Читать книгу Nur ein kleiner Verdacht - Sabine Howe - Страница 6

Karl 1

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Karl öffnete lautlos die Schlafzimmertür. An Maggies unregelmäßiger Atmung hörte er, dass sie nicht schlief.

Ein schmaler Lichtstrahl fiel aus dem Flur auf den Sessel neben dem Kleiderschrank. Seine Krawatten hingen über der Lehne. Maggie hatte sie nicht in den Schrank gehängt. Er zog die Tür zurück ins Schloss und ging ins Badezimmer, wo er sich die Socken von den Füßen streifte und sie in den Wäschekorb warf. Jackett, Krawatte, Hemd und Hose hängte er ausnahmsweise über den Handtuchhalter. Sein stummer Diener stand im Schlafzimmer. Die Unterwäsche landete ebenfalls im Wäschekorb. Bevor er seinen Pyjama überzog, stellte er sich auf die Waage. 82 Kilo bei 1,85 Meter Körpergröße, kein Gramm zu viel. Er betrachtete sich im Spiegel. Das Rückentraining, das er wegen seines Bandscheibenvorfalls aufgenommen hatte, hatte ihm ein paar zusätzliche Bauchmuskeln beschert, seine Arme waren ohnehin gut bestückt. Auch sein Po war für einen Anfang Sechzigjährigen einwandfrei in Form, das viele Radfahren. Er stellte sich vor die Toilette, klappte die Brille nach oben und ließ seinen kräftigen Strahl in das Wasserbecken rauschen. Danach ging er leicht in die Knie, in der Hoffnung auf einen erlösenden Furz, aber sein Darm ließ ihn im Stich.

Bevor er ins Schlafzimmer schlich, schaute er auf seine Armbanduhr: zwei Uhr morgens. Er bemühte sich, möglichst geräuschlos unter die Decke zu schlüpfen. Das Bett war frisch bezogen. Wie jeden Donnerstag. Das mochte er an Maggie. Auf sie war Verlass. Wann immer er den Kleiderschrank öffnete, stets lagen frische Unterwäsche, Socken und Hemden griffbereit. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er das jemals beanstanden musste.

Er rollte sich auf die rechte Seite, von seiner Frau abgewandt, in seine Schlafstellung. Er konnte nicht einschlafen, wenn er jemandem zugewandt lag. Heute fand er allerdings auch auf der rechten Seite keine Ruhe.

Der Abend war wie immer ausgeklungen. Nach dem Essen bei ‚Da Pasquale’ waren sie noch in ihre Wohnung gefahren. Eine schöne Flasche Wein, ein nettes Schäferstündchen und zum Abschied einen doppelten Cognac und einen Espresso. Nein, Maggies Agententätigkeit hatte nichts an seiner Liebesfähigkeit geändert. Aber wie war sie ihm nur auf die Schliche gekommen? Woher hatte sie Namen und Adresse des Restaurants? Hatte er einen Fehler gemacht? Was hatte sie überhaupt dazu gebracht, ihm nachzuspionieren? Seiner Meinung nach hatte sie kein Recht, in seine Intimsphäre einzudringen.

Schließlich war er seiner Verantwortung als Familienoberhaupt immer nachgekommen. Hatte Maggie nicht ein schönes Zuhause? Kümmerte er sich nicht um die Finanzen? Was wollte sie mehr? Sollte er so ein Alters-Stoffel werden, der bei Regen einen karierten Hut aufsetzte? Dem seine Frau die Schuppen von den Schultern klopfte und der zum Rauchen vor die Tür ging? Er lag inzwischen auf dem Rücken, und seine Gedanken kreisten und kreisten. Mit jeder neuen Runde wurde er innerlich zorniger.

Stunden später, hinter den Vorhängen schimmerte bereits die Sonne, stand Maggie auf. Erleichtert drehte er sich auf die rechte Seite und versank in einen verschwitzen Morgenschlaf, aus dem er erst zwei Stunden später erwachte. Schon elf Uhr! Karl sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, atmete zehnmal tief durch und begann mit seinem Frühprogramm: fünfzig Kniebeugen und zwanzig Liegestütze, nein dreiundzwanzig. Die letzten drei waren die reinste Qual, aber es nützte nur etwas, wenn es schmerzte. Anschließend ging er unter die Dusche: Heiß, kalt, wieder heiß und zum Schluss noch einmal eiskalt.

Er rasierte sich elektrisch, cremte sein Gesicht mit einer Feuchtigkeitscreme und legte sein Rasierwasser auf. Er benutzte seit zwanzig Jahren dasselbe, ein leichter, würziger Duft, männlich und nicht aufdringlich. Im Schlafzimmer zog er eine beigefarbene Cordhose, ein braunes Hemd und einen leichten braunen Kaschmirpullover über.

Es war kühl geworden, der Winter kündigte sich an. Leichtfüßig sprang er die Treppe hinunter, offenbar etwas zu leichtfüßig, denn auf der vorletzten Stufe rutschte er aus und knallte mit voller Wucht auf seinen Steiß. Zwischen dem Bewusstwerden über das, was passiert war und dem einsetzenden Schmerz lagen zwei Sekunden, in denen ihm komplett die Luft wegblieb. Danach raste ihm ein Stich vom Rücken ins Gehirn. Ausgerechnet auf die Bandscheibe!

„Hilft mir vielleicht mal jemand?“, rief er in die Diele.

Nichts.

„Maggie!“

Keine Antwort.

Er wurde wütend.

„Maggie?!“

Mit äußerster Anstrengung zog Karl sich am Treppengeländer hoch. Gebeugt schlich er ins Wohnzimmer.

Der Frühstückstisch war gedeckt. Auf dem Stövchen stand die Glaskanne mit Tee, der schon ziemlich dunkel geworden war. Die Zeitung lag auf seinem Platz und obendrauf ein Zettel. Er bemühte sich, das leichte Beben seiner Hand zu ignorieren, als er das Papier nahm, um die Nachricht zu lesen. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Mit der rechten Hand setzte er seine Brille auf. In der linken hielt er Maggies Zettel:

„Bin auf dem Markt. Komme zum Mittag zurück. Maggie“

Alles eigentlich normal, obwohl – das obligatorische Herzchen fehlte unter Maggies verschnörkelter Mädchenschrift. Er nahm Platz. Langsam ließen die Schmerzen nach, und die Spannung kehrte in seinen Körper zurück. Der Tee schmeckte bitter, und in der Zeitung stand nichts Neues. Es wurde kein langes Frühstück, und als er fertig war, konnte er sich nicht entscheiden, ob er abräumen oder alles stehen lassen sollte. Dies war eine Ausnahmesituation. In den letzten dreißig Jahren hatte Maggie bei keinem Frühstück gefehlt. Er entschied sich schließlich, die Lebensmittel wegzuräumen, aber was kam wo hinein? Er öffnete die verschiedene Tupperware, um sich zu orientieren. Maggie hatte ihre eigene Ordnung, Frauen waren in diesem Punkt empfindlich. Seine Mutter konnte es auch nicht leiden, wenn jemand ihr etwas durcheinanderbrachte. Sie war, wie Maggie, eine perfekte Hausfrau gewesen. Selbst in den schlechtesten Zeiten hatte sie zum Essen ein Tischtuch unter und Stoffservietten in Silberringen neben die Teller gelegt. „Nur, weil wir nichts zu essen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir unsere Manieren ablegen.“ Seine Mutter hatte Stil gehabt. Zumindest in Haushaltsdingen.

Karl ließ sich Zeit beim Abräumen. Wahrscheinlich würde Maggie gleich zurückkommen und den Rest übernehmen.

Aber sie kam nicht. Unschlüssig trug er die Teetassen in die Küche, dann reichte es ihm. Wie würde sie auf gestern Abend reagieren? Würde sie ihn anschreien, ihm Vorwürfe machen? Ihn der Untreue bezichtigen? Das wäre lächerlich. Sie hatte doch selber kein Interesse mehr an Sex. Als sie noch jung war, hatte er sie begehrt. Ihre Scheu hatte ihn verrückt gemacht, er wollte sie besitzen. Sie hatte ihm willig nachgegeben, aber er hatte nie das Gefühl, dass Sex ihr wirklich etwas bedeutete. Nach den ersten aufregenden Jahren war die Luft bei beiden raus. Sie pendelten sich auf ein Minimum ein. Er machte andere, neue Erfahrungen und interpretierte ihre spröde Art nicht länger als Verheißung, sondern schlicht als Verklemmtheit. Vielleicht war sie sogar frigide. Wie sagte sein Freund Theo immer: „Auch verschlossene Schränke können leer sein.“

Aber er war ein Mann, er brauchte Sex. Erst kürzlich hatte er im Wissenschaftsteil der Tageszeitung einen Artikel über die Unterschiede von Männern und Frauen in puncto Fortpflanzung gelesen. Danach hatten Männer den Urinstinkt, ihr Erbgut so breit wie möglich zu streuen. Frauen hingegen wollten sich binden, um den Nachwuchs gut versorgt zu wissen. Wie war noch die Überschrift gewesen? „Männer sind Jäger – Frauen Sammler.“

Außerdem hatten Frauen ohnehin nur in den ersten Monaten des Kennenlernens Interesse an Sex. Es sei denn, man hielt sie auf Distanz.

Das Telefon schrillte ihn aus seinen Überlegungen.

„Hallo Papa, hier ist Andrea.“

„Andrea.“

„Ihr solltet mich doch zurückrufen.“

„Sollten wir? Davon wusste ich nichts.“

„Ich habe schon vor drei Tagen angerufen und Mama gesagt, sie soll mich zurückrufen.“

„Also mir hat sie nichts davon gesagt. Was ist denn so wichtig?“

Im Hintergrund hörte Karl das Garagentor aufgehen.

„Es ist ein Junge.“

„Was?“

„Euer Enkel. Es ist ein Junge. Ich dachte, das interessiert euch.“

Mein Gott, er wurde ja Opa! Das hatte er ganz vergessen. Maggie kam mit ihrem geflochtenen Einkaufskorb in die Diele. Karl hielt den Hörer hoch und rief:

„Es wird ein Junge, Maggie. Unser Enkel wird ein Junge.“

Maggie verzog keine Miene.

„Nun, deine Mutter nimmt diese Nachricht mit der ihr eigenen Gelassenheit auf“, sagte Karl in den Hörer. „Aber ich bin sicher, sie freut sich genauso wie ich. Nicht wahr, Maggie?“

Karl verlieh seiner Stimme ein wenig Nachdruck.

