Читать книгу Der Sommer mit dem Erdbeermädchen - Sabine Ludwigs - Страница 10
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ОглавлениеNick schleppte nacheinander seinen Koffer, die Laptoptasche und zuletzt den E-Gitarrenkoffer zum Auto. Es war sieben Uhr am Morgen, und alles lief genau nach dem Reiseplan seines Vaters, der bester Laune den Wagen belud.
Nach dem Frühstück ging es los. Nick, die Stöpsel seines MP3-Players im Ohr, machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Seine Mutter hatte das Schiebedach geöffnet. Es dauerte nicht lange, da träumte er zufrieden in der Sonne, während er im Geiste einige Gitarrenstücke mitspielte.
Gegen Mittag kamen sie an. Das Fachwerkhaus stand abseits und war nur über eine holprige Landstraße zu erreichen, die sich durch Weiden, Wiesen und Wäldchen schlängelte. Wenn es länger nicht geregnet hatte, so wie in den letzten zwei Wochen, wirbelten Autoreifen Wolken von hellem Staub auf, die minutenlang wie Schleier in der Luft hingen.
Früher einmal war das Haus eine Wassermühle gewesen, aber seit der Renovierung sah man davon nichts mehr. Lediglich der Bach und der Mühlenteich erinnerten noch an diese Vergangenheit.
Auf den ersten Blick konnte man meinen, man wäre im Nirgendwo. Aber das war nicht so! Ganz in der Nähe gab es einen See mit Campingplatz, einen Ponyhof und eine Ferienhaussiedlung – und die damit verbundenen Angebote.
Viele Familien verbrachten hier seit Jahren ihren Urlaub, und im Laufe der Zeit hatte Nick mit anderen Kindern feste Ferienfreundschaften geschlossen. Während der übrigen Monate ließ man zwar nichts von sich hören, doch die Ferientage verbrachten sie gemeinsam.
Als der Wagen vor dem Haus hielt, kamen Marion und Thomas heraus, um sie zu begrüßen. Wie immer freute sich Nick, seine Tante und seinen Onkel zu sehen. Er stieg aus und lief zu ihnen. Von dem Mädchen, Lina, war nicht einmal ein Schatten zu sehen.
„Ich habe einen Erdbeerboden gemacht.“ Marion lächelte einladend. „Ihr habt doch noch Zeit?“
„Aber klar“, antwortete Nicks Vater. Er fand, dass man sich nach der dreistündigen Fahrt eine Kaffeepause zur Stärkung gönnen sollte.
Auf der Gartenterrasse, unter einem immensen Sonnensegel, war der Tisch für sechs Personen gedeckt. Aber auch hier keine Spur von Lina Soundso. Obwohl Marion rief: „Lina, sie sind da! Komm doch bitte zu uns“, geschah nichts.
Marions Kuchen schmeckte klasse, so viel stand fest. Nachdem Nick drei Stücke mit Sahne verdrückt hatte, beschloss er, seine Sachen in sein Zimmer zu bringen.
Die Angebote von Vater und Onkel, ihm zu helfen, lehnte er mit einem nicht unfreundlichen „Das krieg’ ich gerade noch allein hin“ ab.
Das Mühlenhaus verfügte über zwei Jugendzimmer unter dem ausgebauten Dach. Eines mit mangofarben gestrichenen Wänden, modernen Kiefernmöbeln, einer Schlafcouch und einer orientalischen Sonnenlampe an der zartgelben Decke: das Sonnenzimmer, in dem üblicherweise Gastkinder untergebracht wurden.
Und ein ähnlicher Raum in Blautönen gehalten, dessen Decke mit Foliensternen und einer Mondsichel beklebt war. Tagsüber konnte man diese kaum sehen, doch nachts leuchteten sie wie der gestirnte Himmel im Freien: das Mondzimmer, das sozusagen Nicks Zweitwohnsitz war, in dem sich eine Menge Kram angesammelt hatte in all den Jahren.
Zweimal ging Nick zum Wagen und schaffte nacheinander seinen Koffer, die Laptoptasche und die E-Gitarre hinauf. Danach schwitzte er und seine Hände klebten unangenehm. Er wischte sie am Hintern seiner Jeans ab und schaute sich neugierig um. Drüben, auf der gegenüberliegenden Seite, stand die Tür zum Sonnenzimmer auf.
