach einer halben Stunde war sie fertig und ging nach oben, um die Wäsche in den Schränken zu verteilen. Im Schlafzimmer bezog sie die Betten frisch. Dabei fiel ihr Blick auf die Krawatten, die Karl vor dem Spiegel probiert und auf der Sessellehne liegen gelassen hatte. Normalerweise hängte sie sie zurück in den Schrank.

Das Telefon klingelte.

Es war ihre Freundin Karin.

Sie plauderte über ihre Pläne am Wochenende und ihren Kunstlehrer an der Volkshochschule, der ‚so sensibel war und immer ihre Hand führte’. Während Maggie nur mit halbem Ohr zuhörte, glitt ihre rechte Hand wie von selbst in die Schublade der Kommode, auf der das Telefon stand.

„… das Gefühl, er hat ein Auge auf mich geworfen …“

Sie zog das Telefonbuch heraus und blätterte unter D. Nichts.

Unter P. Wieder nichts.

„… so herrlich verspielt …“

Sie suchte unter R – Restaurants. Aber das, was sie suchte, war nicht dabei. Sie wollte es gerade zuklappen.

„… und dann müssen wir die Linien immer verlaufen lassen …“

Vielleicht G, wie Gaststätten. Mit dem Finger fuhr sie die Buchstabenreihe hinunter, nichts unter D, aber unter P wurde sie fündig: Pasquale, Da.

„… hat er gesagt, ich könne es vielleicht bei ihm ausstellen. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja, natürlich“, erwiderte Maggie. „Das ist doch toll. Ich habe nur leider so viel zu bügeln heute Abend, und das Eisen steht im Wohnzimmer und ist heiß.“

Sie notierte die Nummer auf einem kleinen Zettel.

„Oh entschuldige“, sagte Karin. „Ich wollte dich nicht aufhalten. Kann das denn nicht deine Putzfrau übernehmen?“

„Das will Karl nicht. Er sagt, sie bügelt nicht sorgfältig genug. Lass uns morgen wieder sprechen. Ich melde mich.“ Maggie legte auf und starrte auf die Tasten des Telefons. Dann wählte sie.

„Pronto!“, rief eine Stimme.

„Guten Abend. Ich habe eine Frage“, flüsterte sie.

„Sie müssen lauter sprechen, Senora“, brüllte die Stimme.

„Hier ist es sehr laut.“

„Ich habe eine Frage“, hallte es durchs Schlafzimmer.

„Ja, bitte?“

„Hat ein Herr Nienstetten heute bei Ihnen reserviert?“

„Wer?“

„Herr Nienstetten.“

„Nienstetten …“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung dröhnte jetzt noch lauter.

„Ich sehe nach.“

Maggie versank beinahe in ihrem Ehebett. Warum musste der Mann so brüllen?

„Hallo? Tut mir leid, aber wir haben keine Reservierung unter diesem Namen.“

„Danke.“ Maggie legte schnell auf.

Wenigstens hatte er den Namen nicht noch einmal gebrüllt.

War nicht alles wie immer? Karl war beim Schwimmen, unten lief der Krimi, die Betten waren frisch bezogen. Gut, die Krawatten lagen noch über der Sessellehne, aber das konnte man ja ändern. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Punkt neun.

Maggies Herz raste, als sie das Garagentor öffnete, obwohl sie vor fünf Minuten zwei Baldrianpillen geschluckt hatte. Die Wirkung ließ auf sich warten. Im Auto stellte sie die Heizung auf die höchste Stufe, ihr war eiskalt. Erst einmal losfahren, weg hier, wo man sie beobachten konnte. Nach ein paar hundert Metern parkte sie in einer kleinen Seitenstraße rechts am Rand und kramte den Stadtplan aus ihrem Handschuhfach hervor. Ringstraße. Sie schlug im Register nach und suchte C4. Die Straße war sehr klein und nicht leicht zu finden. Sie lag am anderen Ende der Stadt. Maggie zündete den Motor. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und würgte ab, falscher Gang.

Die Strecke schien endlos zu sein, erst eine halbe Stunde später erreichte sie den richtigen Stadtteil. Jetzt ging es rechts ab in eine kleine Nebenstraße. Maggie duckte sich ein wenig hinter dem Lenkrad. Langsam fuhr sie die Straße entlang. Ihr Mund war trocken, sie hatte Angst, husten zu müssen. Die Beleuchtung war schwach , ein Restaurantschild nirgends zu sehen. Sie wollte am Ende der Straße drehen, doch ihre schweißnassen Finger hatten Schwierigkeiten, das Lenkrad zu greifen. Umständlich nahm sie die Kurve und steuerte noch langsamer zurück. Ein entgegenkommender Wagen blitzte sie per Lichthupe an. Was hatte sie falsch gemacht?

