Читать книгу Die Narben aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 3
Gefährliche weiße Falter
ОглавлениеWir fahren mit Daniels altem, dunkelgrünem BMW durch die überfüllten Straßen Osnabrücks. Es ist Samstag und der Strom Einkaufswilliger reißt nicht ab. Wir stecken mitten drin und ich bin wie immer vor einem Deal nervös.
Es ist Sommer und es ist heiß. Mein schwarzes T-Shirt und meine Jeans kleben mir am Körper. Aber bevor ich mir wie Daniel mein T-Shirt ausziehe, sterbe ich lieber.
„Wo ist das Treffen?“, fragt er und ich sehe in seine dunkelblauen Augen. Er sitzt mit freiem Oberkörper hinter dem Steuer seines BMWs und ich sehe die glänzende Feuchtigkeit auf seiner braun gebrannten Haut.
Auch wenn er sich oft an meiner Hantelbank vergnügt, sieht man ihm das nicht an. Daniel wirkt trotz seiner Bemühungen schlank, aber nicht durchtrainiert. Ganz im Gegensatz zu mir. Aber für mich war das Training auch immer überlebenswichtig, um die Geister aus der Vergangenheit in Schacht zu halten.
„Das Treffen ist beim Mittellandkanal … auf dem Parkplatz. Halt aber vorher an und zieh dir dein Shirt über. Wir laufen da nicht auf wie in einer Beach Bar!“, knurre ich und stelle mich schon mal auf das ein, was auf uns zukommt. Dabei lasse ich meine Augen immer wieder in den Seitenspiegel oder den Spiegel der Sonnenblende gleiten, um hinter uns verdächtige Fahrzeuge auszumachen.
Aber die Straßen, die wir jetzt befahren, sind leer und in dieser tristen Gegend zwischen Osnabrück und Bramsche gibt es kaum Verkehr. Wie immer wählen wir eine Nebenstrecke, um das Geschehen um uns herum genau kontrollieren zu können.
Kurze Zeit später, wir haben kleinere Orte und Bauernschaften hinter uns gelassen, fährt Daniel an den Straßenrand und zieht sich sein Muskelshirt über - auch in schwarz. Er streicht sich seine kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haare zurück und grinst mich an.
Ich schenke ihm nur einen kalten Blick.
Eigentlich faxt er nie vor solchen Treffen herum. Er ist derjenige von uns beiden, der vorsichtig und vorausschauend alles viel zu ernst nimmt. Aber seit er meine Schwester Ellen datet, dreht er irgendwie durch.
Ich hasse das, genauso wie ich diese Treffen hasse. Ein Fehler kann mich in den Knast bringen. Aber das verdränge ich lieber. Genauso wie den Gedanken, dass ich immer noch achtzehn Monate meiner Bewährungsstrafe überstehen muss, ohne Plan wie das funktionieren soll.
Daniel lässt den BMW wieder auf die Straße rollen und wir fahren weiter. Nachdem wir kurze Zeit später eine Brücke über den Mittellandkanal passieren, biegt er von der Straße ab und fährt auf einen Parkplatz direkt am Wasser.
Es ist niemand da und wir steigen aus. Uns an den Wagen lehnend, zünden wir uns eine Zigarette an.
„Sind das wieder die gleichen Typen aus Hamburg?“, fragt Daniel und ich nicke.
„Die zwei sind eigentlich ganz okay. Vielleicht sollte ich die mal anhauen, ob die mit uns ein paar Zusatzgeschäfte machen wollen?“, sage ich und spreche aus, was mir schon länger im Kopf schwirrt.
Daniel sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Er schüttelt nur den Kopf und sagt nichts dazu. Ich weiß, er hält das für ein Selbstmordkommando, wenn man sich mit solchen Typen einlässt und den Boss hintergeht. Doch mir schwirren ständig solche Ideen im Kopf herum, als wolle ich meine Lage um jeden Preis verschlimmern.
Ich will eigentlich nicht im Gefängnis versauern, dennoch lege ich es beständig darauf an. Es ist wie ein Zwang. Außerdem habe ich in letzter Zeit immer das Gefühl, es spielt eh alles keine Rolle mehr. So wie mein Leben jetzt ist, gleicht es einem Abstellgleis.
Ein schwarzer Mercedes kommt über die Brücke gefahren, in der Sonne glänzend wie ein Panther. Er biegt auf die kleine Straße ein, rollt auf den Parkplatz und kommt in einiger Entfernung von uns zum Stehen.
Ich werfe meine Zigarette in das glitzernde Wasser des Kanals und gehe auf den Wagen zu.
Daniel packt mich am Oberarm. „Warte, lass die erst aussteigen. Ich will erst wissen, ob es die Richtigen sind. Nicht das da gleich welche rausspringen und uns abknallen“, raunt er leise. Daniel ist mal wieder übervorsichtig.
Die Autotüren werden aufgestoßen und zwei Typen steigen aus. Der Fahrer grinst uns an. Er hat ein beiges Muskelshirt an und eine Jeans. Über dem Shirt trägt er wie immer eine schmale Krawatte. Das ist sein Markenzeichen. Egal was er anhat, er trägt dazu eine Krawatte.
„Erik!“, ruft er über den Mercedes hinweg uns zu und kommt um den Wagen herum.
Daniel entspannt sich neben mir und lässt meinen Arm los.
„Leandro!“, sage ich genauso freundlich, schaue aber genau, was der andere Typ macht.
Leandro kommt auf uns zu. Seine schwarzen, gegeelten Haare liegen eng an seinem Kopf an und man sieht an seinen dunklen Augen und seiner Hautfarbe, dass er Italiener ist. In seinem Hosenbund steckt gut sichtbar seine Beretta.
Auch der andere Typ kommt auf uns zu. Den habe ich allerdings noch nie gesehen und mustere ihn mit kaltem Blick.
„Das ist mein Bruder Ferris“, sagt Leandro.
Aussagen, die irgendwelche Verwandtschaftsgrade betreffen, haben in dieses Metier nichts zu bedeuten.
Ich nicke Ferris zu, gebe mich aber nicht weiter mit ihm ab. Ich will das Ganze schnell hinter mich bringen.
Zu meinem Ärger grinst Ferris und sagt mit einem schrecklichen Akzent: „Ah, guardare! Das Goldlöckchen macht heute das Geschäft.“
Ich bleibe stehen und merke aus dem Augenwinkel, wie Daniel neben mir erstarrt.
„Scusate Erik. Mein Bruder neigt manchmal zum Größenwahn.“ Leandro wirft Ferris einen vernichtenden Blick zu, der sofort ernst wird.
Scheinbar ist ihm nicht klar, dass der ganze Deal böse enden kann, wenn er mich Goldlöckchen nennt. Und scheinbar ist ihm auch nicht klar, dass ein Hammer von mir ihn in den Staub des Parkplatzes befördern wird, ohne Aussicht, in nächster Zeit wieder auf die Füße zu kommen.
Leandro kommt die letzten paar Schritte auf mich zu und gibt mir die Hand. „Nichts für ungut! Den Penner muss ich noch erziehen“, knurrt er nur.