„Natürlich“, sagte Maggie und ging mit den Einkäufen in die Küche.

„Wie geht es denn der werdenden Mutter?“, fragte Karl.

„Alles bestens“, antwortete seine Tochter. „Ich frage mich nur, wann ich platze.“

Karl lachte laut.

„Und? Wann lernen wir den Vater kennen?“

„Hör auf, Papa.“

„Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“

„Aber nicht hundert Mal dasselbe.“

„Also komm, hundert Mal. Du musst zugeben, dass es für einen Vater seltsam ist, wenn seine Tochter keinen Mann zu ihrem Kind hat.“

„Papa, vergiss es.“

„Zahlt er wenigstens Unterhalt?“

Schweigen.

„Aha, ins Schwarze getroffen! Lässt dich also einfach sitzen, der Kerl, oder was? So ein Versager. So was hätte ich nie getan.“

Schweigen.

„Wer ein Kind in die Welt setzt, muss auch die Verantwortung dafür übernehmen …“

„Er hat mich nicht verlassen.“

„Dann hast du ihn also rausgeworfen. Was war los mit ihm? Hat er Drogen genommen? Arbeitslos? Als ich mit deiner Mutter von drüben gekommen bin, hatten wir nichts. Kein Geld, kein Dach über dem Kopf, keine Eltern, die uns unterstützt haben, und ich hatte trotzdem keine Angst und habe mich nicht vor der Verantwortung gedrückt. Weil ich nämlich zwei Hände hatte, mit denen ich arbeiten konnte.“

„Ja. Du hast immer alles richtig gemacht. Das wissen wir doch.“

Hörte er da Spott?

„Stimmt doch.“

„Träum weiter, Papa. Bis bald.“

„Bis bald.“

Ganz schön frech, die Kleine. Aber so waren die Kinder. Sie mussten sich gegen alles sträuben, was aus dem Elternhaus kam, außer – Karl seufzte bei dieser Einsicht – außer es handelte sich um Geld.

„Na, dann bekommst du ja doch noch deinen Jungen“, sagte Maggie spitz, als er die Küche betrat. Karl registrierte nebenbei, dass sie dabei war, Möhren zu schälen. Es würde also Eintopf geben. Wie jeden Samstag.

„Wieso ich? Du wolltest doch unbedingt einen Jungen haben“, gab er zurück.

„Ich? Wer hat denn den Hörer aufgelegt, als das Krankenhaus anrief und sagte, es sei ein Mädchen?“

„Den Hörer aufgelegt? Wir hatten damals doch noch gar kein Telefon!“

„Ach. Und wie hast du dann überhaupt erfahren, dass Andreas eine Andrea war?“

„Ich habe in der Klinik gewartet.“

„Karl.“ Maggies Stimme hatte jetzt dieses unterdrückte Pressen, das ihr den nötigen Ernst verleihen sollte. „Du hast bei keiner der Geburten in der Klinik gewartet. Du hast dich schlafen gelegt.“

„Natürlich war ich in der Klinik. Ich weiß sogar noch den Namen der Schwester. Lucinde hieß sie.“

„Schwester Lucinde, ja, das war die Schwester in der Kinderklinik, in der Andrea dann lag.“

„In der du sie über zwei Monate lang nie besucht hast.“

„Weil ich krank war, ein Kleinkind hatte und du immer das Auto zur Arbeit mitgenommen hast.“

„Du hattest ja überhaupt keinen Führerschein. Wenn ich dir nicht das Fahren beigebracht hätte, würdest du heute noch zu Fuß gehen.“

Maggie schwieg.

„Was gibt es zu essen?“, fragte er.

„Möhreneintopf.“

„Ruf mich, wenn wir essen können. Ich bin solange in meinem Büro.“

Nachdem Karl die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, versuchte er, Witterung aufzunehmen. Was hatte Maggie auf die Spur gebracht? Auf den ersten Blick war nichts verändert. Er nahm den Hörer vom Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste. 0. Das hatte er also nicht vergessen. Vorsichtig hob er die Schreibtischunterlage an. Alle Rechnungen lagen genau dort, wo er sie hinterlassen hatte. Karl hatte ein fotografisches Gedächtnis. Die Restaurantrechnungen waren nach Datum sortiert. Allerdings: Maggie war ebenfalls sehr genau. So leicht würde ihr kein Fehler unterlaufen. Er öffnete die Schubladen, alles unverändert. Er zog einen Stapel Unterlagen heraus und blätterte sie durch. Sie lagen in der Reihenfolge, an die er sich erinnerte. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Das Foto hinter dem New York Bild! Er hatte es hinten im Rahmen versteckt. Es zeigte ihn und Jutta auf einer kleinen Yacht auf dem Comer See. Hier verbrachten sie jedes Frühjahr zwei „Kuschelwochen“, wie Jutta es nannte. „Ti amo“, unterschrieben mit „Kleines“, stand in großen, selbstbewussten schwarzen Buchstaben hinten drauf. Es musste am Anfang ihrer Beziehung, also Ende der Siebzigerjahre, aufgenommen worden sein. Karl hatte Jutta auf einer Geschäftsreise kennengelernt, genauer gesagt im Flugzeug. Er kam von einem Kongress in Vancouver, auf dem er eine Rede über die damals neueste Generation von Anti-Depressiva halten musste. Der reinste Horror. Erst der lange Hinflug mit drei Stunden Verspätung, dann konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Das Hotel lag direkt neben einer Großbäckerei, in der ab vier Uhr die Öfen auf Hochtouren brummten und ab fünf die Laster zum Ausliefern an- beziehungsweise abfuhren. Dazu der Jetlag. Er suchte Hilfe in der Minibar, aber auch das brachte nicht die gewünschte Nachtruhe. Die Rede am nächsten Vormittag hatte er schließlich mit zwei Wodkas über die Bühne gekriegt. Glücklicherweise gehörte ein harter Drink am Morgen damals noch zur Tagesordnung. Danach blieben sie noch zwei Tage in der Stadt, aber auch der Rest der Reise verlief mehr als unerfreulich: Auf den Straßen lagen Berge von Schnee, überall herrschte Chaos. An Vergnügen war unter diesen Umständen nicht zu denken, zumal Karls junger Begleiter, ein Forschungsassistent aus der Serologie namens Jens Schöneich, sich als Kulturbesessener entpuppte, der in seiner Freizeit ein Museum nach dem anderen abklapperte. Wenn Karl mit seinem Teamkollegen Rolf unterwegs war, ließen sie es richtig krachen. Rolf war ebenfalls verheiratet und hatte ähnliche Vorstellungen von einem gelungenen Geschäftstrip wie Karl. Aber dieses Mal war an so etwas nicht zu denken. Herr Schöneich war seit einem Jahr verheiratet und erwartete sein erstes Kind.

„Wer weiß, wie lange ich dann aussetzen muss“, sagte er augenzwinkernd zu Karl, als er am letzten Tag wieder zu einem seiner Museumsmarathons aufbrach. „Mein Junge“, sagte Karl. „Wenn Sie eine Ahnung davon hätten, wie lange Sie mit anderen Dingen aussetzen müssen, würden Sie sich nicht mit fleischloser Kunst beschäftigen.“

Herr Schöneich machte nicht den Eindruck, als hätte er verstanden, worauf Karl anspielte.

„Also dann, bis nachher.“

Ein halbes Jahr später, bei einem Abteilungsempfang, kam Herr Schöneich leicht betrunken auf Karl zu und legte ihm die Hand auf den Arm. „Herr Nienstetten, hätten Sie nicht mal wieder eine Auslandsreise für mich?“

„Wohl länger nicht zum Zuge gekommen, was?“

„Kann man so sagen“, stöhnte Herr Schöneich.

„Tja, das hätte ich Ihnen gleich sagen können. Wenn erst das erste Kind auf der Welt ist, hat der Spaß ein Ende.“

Er verschaffte Herrn Schöneich einen Kongress in Thailand, aber für diesen Mann gab es keine Rettung. Er kehrte mit einer hübschen Thailänderin zurück, reichte die Scheidung ein und heiratete erneut. Er kapierte nicht, dass eine Ehe eine Sache und Spaß eine andere Sache waren.

Nachdem er sich auf seinen kleinen erfolglosen Streifzügen durch Vancouver auch sein zweites Paar Schuhe gänzlich ruiniert hatte, verbrachte er die letzten zwölf Stunden bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer. Er zappte durch die Fernsehprogramme, schaute sich ein, zwei Bezahlfilme an, aber seine Stimmung blieb auf dem Niveau des Wetters. Und der süßliche Duft, der aus der Bäckerei über die surrende Klimaanlage in sein Zimmer drang, machte die Sache nur noch unerträglicher.

Wie erlöst sank er in die weichen Polster der Businessklasse der Lufthansa. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Aber der Geruch von Gebäck verfolgte ihn immer noch.

„Darf es etwas zu Knabbern sein“, fragte eine freundliche Stimme. Karl schlug die Augen auf und schaute direkt in ein Körbchen mit kleinen Brötchen.

„Ganz frisch gebacken“, warb die Stimme.

„Nein, danke“, sagte Karl und unterdrückte ein Würgen. „Haben Sie auch etwas Schärferes?“

„Zum Essen oder zum Trinken?“

Karl schaute auf und blickte in die strahlendsten blauen Augen, die er je gesehen hatte.

„Wenn Sie mich so fragen“, sagte er, „am liebsten zum Anfassen.“

Die Stewardess lachte. „Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt ihm ein warmes Frotteetuch hin. „Ist zwar nicht scharf, aber fasst sich gut an.“

Karl nahm das Tuch und wischte sich Hände und Gesicht ab. „Sie bringen mich ganz schön ins Schwitzen.“

„Kleine Abkühlung gefällig?“

„Einen Wodka, bitte.“

„Kommt sofort.“

Sie war deutlich jünger als er, vielleicht Ende zwanzig. Ihr blondes Haar war am Hinterkopf mit einer breiten Spange zusammengefasst. Karl fragte sich, wie es wohl offen aussah. An der Art, wie sie ihren prächtigen Hintern in Richtung Kabine bewegte, vermutete er ein leichtes Spiel. Sie war kokett. An ihrem Finger war kein Ring. Wahrscheinlich war sie nicht einmal gebunden. Zu viel unterwegs.

„Wo leben Sie?“, wollte er wissen, als sie ihm den Wodka auf Eis eingoss.