Es schien leer und wirkte unbewohnt.
Nick betrat sein eigenes Zimmer, das zum Apfelgarten hin lag. Die frische Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte, hatte den Geruch von Marions Putzmittel noch nicht vollkommen vertreiben können. Eine Spur Zitronenduft lag in der Luft, nicht unangenehm und vertraut.
Obwohl er die Terrasse von hier aus nicht sehen konnte, hörte er das Stimmengemurmel und Gelächter. Keine deutlichen Worte, nur ein beständiges Summen wie von einem zufriedenen Bienenschwarm.
Im Mondzimmer war alles unverändert. Es gab einen älteren Fernseher und eine Musikanlage. Das Poster der Erdkugel vom Weltraum aus gesehen, auf dem sie wie ein leuchtend blaues Juwel in samtiger Schwärze schwebte, gänzlich unbedrängt von zahllosen Satelliten, hing über der nachtblauen Schlafcouch.
Eine Sammlung Bücher stand in Reih und Glied im Regal. Nick brachte regelmäßig neue Schmöker mit, die sich zu denen im Regal gesellten, daher war jedes Lesealter vertreten. Daneben reihten sich drei, vier Computerspiele aneinander. Die Konsole war ein wenig veraltet, aber mehr als ausreichend für Nick, der hier eher selten daddelte.
Spielkarten, CDs, Komikhefte und andere Kinkerlitzchen verteilten sich in behaglicher Unordnung im Raum. Das Skateboard stand an seinem Platz, am Garderobenhaken neben der Tür hing sein Bademantel.
Es knackte vernehmlich im Gebälk, als würde das Mühlenhaus sich gemütlich zurechtrücken. Ein wohlbekanntes Geräusch. Nick grinste zufrieden.
Er machte sich ans Auspacken. Keine halbe Stunde später war er eingerichtet und brachte seine Gepäckstücke in dem Abstellraum unter, der sich zwischen der Bodentür und dem Badezimmer befand.
Da das Bienengesumm auf der Terrasse noch anhielt, beschloss er, sich die Hände zu waschen und wieder hinauszugehen.
Vielleicht war Lina ja zwischenzeitlich aufgetaucht. Er drückte die Kammertür ins Schloss, ging ins Bad – und erstarrte mitten in der Bewegung.
Da hockte ein Mädchen vor der Badewanne. Ein elfenhaft zartes Mädchen mit dichten, honigblonden Haaren, das kniend ein Handtuch nach dem anderen aus dem Schrank unter dem Waschbecken zerrte und in die Wanne häufte.
Das konnte nur Lina sein.
Ihre Augen waren eher grau als grün, wie von Morgentau überkrustetes Gras. Groß schwammen sie in einem blassen Gesicht, so groß und rund, dass sie denen einer Mangafigur glichen. Sie starrten ins Nirgendwo.
Leblos, fand Nick, wie bei einer Filmleiche.
Ihre Hände arbeiteten mechanisch – den Handtüchern folgten Waschlappen. Badetücher. Die Wäsche türmte sich bald bis zum Rand. Erst als der Schrank leer war, verharrte das Mädchen. Bewegungslos wie eine Maschine, die ihr Programm abgespult, ihre Arbeit beendet und sich abgeschaltet hatte.
Das unbeschwerte Bienengesumm, das weiter in der Stille schwirrte, erlöste Nick aus seiner Versteinerung. Er musste irgendetwas tun, irgendetwas sagen, einen Satz nur, ein Wort.
„Hi“, krächzte er. Unendlich langsam wandte Lina ihren Kopf in seine Richtung und ihm fiel auf, wie hübsch sie war.
Lina kam auf die Beine. Sie drückte sich mit dem Rücken flach gegen die gekachelte Wand und schaute ihn aus ihrem Mangagesicht stumm an.
Nick erinnerte sich, dass Herr Guth einmal mit der Hundeleine auf Nero eingeschlagen hatte, der noch ein Welpe gewesen war und nicht aufs Wort gehorchte. Der junge Cockerspaniel duckte sich völlig verängstigt und kauerte sich jaulend zusammen – bis Nicks Vater aus dem Haus stürmte und aufgebracht dazwischenging. Er drohte Guth mit einer Anzeige und redete anschließend beruhigend auf das zitternde Tierchen ein.