Ich nicke und schlucke meine Wut herunter. Ich verfluche wiedereinmal meine blonden Locken, die ich ausgerechnet heute nicht mit Gel an meinem Kopf festgeklebt habe.
An Ferris gerichtet, zischt Leandro: „Beeil dich! Ich will nicht ewig in dieser Affenhitze stehen.“
Ferris geht zum Mercedesheck, öffnet die Klappe und holt eine schwarze Ledertasche heraus. Eine von den üblichen …
Er kommt zu mir und lässt mich hineinsehen.
Es liegen zwei dicke, mit Packpapier verschnürte Päckchen darin und ich nicke. Zu Daniel blickend deute ich ihm mit einem Kopfnicken an, dass jetzt sein Part kommt und er geht zu seinem BMW und holt den Koffer heraus. Mit großen Schritten kommt er zum Mercedes zurück und lässt den Koffer auf die Kühlerhaube knallen. Mit einem Griff schnappen die Verschlüsse auf. Er hatte das anfangs ein paar Mal geübt, um es galant hinzubekommen.
Der Koffer schwingt auf. Das Geld zeigt sich schön gestapelt und aufgereiht.
„Alles klar!“, knurrt Leandro und nickt kurz.
Daniel lässt den Koffer zuschnappen und die Verschlüsse zurillen. Sam hatte uns das so beigebracht.
Der neue Besitzer des Geldes wird unseren Boss anrufen und die Kombination bekommen, um den Koffer zu öffnen. Das hat einen simplen Grund. So kann von nun an keiner mehr etwas von dem Geld entwenden und wenn was fehlt, werden sie uns dafür im Mittellandkanal versenken, weil dann feststeht, dass nur wir etwas davon geklaut haben konnten.
Leandro macht das Gleiche mit den zwei Verschlüssen an der Ledertasche, die diese versiegeln. Das ist das übliche Übergaberitual. Mein Boss wird im Gegenzug zu dem Code des Geldkoffers auch den Code der Tasche bekommen. Auch eine Sicherheitsmaßnahme, dass sich keiner an dem Stoff vergreift.
Ich nehme Leandro die Tasche ab, und er mir den Koffer. Der Deal ist erledigt.
„Hey Erik, wenn du mal in Hamburg bist, dann komm bei uns vorbei. Wir zeigen dir die Stadt und unsere Mädchen“, ruft Leonardo mir zu und grinst. Er ist nicht viel älter als ich und macht immer den Eindruck, auch genauso draufgängerisch zu sein.
Ich nicke mit kühlem Blick. Genau den Spruch wollte ich hören. „Sicher! Wir hatten sowieso vor, euch zu besuchen. Der nächste Deal läuft in Hamburg“, antworte ich, gehe zum BMW und werfe mich neben Daniel auf den Beifahrersitz.
Der Mercedes fährt als erstes von dem Parkplatz herunter und wieder über die Brücke Richtung Bramsche, während wir in die entgegengesetzte Richtung verschwinden.
Daniel brummt: „Erik, wir sollten nicht nach Hamburg fahren. Es reicht doch schon, dass wir hier ständig mit einem Bein im Knast stehen.“
Ich antworte ihm nicht. Es ist mein Arsch, der einfährt. Aber ich bin mutiger geworden. Seit meiner Bewährungsstrafe vor fast zwei Jahren wurde ich nicht einmal hochgenommen und selbst meinem Bewährungshelfer ist es mit mir zu langweilig geworden. Gut, ich habe auch nicht vor, mich bei irgendetwas erwischen zu lassen und Schlägereien gehe ich möglichst aus dem Weg. Bisher habe ich auch niemanden mehr ins Krankenhaus befördert oder fast ins Grab. Das letzte Mal ist ewig her und hat mir ein halbes Jahr Jugendknast eingebracht.
Nun bin ich vierundzwanzig und wesentlich schlauer. So schnell lasse ich mir nicht mehr ans Bein pissen. Und dass ich nach meiner letzten Verhandlung erneut bei meinen Eltern einzog, um wieder ein geregeltes Leben nach außen hin zu präsentieren, und artig Betriebswirtschaft studiere, zeigt doch der Welt, dass ich brav geworden sein muss.
Da ich Daniel nicht antworte, murmelt er. „Lass uns das Zeug schnell loswerden. Es macht mich immer nervös, wenn wir so viel Stoff durch die Gegend kutschieren.“
Wir fahren direkt zu Walters Bordell im Osten der Stadt. Daniel parkt den BMW auf dem versteckten Hinterhof, auf dem alle Kunden parken, die lieber nicht auf dem Hauptparkplatz gesehen werden wollen. Wir können froh sein, noch einen Platz zu bekommen.
Das Haus ist ein dreistöckiger Kasten aus den Fünfzigerjahren und sieht unscheinbar aus. Nur das Neonschild über dem Eingang verrät, was sich dort drinnen befindet, und die Bilder in dem Schaukasten.
Daniel und ich gehen durch den Lieferanteneingang. Wir schlängeln uns an den Nutten vorbei, die sich in den hinteren Räumen des Erdgeschosses für die Arbeit an der Bar oder in den Zimmern vorbereiten. Sie wechseln in einem kleinen Nebenraum ihre Outfits und machen dort ihre Pausen. Da ist auch der Bereich, in dem sie Essen und Trinken bekommen. Walter achtet immer darauf, dass es den Mädels gut geht, die für ihn arbeiten. Seine Söhne Sam und Teddy, die sich mehr auf den Straßenstrich konzentriert haben, sind da nicht so zimperlich.
„Erik, Daniel!“, säuseln die Mädchen, als wir an ihren kaum bekleideten Körpern vorbeigehen. Kira, ein dunkelhaariges, ziemlich hübsches Häschen, streicht mir mit der Hand über die Wange und lacht mich einladend an.
Ich stehe nicht auf die Mädels, die die Beine für Geld breitmachen. Sie wollen von einem Mann nur seine Asche und alles andere interessiert sie nicht. Sie sind genauso gefühlstot wie ich, und nur noch durch Gewalt zu verletzen.
Ich bereichere mein Leben zwar auch damit, Frauen weh zu tun. Aber Gewalt bringt mich in den Knast. Deshalb bleibt mir nur, Frauen mein Interesse vorzugaukeln, ihnen den besten Sex zu präsentieren und wenn sie völlig verliebt nach mehr lechzen, mit einem verbalen Fußtritt erbarmungslos vor die Tür zu setzen, nachdem ich ihnen ihre Bedeutungslosigkeit vor Augen führte. Die Mädels von heute reagieren darauf, als hätte man sie geschlagen. Diese Emanzen verkraften sowas gar nicht. Sie sind gewöhnt zu bekommen, was sie wollen und dass sie wie Prinzessinnen hofiert werden, denen man nichts abschlägt.
Bei mir lernen sie, dass sie nichts wert sind und ich sie nur benutze und sie wieder aus meinem Leben kicke.