„In der Luft, zumindest die meiste Zeit.“

„Harter Job?“

„Mir macht es Spaß. Man sieht viel von der Welt.“

„Wenig Freunde.“

„Es geht.“

„Keinen Mann.“

„Im Moment nicht.“

„Und wie lange wollen Sie sich diesen Stress noch zumuten?“

„Bis mich jemand zur Landung zwingt.“

Der Rest war leichtes Spiel für Roger Rabbit. Er erkundigte sich bei der Lufthansa nach ihren Flügen und holte sie, wann immer sie in der Stadt war, vom Flughafen ab. Er mochte sie. Sie war unkompliziert, leicht zu begeistern und lachte gern. Eine Eigenschaft, die er bei Maggie stets vermisst hatte. Und: Sie hatte Spaß am Sex. Er begehrte sie, und sie genoss es. Sie liebte ihren Beruf und war viel unterwegs. Am Anfang war er ihr ab und zu nachgeflogen, und sie hatten ein paar Tage im Ausland verbracht. Doch auf Dauer sehnten sich beide nach ruhigeren Stunden. Er kaufte ihr eine Wohnung, sie wechselte auf kürzere Tages- beziehungsweise Wochenendschichten. Die ganze Geschichte spielte sich ein. Zweimal im Jahr fuhren sie für 14 Tage in den Urlaub. Das hatte sie gefordert.

„Ich will nicht jeden Morgen alleine aufwachen.“

Er musste das akzeptieren. Er hatte all die Jahre Dienstreisen unternommen, da fiel die eine oder andere zusätzliche nicht auf. Jutta wusste von Anfang an, dass er eine Frau für gewisse Stunden suchte und keine neue Ehefrau. Das hatte er gleich klargestellt, und sie verstand es. Alles war unkompliziert und wunderbar aufeinander abgestimmt.

Bis heute. Besser gesagt bis gestern Abend.

Karl steckte die Fotografie in den Rahmen hinter das Bild zurück und hängte es auf. Nein, wenn Maggie das Foto gefunden hätte, hätte sie es sicher an sich genommen, als Beweisstück. Er hatte nicht die geringste Idee, wie sie ihm auf die Schliche gekommen war, aber der Gedanke, dass sie in seinem Büro geschnüffelt hatte, machte ihn wütend.

Von nun an würde er abschließen.

Sein Magen knurrte.

„Gibt es heute nichts zu essen?“

„Doch, natürlich. In fünf Minuten.“

„Seit wann dauert es denn so lange, Möhrensuppe zu kochen?“

„Es dauert nicht länger als sonst, ich habe nur später angefangen.“

„Ich sterbe vor Hunger.“

„Ich tue, was ich kann“, sagte Maggie. Er war noch nicht ganz draußen, als er sie murmeln hörte: „Wenn es dir nicht gefällt …“

Karl drehte sich um. “Wie bitte?“

„Nichts …“

„Sag es ruhig!“

„Ich sagte doch, nichts“, murmelte Maggie.

„Was, wenn es mir nicht gefällt?“

„Schon gut.“ Maggie schaltete den Herd aus und füllte die Suppe in die weiße Suppenschüssel.

„Ich habe doch gar nichts gesagt.“

„Natürlich nicht. Du sagst ja nie etwas. Du deutest immer nur an. Das kennen wir ja schon.“

Schweigend löffelten sie ihre Suppe. Er schaute zu ihr hinüber. Sie starrte auf ihren Teller. Ihre Augen sahen müde aus. Nach einer Weile legte sich seine Nervosität.

„Wollen wir morgen um die Talsperre wandern?“

„Nein, lieber nicht. Ich habe Kopfschmerzen, und der Wind zieht so an den Schläfen.“

Man hörte nichts, außer dem leisen Surren der Waschmaschine im Keller.

„Ein kleiner Stadtbummel?“

„Nein, lass. Ich möchte am liebsten gar nichts unternehmen. Ich habe keine Lust. Geh’ doch alleine los.“

Karl faltete seine Serviette und legte sie neben seinen Teller.

„Ich gehe dann mal.“

„Bis dann.“

Sie fragte nicht, wohin er ging.

Karl nahm alle Kraft zusammen und trat zum neunzehnten Mal die Beinpresse – einmal noch, dann hätte er einen neuen Rekord aufgestellt. Er keuchte, als er die fünfzig Kilo Gewicht langsam zurücksinken ließ. Geschafft! Seine Beine zitterten leicht. Das waren zehn Kilo mehr gewesen als sonst.

„Na, Karl, heute gut in Form, was?“, fragte der Trainer.

„Bestens, mein Lieber“, antwortete er. „Bestens. Wollen Sie mal fühlen?“ Er spannte seinen Oberschenkel an und ließ Gerd darauf boxen.

„Nicht schlecht.“

„Nicht schlecht? Hören Sie mal, Sie junger Spund, ich bin fitter als die meisten hier im Studio.“

„Ich frage mich, warum Sie sich so quälen. Die meisten in Menschen Ihrem Alter kommen hierher, um sich fit zu halten, aber bei Ihnen könnte man meinen, Sie möchten bei der nächsten Olympiade antreten.“

„Vielleicht will ich das ja!“

Gerd lachte. „Dann sind sie aber vierzig Jahre zu spät dran.“

„Gerd, sagen Sie nie, dass es zu spät ist.“

Gerd klopfte ihm grinsend auf die Schulter, aber Karl war verstimmt. Natürlich wollte er nicht an der Olympiade teilnehmen. So ein Blödsinn. Er war eben ehrgeizig.

Er packte sein Handtuch und ging zu den Duschen.

„Tschüss.“

„Keinen Vitamindrink heute?“

„Nein, mir drückt der Magen etwas.“

„War vielleicht doch ein bisschen viel heute!“

Den Magenbitter, den Karl sich zuhause einschenkte, stürzte er in einem Zug hinunter. Maggie rumorte in der Waschküche. Als er ins Haus gekommen war, war sie mit einem Wäschekorb an ihm vorbeigehuscht, mit einem kurzen, blicklosen Gruß.

Das Abendbrot verlief zunächst ebenso schweigsam wie das Mittagessen. Wenigstens hatte Maggie diesmal pünktlich serviert. Nach dem zehnten Bissen versuchte er wieder, die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Ist doch eine komische Vorstellung, dass wir bald Großeltern werden, findest du nicht?“

„Ich weiß nicht.“

„Also, ich will auf keinen Fall ‚Opa’ oder ‚Großvater’ genannt werden. Er kann uns ja beim Vornamen nennen. Das machen ja sogar manche Kinder heutzutage.“

„Hm.“

„Aber diese Geschichte mit dem Vater ist wirklich eine Zumutung. Wir hätten ihn längst einmal kennenlernen müssen. Da stimmt was nicht. Vielleicht weiß sie selbst nicht, wer es ist.“

„Oder es ist ihr peinlich.“

„Hoffentlich ist es nicht wieder so ein Hänfling wie dieser eine damals, wie hieß er noch? Den sie von ihrem Spanienurlaub mitgebracht hat.“

„Enrique.“

„Stimmt. Weißt du noch, wie der in den Knien eingeknickt ist, als er mir die Tanne durch den Garten tragen sollte? Einfach zusammengesackt. Mitten auf deinem frisch angelegten Tulpenbeet. So ein Trottel.“

Maggie lächelte.

„Und dieser Johann, oder wie hieß er noch?“

„Joseph“, sagte Maggie.

„Noch schlimmer. Erzählt uns was von Möbelbauer, und was stellt sich raus? Führt das Sarggeschäft seines Onkels.“

„Immerhin hat er uns einen guten Preis für die Bestattung von Tante Emma gemacht“, wandte Maggie ein.

„Und dann war da noch dieser komische Vogel mit diesen grauenhaft gestreiften Hosen – was war der noch, Clown?“

„Zauberer.“

„Dann eben Zauberer, wo ist da der Unterschied? Mein Gott, war das eine peinliche Nummer, als er an meinem Fünfzigsten diese Tricks aufgeführt hat.“

„Hoffentlich ist es kein Türke“, bemerkte Maggie.

„Hat sie etwas in diese Richtung angedeutet?“

„Ach, wo denkst du hin. Mit mir redet sie doch sowieso nicht richtig. Es war nur eine Idee. Passen würde es jedenfalls.“

Sie verfielen wieder in Schweigen.

„Ich gehe heute früh ins Bett“, sagte Maggie und begann abzuräumen.

Karl schaute noch eine Weile Fernsehen. DDR, immer nur die DDR. Alles drehte sich um die Montagsdemonstrationen. Klar, dass die Menschen dort drüben raus wollten, endlich reisen, etwas von der Welt sehen. Aber was waren das für Leute? Diese Menschen hatten sich über vierzig Jahre die totale Kontrolle gefallen lassen. Sie hatten nie den Mund aufgemacht, stattdessen haben sie hingenommen, stundenlang vor Geschäften anzustehen, um einen Liter Milch zu ergattern. Konnte man die hier in der Bundesrepublik gebrauchen? Wofür denn?

„Am Ende“, hatte er erst neulich zu Maggie gesagt, „wollen sie die Wiedervereinigung und verlangen noch Rente und Arbeitslosengeld, obwohl sie keinen Pfennig in unsere Kassen eingezahlt haben!“

Hier im Westen brauchte man Macher, solche, die anzupacken wussten, die sich etwas trauten und Eigeninitiative zeigten. Als er damals aus dem Osten gekommen war, hatte er sogar das Begrüßungsgeld ausgeschlagen. Er wollte es aus eigener Kraft schaffen. In der DDR hätten ihn keine zehn Pferde gehalten.

Dort konnte man keinen Blumentopf gewinnen, das wurde ihm nach seinem ersten Ungarnbesuch mit dem VEB Pharmazie bewusst.

Zusammen mit einigen Kollegen sollten sie sich die dortigen Forschungslabore ansehen. Nach dem abendlichen Bankett war er mit einer etwas reiferen ungarischen Kollegin nach Hause gegangen. Sie hatte schon bei Tisch ihr Knie an seins gedrückt, und als er sie ansah, lachte sie ihn mit ihrem runden, rotwangigen Gesicht an.

„Bist hübsches Junge.“

„Danke – Sie sind auch eine sehr schöne Frau.“

Sie lachte noch lauter.

„Nix schöne Frau, bald vierzig. Aber so allein.“

Sie schlug die Augen nieder, als würde sie gleich weinen.

Jetzt lachte er.