Der geschundene Nero hatte den gleichen Blick in den feuchten Augen gehabt wie jetzt Lina.
Nick schluckte. „Hi“, sagte er ein zweites Mal. „Ich bin Nick. Der Neffe von Marion und Thomas. Ich wohne hier. Während der Ferien. Da.“ Er deutete in Richtung Mondzimmer. „Das ist mein Zimmer.“
Nichts geschah.
„Du musst Lina sein.“ Er machte einen vorsichtigen Schritt auf das Waschbecken zu. Lina wich noch weiter zurück, ganz so, als wollte sie in das Mauerwerk kriechen und mit den Fliesen verschmelzen.
Nick sah, dass sie noch blasser wurde. Unwillkürlich kam ihm die Redewendung „ihr wich alles Blut aus dem Gesicht“ in den Sinn.
„Ich wasche mir nur die Hände“, erklärte er in beruhigendem Ton. „Alles klar? Ich mach’ ganz schnell.“
Er drehte den Hahn auf. Wasser schoss silbrig in das Becken. Es spritzte ein wenig und verschwand gluckernd im Ausguss.
Linas Atem ging schneller. Sie starrte auf den Strahl, als wäre er aus einer gefährlichen Säure, mit der Nick sie verätzen wollte. Dann streckte sie eine bebende Hand aus und drehte den Hahn zu.
Sie sagte nichts, aber er sah Tränen aufsteigen, die sie mit den Handrücken von ihren Wangen wischte, ehe sie heruntertropfen konnten. Wieder und wieder, immer fahriger, immer krampfhafter. Ihr Oberkörper begann zu zucken, und obwohl sie sichtbar darum kämpfte, jeden Laut zu unterdrücken, sickerte ein Stöhnen zwischen ihren Lippen hindurch und wurde zu einem Wimmern.
Dann sackte Lina in sich zusammen. Das Jammern wurde schlimmer, durchdringender, bis es ein Heulen war, in dem Nick die bodenlose, alle Empfindungen und Gedanken durchsetzende Verzweiflung spüren konnte, die ihr die Worte genommen hatte.
Die Töne schüchterten ihn ein und verunsicherten ihn zutiefst. Sie waren wie Messerschnitte auf seiner Haut. Ganz egal was Mama sagt, dachte er. Das Mädchen ist komplett durchgeknallt. Aber vielleicht regt sie sich ab, wenn ich freundlich mit ihr rede. Wie Papa damals mit Nero.
Doch was sollte er sagen? Keine Panik? Alles im grünen Bereich? Bleib cool? Oder einfach nur ein „Pscht“ von sich geben?
„Also … ähm … weißt du, ich muss mich nicht unbedingt jetzt waschen.“ Er machte ein beschwichtigendes Zeichen. „Ich wollte heute Abend eh in die Wanne gehen. Zu Hause haben wir nur eine Dusche, da freue ich mich aufs Baden.“
Lina schaute panisch umher und suchte ganz offensichtlich nach einer Fluchtmöglichkeit. Unwillkürlich trat Nick ein Stück zur Seite.
Sofort hechtete sie an ihm vorbei, floh die Treppe hinunter und kurz darauf hörte Nick die Tür zum Kellergeschoss krachen.
Offenbar nicht nur er. Das Bienengesumm verstummte für Sekunden. Nur seine eigenen, erregten Atemzüge klangen Nick noch in den Ohren.
Shit! Womit hatte er Lina solche Angst eingejagt? Was war so schlimm daran, sich zu waschen? Oder eine Hand nach ihr auszustrecken?
Nick schaute in die Badewanne, in der sich die Handtücher stapelten und es unmöglich machten, Wasser einlaufen zu lassen.
Zögernd begann er, sie in den Schrank zu räumen. Und als er endlich den Hahn am Waschbecken aufdrehte, um sich zu waschen, dachte er an Linas Augen. An das pure Entsetzen darin, das abgrundtiefe Grauen. Den Schmerz. Die Erinnerung an diesen Blick durchbohrte ihn wie eine lange, kalte Stahlnadel. Er fühlte sich wie gelähmt.
Eins war klar: Dieses Erlebnis eben hatte ihn nicht ohne einen kleinen Schock zurückgelassen.