Читать книгу Stein - Sabine Korsukéwitz - Страница 5
Оглавление2. Von Hünengräbern und Hinkelsteinen
Morgennebel über den rauen Felsen der bretonischen Küste. Es riecht herb nach Salzwasser und Tang, nur wenig versüßt vom Duft des blühenden Ginsters. Hohe Wolkenschleier im Osten beginnen sich rosig zu färben, aber hier unten herrschen noch Schatten und Dämmerung. Hölzerne Boote scharren über den Sand, werden hastig ans Ufer gezogen vor dem Zugriff der gierigen Wellen. Zwei, drei halbwüchsige Jungen bleiben am Strand zurück. Eine Gruppe von gebückten Gestalten schleicht sich von der Küste her ins Landesinnere. Speere und Steinbeile heben sich aus den Umrissen ab. Es sind Krieger eines fremden Stammes auf Beutezug nach Frauen oder was sonst gerade fehlt bei ihnen zuhause. Siegessicher sind sie, malen sich in Gedanken aus, wie man sie bei ihrer Rückkehr empfangen wird und welche Trophäen sie wegschleppen werden. Kein Wachfeuer brennt. Ahnungslos schläft das Dorf, dem sie sich nähern.
Da plötzlich tauchen im Dunst vor ihnen graue Schemen auf, grobschlächtig und riesenhaft, eine lange Reihe davon, und dahinter noch eine Reihe. Unzählbar stehen sie dort, die Wächter, dunkel und still. Die räuberische Horde bleibt stehen, duckt sich, wittert – geflüsterte Beratung. Die Riesen rühren sich nicht. Was ist das? Was wird geschehen, wenn man versucht, an ihnen vorbei zu gelangen? Es wird gestikuliert, gedeutet, geschubst: Geh du zuerst! Nein du! Nein, du! Keiner kann sich entschließen. Und die Riesen stehen und starren. Zu unbegreiflich, zu unheimlich sind diese grauen Wächter. Und während man unentschlossen starrt, leuchtet der Himmel schon golden; ein Hahn kräht. Die rechte Stunde ist vertan. Die Horde kehrt um. Der Angriff wurde abgewehrt ohne einen Speerwurf, ohne einen Laut.
Menhire, die bretonischen Fingersteine, verwitterte Brocken Granit, deren einstige Form nur zu ahnen ist. Auch 1000 Dolmen (keltisch: tol = Tisch, men = Stein) – drei Tragsteine, darüber eine Deckplatte – stehen an der bretonischen Atlantikküste. Man nimmt an, dass es Gräber sind. Unter manchen fand man Knochen, Grabbeigaben. Nicht unter allen. Vielleicht wurden sie geplündert, vielleicht waren nie welche da. Und die 5000 Menhire? Wozu sie errichtet wurden unter unendlichen Mühen, zu welchem Zweck, teils einzeln, teils in langen Reihen, das lässt sich nicht mehr sagen. Ganz bestimmt waren es Heiligtümer, aber auf der Basis welcher Vorstellungen? Symbolisierten sie gefallene Krieger, eine Armee aus Stein, oder hilfreiche Geister, die Seelen der Ahnen, einen steinernen Wald? Hatten sie irgendwie mit den Gestirnen zu tun, wie der Steinkreis von Stonehenge? Unwahrscheinlich. Zwar verlaufen einige der Reihen von Ost nach West, aber nicht alle. Vergeblich hat man gemessen und nach Bezugspunkten am nächtlichen Firmament gesucht. Astrologische Observationsstätten wie Stonehenge in England lassen sich hier nicht sicher nachweisen.
Der Altertumsforscher Carl Schuchardt, der Erfahrungen mit den klassischen Mittelmeerkulturen hatte, verglich die bretonischen Anlagen mit griechischen Feststraßen, das war kreativ, blieb aber Spekulation: Dort führten gepflasterte Straßen von einem Anlegeplatz am Meer zu einer Kultstätte, so seine Theorie – auch in der Bretagne gäbe es entsprechende Verbindungen zwischen alten Anlegeplätzen im Golf von Morbihan und den Steinalleen, die zu einem Cromlech (llech – das walisische und bretonische Wort für Stein) also zu einem Steinkreis führten, mit einer einzelnen rauen Granitsäule in der Mitte. Aber warum dann gleich vier Alleen parallel nebeneinander?
Zu viele Stücke fehlen für den schlüssigen Beweis. Viele Menhire sind umgefallen, zerschlagen und als Baumaterial verschleppt worden. In Plouharnel, Bretagne, lieferte ein 20 Meter langer Steinkorridor zu einem Gemeinschaftsgrab das Rohmaterial für ein nahes Dorf.