„Brauchen Sie Hilfe?“

„Ja, brauche ich Hilfe. Brauche ich jungen Mann für Reparatur in Haus.“

„Bald?“

„Heute noch.“

Sie verabredeten sich vor der Tür, und eine halbe Stunde später zog der junge Karl mit einer rundlichen Ungarin namens Ewa durch die dunklen Straßen von Budapest. Schon an der nächsten Ecke drängte sie ihn in einen Hauseingang und versuchte, ihn zu küssen. Aber er wehrte sie ab. „Moment mal. So herum geht das nicht.“

Er nahm sie bei den Schultern, drückte sie nun seinerseits gegen die Wand und küsste sie so heftig, dass sie laut aufstöhnte.

Ihre Wohnung war kalt, die Tapeten blätterten von den Wänden, der Holzfußboden war dunkel. Sie hatte überall ein paar gemusterte Stofftücher aufgehängt, die wohl etwas Gemütlichkeit in die Räume bringen sollten, aber die Einsamkeit konnten sie nicht überspielen.

Am nächsten Morgen weckte sie ihn zu spät.

„Musst gehen“, sagte sie liebevoll und zerzauste ihm das Haar.

„Bist starker Junge. Wirst viel schaffen in Leben.“

Karl zog sich an, gab ihr einen Kuss, damit sie ihn nicht vergaß, und lief im leichten Dauerlauf zurück ins Hotel.

Als er verschwitzt in dem schäbigen Hotel ankam, stand sein Vorgesetzter bereits unten in der Lobby.

„Wo kommen Sie her?“

„Ich habe nur einen kleinen Dauerlauf gemacht.“ Karl schaute unschuldig in sein rotes Gesicht.

„Die ganze Nacht?“

„Nein.“

„Sie wissen, dass es untersagt ist, sich von der Gruppe abzusetzen?“

„Herr Presser“, Karl versuchte es auf die vertrauliche Art.

„Verstehen Sie doch. Da war diese schöne Ewa. Sie hat mich geradezu aufgefordert, mitzugehen. Hätten Sie da an meiner Stelle Nein gesagt?“

Das Gesicht von Professor Presser lief noch röter an.

„Selbstverständlich hätte ich Nein gesagt. Erstens ist es untersagt, sich unerlaubt vom Kader zu entfernen, und zweitens bin ich verheiratet. Das wird ein Nachspiel haben.“

Es hatte ein Nachspiel. Erst wurde Karl für alle Auslandsreisen gesperrt, dann im Betrieb aus der Forschung genommen und in den Vertrieb versetzt.

Daraufhin beschloss er zu türmen.

Das war 1958.

Karl hatte sich von Anfang an mit dem Sozialismus und seinen Beschränkungen schwergetan. Anfangs glaubte er noch an die gute Idee. Er konnte umsonst studieren, bekam für sage und schreibe zehn Mark im Monat ein Zimmer, aber nach und nach wurde ihm bewusst, dass er in einer Falle saß. Hier wurde jeder Schritt kontrolliert, an freie Forschung war nicht zu denken, geschweige denn an Bewegungsfreiheit. Er wollte etwas von der Welt sehen, etwas erleben.

Also lud er Maggie auf einen Ausflug aufs Land ein. Dort unterbreitete er ihr seinen Vorschlag. Sie würden getrennt abfahren. Maggie sollte einen Antrag auf Besuch bei ihrer kranken Mutter in Augsburg stellen. Wenn der genehmigt war, würde sie den Zug nach München nehmen und dort auf ihn warten. Er selbst würde mit dem Motorrad über die Grenze fahren. Man musste vorsichtig sein, die Mauer war zwar noch nicht gebaut, aber sobald ein Grenzsoldat Republikflucht vermutete, war man verloren.

Sechs Wochen dauerte es, bis Maggies Mutter das Attest schickte, in dem ein Arzt eine Herzschwäche diagnostizierte. Bis zur Genehmigung des Besuchsantrags dauerte es weitere drei Wochen. Dann brachte Karl Maggie zum Zug. Sie hatte Gepäck für drei Tage dabei, alles andere musste sie zurücklassen. Beim Abschied schwammen ihre Augen.

„Nicht weinen, Kleines. Sonst werden die misstrauisch.“ Karl sah sich besorgt um, ein paar Soldaten patrouillierten auf dem Bahnsteig.

„Es sind nur ein paar Tage, dann sind wir wieder beieinander.“

„Sei vorsichtig“, flüsterte Maggie ihm ins Ohr. „Ich brauche dich, das weißt du.“ Karl nahm ihren Kopf in beide Hände, sah ihr fest in die Augen und küsste sie auf den Mund. Dann löste er ein paar Haarsträhnen, die sie sich hinter das Ohr gesteckt hatte, und strich sie sanft ins Gesicht. „So sieht es weicher aus“, sagte er. Er drückte sie an sich und hielt sie einen Moment lang fest umschlossen.

„Na, sie wird doch nicht für immer weggehen“, tönte der Schaffner hinter ihnen. „Natürlich nicht“, murmelte Karl und schob Maggie in den Zug, denn er sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Denn reißen Sie sich ma’ los.“

Karl winkte. Maggie winkte.

Danach lief alles wie geplant, bis zu dem Tag seiner Abreise. Er wollte zusammen mit seinem Kollegen Peter Reisfeld abhauen. Dessen Frau wartete bereits mit den beiden Kindern in München. Peter hatte eine EMW – das Ganze sollte nach einem Tagesausflug aussehen. An der Grenze wurden sie von Soldaten angehalten. Ausweise, Motorrad-Papiere.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Och, nur eine kleine Tour nach Westberlin.“

„Einkaufen?“

„Nö, Kaffee trinken und Mädels gucken.“

„Machen Sie mal die Seitentasche auf.“

Peter Reisfeld zuckte leicht zusammen. Er bückte sich und öffnete den Riemen der Ledertasche, die seitlich an dem Sozius hing. Er nahm eine Tageszeitung heraus.

„Sonst nichts?“, wollte der Beamte wissen.

„Nein, nichts“, stammelte Peter Reisfeld. In diesem Moment wusste Karl, dass Peter einen Fehler gemacht hatte. Der Beamte beugte sich hinunter und ließ seine Hand in die Tasche gleiten. Nichts. Karl wollte erleichtert aufatmen, als der Beamte anfing, ihn und Peter Reisfeld abzuklopfen. In Peters Jacke knisterte es. „Ziehen Sie mal die Jacke aus“, forderte der Beamte Peter Reisfeld auf.

„Warum denn?“

„Fragen Sie nicht blöd, machen Sie, was ich Ihnen sage.“

Peter Reisfeld zog seine Jacke aus, und der Beamte tastete das Futter ab. Dann rief er einen Kollegen:

„Hans, bring mal ne Schere raus.“ Hans kam mit einer Schere, und der Beamte zerschnitt das Futter. Peter Reisfeld protestierte, aber da zog der Beamte auch schon einen dünnen Stapel Papiere aus dem Jackeninneren hervor.

„Und was ist das?“

„Keine Ahnung“, log Peter Reisfeld, aber Karl erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um Laborauswertungen handelte. Er stöhnte innerlich auf und überlegte blitzschnell, was zu tun sei.

„Dann kommen Sie mal beide mit“, raunzte der Beamte sie an. Peter sah Karl verzweifelt an, aber der zuckte nur mit den Schultern. Die drei Männer wandten sich zum Gehen, da sprang Karl auf das Motorrad, der Schlüssel steckte noch, trat das Gaspedal los und raste wie ein Blitz davon. Es war seine einzige Chance, hier noch wegzukommen. Er musste das Überraschungsmoment nutzen.

„Stehenbleiben, oder ich schieße!“, hörte er noch hinter sich. Aber er war schon zu weit weg. Sie konnten ihn nicht mehr erwischen.

Peter Reisfeld musste für vier Jahre in den Bau. Seine Frau ließ sich in der Zwischenzeit von ihm scheiden und heiratete einen Arzt in München. 1963 wurde er aus der DDR abgeschoben. Soweit Karl gehört hatte, war er nach Spanien ausgewandert.

Für Karl ging alles gut. Nach sieben Stunden Fahrt durch Sturm und Regen kam er in München an. In einem Auffanglager am Stadtrand fand er seine Maggie. Er brauste mit dem neuen Motorrad in den Hof der ehemaligen Kasernen und rief: „Maggie Marchwicz – komm heraus und heirate mich!“

Fenster gingen auf, Gesichter starrten auf ihn hinab, einige lächelten. Dann tauchte Maggies kleines Gesichtchen hinter einer dicken, teigigen Frau auf. Sie winkte ihm zu, verschwand von der Bildfläche und war in weniger als einer Minute unten in der Tür. Karl breitete seine Arme aus, und Maggie flog ihm entgegen. Sie hatten so viel Hoffnung in ihre Zukunft.

Das Drücken in seinem Oberbauch war schlimmer geworden. Karl schenkte sich einen weiteren Magenbitter ein und ging nach oben ins Badezimmer. Er hatte sich gerade bettfertig gemacht, als das Telefon durch die Stille des Hauses schrillte. Um diese Zeit? Das konnte nur Susanne sein! Jeden anderen hätte er durch den Hörer angebrüllt, aber Susanne konnte er nicht böse sein.

„Na, mein Schatz?“, sagte er, nachdem er den Hörer abgenommen hatte.

„Hallo Papa, ich hab dich doch nicht geweckt, oder?“

„Nein, nein. Ich bin doch kein Opa, der um zehn schlafen geht.“

„Wie geht’s?“

„Gut, und selbst? Was liegt dir auf der Seele? Du rufst doch nicht einfach so an, um deinen alten Vater zu fragen, wie es ihm geht, oder?“

„Schläft Mama schon?“

„Ja, die schläft schon.“

„Okay, dann rufe ich morgen noch mal an – du bist sicher auch müde und willst ins Bett.“

„Nicht die Bohne“, log er und unterdrückte ein Gähnen.

„Du kannst mir ruhig sagen, was los ist.“

„Ach, nichts. Frauensache …“

„Ach, geht es mal wieder um einen Mann?“ Karl seufzte.

„Ja, so ähnlich.“

„Wer ist es denn?“

„Kennst du sowieso nicht.“

„Und wo liegt das Problem? Vielleicht kann dir dein alter Herr ja mit einem Rat helfen. Immerhin habe ich ein paar Jährchen mehr Lebenserfahrung auf dem Buckel als du.“

„Danke, Papa, aber ich glaube nicht, dass du mir da weiterhelfen kannst. Obwohl …“ Einen Moment lang hörte Karl nur das Rauschen in der Leitung.

„Du, Papa, darf ich dir mal eine Frage stellen?“

„Ja, natürlich.“

„Es ist aber etwas Privates.“

„Nur zu.“

„Unter welchen Umständen hättest du die Mama betrogen?“

Karl schluckte.