Aber mich mit so einer wie diesen hier einzulassen, wäre mir echt zuwider und würde für mich nichts bringen. Ihnen ist eh alles egal. Sie sind keine Prinzessinnen und kennen ihren Wert und der wird nur in Geldscheinen gerechnet. Außerdem würde ich niemals für Sex bezahlen.
Daniel ist da genauso wie ich. Er würde sich auch niemals auf so eine einlassen. Schon gar nicht, seit er auf meine Schwester Ellen scharf ist. Seitdem gehen ihm sowieso alle Weiber am Arsch vorbei. Er ist so ein richtiger Vollblutromantiker geworden, seit er sein Herz an meine Schwester verschwendet. Und ich sehe das als Verschwendung, denn ich würde die nicht mal mit einer Zange anfassen.
Ich hasse meine Schwester. Sie ist die Prinzessin bei uns zu Hause. Meine Eltern wissen nichts davon, dass sie mit einem Junkie zusammen war und selbst Drogen nahm. Der Penner hat sich mit einem goldenen Schuss ins Jenseits befördert und meine Schwester in einen Abgrund aus Traurigkeit gestoßen. Daniel hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie daraus zu erretten.
Wenn es nach mir ginge, würde ich sie darin verrecken lassen. Aber Daniel ist mein bester Freund und wir machen alles zusammen. Wenn er also unbedingt meine Schwester erretten will, dann soll er das in Gottes Namen tun. Aber er weiß, er brauch nicht auf meine Hilfe zu hoffen. Höchstens darauf, dass ich ab und zu ein Auge zudrücke und meine Schwester in unserer Nähe ertrage.
Wir gehen eine Treppe hinunter in den Keller. Dort hat Walter sein Büro.
Andreas gesellt sich zu uns. Er ist einer von Walters Schatten und auch genauso aus dem Nichts aufgetaucht.
Von ihm flankiert, betreten wir den Kellerraum. Er ist nicht besonders groß. Aber es gibt einen riesigen Schreibtisch, dahinter einen opulenten Ledersessel, zwei Lederstühle vor dem Schreibtisch, ein riesiges Ledersofa mit einem Schrank daneben, der eine Bar enthält und etliche Monitore an einer Wand.
Die Tür der Bar steht offen und wir können die vielen verschiedenen Flaschen sehen. Ein Glas mit einer braunen Flüssigkeit steht an dem Platz, an dem der Big Boss sitzt. Wahrscheinlich Whiskey.
Walter trinkt eigentlich nie, außer einer seiner Jungs ist zu einem Deal unterwegs.
An einer Wand steht ein Bücherregal, und eins mit DVDs. Auf die Bücher ist Walter stolz. Die DVDs sind nur Arbeitsmaterial und Überwachungsaufnahmen.
Sam und Teddy hatten mir schon öfters gezeigt, wenn ihr alter Herr unterwegs war, wie das mit den Monitoren bestellt ist. Man kann von hier aus jederzeit in die einzelnen Zimmer schalten und auch in den Barbereich.
In den Zimmern können die Mädels mit einem winzigen Knopfdruck die Kamera aktivieren, wenn sie sich unsicher fühlen. Dann erscheinen Walters Schatten und räumen auf, wenn es zu heftig wird.
Sam und Teddy lieben diese Monitorwand und stellen es als Überwachung der Arbeitswilligkeit der Mädels hin, wenn sie durch die Zimmer zappen und sich die Liebesspiele reinziehen.
Ich stehe nicht auf diese Art von Geschäft. Drogen verticken ist okay. Leute dazu zu bringen, ihre Rechnungen zu begleichen, auch. Aber Männern Sex zu verkaufen finde ich billig. Männer sollten sich wesentlich respektabler aufführen und nicht Geld dafür zahlen, um einen wegstecken zu dürfen. Ich schäme mich dafür, dass meine Geschlechtsgenossen so niveaulos sind. Und Sam und Teddy, die so was wie meine älteren Ziehbrüder sind, stehen da ganz oben, wo niveaulos sich schon in abgefuckt wandelt. Sie sind in dieses Geschäft hineingewachsen, als ich noch gar nicht wusste, dass es so etwas überhaupt gibt. Erst als mein Patenonkel Clemens mich zu seinem besten Freund Walter mitnahm, sah ich eine Welt, die ich nicht verstand. In dieser Welt haben die Frauen die Macht über die Männer. Über jeden einzelnen, der seine Geldtasche für ein bisschen billigen Sex zückt.
Gut, es gibt wiederum Männer wie Walter, die dann noch über den Frauen stehen und ihnen einen Teil des Geldes abnehmen. Aber das ist Geschäft. Das hat nichts mit dümmlichen Trieben zu tun.
„Hat alles geklappt?“ Walters tiefe Stimme dringt aus dem riesigen Ledersessel zu uns herüber und Daniel geht zum Schreibtisch. Er knallt die Tasche auf die Holzplatte und ich nicke. „Alles okay. Leandro hatte allerdings einen Typen Namens Ferris dabei. Keine Ahnung. Der schien mir nicht ganz koscher zu sein. Ich mag es nicht, wenn Neue aufkreuzen“, knurre ich und höre wieder seinen Ausspruch: „Das Goldlöckchen macht heute das Geschäft.“
Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, meine Haare ganz abzurasieren. Aber ich will nicht als Rechtsradikaler angesehen werden oder aussehen wie Teddy und Sam. Und unverkennbar stehen die Mädels darauf, wenn ich mir die eine oder andere Locke in mein Gesicht fallen lasse. Schließlich brauche auch ich manchmal das andere Geschlecht, um mich abzureagieren. Ein-Zwei Stunden und Tschüss. Keine hat bei mir mehr zu erwarten. Dafür haben sie in dieser Zeit guten Sex.
Walter kommt behäbig hinter seinem Schreibtisch hervor. Er ist in den letzten Jahren nicht nur erschreckend gealtert, sondern auch dicker geworden. Heute wirkt er wie ein alter Mann und seine hellblauen Augen sind trüb. Seit dem Tod von meinem Onkel Clemens, der seit seiner Kindheit sein bester Freund war, sind seine Haare grau geworden. Ihn hat dessen Tod genauso getroffen wie mich.
Er schlägt mir auf den Rücken. „Du bist wirklich einer meiner Besten und Zuverlässigsten. In zwei Wochen kommt die nächste Ladung.“
„Daniel und ich können die Ware selbst aus Hamburg abholen. Ich wollte dort sowieso nach meinem Auto schauen“, sage ich und Walter sieht mich einen Augenblick abschätzend an. Doch dann nickt er. „Okay, reden wir darüber, wenn es soweit ist.“
Wir gehen, nachdem er mir, und dann Daniel, einen Fünfhunderteuroschein in die Hand gedrückt hat und eine Tüte. Ich weiß, Daniel wir sein Zeug zu achtzig Prozent verticken. Ich werde achtzig Prozent für mich behalten.
Wir verlassen das Büro, gehen an den Damen vorbei, die uns erneut zu locken versuchen und steigen in Daniels BMW.