Zwischen 1830 und 1840 ist bei Saumur in Zentralfrankreich die tonnenschwere Deckplatte eines Großstein-Grabes als Brücke über einen Bach zweckentfremdet worden. Bei der Gelegenheit lernten wohl die französischen Bauern im Schweiße ihres Angesichts die Leistungen ihrer Vorfahren zu schätzen: 18 Ochsenpaare mussten vor das Trumm gespannt werden, um es zu bewegen und vier Eichen von je einem Meter Durchmesser wurden gefällt um die notwendigen Rollhölzer zu liefern, bevor die Sache auch nur in Gang kam. Eine Brücke! Welch profane Entfremdung eines Werks aus einer Zeit, in der nur höchste religiöse Ziele und die Urangst vor der Endgültigkeit des Todes die Verwendung solche Steinkolosse rechtfertigten. Die Häuser der Lebenden waren dieser Mühe nicht wert. Sie wurden aus Holz errichtet und Lehm, Schilf und anderen vergänglichen Materialien, mit einer einzigen Ausnahme: Skara Brae in den Orkneys. Dort war Holz so knapp, dass den Bewohnern der Insel nichts anderes übrig blieb, als ihre Behausungen aus flachen Steinplatten aufzuschichten. Das Aufstellen aber von massiven Steinriesen blieb eine Abnormität.
Einige Autoren haben die Fingersteine als frühgeschichtliche Kunst sehen wollen. Das widerspricht der Theorie von der religiösen Kultstätte nicht. Schließlich hat sich Andacht und Verehrung immer und überall in Kunst ausgedrückt. Kunst ist die Essenz der Andacht und ein Weg dazu. Doch wer hier verehrt wurde und warum ist damit immer noch nicht erklärt. Auch vorstellbar, dass die frühe Menschheit noch gar keine fest definierten Gottheiten verehrte, sondern sich direkt an die Natur wandte. Sie betrieben eher einen Totenkult als einen Gotteskult. Ihre Heiligen waren die Geister von Quellen, Bergen, Bäumen und Steinen. Waren die Menhire also nicht Statuen für Götter sondern selbst Götter/Geister? Und wer waren die Erbauer?
Einer lokalen Sage nach lebte hier früher eine zwergische Rasse, die Kérions oder Korrigans. Sie liebten die Steine und lebten in Löchern, die sie in die Berge gruben oder in Steinhäusern, die sie mit Zauberkraft errichteten – so erklärte man sich später die Existenz von Menhiren und Dolmen, als die Kunst ihrer Aufstellung längst in Vergessenheit geraten war. In früherer Zeit hatten die Kérions noch Umgang mit Menschen, die von weither kamen, um sie um Rat zu fragen. Heutzutage sieht man sie nur noch selten und nur am Sabbat. Es gibt alte Leute in der Bretagne, die behaupten, mit Kérions Bekanntschaft zu pflegen, aber es ist verboten allzu viel darüber zu sagen oder gar zu einem Treffen einen Fremden mitzubringen. Das würde den Zorn der Kérions nach zu ziehen. Wem sie sich zeigen, das bestimmen sie selbst. Offenbar haben sie auch entschieden etwas gegen Kameras.
Sowohl die Sage von den hilfreichen Erdgeistern, als auch die phallische Form der standing stones verleitet bis heute romantisch veranlagte Paare, Nachtens über die Schutzzäune zu klettern um bei Vollmond zwischen den Steinen Fruchtbarkeitstänze aufzuführen. Man möchte sich das lieber nicht so genau vorstellen. Angeblich ist aber manche Bretagne-Touristin dann glücklich schwanger nach Hause zurückgekehrt.
Vierzig bis 50 000 solcher megalithischer Monumente sind allein in Westeuropa bekannt. Steinkreise, Gräber verschiedener Formen, die alle nur eins gemeinsam haben: Die Verwendung von riesigen – von ‘mega’-Steinen. Ihre Maße und Gewichte sind eine Ansammlung von Superlativen.
Carnac: 4 Steinalleen, zusammen fast vier Kilometer lang;
Locmariaquer: Le Grand Menhir Brisé, der größte und schwerste aller Fingersteine, 20 Meter lang, 350 Tonnen schwer;
Morlaix: der Grabhügel Barnenez, Parthenon der Steinzeit: 14000 Tonnen Steine wurde hier aufgeschichtet;
Stonehenge: Klassisches Beispiel für frühgeschichtlichen Langstrecken-Transport. Einige der Stonehenge-Brocken stammen aus der Nähe, andere, die je 25 Tonnen schweren ‘blue stones’, kommen aus den Presely Mountains, 140 Meilen im Vogelflug von dem Heiligtum entfernt. Über den Weg und die Art und Weise des Transports ist viel geschrieben worden. Eine mögliche Landroute über die Severn nahe Gloucester wäre 180 Meilen lang gewesen, eine kurze Seeroute und über die Mendip Hills 150 Meilen, während die längste mögliche Route auf Booten oder Flößen um Cornwall herum ungefähr 400 Meilen lang gewesen wäre, aber viel mühselige Schlepperei erspart hätte. Stonehenge war ein Generationenwerk. Nur eine tiefe Überzeugung, ein fanatischer Glaube hat Menschen dazu bringen können über mehrere Generationen hinweg ein solches Werk anzupacken und zu Ende zu bringen. Denn anders als in Ägypten hatten wir es hier nicht mit großmächtigen Herrschern und einem gewaltigen Beamten-Apparat zu tun. Es war die Arbeit von Freeiwilligen. So etwas tut nur, wer an die Ewigkeit glaubt.
Das Wann hat den Forschern lange Schwierigkeiten gemacht bis zur Erfindung der segensreichen Carbon 14-Methode. Das Wie kann man als geklärt betrachten. Vorbilder dafür sind heute noch zu sehen in den Steinbrüchen von Assam und Afrika. Dort werden heute noch Steine gebrochen, wie in alter Zeit, weiterhin megalithische Monumente produziert.
