Читать книгу In den Fängen des Lebens - Sabine Penckwitt - Страница 6
Acht Uhr neun, Gleis 3, RB 61
ОглавлениеDas Bedürfnis, den Fremden, der elegant und gepflegt wirkte, zu verfolgen, überfiel ihn unerklärlich und geradezu zwanghaft. Er sah den Mann sofort. Später konnte er sich nicht erklären, was ihn bewogen hatte, genau diesen Unbekannten als verdächtig einzuschätzen.
Auf Bahnsteig 3 des Hauptbahnhofes wartete er auf die Regionalbahn 61, um acht Uhr neun, wie jeden Freitag, um seine Mutter zu besuchen, welche vier Stationen entfernt wohnte.
An diesem folgenschweren Freitagmorgen bestieg dieser Mann auf Gleis 3 ebenfalls die RB61, um nur zwei Stationen weiter auszusteigen. Der dunkelblaue Mantel und die graue Hose des Fremden waren von ausgesucht guter Qualität, ebenso die handgefertigten Schuhe. Der Hut, nach der Mode der amerikanischen dreißiger Jahre, vervollkommnete das Bild eines schlanken, gepflegten und selbstbewusst wirkenden Mannes. Hier in der Landeshauptstadt fiel eine in teures Tuch gekleidete Person eigentlich nicht auf.
Ohne sich umzudrehen, schritt der elegante Mann über den Bahnhofsvorplatz, offensichtlich einem klaren Ziel entgegen. Zunächst ging es durch Straßen eines gehobenen Wohnviertels, an der Kirche dieses Stadtteils links vorbei in ein parkähnliches Gelände.
Fast hielt er die Verfolgung für einen unsinnigen Einlass seiner fadenscheinigen Einschätzung, der fremde Mann sei eigenartig.
Schnelleren Schrittes durchmaß dieser das Gelände und erreichte eine verwaiste Baustelle. Eine hölzerne Baracke und einiges liederlich herumliegende Baumaterial zeugten von deren ehemaliger Bestimmung. Der Unbekannte verschwand in dieser Baubaracke.
Am Rande der Baustelle verdeckt stehend, kamen ihm Zweifel über sein Unterfangen. Nach kurzer Überlegung hatte er die Stimme der Vernunft, zu gehen und den nächsten Zug zurück zu nehmen, zum Schweigen gebracht. Neugier und sein Wille, eine einmal gefallene Entscheidung zu akzeptieren, ließen ihn warten.
Zehn Minuten waren vergangen, als der Mann in einer zerbeulten, an den Säumen der Hosenbeine zerfransten Jeans, einer billigen Lederimitatjacke und in ebenso billigen Turnschuhen wieder erschien. Das Basecap weit ins Gesicht gezogen, war dieser kaum wiederzuerkennen.
Spätestens jetzt könnte er sich umwenden und beim Zählen seiner Schritte eine Art Berechenbarkeit seiner Beweggründe erforschen. Die nächste Regionalbahn zurück würde den Freitag wieder ins Lot bringen.
Aber war er überhaupt noch Herr seiner selbst? Schicksalhaft fortzuführen, was angefangen? Zwanghaft den Weg zu gehen, der eingeschlagen war? Unabwendbar weiter, ob es in der Feststellung, den Tag sinnlos vertan zu haben oder gar in einer Katastrophe münden würde?
Einen Abstand wählend, welcher ihn vor Entdeckung schützte, ging es zwei Straßen weiter, bevor der Mann rechts in eine Industriestraße einbog. Eine Gegend, die bessere, arbeitsreiche Tage gesehen hatte.
Eine düstere Vorahnung auf eine bedrohliche Begegnung erfasste ihn.
Der Mann verschwand hinter einem alten Werktor. Durch den Spalt der Tür hörte er streitende Stimmen. Die Verfolgung dieses Mannes fand an diesem Werktor plötzlich eine Berechtigung. Doch was ging es ihn eigentlich an, was den Fremden bewog, in irgendeiner Weise oder zu irgendeiner Person vielleicht unlauter zu sein? Er hatte moralisch keine Verpflichtung, einen möglicherweise kriminellen Vorgang zu verfolgen oder gar zu verhindern.
Aber nun war er einmal hier und bei diesem Gedanken drückte er vorsichtig das Tor auf. Er befand sich in einer Lagerhalle von etwa fünfzig Metern Länge. Auf dem Boden zeichneten sich regelmäßige Spuren ehemaliger Paletten ab. Die Halle war leer, lediglich an ihrem Ende lagen mannshoch gestapelt juteverpackte Ballen. Es hatte den Anschein, als seien sie beim Ausräumen der Halle vergessen worden.
Näher herangekommen, sah er zwischen den Jutepaketen hindurch drei Männer. Die anderen mussten vor dem Fremden in der Lagerhalle gewesen sein. Demnach war das wohl ein verabredetes Treffen. Die großen weichen Ballen dämpften die Stimmen, dadurch blieb ihm der Wortlaut des Streites verborgen.