Er ist erleichtert. Es ist wieder einmal alles gut gegangen und mit dem Geld und dem Stoff kann er sich einige Zeit über Wasser halten. Er hat keine Eltern, die ihm ein Konto einrichteten, auf das immer ein wenig Geld fließt. Er hat eine Wohnung, die seine Mutter ihm überließ, als sie zu einem Großkotz zog, der forderte, dass Daniel aus ihrem Leben verschwindet. Seine Mutter schien diesen Deal nur zu gerne einzugehen und Daniel arrangierte sich damit, weil er die Wohnung des Vorgängers des Großkotzes bekam und der Typ seiner Mutter ihm das Studium finanziert. Er geht mit mir in die Uni und wir machen beide einen auf brave Studierende. Damit sichere ich mir auch mein gefülltes Konto. Allerdings muss ich dafür bei meinen Eltern wohnen, was eine Auflage von ihnen war, nachdem ich die Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitzes aufgebrummt bekam. Sie hoffen immer noch darauf, mich in ihre großartige Sportgeschäftswelt zu integrieren.
Ich lasse ihnen einen Hoffnungsschimmer und bleibe in meiner Wohnung in ihrem Haus, obwohl ich nach Onkel Clemens Motorradunfall die Wohnung von ihm erbte, die über Daniels liegt. Seit seinem Tod war ich nicht mehr dort drinnen. Also auch schon geschlagene drei Jahre.
Als es mir vor einigen Jahren total dreckig ging und ich mit meinem Leben gar nicht mehr klarkam, kümmerte Clemens sich um mich. Mein Vater, sein älterer Bruder, konnte noch nie mit mir und meinem Wirken umgehen, genauso wie alle anderen aus meiner Familie das nicht können. Meine Mutter, die nie gelernt hat, sich den Schuldgefühlen mir gegenüber zu stellen und mich daher lieber gar nicht beachtet, tut so, als wäre ich ein fremdes Wesen, das nur bei ihnen wohnt. Meine kleine Schwester, die das Leben unter einem liebevollen Zuhause genießt, das meine Eltern ihr bieten, sieht mich nur als Eindringling in ihrem Prinzessinnenreich an. Meine Eltern setzten immer ihre ganze Liebe und Fürsorge in das kleine Mädchen und beschützten sie, wie sie es bei mir versäumt hatten. Für mich blieb daher nur eine Welt übrig, als wäre bei mir eh alles zu spät und jegliche Fürsorge und Liebe nutzlos und vergeblich.
Ich war mit fünf Jahren gebrandmarkt worden und meine Eltern sahen in mir das Ergebnis ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu beschützen. Darum gaben sie sich, um das nicht immer vor Augen zu haben, möglichst nicht mit mir und den Folgen ab.
Als ich zwölf war erfuhr ich aus der Zeitung, dass die Frau, die meine Eltern für mich als vierjährigen als Kindermädchen eingestellt hatten und die mich ein Jahr lang quälte, wegen guter Führung aus dem Knast entlassen wurde. Sie hatte nur sieben Jahre für das büßen müssen, was sie mir angetan hatte. Dabei hätte sie ihr Leben lang eingesperrt gehört.
Es waren nicht nur die Schläge und das Einsperren in einen Schrank, die diese Strafe, die sie absaß, lächerlich erscheinen ließ. Es war viel mehr!
Als Ellen geboren wurde und meine Mutter gezwungenermaßen Zuhause bleiben musste, um das Baby zu versorgen, da fiel ihr der unfreundliche Umgang des Kindermädchens mit ihrem fünfjährigen Sohn auf und dass meine blauen Flecken wohl nicht nur vom Spielen kamen. Ich hatte Angst vor Daniela und weinte oft, wenn meine Mutter mich mit ihr allein ließ. Meine Eltern taten das als fremdeln ab und waren darüber sehr böse.
Aber dann, als Ellen auf der Welt war, wurden sie eines Besseren belehrt und sahen, was Daniela in ihrer cholerischen Art mir antat.
Sie entließen sie und ich meinte in Sicherheit zu sein. Meine Albträume hatten aber keine Zeit abzuebben.
Daniela entführte mich, wütend über die Kündigung, und forderte Lösegeld. Bis die Übergabe stattfand war ich drei Tage in ihrer Gewalt, in der sie mich misshandelte und quälte. Es war nicht das Körperliche, das mich in den Abgrund stieß, sondern das Seelische, weil sie mir einredete, dass mich keiner will und keiner mich retten wird. „Deine Eltern haben jetzt ein neues Kind. Ein kleines Mädchen. Die wollen dich nicht mehr“, hatte sie mir immer wieder eingebläut. Und die Zeit, die es dauerte, bis ich freikam, erschien mir endlos und schien ihre Worte zu bestätigen. Ich war mir sicher, dass meine Eltern mich nicht mehr befreien kämen und somit meinen Qualen niemals ein Ende setzen würden.
Als die Polizei einen der Männer, der mit an der Entführung beteiligt war, bei der Geldübergabe festnahm und der sich daraufhin nicht bei ihr meldete, nahm sie ihren Autoschlüssel, stellte mich an die Wand und zog ihn mir über die Brust.
Meine Albträume lassen bis heute den reißenden Schmerz immer wieder aufleben und das warme Blut erneut über meinen Körper laufen.
Ich bin bis in alle Ewigkeit nicht nur seelisch massakriert worden, sondern auch verunstaltet. Die zwei langen Narben ziehen sich über meine Brust, als Mahnmal für ein wertloses, ungeliebtes Wesen.
Aber ich wollte zumindest nie wieder so schwach sein. Also übte ich mich, als ich erfuhr, dass Daniela auf freien Fuß kommen wird, in allen möglichen Kampfsportarten und richtete mir eine Muckibude ein und begann wie besessen zu trainieren. Mir sollte nie wieder jemand etwas antun können.
Aber mit meinen Muskeln kam auch meine Gewaltbereitschaft und ich prügelte mich ständig. Als ich fünfzehn war und Ellen elf und sie gelernt hatte wie sie mich zur Weißglut treiben konnte, packte ich sie mir. Ich hatte nicht vor, sie zu verletzten. Aber sie sollte mich ein für alle Male in Ruhe lassen.
Mit einem Griff warf ich sie zu Boden, dass ihre langen blonden Locken wild durch die Luft wirbelten. Sie schlug hart auf und ihr schmaler Körper gab erschreckend unter mir nach. Aber ich war so wütend und besann mich erst, als ihre braunen Augen mich ängstlich anstarrten. Da wurde mir erst klar, dass ich sie mit meinen Händen um ihren Hals am Boden fixierte.
Sie behauptete, ich wollte sie erwürgen und meine Eltern ließen mich einweisen. Als sie mich holten war es wie eine zweite seelische Massakrierung. Ich weinte, als sie mich wie einen Verbrecher aus dem Haus führten und meine Familie zusah.
