Читать книгу Der Sommer mit dem Erdbeermädchen - Sabine Ludwigs - Страница 7

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Nick Ritter ließ seinen Blick ein letztes Mal über das Zeugnis schweifen. Dabei kaute er auf der glatten Innenseite seiner Backe herum, als wäre sie aus Kaugummi.

Das Zeugnis war okay, fand er. Es machte zwar nicht so viel her wie das letzte, in dem er, bis auf zwei Befriedigend in Kunst und Religion, nur Zweier gehabt hatte – diesmal war es umgekehrt. Außerdem stand er in Mathe und Englisch ausreichend. Aber er war ohne Schwierigkeiten in die zehnte Klasse versetzt worden. Und darauf kam es schließlich an. Er hörte mit dem Kauen auf, stopfte das Blatt in seinen Rucksack und verschloss ihn.

Es gongte.

„Auf Wiedersehen und schöne Ferien“, verabschiedete Frau Winter sie in bester Stimmung. Die Klassenlehrerin packte ihre Sachen ähnlich hastig zusammen, wie ihre Schüler es taten.

Nick verstand das gut. Sie schien ja kaum viel älter zu sein als die aus der Oberstufe. Wenn Frau Winter als Pausenaufsicht über den Schulhof schlenderte, konnte man sie leicht mit einer Schülerin verwechseln. Ihm, Nick, war das schon einmal passiert: Er hatte Frau Winter einen freundschaftlichen Rempler verpasst, weil er glaube, sie wäre Katharina. Zum Glück war Frau Winter nicht verärgert gewesen. Sie lachte lediglich über sein verdutztes Gesicht.

Und nicht nur sie.

Als Nick an Katharinas Lachen dachte, wurden seine Ohren rot. Das merkte er an der kribbelnden Hitze. Drachenohren nannte seine Mutter dieses Phänomen.

Die bekam er andauernd, wenn er an Katharina aus der Parallelklasse dachte, weil ihn das nämlich unweigerlich an seine erste richtige Knutscherei erinnerte.

Das war auf Katharinas Geburtstagsfete im Juni gewesen, zu der sie ihn überraschenderweise eingeladen hatte. Die meiste Zeit stand er abseits und schaute den anderen beim Tanzen zu. Bis Katharina ihn an der Hand in das Getümmel schleifte. Während Bruno Mars „Just The Way You Are“ sang, schmiegte sie ihre Wange gegen seine.

Nach zwei weiteren Songs, von denen Nick nur noch wusste, dass sie definitiv sehr langsam gewesen waren, weil er mit Katharina Klammerblues getanzt hatte, entführte sie ihn aus dem elterlichen Partykeller in den Garten.

In dem Schatten einer Laube, gegen die geweißte Holzwand gelehnt, küssten sie sich. Katharinas Zunge drängte sich zwischen seine Lippen. Sie erforschte das Innere seines Mundes wie ein kleines, neugieriges Tier.

Noch heute, Wochen danach, erinnerte er sich genau an Katharinas Küsse mit dem Pfefferminzgeschmack und an diesen eigenartigen Zustand, in den sie ihn versetzt hatten. Erstmals bekam er eine Ahnung davon, was es hieß, sich unsterblich in jemanden zu verlieben – und er fand es so aufregend, dass er befürchtete, aus seinen Ohren könnten Flammen züngeln, wenn er daran dachte.

Er vermutete, sie mit seiner Unerfahrenheit enttäuscht zu haben. Jedenfalls war es seitdem zu seiner grenzenlosen Enttäuschung zu keiner weiteren Schmuserei mit ihr gekommen.

Das vierklängige Gongen verebbte. Dafür schwollen Stimmengewirr und Gelächter an, wurden lauter und schriller, verdichteten sich zu der typischen Geräuschekakophonie einer Klasse und schließlich, in den Gängen, einer Schule, vor deren Schülern ein langer Sommer lag.

Eine Woge junger Menschen wälzte sich aus dem Gebäude. Nur wenige von ihnen traten den Heimweg zu Fuß an. Ein Teil strebte in Richtung Bushaltestelle, ein weiterer zu wartenden Autos oder wie Nick, Lukas und Marvin zu den Fahrradständern.

„Endlich Ferien!“ Marvin grinste. „Wir fliegen heute Nacht nach Mallorca. Drei Wochen!“

„Und wir in die Türkei“, sagte Lukas. Er war Nicks bester Freund und Stürmer beim SUS Grüne Halde, in dem Nick als Verteidiger spielte.