„Was ist das denn für eine Frage?“

„Ich kann es auch anders formulieren. Wenn du die Mama mit einer anderen betrogen hättest, wäre es dann deshalb gewesen, weil du sie nicht mehr geliebt hättest? Oder hättest du es zu deinem reinen Vergnügen getan?“

Karl überlegte einen Moment.

„Ich hätte es wahrscheinlich zu meinem reinen Vergnügen getan.“

„Und hätte es trotzdem passieren können, dass du dich in eine andere verliebt und die Mama und uns verlassen hättest?“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Wieso?“

„Nur so.“

„Nee, mein Schatz, so kommst du mir nicht davon. Wieso willst du das wissen?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Keine Ahnung.“

„Komm, Papa, jetzt stell dich doch nicht so dumm an.“

„Jetzt hör mir mal gut zu, Susanne – es gibt bestimmte Dinge, die gehen nur deine Mutter und mich etwas an.“

„Papa!“ Susannes Stimme unterbrach seinen Vortrag.

„Ich habe ein Verhältnis mit einem Mann, der verheiratet ist.“

Mein Gott. In Gedanken schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Herrje, sag das doch gleich!“

„Diesmal ist es der Richtige, Papa. Ich weiß es.“

„Ach, und woher weißt du das so genau?“

„Alles passt. Er ist erfolgreich, sieht großartig aus und ist sehr großzügig. Außerdem …“

„… ist er verheiratet. Das ist allerdings ein Handicap.“

„Aber warum betrügt ein Mann seine Frau? Doch nur, wenn er sich von ihr nicht mehr geliebt fühlt.“

„Oder weil er ein bisschen Spaß braucht. Vielleicht wächst ihm die Sache zuhause über den Kopf. Zwei kleine Kinder, die ständig schreien, eine Frau, die keine Zeit mehr hat, sich um ihn zu kümmern, Schulden auf dem Haus, ein Chef, der mehr Einsatz verlangt. Was macht er überhaupt beruflich?“

„Er ist Coach.“

„Aha. Und in welcher Sportart?“

„Nicht im Sport. Im Management.“

„Wer braucht denn so etwas?“

„Manager zum Beispiel. Er berät Führungskräfte oder solche, die es werden wollen. Das heißt, er trainiert sie mental für ihre neue Aufgabe.“

„So ein Quatsch. Wenn die erst für ihre neue Aufgabe trainiert werden müssen, sind sie doch ohnehin nicht geeignet. Das kann ich dir gleich sagen.“

„Das ist kein Quatsch, Papa. Das ist ein anspruchsvoller Job, bei dem man bis zu hundert Dollar in der Stunde verdient.“

Karl war zu müde, um sich auf eine Diskussion einzulassen.

„Und, hat er dir schon sein Leid geklagt?“

“Inwiefern?“

„Na, dass seine Frau keine Zeit mehr für ihn hat, dass er einsam ist, keine Liebe mehr bekommt, sich scheiden lassen will und all das Gefasel?“

„Nein, hat er nicht“, gab Susanne zurück.

„Er hat mir noch nicht einmal erzählt, dass er verheiratet ist.“

„Und woher weißt du es dann?“

„Ich habe es eben rausgefunden.“

„Dass ihr Frauen immer so neugierig sein müsst. Jetzt weißt du es, und was hast du nun davon?“

„Na, ich weiß, woran ich bin.“

„Und das macht die Sache einfacher?“

„Nicht einfacher, aber klarer.“

„Aber wenn er es dir nicht gesagt hat, wird er doch seine Gründe dafür haben.“

„Ja, und die wüsste ich gern. Vielleicht hat er ja auch Angst, ich würde mich von ihm abwenden, wenn er es mir sagt.“

Du lieber Himmel, wie romantisch waren die Frauen?

„Mach dir nichts vor, mein Schatz. Du bist ein Verhältnis für ihn, und er hat dir nichts gesagt, weil er dich ins Bett kriegen wollte“, sagte Karl bestimmt.

„Woher willst du das so genau wissen?“, fragte Susanne.

„Weil ich ein Mann bin“, gab Karl zurück.

„Es gibt aber auch andere Männer als dich“, gab Susanne trotzig zurück.

„Setz ihm die Pistole auf die Brust und schau, was passiert. Dann hast du Klarheit.“ Karl tat Susannes Naivität fast körperlich weh.

„Hab ich dich all die Jahre zu Selbstbewusstsein erzogen, hab ich dich zum Gymnasium geschickt und durchs Studium gebracht, damit du dich derartig von männlicher Blendkunst hinter das Licht führen lässt?“

„Natürlich nicht.“ Susannes Stimme wurde schroffer.

„Also Kopf hoch“, munterte Karl sie auf. „Du bist eine attraktive, kluge Frau, die es nicht nötig hat, sich von einem kleinen verheirateten Berater ausnutzen zu lassen. Verstanden?“

„Ja, ja“, gab Susanne zurück.

„Also, dann mach’s mal gut, mein Schatz.“

„Du auch, Papa.“

„Weißt du eigentlich, wer der Vater von dem Kind deiner Schwester ist?“

„Keine Ahnung.“

„Meinst du, du kannst es herausfinden?“

„Ich kann’s versuchen, aber du kennst sie ja. Sie spricht mit keinem von uns wirklich offen.“

„Ja, sie war schon immer anders als wir anderen“, seufzte Karl.

„Weiß der Himmel, woran das liegt.“

„Am Blut des Russen. Hast du doch selbst immer gesagt.“

„Hab ich das?“, murmelte Karl.

„Ja, früher, wenn sie etwas ausgefressen hatte oder frech war, hast du immer gesagt: ‚Das kommt nicht von uns, das ist das Blut des Russen‘.“

„Dann wird es wohl so sein.“

„Also bis bald, Papa.“

„Bis bald, mein Schatz.“

Der Sonntag war verregnet, aber Karl plante trotzdem eine lange Radtour.

„Du brauchst heute Mittag nicht mit mir zu rechnen“, sagte er beim Frühstück.

„Ich esse auswärts.“

Maggie schaute ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.

„Ich habe aber Königsberger Klopse vorbereitet“, sagte sie mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.

„Die kann ich ja heute Abend essen“, antwortete er.

„Hauptsache, ich habe mir die Mühe nicht umsonst gemacht.“

Königsberger Klopse waren sein Leibgericht. Hatte sie die extra für ihn zubereitet?

„Tiefgefroren?“, fragte er.

„Nein, ich habe sie gestern gekocht, als du im Fitnessstudio warst. Zumindest hast du gesagt, du warst im Fitnessstudio.“

„Ich war im Fitnessstudio“, sagte Karl.

„Du kannst gerne dort anrufen und es überprüfen!“ Wütend warf er seine Zeitung auf den Tisch und stand auf.

„Die Nummer findest du im Telefonbuch. Body-Care.“

Er stapfte aus dem Zimmer.

Sein Weg führte ihn durch das kleine Ortszentrum. Einem plötzlichen Impuls folgend, machte er einen Schlenker an dem Reihenhaus vorbei, in dem sie 14 Jahre lang gewohnt hatten. Wie schmal ihm der Weg zu dem Grundstück heute vorkam. Er lehnte sein Fahrrad an den Zaun und ging außen um den Garten herum. Die meisten Bäume, die er einst gepflanzt hatte, waren noch da. Sogar die Birke, die inzwischen über zehn Meter hoch war und dem Garten viel Sonnenlicht nahm, stand an ihrem Platz. Wahrscheinlich war es ihr gut bekommen, dass er all die Jahre an ihr Wurzelwerk gepinkelt hatte. Die Beete waren mit Unkraut überwuchert. Wie viele Stunden hatte er hier mit Gartenarbeit verbracht? Als sie einzogen waren, waren die Häuser gerade neu gebaut worden. Mit einem kleinen Schmiergeld an die „Aufbau West“ hatte er den Zuschlag für das Endreihenhaus bekommen. In den darauffolgenden Jahren, also 1964, 1965 und 1966, hatte er regelmäßig den ersten Platz im Gartenwettbewerb gewonnen. Die Urkunden hatte er aufgehoben. 1967 hatte Familie Wendtnitz von gegenüber gewonnen, aber das machte ihm nichts aus, denn im selben Jahr kaufte er sich einen Opel. Sie hatten schöne Jahre hier verbracht, und Karl hing an seinem ersten eigenen Haus. Aber Maggie hatte darauf gedrängt, sich zu vergrößern. Der Umzug in die schickere Villa erfolgte Ende der Siebziger, kurz nachdem er Jutta kennengelernt hatte. Und kurz nachdem seine Mutter gestorben war. Frau Hübel von nebenan hatte damals das Telegramm in Empfang genommen.

„Ihre Mutter ist heute morgen gegen 9.00 Uhr im Krankenhaus Rostock verstorben. Gezeichnet: A. v. Büchel.“

Viel konnte er nicht über ihren Tod herausfinden. Sie hatte die letzten Jahre an schwerem Asthma gelitten und war an einer Lungeninsuffizienz gestorben. Mit siebenundsechzig Jahren. Er hatte zuletzt vor über einem Jahr von ihr gehört. Sie schrieb, die Lebensmittel drüben seien knapp. Er möge ihr Kaffee und Schokolade schicken. So ein Brief kam einmal im Jahr. Karl meldete sich nie zurück. Maggie übernahm diese Aufgabe.

Die Königsberger Klopse schmeckten auch am Abend noch köstlich.

„Ausgezeichnet, Maggie“, lobte er seine Frau. „Niemand macht sie besser als du.“

„Danke“, lautete die einsilbige Antwort.

Im Hintergrund lief eine Reportage über den Osten.

„Unglaublich, wie die das alles haben runterkommen lassen“, sagte er. „Die reinste Schande. So schlimm sah es dort nicht aus, als wir weg sind, oder, Kleines?“

„Bitte nenn’ mich nicht mehr Kleines.“

„Das kann doch nicht nur an dem System gelegen haben, dass da alles brachliegt.“

„Wie in Russland“, sagte Maggie. „Da ist auch alles verfallen.“

„Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie dort?“

„Hat mir eine aus meinem Italienischkurs erzählt. Die war dort auf Rundreise.

