Читать книгу Der Sommer mit dem Erdbeermädchen - Sabine Ludwigs - Страница 9

3

Оглавление

Nick verbrachte eine nachdenkliche halbe Stunde auf dem Klo, ohne zu lesen, was ihm jedoch nicht weiterhalf. Danach lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Schlafcouch und starrte die Decke an, als würde sich dort demnächst in Großbuchstaben ein guter Rat manifestieren.

Doch da war nur das bewegte Licht- und Schattenspiel der Sonnenstrahlen und Bäume.

Er verzichtete auf das nachmittägliche Daddeln an der Spielekonsole, weil er sich sowieso nicht hätte konzentrieren können. Und er verspürte auch keinen Bock zu chatten.

Ich meine, grübelte er, was kann ich für den ganzen Bockmist? Was habe ich mit der Sache zu tun?

Nichts, bereitwillig sprang ihm eine stichelnde Gedankenstimme bei. Rein gar nichts! Es ist wirklich nicht dein Problem.

Na also! Wie kam Marion nur auf diese saublöde Idee? Und seine Mutter?

Kei-ne Ah-nung!, echauffierte sich die Gedankenstimme mit einem Stöhnen. Mal ehrlich: Was verstehst du schon von Mädchen? – Aber Marion! Die war selbst mal eins. Und deine Mutter ebenfalls. Oder etwa nicht? Sollen die beiden sich selbst um diese Lina kümmern. Sollen sie doch versuchen, an sie heranzukommen.

Aber, dachte Nick, die Betonung liegt auf „sie waren“. Jetzt sind sie keine Mädchen mehr, sondern erwachsene Frauen.

„Aller Voraussicht nach hat ein Erwachsener ihre seelische Erschütterung verursacht, indem er ihr den Bruder genommen hat. Daher traut sie keinem von ihnen.“ Das hatte seine Mutter gesagt.

Diese Erschütterung, das schien im sicher, die rührt von einem Verbrechen her. Ganz klar. Entführung. Mindestens. Vielleicht mehr. Totschlag. Womöglich Mord.

Das Opfer, ein Junge.

Der Täter. Ein Mann?

Oder eine Frau?

Nick versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man keinem Erwachsenen mehr traute. Nicht den Eltern und Großeltern, Tanten und Onkeln. Keinem Lehrer. Keinem Trainer. Nicht mal Gott, weil der ebenfalls erwachsen war.

Es gelang ihm nicht.

Er stand auf, ging hinaus auf die Terrasse, setzte sich in einen der Gartenstühle und dachte an das stumme Mädchen. An Lina Soundso, deren Zwillingsbruder spurlos verschwunden war.

Im Grunde, überlegte er, ist es bloß Zufall, dass ich als Nick und nicht als Jan geboren wurde. Dass Lina seine und nicht meine Schwester ist. Dass nicht ich, sondern er verschwunden ist. Purer Zufall. Glück! Sonst wäre ich es, nach dem die Hundertschaften Wälder und Felder absuchen und der möglicherweise schon längst …

Er hielt inne, wollte diesen Satz nicht zu Ende denken und war heilfroh, als seine Mutter nach ihm rief, weil sie mit ihm die Koffer fertig packen wollte. Aber der Gedanke hatte nach ihm gegriffen und ließ ihn nicht mehr aus den Fängen.

„Wann sollte ich eigentlich zu Marion und Thomas? Wie immer, in den letzten beiden Ferienwochen?“, wollte Nick wissen. Er stopfte seine Socken in den Koffer. „Nur mal so, falls ich Ja sage.“

„Nein. Morgen.“

„Morgen schon?“

„Ja. Eine Beziehung zu jemandem herzustellen, braucht seine Zeit. Papa und ich würden dich absetzen und weiter nach Bernau fahren. Wir haben die Ferienwohnung ja längst bezahlt. Und wir können den Urlaub nicht so kurzfristig verschieben. Andernfalls kommst du wie geplant mit uns.“

Nick, die Antwort in die Länge ziehend: „Okay.“

Ihm kam eine Idee, eine, die ihn erleichtert aufatmen ließ.

„Mama?“

„Hm?“

„Was wäre, wenn der Junge gar nicht verschwunden ist? Wenn Jan einfach nur abgehauen ist, wie Lina es gemacht hat? Dann will er nicht gefunden werden. Und bestimmt wird Lina ihn nicht verraten.“

„Nein. Er ist nicht abgehauen.“

„Woher weißt du das?“

Sie schloss den Kofferdeckel und ließ die Schlösser einrasten. „Die Polizei glaubt das nicht. Alles spricht dagegen. Sie sagen, die meisten Kids hauen zwar planlos von zu Haus ab. Aber sie gehen nicht zu weit weg von ihrer vertrauten Umgebung. Meistens übernachten sie heimlich bei Freunden. Oder sie packen ihre Klamotten, nehmen ihre Ersparnisse, trampen irgendwohin und kehren nach Hause zurück, wenn die Kleider dreckig sind oder das Geld aufgebraucht ist.

