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4. KAPITEL: WAS DIE SAGEN, WILL ICH GAR NICHT WISSEN

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Das Haus, in dem ich aufwuchs, stand an einem Hang. Emmi hatte es mit ihren Eltern entworfen und gebaut. Ein hoher Zaun trennte den Garten von saftigen Wiesen und bewaldeten Bergrücken.

Als man mich herbrachte, war ich klein und flink wie ein Wiesel. Überall bahnte ich mir einen Weg in die Freiheit. Genau wie die Katze entwischte ich viele Male durch die Katzenklappe. Gleich neben dem Gartentor verschwand das Tier hinter einem Loch im Zaun. Was die kann, konnte ich schon lange.

Emmi fing mich kaum ein. Sie schlug die Hände über den Kopf zusammen und klagte. Meine Abenteuer brachten sie zur Verzweiflung. Ein solches Energiebündel hatte sie nicht erwartet. Ich raubte ihr den letzten Nerv.

An eine Sache erinnere ich mich heute noch. Da war ich vier Jahre alt. Ich sollte mittags ruhen. Emmi schob die Rollläden vor die Fenster und ging.

Ich lag im Bett und schlief. Die Luft war stickig. Das Atmen fiel mir schwer. Mit einem Mal wachte ich auf, schrie wie am Spieß. Ich wollte aufstehen und nicht mehr schlafen. Ich hätte rausklettern und zur Tür gehen können, aber das tat ich nicht. Ich brüllte und blieb liegen. Ich dachte, die hören mich.

Doch kein Mensch reagierte. Keiner nahm mich aus dem Bett. Ich musste zu guter Letzt allein rauskommen. Niemand kam und holte mich.

Was weiß ich, wo die waren. Vielleicht draußen auf dem Acker, Unkraut jäten oder so was. Aber als Kind kann man sich das nicht erklären. Das war genau so ein Schlüsselerlebnis, wo ich dachte: „Da hilft dir keiner! Musst dich selbst kümmern! Musst das allein regeln! Da kommt niemand und zeigt dir den Weg ...“

Ich denke, das war damals eine andere Zeit. Es gab einen anderen Respekt als heute. Man zauberte aus dem Nichts etwas, weil es nichts gab. Jetzt besitzt man alles im Überfluss und das finde ich nicht gut. Die Menschen sind maßlos geworden.

Heute kriegen die Kinder alles, was sie sich wünschen. Da werden keine Abstriche zugelassen. Manche Teenies, die ich von Kindesbeinen an kenne, haben keine Wünsche mehr. Ist das richtig? Es tut mir leid. Ich sage, Kinder sollen lebensfähig werden, um sich im Leben zurechtzufinden. Aber diese Erziehung macht es ihnen nicht leicht.

Als Kind war ich oft traurig. Ich fühlte mich schlecht, weil alles, was ich machen wollte, verboten war. Ich musste zu Hause bleiben. Ich durfte nicht in den Kindergarten gehen, nicht mit den Kindern spielen. Und wenn endlich eine Freundin zu mir nach Hause kam, heulte ich Rotz zu Wasser, wenn sie wieder fortgehen musste.

Ach, Mensch, das war nicht schön. Aber ich denke mir, es hat mich geprägt. Ich weiß es halt nicht. Aber jeder Mensch ist anders, sieht das anders.

Das Essen im Kindergarten hätte ich gern gekostet, denn zu Hause schmeckte es nicht. Das war ja nur lecker, wenn die Westverwandtschaft auftauchte. Mutter wirtschaftete sparsam. Es gab kaum Salz und Pfeffer. War alles schädlich. Maggi kam nur ans Essen, wenn der Besuch aus dem Westen erschien. Sonst gab es das nicht. Das konnte man vergessen. Emmi versteckte es bis Onkel und Tante anreisten. Aber dann war es schlecht und sie stand ratlos in der Küche.

Immer, wenn die Verwandtschaft aus Gladbach bei uns wohnte, fühlte ich mich wie im siebenten Himmel. Für mich war das die Welterfüllung. Standen noch Festivitäten an, war das das absolute Highlight.

„Fünf Bratwürste hat `se wieder gegessen!“, hieß es dann kopfschüttelnd.