‚Alles kaputt’, sagt sie.“

„Also, mit Russland hat das hier aber nichts zu tun. Die DDR war ganz allein für sich verantwortlich.“

„Ich sage ja nur, dass die Russen auch schlampig sind. Ich hab’ doch selbst gesehen, wie die in unseren Wohnungen gehaust haben, nachdem sie uns dort rausgeschmissen haben. Wie wilde Tiere. Alles voll mit Wodkaflaschen. Echtes Meissener Porzellan stand stapelweise ungespült in der Küche, unzählige Stücke sind zu Bruch gegangen. Und alles voll mit Zigarettenstummeln.“

„Du bist einfach zu emotional in diesen Dingen. Deine persönlichen Erfahrungen mit den Russen tun doch überhaupt nichts zur Sache.“

Er war fertig und stand auf. Sein Magen drückte heute Abend noch heftiger als am Morgen. In seinem Bauch grummelte es, und in der Hoffnung auf einen anständigen Furz ging er ein paar Schritte vor das Haus. Die Luft war angenehm kalt und klar. Er hasste es, wenn Maggie diese alten Geschichten hervorkramte. Hatten sie nicht alle schreckliche Kriegserlebnisse hinter sich? Er hatte seinen Bruder verloren. Oder die Geschichte, als ihm der Kopf des Oberkommandierenden Schneider direkt vor die Füße gerollt war. Dabei hatte er noch Sekunden vorher mit ihm gesprochen.

„Bring heute erst den anderen Kaffee“, hatte Schneider ihm von seinem Kontrollturm zugerufen. Karl sattelte wieder auf und radelte zum zweiten Stützpunkt. Nach wenigen Metern hörte er die Bomber. Er warf sich mit seinem Fahrrad in den Straßengraben und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. So kauerte er eine Ewigkeit, bis das Donnern wieder in der Ferne verschwand. Um ihn herum herrschte Stille. Langsam erhob er sich und lugte aus dem Graben. Nichts. Vor ihm nur plattes Land. Die beiden Kontrolltürme waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. In der Dunkelheit hörte er hier und dort ein leises Wimmern. Hilfe holen, war sein erster Gedanke. Er kletterte aus dem Graben, zog sein Fahrrad nach sich, sattelte auf und trat in die Pedale. Aber er kam nicht voran. Ein Hindernis lag vor seinem Vorderreifen. Karl wurde nervös, er wollte nur weg. Er drückte das Rad mit Gewalt nach vorn, aber das Hindernis war zu groß. Also stieg er ab, um es mit dem Fuß zur Seite zu kicken. Er konnte den großen Klumpen nicht genau erkennen und bückte sich. Als er seinen Kopf über den dunklen Schatten am Boden senkte, blickte er direkt in die aufgerissenen Augen des Oberkommandierenden Schneider. Sein Schädel war durch die Wucht der Bombe über hundert Meter weit geschleudert worden. Karl würgte, aber er riss sich zusammen.

Auf dem Heimweg murmelte er ununterbrochen die sieben Schwertworte des Jungvolks: „Jungvolkjungen sind hart. Jungvolkjungen sind tapfer. Jungvolkjungen sind gehorsam. Jungvolkjungen sind gerade und treu. Jungvolkjungen sind schweigsam und wahr. Jungvolkjungen sind Kameraden. Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“ Das machte ihn ruhiger.

Jeder hatte seine Erinnerungen, aber damit musste man allein fertigwerden. Es half nichts, anderen in den Ohren zu liegen. Im Gegenteil, oft trat man mit solchen Geschichten ganze Lawinen von Kriegserinnerungen los, die man sich lieber nicht antun wollte. Eine grausamer als die andere. Auf Trost war nicht zu hoffen.

Wieder im Wohnzimmer streckte er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher aus. Nach einer Weile kam Maggie. Sonst nahm sie meist an seinem Fußende Platz. Diesmal setzte sie sich in einen Sessel.

„Sag mal, Maggie. Gibt es eigentlich irgendetwas, das du für den Winter brauchst?

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Etwas für die Küche oder für das Haus?“

„Nein.“

„Na komm, irgendetwas wird dir doch einfallen. Eine neue Kaffeemaschine vielleicht. Da gibt es jetzt welche, die machen sogar Espresso.“

„Na, der wird den beim Italiener wohl kaum ersetzen können.“

„Oder etwas für das Bad – neue Matten vielleicht. Du wolltest doch mal auf Rot umstellen, oder?“

„Ich habe neulich im Ausverkauf rote Matten gekauft. Ich muss sie nur waschen, dann lege ich sie aus.“

„Nun mach es mir doch nicht so schwer. Sag mir einfach, womit man dir eine Freude machen kann.“

Maggie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Ich möchte einen Nerzmantel.“ Karl zog die Brauen hoch.

„Wie bitte?“

„Einen Nerzmantel“, sagte Maggie ein zweites Mal, ohne dabei ihren Blick von der Mattscheibe zu wenden oder auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Also, findest du das nicht ein bisschen …“ Karl suchte nach dem richtigen Wort. „Unangemessen? Einfach so, einen Nerzmantel?“

„Du hast mich gefragt, womit du mir eine Freude machen kannst, und ich habe dir geantwortet.“

Ein Nerzmantel.

Zum Sonntagskrimi verzog Karl sich in sein Büro. Ihm ging die frostige Stimmung auf die Nerven. Der nette Kommissar, der ihn immer ein wenig an seinen Lehrer aus der achten Klasse, Herrn Hirschmeier, erinnerte, musste einen Mord lösen. Ein Geschäftsmann war tot in seinem Ferienhaus gefunden worden. Die Todesursache deutete zunächst auf Herzinfarkt hin, aber die Obduktion gab den Ermittlern ein Rätsel auf. Der Mann war offenbar vergiftet worden. Schleichend. Aber womit? Und von wem? Es folgte die langwierige Spurenlegung des Regisseurs: Sein Partner hätte es sein können, weil der dunklen Geschäften nachging, denen der Tote auf die Schliche gekommen war. Sein Bruder kam ebenfalls infrage, weil er mehr Anteile an der Firma forderte. Eine weitere Spur führte ins unvermeidliche Prostituiertenmilieu, in dem sich der Ermordete aufgrund seiner bisexuellen Veranlagung herumtrieb.

Am Ende war es seine Frau gewesen, die ihren Mann schon seit langem mit einem anderen betrog, aber nicht auf das Geld verzichten wollte.

Mitten in der Nacht erwachte Karl wegen seines Magens. Er nahm sich vor, am nächsten Tag bei der Apotheke vorbeizufahren und Tabletten zu kaufen. Etwas für die Verdauung konnte sicher nicht schaden. Als er nach einer Stunde immer noch nicht eingeschlafen war, zog er mit seinem Bettzeug in das Gästezimmer auf halber Treppe. Der Mond schien durch das schräge Fenster und erhellte den Raum. An der Schräge hing ein Poster aus Andreas Jugendzeit. „El Pueblo Unido Jamas Sera Vencido“ stand in großen schwarzen Buchstaben auf dem vergilbten Plakat. Darunter sah man einen Menschenzug – lauter schwarze Silhouetten. Andrea hatte es aus Spanien mitgebracht. Mein Gott, dieses Mädchen. Wie viel Energie hatte er in sie gesteckt. Sie war anfangs wirklich nicht die Schnellste gewesen. Manchmal saß sie da, den Mund leicht geöffnet, und schaukelte mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin. Bei diesem Anblick konnte einem angst und bange werden. Meistens genügte es, sie streng zu ermahnen, aber manchmal musste er sie regelrecht anbrüllen, damit sie aufwachte. Wenigstens kam sie in der Schule einigermaßen mit, nur fehlte ihr jeder Sinn für Logik. Er versuchte es mit Denksportaufgaben: „Bauer Huber hat sein Obst in drei Kisten einsortiert. In der einen sind nur Äpfel, in der anderen sind nur Birnen, und in der letzten sind sowohl Äpfel als auch Birnen drin. An allen drei Kisten ist jeweils ein Schild angebracht, welches den Inhalt der jeweiligen Kiste angibt. „Äpfel“ steht auf dem Schild, das an der Apfelkiste hängt, „Birnen“ steht auf dem Schild an der Birnenkiste, und „Äpfel und Birnen“ ist auf dem Schild an der Kiste mit den Äpfeln und Birnen zu lesen. Nun kommt der freche Hans und vertauscht zwei Schilder miteinander.

Wie kannst du jetzt herausbekommen, welche Früchte in welcher Kiste sind, ohne hineinzusehen? Dazu darfst du zweimal je eine Frucht aus zwei verschiedenen Kisten nehmen. Du darfst aber nicht herumwühlen und fühlen.“ Sie schaute ihn an.

„Denk nach!“

Panik in ihren Augen.

„Jetzt schalte dein Gehirn ein.“

Sie konnte einen zur Weißglut treiben.

Noch schlimmer war es mit dem räumlichen Denken. Wie oft hatte er versucht, sie mit einfachen Streichholzaufgaben zu fördern. Er legte aus zwölf Hölzern ein Quadrat, das aus vier gleich großen Quadraten bestand. Nun sollte sie drei Hölzchen so umlegen, dass drei Quadrate entstanden. Als sie nach fünf Minuten noch immer keine Lösung wusste, wischte er die Hölzchen vom Tisch.

Das musste sie von ihrer Mutter haben, die hatte es auch nicht mit der Logik. Im Gegensatz zu ihm war es Maggie ganz recht, dass Andrea keine Überfliegerin war.

„Sie muss doch kein Abitur machen, sie kann doch auch eine Lehre machen, zum Beispiel als Krankenschwester.“

„Dann heiratet sie mit achtzehn und hat mit zweiundzwanzig vier Kinder. Ist das das Schicksal, das du dir für deine Tochter wünscht?“

„Es reicht doch, wenn Susanne Karriere macht. Die hat das Talent dazu. Aber Andrea? Das kann man doch nicht erzwingen.“

Von wegen.