Es gab mehrere Methoden: Entweder man trieb mit steinernen Schlegeln eine Rille entlang der Sollbruchstelle in den Fels und sprengte den Block dann mit Hilfe von Feuer und Wasser ab, durch Temperaturschock. Anderswo arbeitete man mit Holzkeilen, die entlang der gewünschten Bruchkante in den Stein getrieben und dann befeuchtet wurden. Durch ihre Ausdehnung sprengten sie das Stück aus dem Fels. Um aber das gewünschte Ergebnis zu erzielen, nämlich einen Block von geplanten Ausmaßen zu erhalten, musste man damals bereits die gleiche Erfahrung, Geschicklichkeit, das Gefühl für die innere Beschaffenheit des Steins besitzen, die heute noch einen guten Steinmetz oder einen Steinbildhauer auszeichnen.
Wie man die Riesensteine aufstellt, das hat Thor Heyerdahl auf den Osterinseln anschaulich vorgeführt: Ein Grube für das Fundament wurde gegraben, der Stein in eine entsprechende Grundstellung geschleppt und geschoben und dann mit Seilen in die Senkrechte gezerrt. Auch das scheint auf der ganzen Welt gleich gehandhabt worden zu sein. Flaschenzüge oder Rad kannte man noch nicht.
In Westeuropa ging die megalithische Bewegung vom iberischen Raum aus und wurde über Frankreich nach Britannien, entlang der Nordmeerküsten bis nach Polen und vereinzelt an den großen Flüssen entlang bis in die Schweiz verbreitet. Die meisten Großstein-Konstruktionen sind Gräber: Gemeinschaftsgräber, individuelle Ruhestätten, Gräber mit langen geraden oder gewundenen Zugangsalleen, einfachen oder mehrfachen Kammern, tumuli mit Erde bedeckt, auch Schlüssellochgräber, von denen meist nur noch die Frontplatte stehen geblieben ist: Einsame, abgeflachte Quader von zwei bis drei Metern Höhe mit hochgelegenem Einstiegsloch. Wozu dieses Loch im Stein? Hätte man den Toten nur dort hindurch reichen wollen, wäre es doch praktischer gewesen, einen gewöhnlichen Eingang zu bauen und danach zu verschließen. Sollten die Verstorbenen daran gehindert werden, herauszukommen und Unheil zu stiften? Oder im Gegenteil: Sollte den Seelen Gelegenheit geboten werden durch dieses kreisrunde Loch im Stein in die Freiheit zu fliegen? Wenn zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten ein Schaft Sonnenlicht in das Grab fiel, dann hätten die Seelen die Brücke aus Licht betreten können.
Es gibt Megalith Monumente am Schwarzen Meer, in Nordafrika, besonders in Algerien, im Senegal und im Sudan, auf Malta, in Persien und Indien, Assam, Sumatra, auf einigen Polynesischen Inseln, in Zentral- und Südamerika. In Japan waren Großsteingräber weit verbreitet und es existieren sogar schriftliche Quellen darüber. Aber im siebten Jh. n.Chr. wurde diese Tradition plötzlich abgebrochen: Kaiser Kôtoku verbot den Bau solch extravaganter Ruhestätten – wegen der Verschwendung menschlicher Arbeitskraft.
Die best erhaltensten Zeugnisse alter Kulturen sind noch in der Sahara zu finden. Angefangen von Feuersteinwerkzeugen und Schleifwannen, die man an manchen Stellen so unversehrt findet, als seien sie gestern gefertigt worden, kann man unerwartet im Wüstensand auf Steinssetzungen stoßen: Auch hier Dolmen, Trilithe – drei Steinsäulen mit einer Deckplatte, mehrreihige Steinkreise und Croissants, sichelförmig angelegte Steinsetzungen, die wohl den Dünen abgeschaut waren.
Von einer wunderbaren, einfachen Würde sind die dallages am algerischen Ahaggar-Gebirge: kreisförmige oder quadratische Areale, die mit schwarzen Steinen gepflastert sind, manche von menschlicher, andere von gigantischer Größe. Niemand weiß, wie viele von ihnen es in der Weite der Wüste noch gibt, wie viele unter Wanderdünen verschwunden sind. Waren es Gebetsstätten? Der Mensch scheint ja sehr früh das Bedürfnis entwickelt zu haben, die höheren Mächte auf sich aufmerksam zu machen. In Europa wurden zu diesem Zweck Kathedralen errichtet. In der Einsamkeit der Sahara genügte dazu ein Kreis aus Stein: ‘Schau her, hier bin ich. Hör mich an.’ Und warum war Gott immer im Himmel, immer oben? Das hat mit dem Inbegriff von Macht zu tun, den wir schon als Kinder lernen: Klein sein bedeutet, schwach, hilflos zu sein, ausgeliefert. Die Großen sind die, von denen Wohltaten und Bedrohung ausgehen. Sie türmen sich über uns, ihre Augen können Blitze schleudern und sie tun, was ihnen beliebt.