Nach zwei Monaten durfte ich nach Hause zurückkehren und ich ließ Handwerker kommen und meine Tür umbauen. Ich machte aus meinem kleinen Reich einen Hochsicherheitstrakt. Meine Eltern sagten nichts, weil ich auch nichts sagte. Ich redete nicht mehr mit ihnen und mit niemandem sonst. Erst als meine Tür und meine Fenster sich auf Knopfdruck so verschlossen, dass nicht mal eine Handgranate sie öffnen konnte, war ich zufrieden. Seitdem kann ich mich sogar vor meiner Familie schützen.
Der Einzige, zu dem ich Vertrauen hatte, war Onkel Clemens und zu ihm ging ich so oft es ging.
Aber meine Eltern sahen das nicht gerne, weil er für sie das schwarze Schaf der Familie war … genauso wie ich.
Er liebte Motorräder und nahm Drogen.
Ich fing auch damit an und lernte Walter und seine Söhne Sam und Teddy kennen.
Mit sechzehn schlug ich dann einen Typen krankenhausreif und wurde für ein halbes Jahr in den Jugendknast gesteckt. Als ich auch das überstanden hatte, gab es kein Halten mehr in meinem Leben.
Aber ich fand einen Weg, meine Wut abzureagieren. Sex wurde zu einem Mittel, dass mich den Druck loswerden ließ, der sich immer wieder bis zur Schmerzgrenze in mir zusammenbraute.
Aber ich hasse die Mädchen, die sich so willig vor meine Füße werfen, von unserem Namen, dem Geld meiner Eltern oder meinem Aussehen angelockt. Und was erst noch wenigstens den Druck aus meinem Inneren zog, bekam mit den Jahren nur noch einen bitteren Nachgeschmack.
Jetzt kann ich mich nur noch mit Drogen für die Damenwelt begeistern, die so unglaublich begeisterungsfähig ist, wenn es um mich geht. Ich kann mir aussuchen, wann und wen ich in mein Schlafzimmer lasse. Wen ich will, nehme ich mir und meine Art, ihnen das klarzumachen, scheint jede in die Knie zu zwingen.
Aber mein Ruf und der Drang, Macht über sie zu haben, um sie dann in ihrem tiefsten Inneren zu verletzten, verpflichtet mich dazu, den Damen etwas zu bieten und sie mir für kurze Zeit hörig zu machen. Dabei liegt mir fern, viel Zeit zu investieren. Ich gebe jeder einen Abend, gekrönt von höchstens zwei-drei Stunden in meinem Schlafzimmer. Es ist mir wichtig, das Gefühl zu haben, dass ich ihnen irgendetwas an Gefühlen abringe, um sie dann in den Staub treten zu können. Das ist das i-Tüpfelchen nach diesen kurzen, sexuellen Zusammentreffen, die mich körperlich und emotional befriedigen sollen und mich für das entschädigen, was mir ein Kindermädchen antat. Es ist nur Sex und ein Programm, das den Damen gefällt. Ich entwickelte es akribisch in den ersten Jahren meiner eigenen Lehrzeit.
Aber irgendwie wird es für mich immer schwieriger, dabei auf meine Kosten zu kommen. Ich schaffte es in den letzten Monaten nur unter Drogen und oft genug auch gar nicht mehr. Irgendwie gibt es mir keinen Kick mehr und ich spüre, dass es mich eher runterzieht als aufbaut. Mir fehlt etwas in meinem Leben. Ja, es fehlt mir etwas und ich weiß nicht, was es ist. Schließlich vermisse ich nichts. Zumindest nichts, was sich benennen lässt.
Daniel steuert seinen BMW auf den Hof hinter dem Haus, in dem er wohnt.
„Kommst du mit rein?“, fragt er und ich schüttele den Kopf. Mir ist nach mich wegpusten. Genug Zeug habe ich in der Tasche.
„Ne, meine Alten sind dieses Wochenende weg. Ich mache mich auf den Weg nach Hause und schau mal, was Walter mir Schönes zusammengepackt hat. Wir sehen uns heute Abend sowieso. Mal sehen, was wir dann noch aus den Angeln heben.“
Daniel grinst. „Ich weiß schon, was ich heute Abend tun will.“ Seine Augen leuchten dabei regelrecht auf.
Ich kenne diesen Blick. Er brennt den Namen meiner Schwester in die vibrierende Luft.
„Aber soll ich dich nicht eben nach Hause fahren?“, fragt er und ich weiß, er will das nur, um vielleicht jetzt schon auf Ellen zu treffen.
Ich steige aus dem Wagen. „Ne, lass mal. Ich nehme mir vorne ein Taxi. Wenn Ellen zu Hause ist, kriege ich dich wieder nicht aus dem Haus und muss dich den ganzen Tag ertragen … hinter meiner Schwester hersäuselnd.“
Daniel lacht und steigt aus. „Du gönnst mir aber auch gar nichts.“
Ich kann ihn nur verdattert anstarren, während er um den BMW herumläuft. Als wenn von so einem Rock die Seligkeit abhängt! Unglaublich.
„Warte nur!“, sagt Daniel, als er sich vor mir aufbaut. „Irgendwann wird es auch dich packen. Ganz unverhofft. Und dann wirst du etwas fühlen … da drinnen.“ Er tippt mir an die Brust.
Ich mache einen Schritt zurück. Er kann froh sein, dass ich ihm nicht welche scheuere. Jeder andere, der mich da anpackt, bekommt welche verpasst. Aber Daniel weiß als Einziger, wie ich unter dem T-Shirt aussehe und was er da unter seinem ausgestreckten Finger fühlt. Daher macht mir das bei ihm nicht ganz so viel aus.
„Gut, fahr mit dem Taxi. Ich komme dann später nach und vielleicht hat Ellen gar keine Zeit. Dann verbringe ich meinen Abend natürlich mit dir“, meint Daniel herablassend und grinst überheblich.
Er ist auch der Einzige, der weiß, dass Ellen mir vorzuziehen mich wirklich ärgert und offenbar will er mich ärgern.
„Du kannst auch ganz wegbleiben“, knurre ich und drehe mich um. „Von mir aus auch für immer!“ Ich gehe über den Hof zur Ausfahrt. Natürlich ist mir klar, dass ich mich benehme wie eine versetzte Diva.
Hinter mir bricht Daniel in Gelächter aus und schmeißt die Haustür hinter sich zu.
Ich schüttele aufgebracht den Kopf.
Am Wall, beim Taxistand, nehme ich mir ein Taxi und fahre nach Hause, verärgert darüber, dass Daniel mich immer wieder damit aufziehen kann. Ich werde mich niemals verlieben und niemals einem Mädel hinterherrennen wie er. Das ist doch wohl klar.
Zuhause gehe ich in meine Wohnung. Ellen und ich teilen uns das obere Stockwerk der Villa meiner Eltern. Ich habe meinen Bereich links der Treppe, sie rechts. Mein Teil hat etwa achtzig Quadratmeter und ihrer fünfundfünfzig.
Jedem das, was er verdient, denke ich mir immer. Aber Ellen hatte sich seltsamerweise deswegen noch nie beschwert, obwohl sie sich für das Besondere in diesem Haus hält.
Ich lausche. Aber sie ist scheinbar nicht zu Hause. Das Haus ist ruhig und leer.