Jan hätte bestimmt sein Portemonnaie, sein Handy und das Fahrrad mitgenommen. Und Lina. Die beiden stehen sich unheimlich nah. Außerdem haut niemand ohne Grund ab – und Jan, nun, er hatte keinen Grund.“

„Sagt wer?“

„Einfach jeder. Nachbarn. Die Lehrer. Seine Eltern. Seine Mutter und sein Vater sind völlig verzweifelt.“

„Du hast gesagt, er wäre sein Stiefvater.“

„Macht das einen Unterschied? Sein leiblicher Vater schert sich keinen Deut um ihn.“

Nick zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Was meinen Jans Freunde? Und die Schulkollegen?“

„Dass er keine Probleme erwähnt hat, soviel ich weiß.“

Seine Mutter trat dichter an Nick heran. Sie schlang die Arme um ihn und er um sie. Manchmal mochte er das noch sehr gern, wenn sie ihn umarmte. Nicht immer. Aber jetzt.

„Meine Fantasie reicht nicht aus, um mir auszumalen, wie ich mich fühlen würde, wenn du verschwunden wärst. Allein bei der Vorstellung könnte ich schreien! Diese furchtbare Ungewissheit muss einen Menschen auffressen.“

Nick erwiderte nichts.

„Und wenn sie Jan finden und er tot ist? Oder wenn sie ihn niemals finden? Ich würde lieber sterben, als dich zu verlieren, Nick.“ Sie umklammerte ihn.

„Hör auf damit, Mama.“ Er befreite sich und schaute in ihr gequältes Gesicht. Diese Sache nahm sie wirklich mit. Und das machte es auf eine eigenartige Weise zu etwas, womit er durchaus doch zu tun hatte.

Mist.

Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. „Pass immer gut auf dich auf.“

Nick grinste schief. „Ich tue mein Bestes.“

„Gut“, sie lächelte zurück. „Ich fahre mit Papa zur Tankstelle, damit wir gleich morgen früh los können. Bis gleich.“

„Bis gleich.“

„Nick?“

„Hm?“

„Hab dich lieb.“

Und er, mit Drachenohren: „Hm.“

Später, als Nick allein in seinem Zimmer war, stand er eine Weile grübelnd am Fenster. Er beobachtete die tief stehende Sonne.

Er hatte keine Geschwister. Es gab nur seine Eltern. Aber der Gedanke, dass einer von den beiden eines Tages einfach spurlos verschwinden würde, war so unvorstellbar, als wenn man ihm gesagt hätte, dass die Sonne verschwunden wäre.

Und wenn sie niemals vom Tanken zurückkämen? Er würde sich den Rest seines Lebens fragen, was geschehen war. Ob er es hätte kommen sehen müssen, ob möglicherweise irgendwelche Vorzeichen oder Anhaltspunkte darauf hingedeutet hätten.

Und ob er es hätte verhindern können – was immer „es“ war.

Nick spürte ein Ziehen in sich. An der Stelle im Bauch, die direkt zwischen Herz und Magen lag. Flau. Mulmig. Ein wenig schmerzhaft. Es trieb ihm Feuchtigkeit in die Augen, was ihn überrumpelte. Er drängte sie zurück.

Nick wandte sich vom Fenster ab und stöpselte seine E-Gitarre ein. Musik zu machen war für ihn eine der wenigen Möglichkeiten, den Kopf freizukriegen. Und die Stelle zwischen Herz und Magen. Er hatte zweifellos Talent, das bestätigte man ihm dauernd, und das zeichnete sich bereits im Kindergarten ab.

Er besaß das richtige Gehör und ein angeborenes Gefühl für Rhythmen. Blockflöte spielen hatte er sich ebenso selbst beigebracht wie Noten lesen. Nicht lange darauf kreierte er eigene, kleine Melodien, ohne darüber nachzudenken. Es lag ihm einfach im Blut.

Im Grundschulalter besuchte er eine Musikschule. Er blieb zunächst bei den Holzbläsern und lernte Saxofon zu spielen – bis er das für ihn bestimmte Instrument in Händen hielt: die Gitarre.

Er spielte sowohl die akustische als auch elektrische Variante und benutzte sie, als wären sie natürliche Teile seines Körpers, zusätzliche Arme vielleicht, wie bei einer indischen Gottheit.

Mittlerweile war er Mitglied einer Band namens „The Outbreakers“. Das waren Tim, die Bassgitarre, der Drummer Sascha, Keyboarder Orlando und der Gitarrist und Sänger Alex, alles Jungen in seinem Alter, mit dem großen Traum vom Weltruhm – den Nick teilte.