Die Sache mit den Lebensmitteln war eines von vielen Problemen in der DDR. Bestimmte Produkte wie zum Beispiel Hallorenkugeln, Filinchen, Halberstädter Würstchen und vieles mehr rationierte man. Sie mussten für kostbare Devisen exportiert werden. Aus deren Erlösen importierte man Bananen, Apfelsinen und Pfirsiche. Besonders vor Feiertagen brauchte die Bevölkerung ein paar Zusatzgeschenke.

Das Gleiche galt für Ersatzteile oder zum Beispiel Farbfernseher.

In den 50er Jahren bezahlte man noch mit Lebensmittelkarten. Ich glaube, sie wurden erst 1958 abgeschafft. Auf der linken Seite der hellgrünen Karten befanden sich einzelne abreißbare Marken für Fleisch, Fett und Zucker. Rechts füllte man die Arbeitsbescheinigung aus und in der Mitte standen der Name des Besitzers und eine sechsstellige Nummer. Natürlich waren diese Dinge sehr wertvoll. Verlor man sie, war der Teufel los.

Immer, wenn Emmi keine Zeit zum Einkaufen hatte, schickte sie mich. Und zwar bereits im Vorschulalter oder noch eher. Eingekauft wurde im Konsum. Der zentrale Umschlagplatz für alle und alles. Die Leiterin war die eigentliche Bürgermeisterin im Ort. Sie wusste alles. Ihr entging nichts. Sie war das Machtzentrum des Ortes. Wer sie kannte, brauchte sich keine Sorgen machen. Und wer etwas zum Tauschen mitbrachte, dem ging es gut.

„Eine Hand wäscht die andere!“, war ein gängiger Spruch.

Eines schönen Tages drückte mir Emmi das Einkaufsnetz in die Hand: „Du kaufst Gemol, Ata, Imi und Butter!“ Sie kramte in der Schürzentasche und holte ein Stück Papier heraus. „Und nimmst die Marken mit! Bummle nicht! Komm sofort wieder nach Hause! Und pass ja auf die Marken auf!“

Ich sah noch den erhobenen Zeigefinger.

Dann hüpfte ich den Hügel hinunter. Es war spät am Nachmittag und ich schwitzte. Die Hitze versenkte seit Tagen das Land. Das Gras nahm eine gelbliche Farbe an. Die Kühe legten müde ihre Köpfe in die Wiese. Die Menschen versteckten sich in den Häusern. Selbst ein lauer Wind brachte keine Abkühlung.

Das alles machte mir nichts aus, denn ich war frei, konnte endlich dem prüfenden Blick der Mutter entrinnen. Ich warf die Buttermarken ins Netz und hopste von einer Seite des Feldweges zur anderen. Dabei schleuderte ich das Netz fröhlich wie ein Rad im Kreis.

Sand wirbelte durch die trockene Luft. Glücklich stieß ich alte Zweige und Fichtenzapfen mit den Schuhspitzen weg. Ich fühlte mich wohl. Niemand zerrte und nörgelte an mir herum. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Das gefiel mir.

Die drei Treppenstufen vor dem Konsum nahm ich auf einmal. Beinah hätte ich die Tafel umgerissen. Ein schwarzes großes Brett befand sich neben der Eingangstür. Auf ihr stand etwas mit weißer Kreide geschrieben. Das konnte ich noch nicht lesen. Deshalb war mir der Inhalt unbekannt. Es störte mich nicht. Vielmehr stürmte ich in den Laden. Lustig bimmelte ein Glöckchen und die Verkäuferin lächelte mich an.

„Ein Stück Butter!“ Mein Kopf reichte bis zur Kante der Ladentheke. Ich konnte noch nicht über den Tisch gucken.

„Die Marke, bitte!“

„Moment!“

Ich griff ins Netz und erstarrte. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Die Buttermarken fehlten. Ach du Schande! Das war ein mittelschweres Erdbeben! Ich bekam natürlich nichts, sondern musste den gleichen Weg zurücklegen und suchen.

Zuerst kriegte ich einen Hintern voll. Dann trullerte Emmi in den Konsum. Die Butter gab`s trotzdem. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das angestellt hatte. Ihre Beziehungen reichten in viele Richtungen, genau wie die Tentakel eines Kraken. Jedenfalls veranstaltete sie ein riesiges Theater. Die Buttermarken blieben aber verschwunden.