Das lässt mich aufatmen.
Hinter mir schließe ich die Tür, die ich mir nach meiner Einweisung ins Irrenhaus umbauen ließ. Sie ist mein Schutz vor der Welt da draußen. Mit einem Druck auf meine Fernbedienung verschließt sie sich. Mehrere Riegel schieben sich dabei in den Holm, was ein Durchkommen unmöglich macht. Die Tür ist feuerfest und schalldicht. Hinter ihr fühle ich mich sicher.
Auf mein Sofa fallend, ziehe ich die Tüte hervor und inspiziere sie. Walter weiß, dass ich das meiste für mich nehme und hat mir deshalb auch speziell für mich etwas zusammengestellt. Mir fällt auf, dass der Speedanteil mit jedem Mal größer wird.
„Danke, Walter“, raune ich leise.
Ich lasse ein Häufchen auf die Tischplatte rieseln, ziehe mit meiner ausgedienten Krankenkarte zwei kartenlange Linien und hole einen zwanzig Euro Schein aus meiner Brieftasche. Ihn rolle ich zusammen und mit einer unbändigen Vorfreude ziehe ich mir den Stoff in die Nase.
Ich lasse den zusammengerollten Schein auf die Tischplatte plumpsen und lehne mich auf dem Sofa zurück. In meiner Nase brennt es wie die Hölle. Aber das geht vorbei. Spätestens wenn die Nase läuft. Ich muss immer wieder hochziehen, damit mir der Scheiß nicht wegläuft. Und ich warte …
Lass die Engel ihr weißes Tuch über mich ausbreiten, dass mir ein wenig Glück schenkt, mir Kraft gibt, mich alles Schlimme dieser Welt vergessen lässt und mir sogar manchmal den Glauben an eine Art Zuneigung beschert, die vielleicht doch irgendwo auf mich wartet. Diesen Gedanken lasse ich aber nur in dem Moment zu, wenn meine Neurotransmitter Samba tanzen … und nur ganz kurz. Fast zu kurz, um Wichtigkeit zu erlangen.
Es ist schon spät, als es an der Tür klingelt.
Ich erhebe mich schwerfällig vom Sofa und luge in den Flur. Es scheint immer noch still im Haus zu sein.
Schnell sprinte ich die Treppe hinunter. Hinter der Tür stehen zwei von unseren Mitstreitern, die sich mit uns für den Abend verabredet haben und unterhalten sich laut.
Ich reiße die Tür auf und sehe Kai und Ulf mich angrinsen.
„Hi, Erik! Das dauerte ja ewig! Kamst wohl nicht aus deinem Dornröschenschlaf heraus? Ich hoffe, du hast uns noch was übriggelassen?“
„Ganz bestimmt“, antworte ich.
Kai und Ulf zahlen immer gut.
Hinter ihnen taucht Ralf auf. Er ist der Fahrer und sieht nicht ganz so gut gelaunt aus. Er wird auf seinen Spaßmacher warten müssen, bis wir beim Hyde Park sind, den wir heute unsicher machen wollen.
Hinter ihnen fährt gerade Daniels BMW durch das große, offene Tor auf den Hof.
Ich lehne für Daniel die Tür an, damit er ins Haus kann und lasse die drei schon mal hinter mir die Treppe hochsteigen.
Kai und Ulf schmeißen sich auf das Sofa und lachen albern. Ich werfe ihnen eine Tüte zu und Kai reicht mir einen Hunderter. Ich stecke ihn ein.
„Ich gehe duschen. Fühlt euch wie zu Hause“, sage ich und schnappe mir meine Geldtasche und meine Tüte. Man soll Junkies nie in Versuchung bringen.
Daniel kommt die Treppe hoch, geht aber erst zu Ellen hinüber. Ich stehe abwartend und mit zusammengekniffenen Augen im Flur. Aber Daniel bleibt nur kurz und kommt mit sicherem Gang und einem Lächeln auf mich zu. Er begrüßt mich mit unserem Handschlag.
„Nah danke. Soll ich jetzt immer die zweite Geige spielen?“, knurre ich, weil mich wütend macht, dass Daniel erst nachgesehen hat, ob Ellen da ist.
Der lacht nur und geht an mir vorbei zu den anderen. Seine gute Laune sagt mir, dass sie da sein muss.
Nach dem Duschen bin auch ich bereit für den Abend. In meinem Wohnzimmer dröhnt laute Musik, als ich aus dem Badezimmer direkt in mein Schlafzimmer gehe und mich anziehe: Ein schwarzes T-Shirt und meine Lieblingsjeans mit den ausgefransten Schnitten auf den Oberschenkeln. Ich kehre in das Badezimmer zurück und kämme meine nassen Haare erneut nach hinten. Heute gestatte ich keiner Locke in mein Gesicht zu fallen. Heute werde ich auch keinem Mädchen gestatten, mir zu nahe zu kommen, weil eine Locke sie lockt.
Damit das auch so bleibt, klatsche ich viel Gel in meine Haare und kämme sie nochmals zurück. Ich weiß, dass sie sich schon bald wieder in Wellen legen und sich widerspenstig gegen meine Kopfhaut erheben werden. Aber das ist nicht zu ändern.
Ein Blick in meine Augen sagt mir, dass sie sich schon wieder normalisieren. Meine Pupillen verdrängen nicht mehr alles Bestimmend meine braune Iris. Lange hält mein Zauber nicht gerade an und ich weiß, ich muss später noch mal nachlegen. Das helle Braun meiner Augen mag ich nicht. Es lässt mich weich erscheinen und berechenbar.
Ich setze mein grimmiges Gesicht auf, das diesen Umstand nichtig werden lässt. Es ist mein Markenzeichen, das jeden erzittern lässt. Wen das nicht einschüchtert, dem machen mein Körperbau und meine Muskeln Angst. Schließlich lebe ich davon, andere einzuschüchtern.
Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, liegen Kai und Ulf völlig zugedröhnt auf meinem Sofa. Doch sie stehen sofort auf, als sie sehen, dass ich fertig bin und loswill. Ihr Tatendrang steht ihnen in die Gesichter geschrieben.
„Ich sage Ellen Bescheid. Sie wollen mit, hat sie gesagt“, verkündet Daniel und verschwindet durch die Tür in den Flur.
Hat er gerade von einer Mehrzahl gesprochen?
Wir gehen schon mal zu den Autos. Ralf nimmt Ulf und Kai wieder mit und ich stelle mich an Daniels BMW.
Die Mehrzahl interessiert mich. Ellen hat schon lange keine Freundin mehr mit zu uns gebracht. Wahrscheinlich aus Angst, dass sie sich mir an den Hals wirft. Das hatten sie fast alle getan. Ellen meinte immer, das wäre nur meine Schuld. Dabei ist das schwachsinnig!
Daniel kommt aus dem Haus und geht auf sein Auto zu. „Die Mädels kommen gleich.“
Also doch die Mehrzahl.
Ellen schiebt eine Person aus der Haustür, die sich wohl nicht sicher ist, ob sie sich schieben lassen will.