Er entwickelte ein straffes Programm, das seine Tochter auf Kurs halten sollte. Das wichtigste war Sport. Wer Sport trieb, kam nicht auf dumme Gedanken. Er entschied sich für Schwimmen. Natürlich hatte er nicht die Zeit, sich selbst darum zu kümmern, das war Maggies Aufgabe. Sie meldete das Mädchen im Schwimmkurs an. Damals war Andrea vielleicht neun. Zwei Mal wöchentlich am Anfang, später wurden daraus drei bis vier Trainingsstunden. Gut, sie hatte kein herausragendes Talent, aber für ein paar Regionalwettbewerbe und Urkunden reichte es. Und sie war versorgt. Nach der Grundschule hatte man ihnen geraten, Andrea auf die Realschule zu geben, aber da machte er nicht mit. Das Mädchen wurde auf dem Gymnasium angemeldet, und zu den Schwimmstunden kamen Nachhilfestunden. Keine einfache Zeit, denn Andrea wurde mit den Jahren immer eigenwilliger. Sie zog sich zurück, sprach nur wenig und las überwiegend. Er sorgte sich um ihre Entwicklung und meldete sie bei den Pfadfindern an. Erst Monate später erfuhr er, dass sie dort nie aufgetaucht war. Nun begann eine schwierige Zeit, die darin mündete, dass Karl Andrea mit sechzehn in ein Internat steckte. Von da an war der Kontakt zwischen Eltern und Tochter fast gänzlich erkaltet. Andrea hatte oft keine Lust, in den Ferien nach Hause zu kommen, und die Eltern hatten kaum Zeit, sie zu besuchen. Einmal sahen sie sich über ein Jahr nicht. Aber gut, am Ende schaffte sie ihr Abitur, und heute war sie erfolgreich an der Uni. Sie hatte eine feste Anstellung und ein gutes Auskommen. Wenn er sie nicht unterstützt hätte, wäre sie wahrscheinlich wirklich Friseuse geworden, wie Maggie vorausgesagt hatte. Gut, sie hatte immer noch ein paar Eigenarten, die ihn befremdeten. Ihr Männergeschmack, oder ihr Fimmel mit den Strichlisten. Offenbar erfasste sie das halbe Leben per Statistik. Aber was kümmerte ihn das, sie war nicht zurückgeblieben, und darauf kam es an.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Maggie Richtung Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Karl hatte schlecht geschlafen. Seine Magenschmerzen wurden immer heftiger.

Auf dem Weg zur Krankengymnastik hielt er an der Apotheke. An der Ladentür stieß er mit seiner Frau zusammen.

„Was machst du denn hier?“

„Ungeziefer-Vernichtungsmittel.“

Sie hielt eine Plastikdose mit rotem Etikett in die Höhe.

„Das hätte ich dir doch auch mitbringen können.“

„Ich wusste ja nicht, dass du zur Apotheke fährst.“

„Du hättest mich ja fragen können.“

„Schon gut – mach du deine Besorgungen, ich mach meine.“

Sie ging an ihm vorbei.

„Bis nachher dann.“

Karl kaufte Tropfen gegen seine Magenschmerzen und Früchtewürfel für die Verdauung. Beides nahm er noch in der Umkleidekabine der Krankengymnastin ein. Ihn langweilten diese Stunden. Die sanfte Art der Therapeutin und die minimalistischen Übungen gingen ihm auf die Nerven. Er beschloss, nach dieser Stunde Schluss zu machen. In derselben Zeit konnte er im Fitnessstudio das Zehnfache schaffen.

Zuhause war Maggie in der Küche dabei, Kartoffeln zu zerdrücken, als er hereinkam.

„Ich habe uns Blaubeeren zum Nachtisch mitgebracht.“

„Gut, ich werde sie in den Joghurt mischen.“

Sein Blick fiel auf das Insektenschutzmittel.

„Parakill Plus“ gegen kriechende Insekten, stand auf der Dose.

„Musste es denn gleich die chemische Keule sein?“, fragte er. „Frag mich vorher. Wozu hast du einen Experten im Haus?“

„Alles andere bringt nichts“, sagte Maggie.

„Also gesund ist das nicht.“

„Soll es ja auch nicht sein.“

Maggie nahm ihm das Mittel aus der Hand. „Lass das mal meine Sorge sein.“

Sie stellte die Dose oben in den Schrank.

Nach dem Essen setzten die Magenschmerzen wieder ein. Karl nahm seine Tropfen und verzichtete auf den Nachtisch.

„Jetzt habe ich die ganzen Blaubeeren in den Joghurt gemischt.“

„Ich kann nicht mehr – iss du meinen Teil.“

„Nein, danke“, wehrte Maggie ab, als er ihr sein Glasschüsselchen rüberschob.

„Komm schon – du magst doch Blaubeeren so gern.“

„Nein.“

Maggie schob die Schüssel erneut weg.

„Ich stell ihn in den Kühlschrank. Dann kannst du ihn zum Tee oder zum Abendbrot essen. Ich bin heute Abend nicht da.“

„Wo gehst du denn hin?“

„Ich treffe mich mit Karin. Dein Essen ist schon vorbereitet.“

Sie räumte den Tisch ab, und Karl ging nach oben, um sich ein wenig hinzulegen. Er wollte Maggie nicht bei ihrem Mittagsschlaf stören und wählte wieder das Gästezimmer. Eine Wärmflasche auf dem Oberbauch sollte ihm Linderung verschaffen. Während er sich auf seinen Magen konzentrierte, schraubte sich ein Gedanke in seinen Kopf, ganz langsam, Windung für Windung.

Was hatte es eigentlich mit diesem Ungeziefer-Gift auf sich? Normalerweise war er für diese Dinge zuständig. Schließlich war er immer noch Chemiker, auch wenn er zum letzten Mal vor zwanzig Jahren ein Labor von innen gesehen hatte. Maggie hatte irgendetwas von Blattläusen erzählt. Aber dafür gleich eine ganze Dose Gift? Das war doch übertrieben.

Im Flur hörte er Maggie nach oben ins Schlafzimmer gehen. Er blieb noch weitere zehn Minuten liegen, dann räumte er die Wärmflasche, die die Sache nur noch schlimmer gemacht hatte, beiseite und schlich auf Socken hinunter in die Küche. Leise öffnete er den Schrank. Die Dose stand nicht mehr an ihrem Platz. Karl durchsuchte den ganzen Schrank, die anderen Schränke, die Schubladen. Nichts. Er grübelte. Vielleicht in der Vorratskammer. Er öffnete die Tür zu dem kleinen kühlen Raum, und da stand sie. Links im Regal neben den Konserven. Karl setzte seine Brille auf und überflog die Inhaltsstoffe. Da war es: Lindan!

Ein hochgefährliches Nervengift, das nicht unumstritten war und zur Insektenvernichtung eingesetzt wurde. Karl hielt die weiße Dose gegen das Licht. Er holte einen Bleistift aus dem kleinen Becher in der Küche und markierte mit einem winzigen Punkt den Höhenstand des Pulvers. Dann stellte er die Dose zurück, ging in die Küche und trank fast einen Liter Milch. Das hatte er zuletzt als kleiner Junge gemacht. Er überlegte. Maggie hatte das Insektizid heute gekauft. Er hatte aber bereits seit drei Tagen Magenbeschwerden. Gab es überhaupt einen Zusammenhang? Er wollte sich gerade beruhigen, als ihm das Taubengift einfiel, das er im Frühjahr über einen ehemaligen Arbeitskollegen illegal erworben hatte. Es war nur eine sehr kleine Dose voll mit Blausäure in Pulverform, die er dem Mais untergemischt hatte. Klein, aber höchst wirkungsvoll. Die Tauben lagen zwei Tage später tot im Vorgarten. Wo hatte er die Dose gelagert? In der Garage oder draußen im Schuppen? Er zog sich Schuhe und Jacke an und machte sich auf die Suche. In der Garage fand er sie nicht. Und im Schuppen lagerten zwar alle möglichen Mittel gegen Wühlmäuse, Unkraut und Flohbefall bei Haustieren, aber die Blausäure war nicht dabei. Er arbeitete sich von der Vorratskammer in den Hobbykeller hinunter, ohne Erfolg. Er war sich absolut sicher, dass von dem Mittel noch ein Viertel übrig gewesen war. Genug, um einem ausgewachsenen Mann erhebliche Magenbeschwerden zu verursachen. Nein, Maggie würde ihn nicht umbringen wollen. Das traute er ihr nicht zu. Aber außer Gefecht setzen, das wäre durchaus möglich. Als er aus dem Keller nach oben kam, hörte er seine Frau in der Küche hantieren.

„Lass mich das Wasser aufsetzen“, sagte er beim Hereinkommen.

„Von mir aus.“ Sie trat zur Seite. „Die Teebeutel sind schon in der Kanne.“

Karl füllte das Wasser aus der Leitung in den Kocher. Dann nahm er die Teekanne, entfernte die Teebeutel und hielt sie Richtung Fenster, mit der Öffnung ins Licht.

„Was machst du da?“, wollte Maggie wissen.

„Ablagerungen“, murmelte er. „Es bilden sich immer diese Ablagerungen, die den Tee bitter machen.“

„Willst du vielleicht jetzt deine Nachspeise essen?“

„Nein, danke. Nimm du sie doch.“

„Nein. Ich muss auf meine Figur achten.“

„Dann lass uns teilen. Jeder eine Hälfte.“

„Nein. Ich möchte nicht.“

„Komm schon, Maggie. Tu mir den Gefallen.“

„Karl, ich will nicht.“

Er nahm den Joghurt aus dem Kühlschrank und holte zwei Teelöffel aus der Schublade.

„Hier.“ Er reichte ihr einen der beiden Teelöffel. „Du isst jetzt diesen Joghurt mit mir. Erst du, dann ich.“

„Karl, was soll denn das? Ich möchte keinen Joghurt essen.“

„Ich befehle es dir. Iss.“

Maggie traten die Tränen in die Augen.

„Du bist gemein.“

„Iss.“

Sie nahm den Löffel und tauchte ihn in die weiße Masse.

„Ja, gut. Mund auf und rein damit.“

Maggie weinte fast, während sie den Löffel zum Mund führte.

„Sehr schön. Und nicht vergessen zu schlucken.“

Sie würgte.

„Na komm. Noch einen.“

Maggie warf den Löffel in die Spüle und rannte aus der Küche. Kurz darauf knallte die Haustür.

Das Telefon klingelte.

„Hallo Papa.“ Ersticktes Weinen am anderen Ende.

„Susanne.“

„Ach, Papa. Es ist alles so schrecklich.“

„Na komm, so schlimm kann es doch nicht sein“, sagte Karl, während er von einem Magenkrampf gepeinigt wurde.

„Er hat mir von sich aus gestanden, dass er verheiratet ist. Und er wird sich auch nicht scheiden lassen. Er hat kleine Kinder und will keine neue Frau.“

„Hab ich dir doch gleich gesagt.“ Karl hielt sich die Hand auf den Bauch.

„Der geht doch nicht vom Regen in die Traufe. Der will einfach ein bisschen Spaß.“

„Warum sind bloß alle Männer Egoisten?“, weinte Susanne.

„Nicht alle, Susanne.“

„Aber du bist ja schon vergeben.“

„Na, es gibt auch noch ein paar andere edle Exemplare.“

„Und wo finde ich die?“ Susanne brach erneut in Tränen aus.