Nach heftigen Kontroversen fiel ein Schuss. Sein Mann hielt die Pistole in der Hand, ein anderer lag am Boden. Die Bedrohung für den anderen Gegner war offensichtlich, welche dieser geistesgegenwärtig mit einem schnellen Tritt gegen die Hand des Fremden abwendete.
Durch die Ballenlücke konnte er sehen, dass sein Mann bei einer nun wohl folgenden Schlägerei den Kürzeren ziehen würde, seine Pistole lag am Boden.
Unerklärliche Bedenkenlosigkeit hieß ihn, seine Deckung zu verlassen, um seinem Mann beizustehen. Gemeinsam prügelten sie auf den anderen ein. Er selbst tat den letzten tödlichen Schlag mit einem herumliegenden Ziegelstein.
Nicht zu beschreiben das Erstaunen in den Augen des Mannes, seiner Mimik und Körperhaltung über das geisterhafte Erscheinen seines Helfers.
Er bückte sich nach seiner Pistole, steckte sie ein und sagte: „Kommst du von ihm?“
Verwirrt über das unwirkliche Geschehen entfuhr ihm ein: „Ja.“
„Das ist gut. Dann weiß er über das Treffen hier Bescheid?“
Wieder ein automatisches: „Ja.“
Der Mann glaubte zu verstehen: „Sollen wir sie liegen lassen?“
„Ja.“
„Gut, dann wird er Eb schicken, um die Spuren zu beseitigen.“
„Ja, Eb.“
„Sag ich doch. Eberhardt ist ein Meister darin.“
Der Mann erwähnte, dass die „Bullen“ nichts in der Hand hatten. Was natürlich auch Ebs Können zu verdanken sei. Er lachte: „Schließlich war er früher bei der Spurensicherung und weiß worauf es ankommt. Warst du in Hamburg dabei?“
„Nein.“
„Aha! Du hast heute hier schon gelauert, ehe wir kamen? Davon hat er mir nichts gesagt.“
Achselzucken.
„Dein Outfit, auch nicht schlecht. Wo hast du deine anderen Klamotten? Ich habe in der Baracke nichts gesehen.“
Die letzten Worte des Mannes machten ihm klar, dass er seine Kleidung für Tarnung hielt und erwartete, dass er sich ebenso in eine seriöse Erscheinung verwandeln könnte.
„Hatte heute zu wenig Zeit zum Wechseln.“
Er begriff nichts! Nicht wie er in diese Halle gekommen war. Nicht worum es ging und wer der Fremde war. Nicht, dass er einen Menschen erschlagen hatte! Eine schützende Blockade, wohl dem Schock geschuldet. Die galt es möglichst schnell zu überwinden, wollte er überleben.
Bevor der Unbekannte Verdacht schöpfte, dass er nicht zur Organisation gehörte, welche auch immer das sein könnte, sagte er: „Alles klar! Wir sollten verschwinden!“
„Klar doch! Geh schon, ich bleibe lieber noch zehn Minuten.“
Die aufsteigende Hitzewelle war so heftig, dass er Angst hatte zu zittern. Hatte der Fremde etwas gemerkt und wollte ihn verfolgen und deswegen nach ihm gehen?
Vabanque, das berühmte Risiko: „Ich kann die zehn Minuten bleiben, brauch mich doch nicht umziehen.“
Der Mann sah ihn an, überlegte und sagte dann: „Okay! Aber warte nicht, bis Eb kommt, das gibt Ärger.“
Beiderseitiges Nicken.
Beim Gehen grüßte der Fremde mit zwei Fingern am Basecap ohne sich umzudrehen.
Zehn Minuten später ging er mit zitternden Knien tief durchatmend bis zum Tor. Er wartete nicht lange, ehe er auf die Straße trat. Weit und breit war niemand zu sehen. Sicher, das garantierte nicht, dass der Fremde nicht irgendwo auf ihn lauerte.
Er entschloss sich in entgegengesetzter Richtung zu verschwinden. Es schien klüger, große Umwege zum Bahnhof zu machen.
Erst später wurde ihm klar und klarer, was er getan hatte. Aus einer morgendlichen Laune heraus hatte er sich selbst in ungeheuerliches Handeln getrieben und war zum Mörder geworden.
Wer war der Fremde, wer war Eb und vor allem, worum ging es überhaupt?
Drogen, Mädchenhandel, Auftragsmörder? Eine Organisation, deren Handlanger und Schläger er erlebt hatte? Sie werden entdecken, dass er nicht dazu gehört. Sie wollen und müssen ihn finden. Sie werden ihn finden! Dann würden sie Eb schicken! Eb, den Meister unter den Tatortreinigern.
Nie mehr könnte er freitags auf Bahnsteig 3 auf die Regionalbahn 61 um acht Uhr neun warten. Er war Opfer und Täter zugleich.