Sie schließt ab und ich werfe mich auf den Beifahrersitz. Die anderen steigen in den Audi. Daniel wirft sich neben mir auf den Fahrersitz und sieht Ellen zu, wie sie auf uns zuschwebt.
Und ich … ich starre das zarte Wesen an, dass neben ihr geht. Das runde Gesicht wirkt weiß und verletzlich, mit den weißblonden, schulterlangen Haaren und den riesigen Kinderaugen darin.
Die habe ich noch nie gesehen. Wo hat Ellen die denn her?
Sie wirkt völlig verunsichert, als sie sich vorsichtig hinter Daniel ins Auto schiebt, als befürchte sie einen Angriff. Ihr Blick fällt beunruhigt auf Ellen, die hinter mir einsteigt.
Daniel setzt zurück und fährt durch das große Tor hinter dem Audi her. Ich drücke die Fernbedienung, die das Tor schließt und werfe sie in die Ablage.
Ellen höre ich sagen: „Daniel, Erik, das ist Carolin, eine Freundin aus meiner neuen Klasse.“
Die Beleuchtung der Stadt lässt es im Auto zwar hell sein, aber nicht wie bei Tageslicht. Ich erwarte nicht viel von dem Mädchen zu sehen, das hinter Daniel sitzt. Trotzdem drehe ich mich zu ihr um. Ihr weißes Gesicht leuchtet mit den hellen Haaren um die Wette. Doch ihre großen Augen mit den langen, dunklen Wimpern sind das Highlight … und ihre Sommersprossen.
„Aha! Schön dich kennenzulernen“, sage ich und kann nicht anders, als ihr ein Lächeln zu schenken, das mit dem, was ich heute auf keinen Fall vorhabe, zuwiderläuft.
„Das ist mein Bruder“, erklärt Ellen ernst. Mir raunt sie unfreundlich zu: „Halt dich zurück oder es passiert was.“
So, Ellen hat also Angst um ihren kleinen Sonnenschein. Ich sehe Daniel an und muss schmunzeln.
Als wir am Hyde Park ankommen, steigen Ellen und ihre Carolin ziemlich schnell aus und weg sind sie. Mir ist das recht. Daniel weniger, wie ich an dem Blick sehe, den er Ellen hinterherwirft.
Wir folgen ihnen in gebührendem Abstand.
Vor dem Hyde Park treffen wir einige unserer Leute. Ich habe mit Daniel alle Hände voll zu tun, unser Zeug an den Mann zu bringen. Die Nachfrage ist an diesem Abend gigantisch und der Abend vergeht wie im Flug, weil wir ständig neue Anfragen bekommen, die wir dann draußen auf dem Parkplatz ausführen. Daniel macht mich immer wieder auf einige Fremde im Hyde Park aufmerksam, die auch mich vorsichtig werden lassen. Sind erneut die Häscher unterwegs, die den Hyde Park sauber halten wollen?
Wir bedienen nur die Leute, die wir kennen. Für alle anderen haben wir nichts. Ich muss schon so genügend um meinen eigenen Vorrat bangen.
Sam und Teddy sind auch da und in ihr Lieblingsgesprächsthema vertieft, als ich sie begrüße. Sam grinst mich an. Sein Finger dreht dabei seinen langen, geflochtenen Zopf, der sonst vom Hinterkopf bis auf seine Brust fällt. Der Rest des Kopfes wirkt frisch kahlgeschoren.
Wenn er einen Irokesenschnitt hat, finde ich das immer noch ein wenig ansehnlicher. Aber eben nur ein wenig. Sam und Teddy sind einfach nur hässlich. Es ist kein Wunder, dass sie mich gerne für sich einsetzen möchten, um ihnen die richtigen Mädels zu angeln. Bisher konnte ich mich aber nicht dazu durchringen, das zu tun. Doch wenn eines der Mädels, auf die ich mich einließ, sich hinterher bei einem der beiden ausheulte und ihnen ins Netz ging, sah ich das nicht als meine Schuld an. Sie waren für ihren Absturz dann selbst verantwortlich. Denn Sam und Teddy machen die Mädchen mit Drogen solange glücklich, bis sie abhängig sind und ihrerseits Sam und Teddy damit glücklich machen, dass sie ihre Körper verkaufen.
„Hey, Kleiner!“, ruft Sam und lässt seinen Zopf los.
Ich mag es nicht, wenn er mich so nennt. Allerdings haben Sam und Teddy einige Narrenfreiheiten bei mir und meistens meinen sie es nett oder wollen etwas von mir. Heute scheint letzteres der Fall zu sein.
„Auf der Tanzfläche schwirrt ein weißer Falter herum. Bitte, fang ihn für uns ein. Nur das eine Mal.“ Sam legt seinen muskulösen, tätowierten Arm um meine Schulter.
Ich sehe ihn desinteressiert an und habe gar keine Ahnung, was er meint. Deshalb winke ich nur ab und gehe zu Daniel auf die andere Seite der Theke, von wo aus er mit einem Bier winkt.
Grinsend nehme ich es ihm ab und drehe mich zur Tanzfläche um. Ellen tanzt mit ihrer neuen Freundin. Wie hieß sie doch gleich? Carolin.
Sie haben Spaß und sind ausgelassen wie Kinder. Ellen greift nach ihr und kriegt nur ihr T-Shirt mit der roten Mohnblume auf weißgelbem Hintergrund zu packen. Carolin strauchelt und Ellen zieht ihr das Shirt über die Schulter.
Ein weißer Spitzenbüstenhalter kommt zum Vorscheinen und zeigt, dass er gut gefüllt ist.
Neben mir wird die Menge aus Betrunkener und Zugekiffter unruhig und ich sehe Sam und Teddy an die Tanzfläche treten.
Ellen zieht das Shirt wieder hoch und lacht, während Carolin einen Moment wie erstarren scheint. Doch dann lacht sie auch und lässt sich in Ellens Arme fallen.
Die beiden sind schon unglaublich betrunken und beginnen nun auch noch eng umschlungen zu tanzen und ich frage mich, was die beiden da treiben? So kenne ich Ellen gar nicht.
Und dann ist plötzlich Sam bei Carolin und greift nach ihr.
Wie mit einem Damoklesschwert schlägt sie seinen Arm weg und taucht Schutz suchend aus seinem Zugriffsbereich auf die andere Seite von Ellen.
Ich starre sie an. Ihre großen Augen leuchten in dem diffusen Licht und sie grinst meine Schwester spitzbübisch an.
Die hebt die Hand, um Sam aufzuhalten, der sich umdreht und zu Teddy zurückstampft.
Mutig … die beiden Mädels.
Aber ich sehe schon Unheil nahen, was mir eigentlich völlig egal wäre, wenn da nicht so etwas wie ein seltsames Gefühl in mir aufwallen würde, dass wohl keinen Ärger und Stress an diesem Abend aufkommen lassen will.
„Tja, das haben heute schon ganz andere versucht“, meint Kai, der aus sicherer Entfernung Sam auslacht.
