Читать книгу In den Fängen des Lebens - Sabine Penckwitt - Страница 7
Außerplanmäßig
ОглавлениеEs war Markttag, wie jeden Donnerstag. Sie ging immer donnerstags auf den Markt, nie dienstags oder samstags.
Strenge Strukturen im Leben machten ein Abweichen unmöglich.
Die strikte Einhaltung des täglichen Ablaufs zog sich durch Generationen, sie hatte es von ihrem Vater und der wiederum von seinem Vater.
Selbst im Krieg war es ihrem Großvater gelungen, sein festes Konzept zu halten.
Es gab eine alte blaue Kladde mit genauen Anweisungen, wie zu verfahren sei, falls die vorgesehene Verrichtung nicht ausgeführt werden konnte.
Sozusagen Plan B.
Durch die Zwanghaftigkeit des Großvaters litt Großmutter, bis sich ihr Gemüt in die Dunkelheit der Depression flüchtete. Dann dämmerte Großmutter in einer psychiatrischen Anstalt vor sich hin. Nun wurde sie vom wöchentlichen Plan völlig ausgeklammert. Völlig hieß, dass Besuche nicht aufgeführt wurden, also auch nicht stattfanden.
Sie starb leise, in der Nacht.
Großvater trauerte nur kurz. Wenn man diese kurze Abweichung von den eigenen Vorschriften, der Bestattung geschuldet, überhaupt Trauer nennen konnte.
Er verstand nicht, wie ein gut geregeltes Leben einen Menschen aus der Bahn werfen konnte. Das konnte in seinen Augen keine Krankheit gewesen sein! Er hielt es für einen bösartigen Protest gegen seine preußische, und wie sie immer gesagt hatte bornierte, Art.
Seine beiden Söhne sollten von den bisherigen Anweisungen nicht abweichen.
Eine Haushälterin, die sich nicht an Großvaters Regiment innerhalb von zwei Wochen gewöhnen konnte, wurde sofort wieder entlassen.
Endlich hatte sich eine Frau gefunden, die auch äußerlich genau in das Bild einer sehr strengen Gouvernante passte.
Großvater und sie ergänzten sich hervorragend. Der Haushalt lief bis zum Zubettgehen präzise wie ein Uhrwerk ab.
6:30 war wecken, auch sonntags, waschen, anziehen und das Bett machen bis 7:00 Uhr.
Wer über drei Minuten später am Tisch erschien, musste sich erklären und durfte nicht mit den anderen zusammen essen. Die Mahlzeiten wurden in solch einem Fall im jeweiligen Kinderzimmer eingenommen.
Auch die Länge der Mahlzeiten war vorgegeben.
Frühstück 15 Minuten, Mittagessen 30 Minuten, das Abendbrot 20 Minuten.
Sonntags hatten die Jungs nacheinander um 11 Uhr in Großvaters Arbeitszimmer zu erscheinen. Hier wurden die Verfehlungen der Woche besprochen und entsprechende Maßregeln verhängt.
Besonders die schulischen Fehlleistungen wurden hervorgehoben. Großvater legte höchsten Wert auf eine umfassende Bildung.
Einer der Söhne fragte eines Tages nach der Mutter. Die Antwort blieb aus, sie wurde nie wieder erwähnt.
In Großvaters Augen war es ein Zeichen von Schwäche, sich weinerlichen Eskapaden hinzugeben, wie er Großmutters Krankheit auch zu bezeichnen pflegte.
Im blauen Buch fand sich nur eine Anmerkung über sie, nämlich, dass sie in der Anstalt am 24. Januar 1926 verstorben war.
Daneben fein säuberlich die Aufstellung der Kosten, die Großvater vom 18. Juni 1923 bis zu ihrem Todestag an die Anstalt zu zahlen hatte. Es waren Rechnungen für Kleidung, Schuhe und Kleinigkeiten, wie Kämme oder Seife.