Das Gleiche passierte mir mit der Milch. Irgendwann gaben die Ziegen keine Milch. Und ich sollte welche kaufen. Vielleicht zum Backen. Ich weiß das nicht mehr so genau. Jedenfalls bekam ich ein weißes Milchkännchen in die Hand gedrückt. Und das Kännchen ließ sich beim Hüpfen so gut schleudern. Das war lustig. Mm! Das ging auch eine Weile gut. Aber dann, bruch, sickerte die Flüssigkeit in den Sand und ich dachte an meine letzte Wucht ...

Ilse Koch, die Mutter meiner Mutter, war eine resolute, selbstbewusste Frau. Mit ihr spielte ich nicht gern. Sie konnte mit Kindern nicht umgehen. Kinder sollten was tun. Sie wurden geboren, um zu arbeiten. Das war früher selbstverständlich. Alle halfen mit. In der Familie meiner Großmutter lebten vier Mädchen und fünf Jungen. Da gab es keine Zeit für Spiele. Da hieß es Rechen, Hacken, Graben, Getreide einfahren, Obst und Gemüse pflücken, Erbsen pulen, Bohnen schnippeln und vieles mehr. Jeder musste mithelfen. Es war ganz normal für Ilse, dass ich das Gleiche zu erledigen hatte. Ich sollte kräftig mit zupacken. Da gab es keine Ausnahmen.

Das Wort „Spielen“ kam in ihrem Wortschatz nicht vor. Es war ein Fremdwort für Oma und so handelte sie auch. In einer bunten Kittelschürze stand sie da mit einem Stofftaschentuch in der Hand. Damit wischte sie ständig über ihre tränenden Augen. Doch das hielt sie nicht davon ab, mich zu bewachen. Selbst als sie nicht mehr laufen konnte, guckte sie aus dem Fenster und passte auf mich auf. Wenn dann der Moritz kam, schimpfte sie wie ein Rohrspatz von oben herab: „Du sollst nicht psch ..., psch ..., spielen! Du kommst jetzt hoch und putzt die Sch ..., Sch ..., Schuhe!“

Ilse stotterte. Vor vielen Jahren war ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen. War sie aufgeregt, ging das Stottern los. Wir Kinder hörten das und lachten. Wir veralberten die arme Oma. Sie sollte auf mich achtgeben. Doch ich machte schon damals, was ich wollte. Guck doch das Foto an. Wie ich da wegsehe. Das Schimpfen stört mich nicht.

Was die da sagt, will ich gar nicht wissen!

Bereits als kleines Kind war ich ein „Besen“. Ein „Lausejunge“!

Trotzdem liebten sie mich. Das muss ich sagen. Sie haben den Menschen aus mir gemacht, der ich heute bin. Obwohl ich das über viele Jahre nicht einsehen wollte.

Ich fühle mich der Natur sehr verbunden.

Schon im Kleinkindalter liebte ich Blumen. Rings um unser Haus breiteten sich Wiesen aus. In Gedanken sehe ich mich im Gras auf meinem Rockzipfel hocken, Butter- und Sumpfdotterblumen, Gänseblümchen und Schlüsselblumen zupfen. Ich sammelte alles, was mir gefiel, auch Unkraut. Dann band ich bunte Sträuße draus, hüpfte den grauen Feldweg entlang und schmiss sie vor der Haustür weg.

Einmal trug ich die kleinen Frauenschühchen mit nach Hause. Emmi bewunderte die lilanen Blüten. Sie stellte die Pflanzen in eine Vase. Wenn der Tag rum war, warf sie sie in den Müll. Das tat mir leid.

Ich dachte, wie kann man nur so sein? Die schönen Blumen wegschmeißen!

Da warf ich sie, bevor ich das Haus betrat, lieber selber weg.

Vor unserem Einfamilienhaus breiteten sich zwei große Kirschbäume aus. Ich kletterte für mein Leben gern in ihren Ästen herum, hockte mich in die Kronen und verhielt mich mucksmäuschenstill. Wenn die mich suchten, bewegte ich mich nicht! Sollten die mich suchen! Sollten sie sehen, was sie davon hatten, wenn sie so frech zu mir waren, dachte ich und rührte mich minutenlang nicht von der Stelle. Dickköpfig und stur verharrte ich in meiner Position, ohne dass mich jemand entdecken konnte.

Schon in diesem Alter bereitete ich meinen Leuten viel Ärger. Ich mochte nicht in ihrer Haut gesteckt haben. Heute frage ich mich, ob sie es manchmal bereut haben, dass sie nicht auf die Heimleiterin gehört hatten. Vielleicht hätte das andere Mädchen nicht so viele graue Haare verursacht wie ich?