So weit verbreitet und in einem relativ zur Menschheits- und Erdgeschichte, sehr kurzen Zeitabschnitt von 3000 Jahren gedrängt, wie die Megalith Kulturen waren, möchte man gern glauben, dass sie gemeinsame Schöpfer, einen universellen Zweck hatten. Im 19 Jh. war die Ansicht verbreitet, alle diese Monumente seien Spuren einer Herrenrasse, den ‘Kindern der Sonne’, die sich von Ägypten her über die Welt ausgebreitet hätten. Heute vertritt man diese Meinung nicht mehr, wohl weil man von Herrenrassen ein für alle Mal genug hat. Das Einzige, das diese Werke miteinander gemeinsam haben, ist nach unserem Kenntnisstand die Übergröße. Vielleicht war es im Verlauf der Ich- und Welterkentnis des Menschen an der Zeit, sich zum ersten Mal am Gigantismus zu versuchen.
Am beeindruckensten aber von allen megalithischen Hinterlassenschaften scheinen die einzeln stehenden Steine zu sein. In wie vielen Sagen, in Literatur und abergläubischen Volksmärchen spielen sie eine Rolle! Sie berühren etwas in unserem Unterbewusstsein. Das Aufrichten aus der Vierfüßler Haltung ist ein elementarer Schritt in der Menschwerdung gewesen. Aufrichten heißt weiter schauen, mehr sehen. Auch: sich größer machen – bei vielen Säugetieren und in allen menschlichen Kulturen eine Drohgebärde. In jedem Fall ist das Aufrichten, der erhobene Finger, die Senkrechte eine Aufmerksamkeits-heischende Geste.
Und mehr als das: Sich Aufrichten bedeutete für den frühen Menschen: Sich dem Himmel nähern, den Göttern entgegen treten. Nicht ohne Grund ist der Baum (in Abwandlung: das Kreuz) eines der wichtigsten Symbole der Menschheit, in allen Kulturen bekannt und in vielen Märchen und Mythen verewigt als Himmelsbaum, an dem die Planeten hängen, als Lebensbaum, kosmischer Baum der parsischen Avesta, im Ägyptischen Totenbuch, als Nabel der Welt; im Judentum wie im Christentum gibt es ihn. Die Esche Yggdrasil, tausendfach in Stein geschlagen in Form der Rune HAGAL oder HAGALAZ aus dem Jüngeren (neueren) Futhark, dem germanischen Runenalphabet: HAGAL ist entstanden aus den Runen YR für Eibe oder Esche, die die Verbindung zum irdischen Hier bezeichnet (auch ALGIZ nach dem älteren Futhark) und der Rune MAN oder MANNAZ, die den Einfall göttlichen Lichts darstellen sollte – aus beiden ergibt sich ein Baum, dessen Zweige nach oben und nach unten zeigen, der menschliche und göttliche Sphäre miteinander verbindet. Und so drückte auch mancher Fingerstein ein erstes Streben aus, nach oben im Versuch, der leidensvollen Verhaftung mit dem irdischen Leben zu entgehen; eine Sehnsucht nach Versöhnung der irdischen und der himmlischen Welt.
Die schönste Auslegung von Fingersteinen ist die für den Ursprung ägyptischer Obelisken. Laut dem römischen Offizier und Universalgelehrten Plinius dem Älteren sollten diese ‘Balken’ aus Granit die Sonnenstrahlung nachahmen und das sei die Bedeutung des Wortes. Heute wissen wir, dass dieTradition der Obelisken von Vorgängern der Pharaonen stammt: Atum, der Gott von Heliopolis, so glaubte man, sei seinem Volk zuerst in einem Fels erschienen, der sich aus den Urwassern erhob, um das Strahlen der Sonne auf seinem Gipfel zu empfangen. Folglich wurden im Haupttempel ein hoher Stein aufgestellt, vermutlich von einem Deckstein aus Gold gekrönt. Die Nachfolger-Kultur übernahm diese Sitte und passte sie ihrem ästhetischen Empfinden und handwerklichen Geschick an. Zwei Obelisken, auf den Befehl der Pharao-Regentin Hatschepsut errichtet, hatten Spitzen aus Bernstein, die die Sonnenstrahlen einfangen und verstärken sollten.
Oder sollten mit Menhiren, Dolmen, Obelisken tatsächlich erd- und kosmische Strahlungen aufgefangen werden? Und wie sollten unsere primitiven Vorfahren darauf gekommen sein? Es gibt Orte auf dieser Erde deren besondere Kraft sich sensiblen Menschen mitteilt, oder wie der französische Schriftsteller Maurice Barrès schrieb: “Stätten, wo der Geist weht”: (Es soll aber nicht verschwiegen bleiben, dass Barrès ein rassistischer Nationalist war, dessen Sorte sich nur allzu gern jeglichem altertümelndem Mystizismus hingibt.)
