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2. KAPITEL: DIE SUCHE NACH DEN BRIEFEN

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Meine Eltern hatten ihr Haus einfach und praktisch eingerichtet. Alles gradlinig und anspruchslos. Am Küchenfenster stand ein Kanapee und gegenüber vom Herd ein Schrank, ein Büfett mit Glasfensterchen. In der Mitte des Raumes befand sich ein rechteckiger Tisch. In ihm hingen zwei weiße Emaille Schüsseln, die Emmi zum Abwaschen herauszog. War sie fertig damit, schob sie sie zurück und schlug den Deckel zu.

Die andere Ecke füllte der Ofen aus. Gleich daneben hockte der Kohlenkasten. Den Herd nutzte Mutter selten. Sie kochte mit Großmutter zusammen im oberen Teil des Gebäudes. Da Oma Ilse und Opa Otto dort wohnten, verbrachten sie den Vormittag im Obergeschoss.

Kam ich später von der Schule, aß ich in unserer Küche. Hier erledigte ich meine Schularbeiten. War ich damit fertig, diktierte mir Mutter oft Briefe.

Emmi holte aus dem Küchenschrank ein Kästchen. Rote und schwarze Perlen umrahmten die ockerfarbene Schatulle, die jeweils acht Kreise darstellten. Sie stand auf vier Füßen. Den Deckel schmückte eine rot-schwarze Margerite, die wie eine Schlange lauernd und reglos den Kasten bewachte.

Nachdem Emmi die Kassette auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie in der Mitte des Küchenbuffets eine winzige Klappe und nahm Briefpapier heraus.

„Martina! Du schreibst heute einen Brief an Onkel Ernst! Setz dich bitte! Ich diktiere!“

Der Füller kratzte auf dem Briefbogen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch die Blumenschatulle war wesentlich interessanter. Ich schielte in die Richtung, da spürte ich Emmis Ellenbogen in meinen Rippen. Ich zuckte zusammen.

„Schmiere nicht!“, befahl sie.

Aus den Augenwinkeln entdeckte ich andere Schriftstücke im Kasten. Sie weckten meine Neugier. Was stand da drin? Doch es war nicht leicht, an sie heranzukommen. Mutter schloss alles gleich wieder weg. Ich fand keine Zeit zum Nachlesen. Das wollte ich später tun.

Doch später fand ich nur noch Konsummarken, Rechnungen, kleine Fahrzeugbücher und Versicherungskärtchen. Die Briefe waren verschwunden. Entweder Emmi hatte sie weggeschmissen oder versteckt. Aber wohin? Das war die spannende Frage, die mich eine Ewigkeit beschäftigte.

Jedes Mal, wenn ich zwei Minuten ohne Aufsicht herumsaß, fing ich an zu stöbern. Leider ließ man mich nie lange allein. Einer bewachte mich immer. Auch die Großeltern fühlten sich für mich verantwortlich.

Meine Suche begann im Küchenschrank. Doch hier gab es nichts. Ich grübelte. Wo hatte Mutter die Briefe vergraben? Mit dem Daumen im Mund konnte ich besser nachdenken. Hoffentlich hatte Emmi sie nicht verbrannt. Ich wollte sie unbedingt lesen. Wo lagen die? Ratlos suchte ich das Zimmer nach Verstecken ab. Meine Augen begutachteten die wenigen Möglichkeiten. Meine Ohren achteten ständig auf Geräusche aller Art. Großmutter war zu Hause. In letzter Zeit ging sie nicht mehr auf den Acker. Lieber hielt sie sich in der Küche auf. Das war ungünstig. Auch sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Auch sie ließ mir keine Ruhe. Ich musste mich beeilen und leise sein.

Nachdem ich sämtliche Fächer im Küchenschrank vergeblich untersucht hatte, schlich ich in die Stube. Tisch und Sofa waren uninteressant. Hier konnte man nichts unterbringen. Aber in der Schrankwand gab es genügend Platz.