Niemand hatte eine Ahnung, woher Nicks Talent stammte. Es gab keine Musiker in der Familie. Nur den Großvater seines Vaters, der Zither spielen konnte. Volksmusik. Aus dem Sudetenland, hieß es. Ganz gut zwar, aber bestimmt nicht herausragend, wie Nicks Vater sich erinnerte. Und er, Nick, hatte seine Urgroßeltern nicht mehr kennengelernt.

Nick stand auf Rockmusik. Und das war etwas, was er von seinen Eltern hatte. Er spielte gerade Alice Cooper, da öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und sein Vater sang mit dröhnender Stimme: „School’s out for summer!“

Nicks Mutter erschien neben ihm. Sie spielte Luftgitarre und legte ebenfalls los: „School’s out forever!“

Nick fiel ein. Zu dritt zu singen, fand er einfach nur herbe geil!

Alles war gut im Hause Ritter. Das eigenartige Gefühl an dem Fleck zwischen Herz und Magen war vollkommen verschwunden.

Am Abend brachten sie in den Nachrichten die neuesten Meldungen über den „Fall Jan“. Nick fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Wahrheit über das Verschwinden des Jungen ans Licht kam. Und ob sie überhaupt je ans Licht kommen würde.

In der Nacht träumte er, dass alle Menschen auf der Welt sich zu verändern begannen. Ihre Köpfe wurden durchsichtig wie Glas, sodass man bis tief in ihr Innerstes schauen konnte, wo ihre Gedanken wie Kurzfilme offen für jedermann zu sehen waren. Nicht wenige waren Videoclips des Grauens.

Es dauerte nicht lange, und einige Menschen begannen große, schwarze Hüte zu tragen. Nach und nach wurden sie immer mehr.

In Schweiß gebadet erwachte Nick. Im Dunkeln tappte er barfuß die Treppe nach unten, um sich was zu trinken zu holen.

Licht brannte in der Küche. Seine Mutter saß am Tisch in der Essecke. Sie löste Sudoku und aß Kinderschokolade. Das tat sie häufig, wenn sie unruhig war.

„Alles in Ordnung, Mama?“

„Ich kann nicht schlafen.“

Nick goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich zu ihr.

„Du weißt ja, das kann ich nie vor einer längeren Fahrt. Der Verkehr, die Staus, die vielen unvorsichtigen Autofahrer. Außerdem“, sie schnitt eine Grimasse, „schnarcht dein Vater.“

Nick hörte nicht richtig hin. Er war mit seinem Traum beschäftigt, mit den Menschen darin, die versuchten, ihre Gedanken vor anderen zu verstecken. Und plötzlich wusste er, was er tun wollte.

„Nick?“

Er fuhr zusammen. „Ja?“

„Worüber denkst du nach?“

„Über das Mädchen. Und ich will es machen. Ich meine, ich will versuchen, dieser Lina zu helfen.“

Sie sah ihn wortlos an. Allein ihre gerührte Miene sprach Bände.

Nur eines bereitete Nick noch Sorgen. Er könnte es versemmeln, etwas Falsches zu dem Mädchen sagen oder sie mal anschnauzen. Sie womöglich zu grob anfassen oder sonst eine Sache tun, die ihr schadete.

Auch bei Katharina musste er fraglos irgendwas nicht ganz richtig gemacht haben. Andernfalls wäre der Knutscherei auf der Fete doch unter Garantie eine zweite gefolgt.

Bei der Vorstellung bekam er Drachenohren!

Vielleicht machte er alles schlimmer, als es ohnehin schon war, und Lina Soundso wurde noch seltsamer. Was würden sie dann sagen? Seine Eltern. Marion. Thomas. Ihr Psychologe.

Die Erwachsenen.

Seine Mutter stand auf. Sie riss ein Stück Küchentuch ab, wischte sich damit erst über die Augen und putzte sich danach geräuschvoll die Nase. „Gute Nacht, Nicolas Ritter.“

„Nacht. Schlaf gut.“ Er aß ebenfalls einen Riegel Schokolade, bevor er in sein Zimmer ging. Als er in seinem Bett lag, glaubte er zuerst, er könnte nicht wieder einschlafen.

Er irrte sich.

Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen

In den Abendnachrichten haben sie wieder über Jan berichtet. Im Fernseher sah ich das ernsthafte Gesicht meines Bruders. Seine hellen Augen. Er lächelte nicht. Ich glaube, es gibt keine Fotos, auf denen er lächelt. Es war ein langer, ziemlich ausführlicher Bericht.

Ist es nicht eigenartig? Ich könnte darüber lachen, wenn es nur nicht so traurig wäre! Aber erst jetzt, wo er verschwunden ist, ist Jan für die Menschen wichtig und interessanter als jemals zuvor.

Bruder, ich denke an dich – Dirbra cho kidin ne ochd.

Mirom.

Der Sommer mit dem Erdbeermädchen

Подняться наверх