Dennoch: Ist es nicht so, dass wir uns an manchen Orten wohl und innerlich bestärkt und an anderen instinktiv unwohl fühlen? Ist es nicht denkbar, dass die Menschen einer früheren Zeit, in der die Erde noch nicht so überbaut und sie selbst von keiner Reizüberflutung abgelenkt waren, dass sie damals solche Orte stärker empfanden? Man sagt uns, die Erde sei von energetischen Linien überzogen, einem ganzen Netz davon. Es seien Erdströme, hervorgerufen durch die Erdbewegung, Magnetismus und unterirdische Gewässer. Forschungen haben ergeben, dass sich viele megalithische Monumente, Pyramiden, Tempel und Kathedralen gerade über solchen energetischen Knotenpunkten befinden. Menhire könnten aufgestellt worden sein, um diese Kräfte zu nutzen. Steine können Strahlungen speichern und abgeben, das ließ sich an einem sonnengewärmten Stein leicht erfahren. Sonne ist Lebenskraft, Fruchtbarkeit. Steine können Kraft speichern und Dolmen Konstruktionen oder Steinkreise darüber hinaus wie Verstärker wirken. Das Aufrichten ‚steinerner Balken’ schafft zusätzlich noch die Verbindung zwischen Himmel und Erde, ein mächtiges Instrument und ein Zweck, eine Notwendigkeit, die den schier unvorstellbaren Aufwand erklären würde, der hier betrieben worden ist. Nur eine tief empfundene Dringlichkeit, keine frivolen Eitelkeiten, könnten die Erfindungen ausgelöst haben, die zur Errichtung dieser Giganten nötig waren. Manche wollen die Dolmen mit ihren drei oder vier Säulen, der Deckplatte und der Höhle darunter als kosmische Musikinstrumente sehen. Die Deckplatte wäre demnach die Klangplatte eines gigantischen Xylophons und die Höhle darunter der Resonanzboden. Steine, die unter Spannung stehen, kann man mit einem Fingernagel klingen lassen. Und Musik besitzt eine eigene Magie, die in Kirchen und Tempeln immer schon eingesetzt worden ist. Das ist ein uralter Instinkt. Eine solche Auslegung der Megalith-Monumente ist verführerisch. Sie würde vieles erklären und praktisch keine Ungereimtheiten übriglassen, wie alle anderen Erklärversuche. Ein Menhir, der die Musik des Universums empfängt und weitergibt – welch wunderbare Vorstellung!
Stelen, Fingersteine, Säulen, Obelisken – sie alle erscheinen uns geheimnisvoll und ein wenig bedrohlich, je älter sie sind und je weniger wir über die Erbauer wissen. Vollends unheimlich wird es, wenn die Natur selbst solche Formen geschaffen hat. Fingerförmige Felsen haben seit dem Mittelalter oft die Kulisse für Schauergeschichten über Teufel und Hexen abgegeben. So gibt es im Crau, einer steinigen Gegend der Provence, einen einzeln stehenden, steilen Felsen, auf dem nächtlichen Reisenden der Teufel Matagon zu erscheinen pflegte. Er wollte nichts weiter als einen ehrlichen Handel abschließen. Unterschrieb man ein Papier, auf dem man ihn als Fürsten der Welt anerkannte, so wollte er dafür den neuen Untertanen mit Reichtümern überhäufen. Die Sache war durchaus freiwillig, es ist also gar nicht einzusehen, warum dem armen Matagon ein solch übler Ruf anhaftet. Es war doch bloß Wahlkampf.
In einigen nordischen Kulturen glaubte man, dass die Seelen von Toten gern solche Steine aufsuchten. Angenehmer ist die Vorstellung, dass Elfen in oder unter solchen Steinen wohnen. Das mit den Feen, den Fairies, sidhe (sprich:schii) oder Tuatha Dé Danann stammt von den Kelten. Nachdem sie von den Milesiern, dem fünften Einwanderervolk Irlands besiegt worden waren, gingen die sidhe unter die Erde, wo sie sich wunderbare Reiche mit künstlicher Sonne geschaffen haben. Über der Erde gibt es Orte, die den sidhe heilig sind und die der Mensch besser nicht profaniert, Steinkreise, Dolmen zum Beispiel. Dort können besondere Menschen auch mit ihnen Kontakt knüpfen. Aber Vorsicht: Sie haben ihre Vertreibung durch Menschen weder vergessen noch vergeben und spielen ihnen gern einen Schabernack. Man kann sie mit Musik besänftigen, die sie lieben oder mit einer Schale Milch auf dem Fensterbrett. Auf keinen Fall darf man ihre Wege und Häuser überbauen oder ihre Steingärten zerstören, um Ackerfurchen zu ziehen. Erstaunlicherweise halten sich, wenn auch verschämt, noch heute in England, Schottland, Irland und Island viele, selbst junge Leute an diese alten Regeln. Man weiß ja nie. Island besaß sogar einen staatlich besoldeten Beamten für das Troll- und Feen-Wesen, der in Zweifelsfällen zu Rat gezogen wurde.
Als die Kelten Frankreich und die britannischen Inseln besiedelten war die Zeit des Megalithikums noch nicht so weit entfernt. Man kann annehmen, dass sie um deren Bedeutung und Verwendung wussten. Die alten Steinsetzungen wurden jungen Religion einverleibt, wie das oft war. Die Kelten verzierten viele Menhire mit ihren Zeichen, mit dem keltischen Kreuz, den verschlungenen Knotenmustern, Göttersymbolen und mythischen Tieren, Ogam- oder Ogham-Inschriften und stellten auch eigene Steinsäulen auf. (Ogam ist eine aus Strichen bestehende Symbolschrift der Kelten gewesen. Nach einer Annahme wurde sie durch lybische Missionare nach Irland gebracht und die keltische Bevölkerung hat sie gelernt, weil die Mönche ihre Bekehrungsbotschaft in dieser Schrift auf die uralten Menhire einritzte. Da wollten die Kelten unbedingt wissen, was das für Zauberzeichen waren...)