„Einbahnstraße!“, rief ein Radfahrer.

Auch das noch! Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Weiter hinten hatte sie auf der rechten Seite, etwas zurückgesetzt, einen Parkplatz entdeckt. Dahinter schimmerte Licht. Sie fuhr äußerst rechts mit Tempo zwanzig und bog in die Einfahrt. Ein Wagen kam ihr entgegen. Ein grüner BMW. Sie hielt an.

Für den Bruchteil einer Sekunde standen sie in der Einfahrt, Auge in Auge.

Dann gab Karl Gas. Die Frau neben ihm redete fröhlich weiter.

Sie war blond.

Maggie fuhr durch die Nacht. Sie hatte die Orientierung verloren und befand sich auf einer großen Straße stadtauswärts. Rechts und links säumten Hochhäuser den Weg. Sie bog auf einen leeren Parkplatz vor einem Supermarkt ein, stoppte den Motor und starrte auf die Plakate an dem Schaufenster. Das Waschmittel war heruntergesetzt, zwei Mark und vierzehn Pfennig günstiger als in ihrem Supermarkt. Auch die Fleischwurst war hier billiger, neunzehn Pfennig pro hundert Gramm.

Irgendwann stieg sie aus und ging zur Straßenecke. „Kornstiegstraße“ stand auf dem Schild. Sie setzte sich wieder ins Auto, ließ die Seitenscheibe runter, machte das Licht an und studierte den Plan. Nachdem sie sich den Rückweg eingeprägt hatte, lehnte sie den Kopf an die Nackenstütze und atmete tief ein. Die Luft roch nach verbranntem Laub. Maggie mochte diesen Geruch, er erinnerte sie an ihren Vater. Besonders an ihre letzte Begegnung, die sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief:

Sie spielte auf der Straße mit einem Ball, den sie aus alten Zeitungen zusammengeschnürt hatte. Sie warf das Bündel gegen eine Hauswand und fing es wieder auf. Einmal sprang der Ball hinter sie. Sie drehte sich um, und ein großer, hagerer Mann hielt ihn ihr hin.

„Hier, fang!“, rief er und warf ihr den Ball zu. Erst da erkannte sie seine Stimme. Er sah anders aus mit seinem dunklen Vollbart. Sein Gesicht war schmal geworden und die Augen viel größer. Mit einem Freudenschrei warf sie sich in seine Arme.

„Auf den Arm kann ich dich nicht mehr nehmen, du bist ganz schön gewachsen.“ Er streichelte ihr über das Haar.

„Wo ist deine Mutter?“

„Beim Arbeitsdienst.“

Sie erklärte ihm, wo das war, und er machte sich auf den Weg. Maggie wartete mit ihrem Bruder den ganzen Nachmittag vor der Haustür. Endlich sahen sie ihre Eltern Arm in Arm die Straße entlangkommen. Der Vater lachte. Die Mutter blieb ausdruckslos. Am frühen Abend ging er mit der ganzen Familie hinter das Haus. Dort machten sie ein Feuer, ein schönes, großes, warmes Feuer aus Ästen und Herbstlaub. Der Vater hielt jedem eine Kartoffel am Stock hin. Er hatte einen ganzen Sack organisiert, was in diesen Zeiten den Himmel auf Erden bedeutete. Maggie lehnte sich an ihn, während sie in die Flammen träumte. Sie bemerkte nicht, wie sich ihr Stock entzündete. Plötzlich machte es ‚knacks’, und ihre Kartoffel landete im Feuer. Sie heulte auf und stürzte sich in die Flammen, um ihre Knolle zu retten, und dabei fing einer ihrer Zöpfe Feuer. Als Nächstes spürte sie eiskaltes Wasser auf ihrem Kopf. Dann blickte sie in die Augen ihrer Mutter, die sie tadelnd ansahen.

„Mein Mädchen.“ Die sanfte Stimme ihres Vaters holte sie zurück ins Leben.

„Keine Kartoffel der Welt ist es wert, dafür seine Zöpfe zu lassen.“

Vier Tage später fuhr der Vater zurück an die Front. Am selben Abend schnitt die Mutter ihr die Zöpfe ab. Eine Maßnahme, die Maggies Leben verändern sollte und die sie ihrer Mutter nie verziehen hatte.

Es war nicht einfach, sich in dem Wirrwarr der Stadt zurechtzufinden. Maggie brauchte fünfundvierzig Minuten für den Heimweg. Als sie zuhause ankam, war Karl noch nicht zurück.

Nur ein kleiner Verdacht

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