Hintereinander zerrte ich Türen und Schubladen auf. Vorsichtig schob ich das gute Geschirr mit dem Goldrand beiseite, schreckte zusammen, wenn ein Teller klapperte oder Glas klirrte. Doch Briefe fand ich nicht.

Verdammt! Wo waren die?

Plötzlich kam mir eine Idee! Im Kleiderschrank im Schlafzimmer gab es viele Möglichkeiten. Das riesige Möbelstück hatte man anfertigen lassen, zweitürig für Erich und dreitürig für Emmi. In der Mitte gab es eine Frisiertoilette. Alles bestand aus massivem Eichenholz.

Im dritten Teil lagen fein säuberlich übereinander gelegt Tischwäsche, Bettwäsche, Bezüge und andere Sachen.

„Ordnung muss sein!“ Emmis Devise.

Unten entdeckte ich kleine flache Schubladen mit Strümpfen und Taschentüchern.

Jetzt wollte ich noch die Tür öffnen, zog an einem Griff, doch sie war verschlossen. So sehr ich auch rüttelte, sie gab keinen Zentimeter nach. Ich musste mir was einfallen lassen.

Meine Finger berührten ein Schlüsselloch. Aha! Wo waren die Schlüssel?

Meine Augen wanderten durch das Zimmer.

Dass mir das nie aufgefallen war? Alles ginge schneller, hätte ich besser aufgepasst. Ich vertrödelte wertvolle Zeit. Jeden Augenblick könnte die Tür aufgehen, Emmi oder Oma Ilse erscheinen.

Viele Verstecke gab es nicht. Ich schaute mir die Ecke zwischen Schrank und Fenster an. Wenn, dann würden das hier ideale Schlupflöcher sein. Und tatsächlich! Hinter der Gardine hing ein Brett mit Schlüsseln. Ich musste nur noch den passenden finden.

Erleichtert atmete ich auf. Aber im gleichen Moment zuckte ich zusammen. Oben schepperte es, Großmutter fluchte. Ich erstarrte. Mehrere Minuten lang war es still im Haus. Scheinbar vermisste sie mich nicht. Vielleicht meinte sie, ich sei mit den Eltern auf den Acker gegangen. Das wäre günstig. Vorsichtig nahm ich den Schlüssel vom Haken, öffnete die Tür.

Wo sollte ich anfangen?

Die untersten Schubfächer schienen mir am interessantesten. Ich bückte mich, hob die Kleidungsstücke hoch, die nicht hundertprozentig übereinander lagen. Emmis Ordnungswahn wies mir die Richtung. Im letzten Fach entdeckte ich eine Kassette. Glücklich zog ich sie hervor. Aber auch sie war verschlossen. Hektisch suchte ich den nächsten Schlüssel. Am Brett hing er nicht. Die Zeit drängte. Bald würde man nach mir suchen! Länger als eine halbe Stunde blieb ich nie allein.

Ich schwitzte. Noch einmal zog ich die kleinen Schubfächer in der Mitte des Schrankes auf. Eins nach dem anderen. Und staunte! Neben Strümpfen bemerkte ich Westschokolade und Westseife. Aha! Seife neben Schokolade! Tolle Mischung! Ich war beeindruckt. Immerhin duftete alles. Ja, das war ein ganz geheimes Fach. Spannend! Ich zog die Socken beiseite und fand den Schlüssel. Geräuschlos öffnete ich die Kassette.

Plötzlich zitterten meine Hände. Ich bekam einen Krampf. Die Angst, ich könnte entdeckt werden, ließ mich zögern. Ich fürchtete mich vor Emmis Schlägen. Das wollte ich nicht!

Schnell legte ich die Sachen zurück, schob hastig die Fächer zu und schlich in die Küche. Es war auch keine Sekunde zu früh. Ilse stand vor mir. Misstrauisch musterte sie mich. Sie spürte, dass ich was ausgefressen hatte. Doch es war zu spät! Ich war schneller! Glücklicherweise!

„Sind die Schularbeiten fertig?“ Ihre Stimme kratzte. „Dann kannste Brennnesseln für die Schweine holen! Los! Beeil dich! Steh hier nicht so nutzlos rum!“

Großmutter blaffte mich an. Sie war derb. Gefühle kannte sie nicht. Dafür hasste ich sie.