Der bekannteste keltisch-mythische Stein ist der Lia Fál, der irische Königsstein. Diese Steinsäule soll die Eigenschaft haben, laut aufzuschreien, wenn ein rechtmäßiger Herrscher sie berührt. Sie taucht in der Artussaga auf als Prüfstein für die Würdigkeit eines der Teilnehmer an der Tafelrunde.
Die alten Fingersteine und Skulpturen werden heute noch als Orte voller übernatürlicher Energien empfunden, und tatsächlich, wenn man es fertigbringt, an einem solchen Stein allein oder in der Runde Gleichgesinnte eine Nacht zu verbringen, dann wird man Empfindungen erleben, die sich mit unseren heutigen Vorstellungen und unserem spöttisch-überheblichen Weltbild schwer vertragen. Fühlt man sich beschützt oder bedroht, das hängt wohl vom eigenen Gewissen ab. Die grauen Riesen sind alt und schweigsam, aber sie haben eine unleugbare Präsenz, die eine Auseinandersetzung mit sich selbst herausfordert. Die schweigsamen Steine wurden aufgestellt, um Botschaften zu übermitteln. Stellt man den Lärm der Zivilisation für ein paar Stunden ab, werden sie zu uns sprechen in der universellen Sprache des Instinkts? Die Geschichten über Mutproben, bei denen Menschen für immer verändert wurden, werden ihre Wurzeln schon haben. Oder findet das alles nur in unseren Köpfen statt?
An der australischen Westküste, im Nirgendwo 245 km nördlich von Perth, gibt es ein einzigartiges Naturschauspiel, für die Aborigines heilig, von den eingewanderten Engländern respektlos ‘pinnacles’, Spitztürmchen, getauft. Man sieht dort auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern 150.000 Kalksteinspitzen aus dem Quarzsand ragen, alles blass gelb, die ganze Szenerie. Die Spitzen sind bizarr gezackt und variieren in der Größe von einigen Zentimetern bis zu vier Metern Höhe. Läuft man zwischen ihnen entlang im weichen Sand, fühlen wir uns wie auf einem futuristischen Planeten. Als die Mannschaft eines holländischen Handelsschiffs an dieser Küste an Land ging vor etwa dreihundert Jahren, da hielten sie die Steinformation für Ruinen einer antiken Stadt. Tatsächlich sind es Wurzelzwischenräume. Auf wesentlich höherem Niveau stand vor etwa 30 000 Jahren ein Wald. Der Wald starb ab, aber die Wurzeln dieses sterbenden Waldes blieben solange im Boden erhalten, dass sich die Erde rundumher zu Kalkstein verfestigte. Dann endlich verrotteten die Wurzeln. Der Humus und die lockeren Böden wurden durch Wind und Wasser abgetragen, bis nur die Zwischenräume zwischen den ehemaligen Wurzeln stehen blieben. Das ist das Geheimnis der pinnacles. Die Ureinwohner dagegen glaubten, dass es sich um versteinerte Krieger aus der Traumzeit handelte, ein Teil ihrer mündlich tradierten Geschichte.
Man sieht also, dass aufrecht stehende Steine, ob natürlich oder menschengemacht, einen hohen Aufmerksamkeitswert haben.
Alle Kinder sind von wohl Hünengräbern und Schatzsuchen fasziniert. Auch ein gewisser Johann Joachim Winckelmann aus Stendal ist als kleiner Junge unter den gigantischen Steinen herumgekrochen und hat seine Altersgenossen dazu angestiftet, nach Urnen zu buddeln. Aus ihm wurde dann ein Begründer der modernen Archäologie.
Nun leiden wir Deutschen ja darunter, dass unsere Vorfahren so wenig vorzeigbar sind. Die Ägypter haben Pyramiden gebaut, die Griechen herrliche Skulpturen aus Marmor geschaffen und die Demokratie erfunden, die Mayas bilderübersäte Observatorien hinterlassen – von unseren germanischen Vorvätern lässt sich leider nur sagen, dass sie großartige Raufbolde und ausdauernde Säufer waren. Alles, was sie uns gegeben haben sind ein paar grobschlächtige Hinkelsteine. Da kann es nicht verwundern, dass die Nationalsozialisten eben die Härte und Anspruchslosigkeit als beste germanische Eigenschaften betonten. Was anderes war ja nicht da.
Zur Ehrenrettung unserer Ahnen schritt kürzlich der Oberkustos des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin, Dr. Klaus Goldmann. Er stellte die Theorie auf, dass den Germanen in Sachen Nachruhm ihr Reichtum zum Verhängnis wurde, ihr Reichtum an Holz nämlich. Und außerdem scheint sich da schon in römischer Zeit ein Dreckfuhler eingeschlichen zu haben: Ein Übersetzungsfehler machte aus reichem Kulturland einen düsteren Sumpf:
Germanien – ein unpräziser Begriff, aber Sie wissen, was ungefähr gemeint ist – war noch in römischer Zeit mit einem solchen Waldreichtum gesegnet, dass Reisende aus fernen, bereits abgeholzten Ländern davon schwärmten. Insbesondere werden die hochgewachsenen, geraden Stämme erwähnt. Die bei Ausgrabungen aus Torf und Mooren gefundenen außerordentlich gerade gewachsenen Stämme, oft von exakt gleichem Durchmesser lassen sogar an erfolgreiche Forstwirtschaft denken. Bis ins Mittelalter hinein wurde fast ausschließlich mit Holz gebaut, Gegenstände und Verzierungen in Holz geschnitzt und mit Pflanzenfarben bemalt.