Bevor ich die Schule besuchte, begleitete ich oft den Kuhhirten, den von Nordheim und seine Kühe auf den Buchenberg. Das durfte ich. Frühmorgens gegen neun Uhr stapfte er an unserem Heim vorbei. Er sammelte alle Kühe der Umgebung ein. Ziegen hatte er nicht dabei.

Oma Ilse geleitete mich bis zur Wegscheide. Sie passte auf, dass ich nicht vom Weg abkam. Erst, wenn der Hirte uns erreicht hatte, ließ sie mich gehen, holte mich aber spätestens an derselben Stelle wieder ab.

Von Nordheim nahm mich mit auf den Berg. Damals standen noch keine Häuser da. Man sah nur Wiesen, Bäume und Felder.

An einen Tag erinnere ich mich genau. Von Nordheim hatte Geburtstag. Irgendwo draußen zupfte ich gelbe Blumen. Ich glaube, es war Goldregen. Ich fand die so schön. Dass die giftig waren, davon hatte ich als Kind keine Ahnung. Mir gefielen sie. Das war entscheidend. Alles andere interessierte mich nicht.

Emmi reichte mir eine dicke Zigarre und voller Stolz trug ich die Geschenke zum Hirten. Den Blumenstrauß kriegten die Kühe und die Zigarre behielt er. Das weiß ich noch! Das war in Ordnung.

Als Kind war ich selten krank, lag nie im Krankenhaus. Selbst Eltern und Großeltern kannten kaum Krankheiten. Nur Oma Ilse fühlte sich im Alter nicht mehr wohl. Während Opa Otto noch auf dem Acker arbeitete, blieb sie daheim. Sie ging kaum noch aus dem Haus, denn das Treppensteigen fiel ihr schwer.

Früher half Ilse im Garten und bei der Heuernte auf den Wiesen. Doch das ließ alles nach. Mit 80 oder 82 stürzte sie, brach sich den Oberschenkel. Drei Wochen später starb sie.

Natürlich holte Emmi zuerst keinen Arzt. Auch ins Krankenhaus musste man nicht. Das war nicht notwendig.

„Das geht schon wieder fort ...“, meinten die Leute.

Aber ihr Bein war blitzeblau. Ich habe noch nie so ein Bein gesehen. Wie das dunkel und schlecht aussah!

Und Ilse jammerte ständig: „Ach, wenn ich doch schon mein Buch zugemacht hätte! Ach, wenn ich doch schon mei` Buch zugemacht hätt`!“

Sie wollte sterben. Schon vor 15 Jahren wollte sie ihr Buch schließen und hatte es nicht geschafft.

Nachdem sich ihr Zustand nicht besserte, holte Emmi den Zeth’e Fritz, den alten Landarzt von Suhl. Der schaute sich die Sache an und sagte: „Da mach mer die Bei ab und hängen se nei rauf in de Kirschbaum bei de Spatze!“

Den Spruch hab ich mir gemerkt. Das war typisch Zeth’e Fritz! Er überspielte vieles. Dass die Lage ernst war, sah er freilich. Dass aber nichts mehr zu retten war, konnte er nicht zugeben.

Überhaupt registrierte ich allmählich, dass viele Leute im Suhler Dialekt sprachen. Das fiel mir erst nach und nach auf, denn daheim achtete Emmi auf ein gepflegtes Hochdeutsch. Nur wenn Erich getrunken hatte, überhörte sie beflissentlich seine Entgleisungen. Aber manchmal rutschten auch ihr diese Wörter aus dem Mund, ohne dass sie das wahrnahm.

Doktor Fritz Zeth, das ist die Figur, die unten am Steinweg zwischen Niebling und Steigleder steht mit der Aktentasche in der einen und dem Stock in der anderen Hand. Zu ihm ging ganz Suhl. Er und Dr. Hofzimmer waren Ärzte, alte Ärzte, die alles mit einem gewissen Humor trugen. Ging da jemand hin und wollte nur einen Krankenschein, hatte er schlechte Karten. Wer aber wirklich krank war, dem half man natürlich. Gott sei Dank brauchte ich bisher kaum einen Arzt.