Ohne eine bedeutende Abweichung des Tagesablaufes vorzunehmen, heiratete Großvater die Gouvernante auf den Tag genau ein Jahr nach Großmutters Tod.
Großvater starb 1929.
Er war Buchhalter gewesen und auch da seiner methodischen Arbeitsweise verhaftet. Deswegen war er unbeliebt und kein Kollege erschien zur Beisetzung. Das war seiner Frau nur recht, denn schon am Nachmittag setzte sie ohne weitere Störung den Tagesplan fort.
Die Söhne trauerten mäßig um ihren Vater, aus zweierlei Gründen. Erstens liebten sie ihn nicht, obwohl er sie nie geschlagen hatte und sie durch seine Strenge auf ein Allgemeinwissen zurückgreifen konnten, welches ihnen später noch beruflich zugutekommen sollte. Und zum Zweiten waren sie es gewohnt, Gefühle nicht zu zeigen.
Am Tag der Beisetzung fiel lediglich der Gang zum Markt aus, der normalerweise an diesem Tag auf dem Plan stand.
So endete das monoton unlebendige Dasein des Großvaters.
Arthur war der Ältere, deswegen fing sein Name mit A an. Er absolvierte 1930 eine Ausbildung für Angehörige der Reichsfinanzverwaltung. Diese korrekte Bezeichnung hätte seinem Vater gewiss gefallen. Allgemein war die Bezeichnung Zollbeamter.
Bernhardt fand eine Anstellung als Justizbeamter im örtlichen Gefängnis.
Beide Söhne übten ihre Berufe mit eben der akribischen Genauigkeit aus, zu welcher sie erzogen wurden, obwohl die Erfahrungen ihrer Kindheit das Gegenteil hätten bewirken können. Unbeirrt bezüglich der Abneigung ihrer Kollegen verfolgten sie den täglichen Büroalltag.
Bernhardt heiratete 1947 die zwölf Jahre jüngere Gertraude Bachmeier.
Deren Vater war Bürgermeister der benachbarten Kleinstadt, welcher mit viel Geschick und Frechheit seine unrühmliche Nazivergangenheit in der Versenkung verschwinden ließ.
Bernhardt und Gertraude passten hervorragend zusammen, um die Lebensphilosophie ihrer Eltern fortzuführen. Gertraude machte ihre mangelnde Bildung durch despotische, keine Widerrede duldende Härte wett.
Das Hauspersonal wechselte ständig und der Ruf Gertraudes, sie sei sogar der „General“ ihres Mannes, machte die Runde.
Die einzige Tochter, Wiltrud-Karin, wurde am 12. September 1948 geboren.
Die beiden Vornamen waren eine Hommage an Gertraudes Mutter und Großmutter.
Wiltrud-Karin Bröcker, so ihr ursprünglicher Name, nannte sich später Wiltrud-Karin Bröcker-Bachmeier, eine Verehrung ihres Großvaters mütterlicherseits.
Diese Änderung nahm sie vor, nachdem sie vom, in ihren Augen genialen, Schachzug des Großvaters erfuhr, seine SS-Angehörigkeit in eine Opferrolle umzumünzen.
Hier sei eine Episode aus dem Hause Bröcker erwähnt:
Die Familie wohnte in unmittelbarer Nähe der Strafanstalt. Eines Tages, es muss so 1955 gewesen sein, erschienen auf dem Hof Musikanten. Ein Mann spielte Geige, der andere sang.
Für gewöhnlich warfen die Leute kleine, in Zeitung eingewickelte, Geldbeträge aus dem Fenster. Frau Gertraude tat das nie und untersagte es allen in der Familie.
An diesem Tag sangen die Männer eine Art Moritat über die Vergangenheit des Bürgermeister Bachmeier. Wie es schien, hatten sie damit in den anderen Höfen gutes Geld eingenommen.
Gertraude ließ die Polizei rufen. Sie behauptete, dass das bei den beiden gefundene Geld aus ihrer Wohnung gestohlen sei.
Sie meinte, dass der Beweis klar auf der Hand läge, denn solche Straßensänger würden nie im Besitz solcher Geldmengen sein.