Vorstellbar ist also, dass, wie Dr. Goldmann schreibt, in Alteuropa durchaus ein geordnetes Staatensystem mit verfeinerter Kultur existiert hat. Nur sind aufgrund der Vergänglichkeit des Materials Holz kaum noch Spuren davon zu finden. Mit den wenigen gehobenen Schätzen scheint man auch unsachgemäß umgesprungen zu sein. Vieles wurde aus Unwissenheit zerstört. So sind aus Mooren bei Nydam, Dänemark, hölzerne Schilde geborgen worden. Da sie schmutzig waren, wurden sie als erstes mit einem Wasserschlauch abgespritzt. Viel zu spät fiel einem Archäologen auf, dass, was da heruntertropfte, nicht nur Schlamm, sondern auch Farben waren. Die prachtvolle Malerei war fortgespült worden. Jetzt weiß man es besser und es sind neue Funde zu erhoffen.
Weil also unsere Vorfahren kaum Stein genutzt haben, sieht es heute so aus, als seien sie unkultivierte Barbaren gewesen. Dazu kam die Arroganz der römischen Eroberer, die naturgemäß ihre Feinde nicht im besten Licht erscheinen ließen in ihren Berichten. Kolonialherren rechtfertigen ja immer ihr Tun durch kulturelle und nicht durch militärische Überlegenheit. Auch die römischen Missionare ließen es im Nachhinein so aussehen, als habe die Zivilisation erst mit ihrem Kommen angefangen.
965 n.Chr. bereiste der jüdischer Händler Ibrahim Ibn Jakub im Auftrag des Kalifen Hakan II. von Cordoba die nördlichen Länder Mitteleuropas, insbesondere Mecklenburg, Sachsen und Böhmen. Er schrieb einen ausführlichen Reisebericht, der leider nur in Abschriften überliefert ist, weil die Bibliothek von Cordoba einem christlichen Autodafé zum Opfer gefallen ist. Ibrahim Ibn Jakub beschreibt diese Länder als reich an Getreide, Fleisch, Honig und Fischen. Hirse, Gerste und Weizen soll zweimal jährlich geerntet und bis nach Byzanz exportiert worden sein. Ebenso sollen die Germanen mit Reitpferden gehandelt haben, die man schließlich nicht gut in dichten , sumpfigen Wäldern züchten kann.
Ein späterer Kopist/Übersetzer hat dann den Sinn des Textes fast ins Gegenteil verkehrt: Das Missverständnis bezieht sich auf das arabische Wort ham’a, das anscheinend in dieser späteren Übertragung einfach mit ‘Morast’ übersetzt wurde. Das passt aber nicht zu den reichen Getreideernten. Man hätte es mit Lehm und Ton übersetzen müssen, was mehr Sinn macht. Laut Dr. Goldmanns Forschungen war das betreffende Gebiet nämlich trocken gelegtes, fruchtbares Land. Dann gibt es da noch das Wort giyad, Plural von gaida, was man sowohl als sumpfiges Dickicht, als auch als trocken gelegtes Land nehmen kann. Viel von dem trocken gelegten Land wäre demnach später wieder versumpft und überwuchert worden, nach Entvölkerung weiter Landstriche durch Krieg und Epidemien.
Deshalb also glauben einige moderne Altertumsforscher, dass Germanien nicht das finster-trübe Barbarenland gewesen ist, das Tacitus beschrieben hat, sondern durchaus eine Hochkultur mit Schrift und Kunst, nur leider einer sehr vergänglichen.
Auch die Wikinger waren wohl nicht die Vorzeit-Hooligans, als die sie neuerdings gern dargestellt werden. Weder das, noch ein Heldenvolk oder gar weitgereiste Diplomaten. Die Wahrheit liegt wie immer dazwischen. ‘Die Wikinger’ als Volk hat es nie gegeben. Altnordisch vikingr heißt einfach ‘Seeräuber’ und bezeichnet daher nur einen Teil der ausgedehnten und differenzierten skandinavischen Bevölkerung, einen ziemlich großen Teil – zugegeben – sonst hätten sich ihre Raubzüge nicht so eingeprägt. Aber schließlich machen auch heute eine Handvoll brauner Dorfterroristen mehr Schlagzeilen als der viel größere friedliche Rest der Bevölkerung. Ein englischer Wissenschaftler hat den Wandel der Wikinger vom Seeräuber zum Eroberer treffend so beschrieben:
“To viking war eine saisonale Beschäftigung. Im Winter ließ es sich nicht gut reisen und kriegführen, ob zur See oder auf dem Land. Also ging man heim mit seinem Erwerb zu Eltern, Frau und Kindern, reparierte das Dach, kratzte dem Hausschwein den Rücken, zeugte ein neues Baby und wartete den nächsten Ruf zu den Waffen ab. Aber im Ausland zu überwintern .... gab dem vikingen eine neue Wendung: Wenn einen Winter, warum nicht zwei, wenn zwei, warum nicht drei? Die Winter waren wärmer im Süden, die See gefror niemals, das Land war gut und wartete darauf, eingenommen zu werden. Warum überhaupt nach Hause zurückkehren?”