Schnell schnappte ich mir meine Schuhe und verschwand. Offensichtlich hatte sie meine Suchaktion nicht mitbekommen. Das hoffte ich jedenfalls.

Meine Familie erwischte mich nicht. Aber sie merkte wohl, dass da was nicht stimmte. Ich beeilte mich, denn ich musste damit rechnen, entdeckt zu werden. Ich achtete darauf, dass alles an seinen angestammten Platz zurückkam. Doch die Zeit drängte. Wahrscheinlich brachte ich einiges durcheinander, legte was an die verkehrte Stelle. Ich weiß nicht. Aber bei der Suche ertappte mich keiner. Man kann vieles machen, bin ich der Meinung, aber erwischen lassen darf man sich nicht.

Die nächste Gelegenheit nutzte ich schamlos aus.

Die Briefe fand ich in der Kassette, lose hintereinandergelegt, nicht verschnürt. Sie steckten in ungefähr fünf bis sechs Umschlägen. Mehr waren das nicht. Ich las einen Text über Emmis Scheidung. Da stand drin, wie viel sie ihrem Ex-Mann noch zahlen musste. Ihr geschiedener Mann hatte das Haus mitfinanziert. Ich weiß nicht genau, wann sie sich scheiden ließ. Sie hatte jedenfalls noch Schulden bei ihm. Doch damals gab es neues Geld. Reichsmark! Er wollte 5000 Reichsmarken haben. Aber das interessierte mich nicht.

Nur Papiere aus dem Heim waren spannend. Langsam faltete ich sie auseinander. Eines nach dem anderen. Jeweils zwei DIN-A4 -Seiten lagen in den Kuverts. Man hatte sie mehrfach zusammengeschlagen. Ich nahm sie raus, legte sie auf den Boden, merkte mir jedoch nicht immer die richtige Falttechnik. Die Briefe hatte die Heimleiterin verfasst und zwar handschriftlich. Das weiß ich noch. Ich brauchte Zeit, um sie zu entziffern, denn sie waren in Altdeutsch aufgesetzt.

Den Namen des Kinderheims habe ich vergessen. Ich wollte nur wissen, was die meinen Eltern geschrieben und was die geantwortet hatten. Es befand sich ein handgeschriebener Brief von Emmi in den Unterlagen. Sie hatte ihn nicht abgeschickt. In ihm stand, dass sie sich für dieses Kind entscheiden würde. Das andere wolle sie nicht.

Mit Mühe entzifferte ich alles, versuchte es zu verstehen. Im Alter von 11 Jahren fiel mir das nicht leicht. Da brauchte ich Geduld, um die Zusammenhänge zu begreifen. Es war so spannend, dass ich öfter vor Aufregung Bauchschmerzen bekam.

Wenn es oben klapperte oder unten die Tür knarrte, schob ich die Papiere zusammen, steckte sie hastig in die Umschläge.

Zack! Zack! Alle Briefe mussten ordentlich gefaltet, in die Kassette gelegt und in den Schrank gestellt werden. Keiner durfte es merken. Auch die Schlüssel durfte ich nicht vergessen. Das war schwierig. Ich musste mich beeilen, alles verschließen und zum Schluss aus dem Zimmer schleichen. Es war gefährlich.

Die Schriftstücke lagen eine ganze Zeit da. Vielleicht so lange, bis ich sechzehn, siebzehn war. Und dann waren sie weg. Ich fand sie nie wieder. So oft ich auch suchte, sie blieben verschwunden.

Ich denke, Emmi hat sie weggeräumt und entsorgt.

Nachdem sie gestorben war, stellte ich alles auf den Kopf. Aber es war nichts da. Nicht ein Ding. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch irgendwo im Haus stecken. Eine alte Truhe besitze ich nicht, wo ich sagen kann, da habe ich noch nicht hineingeschaut.

Vermutlich hatte Emmi sie verbrannt, als ich damals im Streit ausgezogen war ...

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