„Na ja, vielleicht schießt du danach ja wieder ein paar Tore für uns, Luki“, frotzelte Marvin, der Torwart ihres Vereins. „Wäre echt nicht schlecht, Alter!“

„Was soll das heißen?“ Lukas ging zu Marvin hinüber, der in gebeugter Haltung an seinem Fahrradschloss hantierte. „Bin ich etwa der einzige Spieler in der Mannschaft oder wie?“

„Quatsch, Mann. Aber in letzter Zeit hast du einiges verkackt. Und wir haben ewig verloren.“ Marvin richtete sich herausfordernd auf. „Und du bist schließlich Stürmer.“

„Ah ja? Tja, Scheiße, dass wir keinen Torwart haben, der besser hält.“

„Sag ihm, er soll sein Maul nicht zu weit aufreißen, Nick.“

Aber Nick hatte bei dem üblichen Gezänk seiner Freunde bereits abgeschaltet. Er erging sich in einem Tagtraum, in dem er als Stürmer der deutschen Nationalmannschaft (in seinen Träumereien war er stets Stürmer, nicht Verteidiger) unaufhaltsam über das Grün fegte – ja, fegte!

Es ist ein Finalspiel der Weltmeisterschaft gegen die „Three Lions“. Im ausverkauften Westfalenstadion sind die Augen aller auf Nick Ritter gerichtet. Die Anfeuerungsrufe der Fans werden nur von der sich überschlagenden Stimme eines Sportreporters übertönt: „Und da läuft er! Ritter, Nick Ritter, die Hoffnung der Nation, mit der 13 auf dem Trikot, seiner Glückszahl. Er lässt Rooney mit Leichtigkeit hinter sich. Lampert spielt er ebenfalls aus. Es ist un-glaub-lich, was der entfesselte Ritter mit den Engländern anstellt, un-glaub-lich! Der Abwehrkern von John Terry und Ashley Cole bricht unter der Wucht von Ritters Lauf zusammen, ja, er zersplittert regelrecht. Die deutschen Fans sind außer Rand und Band. Ritter ist jetzt vor dem Tor der Inselkicker. Und er zeigt keine Nerven! Ein kurzer Blick, ein Schuss … der Ball fliegt … fliegt … unhaltbar für David James! Tooor! Tooor! Der Dortmunder Ritter holt in seiner Heimatstadt ein weiteres Mal den WM-Titel für Deutschland!“

Und dann das Blitzlichtgewitter, seine Mitspieler, die ihn auf Schultern tragen, das Wogen der schwarz-rot-goldenen Fahnen die geschwenkt werden, die Sprechchöre der Fans: „Nihick! Nihick! Nihick!“

Der frenetische Jubel verhallte, als Lukas ihn anstieß. „Ey, merkst du noch was?“

Nick blinzelte. „Ach, halt die Klappe, du Lauch“, entgegnete er gutmütig. „Und du auch, Marvin. Ihr habt sie ja nicht mehr alle! Wir pöhlen in derselben Mannschaft. Ich hab’ echt keinen Bock, mir euren Mist reinzuziehen.“

Er stieg auf sein Rad und wartete, bis die zwei ebenfalls auf ihren Rädern saßen. Zu dritt ging es los, und je weiter sie das Schulgebäude hinter sich ließen, desto besser fühlte sich der Sommer an.

Marvin bog nach einigen Metern rechts ab. Er klingelte Sturm. „Bis dann!“, grölte er. „Macht’s gut, Leute!“ Nick und Lukas ließen zum Abschied ebenfalls ihre Klingeln ertönen und johlten: „Bis dann, Alter!“

Nach einigen Minuten kamen sie in ihre verkehrsberuhigte Gegend. Die Straße beschrieb einen weiten Bogen, bevor es bergab ging und die Räder noch mehr an Fahrt aufnahmen.

Luki legte sich rasant in die Kurve zur Zechengasse. Er raste in irrwitzigem Tempo unter den ausladenden, Schatten spendenden Kastanien dahin.

An den Fahnenmasten, die in den meisten Vorgärten standen, wehten die schwarz-gelben BVB-Fahnen der Borussiafans neben deutschen Nationalflaggen und einigen türkischen. Aber das Meer von schwarz-gelben Fahnen überwog bei Weitem! Der Stolz über den Deutschen Meistertitel, den ihre Jungs frühzeitig geholt hatten, war überall in Dortmund spürbar.

Hüseyin Yilmaz, der, sehr zum Verdruss der meisten Anwohner, den letzten bevölkerten Taubenschlag in der Siedlung unterhielt, ließ eben einen Schwarm aufsteigen. Sein Sohn Okan war eine Klasse unter Nick und Lukas. Die zwei Jungen drosselten das Tempo, als sie Yilmaz’ Garten passierten, und grüßten lauthals. Yilmaz winkte.