Das leuchtete dem Polizeibeamten auf der Stelle ein, denn er kannte den alten Bachmeier, als auch seinen Schwiegersohn.
Und dieser war ein Kollege, nun ja gewissermaßen, und mit dem wollte man sich nicht anlegen.
Also wechselte das Geld von den armen Sängern in die wohlhabende Hand der Frau Gertraude und die beiden wurden verwarnt. Von weiteren Maßnahmen wurde abgesehen, was ihr allerdings gewaltig gegen den Strich ging.
An einem der nächsten Markttage strauchelte Gertraude über einen, in Knöchelhöhe, gespannten Strick, der später von Zeugen nicht gesehen worden war.
Der Unfall war tödlich, denn unglücklicherweise schlug sie mit dem Kopf so heftig auf eine Mauer, dass sie sich auf der Stelle das Genick brach.
So geschehen am 21.September 1955.
Über diese Familiengeschichten sinnierte Wiltrud-Karin Bröcker-Bachmeier nun an jenem Markttag, als sie gerade die Stufen der Sparkasse herunterkam.
Zuvor hatte sie, wie jeden Donnerstag, eine Geldsumme abgehoben. Ihrem inneren und äußeren Zwang folgend, hielt sie an der Summe von 250 Euro fest.
Die Währung Euro ging ihr beim Eintragen in das Haushaltsbuch noch immer schwer von der Hand, wie überhaupt jedwede Veränderung Wiltrud-Karin aus dem Konzept bringen konnte.
So auch die Frage einer Nachbarin, ob beide mit der wöchentlichen Hausordnung einmal tauschen könnten.
In Panik ging sie den Plan für den darauffolgenden Samstag durch, an welchem sie nicht mit der Hausordnung dran war. Würde sie dem Ansinnen der Nachbarin nachgeben, käme ihr Plan durcheinander. Und überhaupt, was sollte sie dann für diesen Samstag für eine Festlegung treffen? Alle Tage kämen durcheinander.
Sie sagte, dass sie es sich überlegen müsse und schlug die Tür zu.
Fiebrig im Flur auf- und abgehend, die Frage der Nachbarin hin- und herwälzend, entschied sie, dass es unmöglich sei, zu tauschen.
Auch an dem besagten Donnerstag gab es eine Planänderung, die sogar gravierend war. Wiltrud-Karin hatte sich damit lange gedanklich geplagt.
Sie wollte sich einen neuen Staubsauger kaufen, so ein teures Ding. Gleich in der Nähe des Marktes im Fachgeschäft.
Sie hob 450 Euro ab.
Ohne sich umzusehen, wider ihrer misstrauischen Gewohnheit, ging sie die Stufen der Sparkasse herunter.
Zunächst sollten die Marktstände, der eingefleischten Praxis folgend, abgeschritten werden.
Den Blumenstand ließ sie seit ein paar Monaten aus. Dieser Entschluss hatte eine längere Konzeptänderung nach sich gezogen.
Doch nun war sie daran gewöhnt, dass der Stand des Gemüsehändlers ganz hinten links der letzte war.
Von hier war es nicht weit in die kleine Nebenstraße zum Fachhändler. Sein Geschäft lag in einer Kurve, welche die Einsicht von beiden Enden der Straße verhinderte.
Diesen Umstand machte sich der Mann zunutze, der Wiltrud-Karin Bröcker-Bachmeier überfiel. Mit dem gezückten Messer stach er mehrmals zu und bemächtigte sich ihrer Geldbörse.
Er hatte sie seit mehreren Donnerstagen beobachtet und seine Chance in der penibel ablaufenden Routine gesehen. Die einzige Überraschung war, dass sie nicht auf dem Weg nach Hause war, auf dem er sie überfallen wollte und dass sie sehr viel mehr Geld bei sich hatte, als erwartet.
Außerplanmäßig starb Wiltrud-Karin am Markttag, den 17. Oktober 2019.