„Und ihr seid auch nicht da. Keiner ist da, um mich zu trösten oder mal in den Arm zu nehmen …“ Das brachte Karl auf eine Idee.

„Weißt du, was?“ Seine Haltung straffte sich. „Ich komme. Ja, du hast richtig gehört. Dein alter Vater kommt, um sein Mädchen zu trösten. Ich könnte eh ein paar Tage frischen Wind um die Nase gebrauchen. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.“

„Ich weiß nicht, Papa, du musst nicht extra hierher kommen, nur weil ich mal wieder Liebeskummer habe.“

„Keine Widerworte. Versprochen ist versprochen. Ich nehme den nächsten Flug. Wozu hat man einen Vater?“

„Papa, das ist total nett von dir, aber ich komme schon zurecht.“

„Ich melde mich, sobald ich weiß, wann mein Flugzeug geht. Wie ist das Wetter in San Francisco?“

„Warm, vielleicht dreiundzwanzig, vierundzwanzig Grad. Aber Papa …“

„Ich ruf dich nachher wieder an. Wenn du wegmusst, schalt den Anrufbeantworter an, dann spreche ich dir meine Zeiten drauf. Also mach’s gut.“

Karl drückte die Gabel hinunter und wählte gleich wieder eine Nummer. Am anderen Ende sprang ein Anrufbeantworter an.

„Hallo Kleines. Es handelt sich um einen Notfall. Susanne hat eben aus San Francisco angerufen. Es geht ihr ganz fürchterlich. Sie hat Liebeskummer wegen irgendeines Blödmanns. Naja, und da hat sie mich gebeten, zu kommen.

Seelischer Beistand – du weißt schon. Also habe ich mich breitschlagen lassen, den nächsten Flieger zu nehmen. Mag sein, dass es übertriebene Vatersorge ist, aber sie hat so herzerweichend geweint. Ich konnte nicht Nein sagen. Bist du so lieb und buchst mir den nächsten Flug bei der Lufthansa? Ich hab mir gedacht, ich nutze die Zeit für ein paar Geschäftsbesuche und bleibe im Ganzen zwei Wochen. Ich rufe dich später an. Mach’s gut und Küsschen. Ach übrigens – zur Entschädigung lade ich dich heute Abend zum Essen ein. Du weißt schon, wo – um acht. Also bis nachher.“

Als der Flieger abhob, schloss Karl die Augen. Alles war nach Plan gelaufen. Jutta hatte zwar ein wenig gemurrt, weil er ihre Verabredungen platzen ließ, aber sie wusste, dass ihn Nörgeleien vertrieben, also hat sie keine große Sache daraus gemacht.

„In zwei Wochen bin ich wieder da, Kleines. Und ich verspreche dir, ich bring dir etwas Hübsches mit – etwas, das nur ich an dir sehen darf.“

Maggie hatte nach der Szene in der Küche noch weniger gesprochen als zuvor. Sie kam an dem Abend erst gegen Mitternacht heim. Die Abende mit Karin wurden immer lang.

„Ich fliege morgen Mittag zu Susanne“, hatte er angekündigt, als sie ins Wohnzimmer kam.

„Zu Susanne?“

„Ja, sie hat mich gebeten, ihr beizustehen.“

„Wobei?“

„Herzschmerz.“

„Dich?“

„Ja, mich. Wieso denn nicht mich? Du warst ja die letzten Male, als sie verzweifelt hier angerufen hat, nicht zuhause.“

„Wann hat sie denn angerufen?“

„Neulich abends, da hast du bereits geschlafen, und heute Nachmittag.“

„Und warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Sie hat mich nicht darum gebeten.“

„Du hättest es mir wenigstens erzählen können.“

„Das muss ich wohl vergessen haben.“

Maggie sah verletzt aus.

„Ich gehe ins Bett“, sagte sie.

„Mach das. Ich werde heute Nacht noch einmal im Gästezimmer schlafen. Dann hast du mehr Ruhe.“

„Wann geht das Flugzeug morgen?“

„Um zwölf Uhr vierzig.“

„Sie hat dich wirklich gebeten?“

„Ja, natürlich. Was tust du so erstaunt? Ich wüsste nicht, was daran so komisch ist, wenn eine Tochter ihren Vater um Unterstützung bittet.“

„Und wie lange bleibst du?“

„Zwei Wochen.“

„Zwei Wochen? Um unsere Tochter zu trösten?“

„Natürlich nicht. Ich habe noch ein paar geschäftliche Termine drangehängt, damit sich der Aufwand lohnt. Allein schon wegen des Jetlags.“

„Geschäftliche Termine?“

„Ja, geschäftliche Termine. Noch verdiene ich Geld, falls dir das entgangen sein sollte. Und dazu habe ich ab und zu geschäftliche Verabredungen. Aber diese Welt ist dir ja fremd.“

„Du wolltest doch, dass ich aufhöre zu arbeiten!“

„Ja und, war das etwa nicht gut? Hast du nicht ein wunderbares Leben gehabt? Ein wunderschönes Haus, ein Auto? Eine Putzfrau? Friseurtermine, Italienischkurse, Gymnastik. Passt dir irgendetwas nicht?“

„Doch, es war nur …“

„Was denn? Was gefällt dir nicht?“

„Du sagtest, mir sei die Arbeitswelt fremd, dabei wolltest du nie, dass ich arbeite.“

„Sekretärin, bei diesem verstaubten Hinterzimmeranwalt. Ich habe dich da rausgeholt. Also was wirfst du mir vor?“

„Nichts.“

Pause.

„Soll ich dich morgen fahren?“, fragte Maggie.

„Ich bitte darum. Der Flieger geht um zwanzig vor eins, das heißt, wir müssen um zehn Uhr hier los. Und mach dir keine Mühe mit dem Frühstück. Ich will nichts essen. Ich habe nämlich verdammt schlimme Magenschmerzen.“

„Seit wann?“, fragte Maggie.

„Seit irgendwann.“

„Trotzdem fährst du weg?“

„Ich fahre unter anderem deshalb weg.“

„Verstehe ich nicht.“

„Gib dir keine Mühe. Gute Nacht.“

Sein Oberbauch schmerzte heftig. Die Tropfen zeigten keinerlei Wirkung. Kurz nach dem Start rief Karl die Stewardess und bat um ein trockenes Brötchen. Dazu bestellte er einen Pfefferminztee. Kaum hatte er beides intus, kam es ihm wieder hoch. Er rannte auf die Bordtoilette und übergab sich.

„Alles in Ordnung?“, fragte die Stewardess, als er aus der Toilette kam.

„Es geht schon wieder.“

Für den Rest des Fluges lehnte er weitere Mahlzeiten ab. In San Francisco würde er einen Arzt aufsuchen und sich einer Blutuntersuchung unterziehen. Dann würde man sehen.

„Flugangst?“, fragte der schmächtige Herr neben ihm.

„Keineswegs. Nur zu wenig gegessen“, antwortete Karl.

„Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, sagte sein Nachbar.

„Das betrifft mehr Menschen, als man glaubt. Aber die meisten sprechen nicht darüber. Lieber bezwingen sie die Angst mit einer Flasche Wodka. Sie schämen sich …“

„Mit mir ist alles in Ordnung“, wiederholte Karl.

„Ich habe bloß leichte Magenschmerzen.“

„Es gibt Seminare, in denen man lernt, seine Flugangst zu besiegen.“

Karl schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Der Mann neben ihm plauderte weiter, und wenn man nicht zuhörte, verwoben sich seine Worte mit dem tiefen Brummen der Düsen zu einem angenehm ermüdenden Klangteppich.

Schweißgebadet erwachte er aus seinem Nickerchen. Sein Nachbar reichte ihm ein Erfrischungstuch.

„Jaja, diese Angst verfolgt einen bis in den Schlaf. Glauben Sie mir.“ Er beugte sich zu Karl hinüber.

„Ich weiß, wovon ich spreche. Ich …“ Jetzt senkte er die Stimme.

„Ich hatte selbst einmal Flugangst. Aber die Betonung liegt auf ‚hatte’, denn ich bin sie los. Weg!“ Er schnipste mit den Fingern.

„Wie weggeblasen.“ Karl erhob sich leise stöhnend.

„Verschonen Sie mich mit Ihren Weisheiten!“

Mit weichen Knien wankte er in den Waschraum, wo er sich wieder erbrach. Dieses Mal kam nur bräunlicher Schleim. Er hatte seit gestern Abend, nachdem er sich mit Jutta noch für zwei Stunden bei Da Pasquale getroffen hatte, nichts mehr zu sich genommen. Außer dem Brötchen und dem Tee vorhin. Am Essen konnte es nicht liegen. Sein Hemd war unter den Achselhöhlen und am Rücken völlig durchnässt. Er versuchte, es auszuziehen, um sich frisch zu machen, aber die Kabine war zu eng, und er bekam wegen der Magenkrämpfe kaum Luft. Erschöpft sank er auf die Toilette, als es wieder klopfte.

„Alles in Ordnung da drinnen?“

„Alles klar“, zwang Karl sich zu sagen.

„Der Mann hat Flugangst, aber er traut sich nicht, es zuzugeben“, hörte er die vertraute Stimme seines Nachbarn sagen.

Er hatte kaum die Kraft, das Schloss zu entriegeln. Sein Sitznachbar stand neben der Stewardess vor der Tür.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Frau.

„Wahrscheinlich eine Grippe oder ein Magendarminfekt.“

Der schmächtige Herr wich ein wenig zurück.

„Grassiert momentan in meinem Büro“, sagte Karl.

„Sehr unangenehm.“

Den Rest der Flugzeit hatte er Ruhe. Sein Nachbar hatte sich versetzen lassen.

„Soll ich Ihnen ein Aspirin bringen?“, fragte die Stewardess.

„Das wäre nicht schlecht.“

Nachdem er die Tablette mit wenig Wasser geschluckt hatte, damit sie ihm nicht wieder hochkam, fiel er erneut in einen Dämmerschlaf. Als er erwachte, befand sich das Flugzeug im Sinkflug. ‚Gleich holt mich Susanne ab’, dachte er. Sein Oberbauch war aufgebläht, unter den Rippen brannte es, und er hatte das Gefühl, mehr als ein Furz säße ihm quer. Maggie war wirklich zu weit gegangen. Endlich holperte die Maschine über das Rollfeld. Mit letzter Kraft stemmte er sich aus seinem Sitz. Das Letzte, woran er sich später erinnern konnte, war das entsetzte Gesicht seines ehemaligen Sitznachbarn, als er sich im Zusammensacken auf dessen Schulter stützte.

Nur ein kleiner Verdacht

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