Abgesehen von schönen Schmiedearbeiten und Schmuck, haben die Wikinger vor allem eines hinterlassen, das bei den Neoromantikern heute hoch im Kurs steht: Runensteine, roh zugerichtete Findlinge einfach, in die Runenzeichen eingemeißelt sind. Ich rechne sie wegen ihrer Wirkung ebenfalls zu den ominösen Fingersteinen. Zu Beginn des ersten Jahrtausends waren magische und religiöse Inschriften häufig. Eine andere Gruppe dagegen stellt Rechtsdokumente dar. Interessanterweise handelte es sich dabei meist um Gedenksteine an gefallene Männer. Sie wurden überwiegend von den hinterbliebenen Ehefrauen in Auftrag gegeben, weniger aus Pietät, als um sofort die Erbfolge klarzustellen und die Witwen abzusichern. In späterer Zeit und je weiter weg von der Heimat sie gefunden wurden, hatten die Runen dann oft nur noch Graffiti-Charakter: ‘Hägnar war hier!’
In Schweden gibt es 3000 erhaltene Runeninschriften, in Norwegen etwa sechzig, in Grönland fünfundsiebzig und im kleinen Dänemark immerhin 200. Und obwohl Dänemark so reich an Runensteinen ist, hat es einen 87 Jahre dauernden Vorgang zwischen Preußen und Dänemark gegeben wegen eines einzigen Runensteins, noch dazu einem, der, wie sich herausstellte, doch nur der Graffiti-Sorte angehörte...
Man muss sich vorstellen: seit der Renaissance war das Interesse an der Antike wiedererwacht, an der Philosophie, der Medizin, der Magie, vor allem aber an ihrer Kunst. Seither war gierig und systemlos gesammelt, aber auch vieles zerstört worden. 1762 erschien Winckelmanns ‘Geschichte der Kunst des Altertums’, das erste systematische und umfassende Werk über die Entwicklung der antiken Kunst, ein Bestseller der so packend geschrieben war, dass er die gebildete Welt mit Begeisterung für antike Schätze erfüllte und praktisch die Klassik einleitete.
Der Hohenzollernprinz Friedrich Carl Nikolaus von Preußen war so ein Antikensammler, ein wenig wahllos zwar und ohne Respekt, dafür aber von großer Begeisterung. Zu seinen Souvenirs aus aller Welt zählten ein Boot und ein Anker unbekannter Herkunft, 2 nordische Streitäxte, Schildbuckel, Türbeschläge sowie ein Mumiensarg aus Theben, den er 1883 der Ägyptischen Abteilung des Neuen Museums zu Berlin schenkte. Die Mumie hatte er allerdings zuvor im Billardzimmer seines Jagdschlosses Dreilinden “unter den erläuternden Bemerkungen” anwesender Fachleute auswickeln lassen. Und im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 hatte er eben einen wikingischen Runenstein mitgehen heißen, um ihn später bei seinem Jagdschloss Dreilinden aufstellen zu lassen. Der Königliche Oberstabsarzt Friedel, berichtete darüber in einem Brief an seinen Bruder:
“Lieber Ernst! ... Der Runenstein stammt vom Ochsenwege dicht bei Rothenkrug nahe Apenrade, woselbst er herrenlos dastand und von Prinz Friedrich Carl mitgenommen wurde.” (Der ‘Ochsenweg’, das war jene engste Stelle zwischen Ost und Nordsee, an der die Wikinger ihre Drachenboote zwecks Weiterreise über Land gezogen hatten.)
Seltsamerweise war es ausgerechnet im Jahr 1864, angeblich kurz vor der Entführung des Steins, dass in Dänemark über ihn geschrieben wurde. Plötzlich war er ein “kleines nationales Heiligtum”. Die Inschrift lautete “hairulfr” und kein Mensch wusste damit etwas anzufangen. In Deutschland wurde die ‚Erwerbung‘ bekannt durch Theodor Fontanes Dreilinden-Kapitel aus ’Neues aus der Mark Brandenburg’.
Zunächst wurde der Stein noch einige Male erwähnt, unter anderem auf den Dreilindener Menu- und Tischkarten als nordgermanisches Heldendenkmal. Dann geriet das Ding in Vergessenheit. In den 1930ern tauchte es wieder auf. Das Interesse an Heldendenkmälern war schließlich immens gestiegen. Eine Rückgabe an Dänemark wurde von einigen Wissenschaftlern vorgeschlagen aber dazu kam es nicht. Runenforscher und SS stritten sich nun um das gute Stück. Da man aber vordringlichere Probleme hatte, blieb es, wo es war. Nach Kriegsende war das Schloss Dreilinden zunächst von US-Militärs kassiert und für Deutsche verboten. Erst 1951 konnte Ernst Reuter den “Hairulfr”-Stein in einem feierlichen Akt dem dänischen Botschafter übergeben. Der versicherte, ganz Dänemark freue sich über die Rückgabe, die ein Beweis des guten Willens zu herzlichen, nachbarschaftlichen Beziehungen sei.
“Hairulf-R”, so weiß man heute, heißt ‘Heerwolf’. Und der war entweder ein gefallener Seeräuber oder ein Runenmeister, der wissen lassen wollte, dass er hier vorbei gekommen ist.