In gemächlicherer Geschwindigkeit rollten die Jungen mitten auf der Straße weiter, Lukas vorneweg.

„Achtung, Auto!“, rief Nick hinter ihm. Ein nicht unüblicher Warnruf in der ehemaligen Bergmannssiedlung, in der man mitten auf der Straße pöhlte, skatete oder sonst was tat. Luki zog mit seinem Rad rechts rüber, bis der dunkle BMW, aus dem Technomusik hämmerte, vorbeigefahren war und in einem Carport verschwand.

Schließlich bremsten sie vor einem aufwendig restaurierten Steigerhaus, das Nicks Vater, der in einer ähnlichen Siedlung aufgewachsen war, in den neunziger Jahren gekauft hatte.

Lukas Familie wohnte in dem Gebäude nebenan. Es war eines von den roten, modernisierten Backsteinhäusern, das sich hinter den Rhododendren im Vorgarten zu verstecken schien. Die Siedlung war nach und nach umgestaltet und auf den neuesten Wohnstandard gebracht worden. Den alten Baumbestand und die großen Gärten hatten die Planer erhalten, weswegen die Häuser heiß begehrt waren.

Wie meistens blieben die Freunde auf dem Bürgersteig stehen und unterhielten sich noch ein bisschen. Dabei beobachteten sie, wie Herr Guth seinen Cockerspaniel Nero mitten auf dem Bürgersteig einen Haufen machen ließ.

„Schweinehund“, sagte Lukas laut genug, dass Herr Guth es hören musste. Nick kicherte nervös über diese Kaltschnäuzigkeit. Er wusste nicht, ob Luki den Hund oder den Mann meinte. Aber Guth, ein ehemaliger Zollbeamter, reagierte sowieso nicht, der hatte ein dickes Fell. „Die Hundekacke leg’ ich ihm auf seine Matte“, fuhr Lukas ungerührt fort, „aber glatt! Das macht mein Alter auch immer.“

„Echt? Ich find’s voll eklig, Scheiße aufzusammeln.“

„Nicht ekliger als sie liegen zu lassen, bis irgendwer reintritt.“

„Auch wieder wahr.“

„Wann fahrt ihr eigentlich in Urlaub?“

„Morgen.“

„Und wohin?“

„Black Forest.“

„Black Forest? Wo ist das? In Amerika?“

„Quatsch, in Deutschland, Blödmann. Wir fahren wieder in den Schwarzwald.“

„Ach so. Klingt langweilig.“

„Ist ganz in Ordnung da.“

„Wie lange?“

„Drei Wochen.“

„Wie wir.“

„Hm.“

„Kriegst du Ärger wegen des Zeugnisses?“

„Glaub’ ich nicht. So schlecht ist es ja nicht. Aber Genörgel werde ich mir anhören müssen. Und du?“

Lukas nickt. „Dasselbe in Grün. Von meinem Alten. Du weißt ja, wie er ist.“

„Klar.“

„Und bestimmt darf ich eine Zeit lang nicht zum Training.“

„Bescheuert.“

„Voll bescheuert!“ Lukas spuckte aus.

„In der Zehnten strenge ich mich mehr an.“

„Ich auch.“

„Okay.“

„Na dann, tschüss, Nick. Schöne Ferien.“

„Dir auch. Mach’s gut, Alter.“

Lukas schob sein Fahrrad weiter und verschwand in seiner Einfahrt.

Nick brachte sein Rad in den Fahrradschuppen, stieg dann die Stufen zur Haustür hinauf und schloss auf.

Im Flur roch es nach Essen. Nach Tomatensoße mit Knoblauch. Er hoffte, dass seine Mutter Spaghetti Bolognese gekocht hatte.

Eine schwere Wolke schob sich vor die Sonne. Nick schaute aus dem Flurfenster. Mit einem Mal wirkte alles düsterer, grau und fast bedrohlich.

Unwillkürlich dachte er an einen alten Schwarz-Weiß-Film, den er sich neulich mit seiner Mutter angesehen hatte. Er brachte den Titel nicht mehr genau zusammen. „Es geschah am hellen Tag“ oder so. Ein Film über einen Kindermörder, der sich kleine Mädchen holte. Auf jeden Fall war es darin ähnlich bleiern gewesen.

Eine Gänsehaut zog sich über Nicks Arme. Leicht zwar, aber deutlich an den aufgerichteten, dunklen Flaumhärchen zu erkennen.

Erst als die Sonne sich wieder durchsetzte und an Kraft gewann, verschwand Nicks Beklommenheit, wie solches Unbehagen, das einen manchmal überfällt, es bei Sonnenlicht eben tut.

Der Sommer mit dem Erdbeermädchen

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