In den ersten Schuljahren kannte ich noch keinen Fernseher. Meine Eltern besaßen nur ein altes Radio. Das stand auf dem Schrank neben dem Sofa. Jeden Sonntagnachmittag durfte ich Pumuckl hören. Meister Eder und sein Pumuckl.

Ich hockte eine halbe Stunde still in der Ecke und lauschte. Ob Opa schimpfte oder Oma meckerte, ging mich nichts an. Ich hörte Pumuckl aus einem Röhrenradio lachen. Die Stimme aus dem großen hellbraunen Kasten verzauberte mich, nahm mich gefangen, hypnotisierte mich. Während dieser Zeit ließ ich mich von niemandem stören.

Letztens traf ich Annemarie, meine Freundin. Sie ist ein Jahr jünger als ich. Wir standen vor der Kaufhalle und unterhielten uns.

Bis wir auf eine Begebenheit in der Kindheit zu sprechen kamen. Da fiel mir die ganze Geschichte wieder ein.

Ein sonniger Frühlingstag lockte mich damals aus dem Haus. Unsere Kirschbäume trugen weiße Kleider und die Bienen summten und sammelten Nektar. Überall duftete es. Die blauen Hyazinthen in Mutters Garten verströmten einen süßen Duft. Die Blumen ins Zimmer zu holen, ließen wir lieber bleiben. Davon bekam man Kopfschmerzen. Es war besser, sich in der freien Natur an ihnen zu erfreuen.

Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, aber zur Schule bin ich noch nicht gegangen. Es war nachmittags und ich durfte meine Freundin besuchen. Sie wohnte nicht weit von uns entfernt.

Auf dem Weg lagen alte Fichtenzapfen und Zweige. Der Wind blies ein trockenes Blatt vom letzten Jahr durch die Luft. Es raschelte. Eine Amsel landete auf einem Baumstamm. Sie wippte wie eine Tänzerin. Ihr Schwanz zeigte nach oben und ihr Schnabel in meine Richtung. Ich blieb stehen und beobachtete sie.

Die Amsel flog auf eine Pfütze zu und setzte sich an den Rand. Ihr schwarzes Federkleid hob sich kaum von der Erde ab. Ich schlich auf den Vogel zu. Doch er war schneller und verschwand in der knorrigen Buche. Im Nu verschluckten die vielarmigen Äste den Vogel und ich suchte vergebens nach ihm.

Lange trauerte ich dem Tier nicht nach. Vielmehr rannte ich zu meiner Freundin. Annemarie und ihre Mutter sortierten Puppensachen. Auch der Puppenwagen sollte weg. Annemaries Mutter, eine große schlanke Frau mit blonden Zöpfen, sah mir in die Augen. Sie verstand mich ohne Worte.

„Den Puppenwagen! Den kannste mitnehmen, mein Mädle! Den brauchen wir net mehr! Den kannste kriegen!“

Stolz wie ein Spanier lief ich den Feldweg lang und schob den weißen Korbpuppenwagen vor mir her. Ich musste mich mächtig anstrengen. Die kleinen Räder ließen sich schwer über die Kieselsteine bugsieren. Das Holzgestell klapperte. Ich umklammerte den langen Griff und freute mich über die Kopfkissen, die rot karierte Matratze und das rosafarbene Deckchen.

Zu Weihnachten schenkte man mir immer denselben Teddy mit neu gestricktem Anzug. Ihn stellte ich mir vor.

„Einen Puppenwagen für meinen Teddy!“, jubelte ich. „Ich habe jetzt `nen Puppenwagen! `nen Puppenwagen! Für meinen Teddy!“

Die Freude hielt nicht lange. Als meine Mutter das Geschenk sah, explodierte sie: „Du kannst doch nicht von den anderen Leuten das Zeug mitnehmen! Wo gibt`s denn so was! Der Wagen kommt wieder owere hie!“

Ich kriegte so einen Krach, dass mir Hören und Sehen vergingen. Da musste ich den Puppenwagen wieder runterfahren und unten abstellen.

Heulend trottete ich den Weg ins Tal. Traurig parkte ich den Wagen vor das Haus meiner Freundin. Nun hatte ich wieder keinen Puppenwagen! Ich verstand die Welt nicht mehr.

Und Annemarie sagte später zu mir: „Ich sehe dich noch heute, wie du weinend mit dem Wagen runter kamst, ihn abgeben musstest und ihn nicht behalten durftest!“

Biografie eines adoptierten Lebens

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