Ich sehe wie dessen Gesichtsausdruck sich verfinstert und mir wird klar, Carolin ist der Falter auf der Tanzfläche, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ellen legt ihren Arm von hinten um Carolins Schultern und tanzt mit ihr mit ausladendem Hüftschwung, dem Gleichtakt der Musik folgend.
Die spinnt wohl! Merkt sie gar nicht, was sich um die beiden herum zusammenbraut?
Sam und Teddy kommen auf mich zu gestampft. Daniel, der sich an die Theke gelehnt mit Rolf unterhält und scheinbar bisher nichts mitbekam, sieht mich beunruhigt an.
„Erik, wer ist das mit deiner Schwester? Du musst die doch kennen?“
„Eine Freundin“, nuschele ich.
Teddy knurrt: „Scheiße, so etwas gibt es hier zu selten, um es einfach so wieder ziehen zu lassen. Scheinbar hat sie kein Herrchen, die Kleine. Ist aber frech genug, keinen an sich heranzulassen. Sam, das werden wir heute noch ändern!“ Er stößt seinen Bruder an, der mit glühenden Augen auf die Tanzfläche starrt.
Das sind die Augenblicke, wo die beiden zu Neandertalern werden.
„Das lasst mal schön bleiben. Die gehört zu uns“, höre ich mich sagen.
Sam und Teddy starren mich an. Sam findet als Erstes seine Sprache wieder. „Sag mir bitte, du steigst mit ins Geschäft ein und machst die Kleine für uns alle klar.“
Daniel dreht sich mit zusammengekniffenen Augen zu uns um und sieht von mir zu Sam und Teddy.
Nochmals Scheiße.
„Schauen wir mal“, knurre ich und setze meinen besonders bösen Blick auf.
Daniel fragt brummig: „Was schaust du mal?“ Seine Stimme klingt schneidend. Denkt er, es geht um Ellen?
Sam haut mir ungeduldig auf die Schulter. „Nah los, Erik! Wenn du meinst, du kannst sie bändigen, dann beweis es.“
Ich werfe Daniel einen schnellen Blick zu, der verdattert von mir zur Tanzfläche starrt.
Ich nicke und drehe mich zu Daniel um. Mir ist klar, dass das Interesse der Neandertaler schlecht für Ellen und ihre Freundin ausgehen kann. „Wenn ich dir einen Wink gebe, dann bringst du Ellen und ihre Freundin hier raus und fährst sie sofort nach Hause“, zische ich ihm zu und gehe mit gesenktem Kopf, wie ein Stier zum Angriff bereit, langsam auf die Tanzfläche.
Ich tanze nie in so einem Laden, wo es um Verkauf, Machtstellung und Ehre geht. Da fängt man nicht an, mit einem Mädel auf der Tanzfläche zu poussieren.
Zumindest ich nicht.
Das denke ich und steuere trotzdem Ellen an, die Carolin losgelassen hat und sie allein tanzen lässt. Merken die beiden gar nicht, welche Aufmerksamkeit sie erregen?
Ich packe das Handgelenk des blonden Mädchens, das sich unglaublich zart und zerbrechlich in meiner Hand anfühlt und ziehe sie zu mir heran. Sie reißt erschrocken die Augen auf, die sie ganz im Tanz versunken geschlossen hielt.
Ich lege meine Hand auf ihren Rücken und sie muss sich meinem Tanzen anpassen: ruhig und nicht so aufreizend. Dabei umschließe ich ihre zarte Hand fest mit meiner.
Sie sieht verunsichert zu mir auf und ich bin von dem grün ihrer Augen völlig irritiert. Wie kann man nur so eine Augenfarbe haben?
Als ich mich langsam mit ihr drehe und die Lichteinwirkung sich ändert, sind sie plötzlich blau.
Vielleicht sollte ich mal etwas vorsichtiger mit den Drogen werden?
Ich beuge mich zu ihrem Ohr runter und zische wütend: „Du lenkst viel zu sehr die Aufmerksam auf dich. Das ist nicht gut.“
Sie sieht erneut hoch und in ihren Augen blitzt Unmut in einem nun wieder grünen Lichtermeer auf. Verdammt, dieses Farbenspiel macht mich ganz konfus … und die vielen Sommersprossen auf der elfenbeinfarbenen Haut auch.
Ich sehe schnell über sie hinweg und setze meinen mürrischsten Gesichtsausdruck auf, den ich in diesem Moment aufbieten kann. Aber in meinem Kopf schiebt sich der Gedanke in den Vordergrund, dass ich die Kleine haben will.
Plötzlich zieht sie ihre Hand aus meiner, stößt mich von sich weg und dreht sich gleichzeitig aus meinem Griff.
Bevor ich überhaupt schnalle was los ist, halte ich sie nicht mehr im Arm. Ich bin völlig überrumpelt und sehe sie auf den Rand der Tanzfläche zusteuern.
Lautes Grölen macht mir klar, dass Sam und Teddy sich kurz amüsieren. Doch dann werden sie ernst und sehen mich herausfordernd an.
Ich kann mir denken, was sie wollen. Sie haben mich schon oft gesehen, wenn ich vor Wut koche, und das muss jetzt die angebrachte Reaktion von mir sein, weil dieses kleine Mädchen mich in aller Öffentlichkeit zum Affen macht. Und sie wollen, dass ich reagiere.
Ich sehe zu Daniel, der Ellen im Arm hält, die mit geschlossenen Augen sich an ihn geschmiegt hat. Ich gebe ihm einen Wink.
Aber auch Sam und Teddy setzen sich in Bewegung. Die Tanzenden auseinanderkegelnd, kommen sie zu mir und knurren: „Die holen wir uns!“
Daniel lässt Ellen schnell los und schiebt sie zum Rand der Tanzfläche, ihr etwas zuraunend.
Sie scheint verwirrt zu sein, geht dann aber Richtung Ausgang, mir einen beunruhigten Blick zuwerfend.
Ich lege Sam und Teddy die Hände auf die Brust. Daniel stellt sich hinter mich.
„Was ist, Erik? Das kannst du nicht auf dir und uns sitzen lassen! Diese kleine Schlampe ruiniert unseren Ruf. Uns widersetzt sich niemand!“, brüllt Sam gegen die laute Musik an.
„Nun macht mal nicht so eine Welle wegen so einem Blondchen. Wer will denn so etwas schon?“, sage ich herablassend.
Ich werfe Daniel einen schnellen Blick zu, der sich langsam von uns absetzt und zwischen den Tanzenden verschwindet.
Sam und Teddy starren mich verbissen an. Sie scheinen damit zu kämpfen, dass ich ihren Auftritt wegen der Kleinen nicht im Ansatz für gerechtfertigt halte. Ihre nicht besonders hellen Köpfe scheint das zu irritieren und ich nehme die Hände runter.
„Kommt, ich gebe einen aus.“
Ich schaffe es, die beiden zur Theke zu dirigieren und mit einem Glas Bier in der Hand sind sie erst mal beschäftigt. Nur Sam knurrt noch mal: „Aber nur eins, dann ist die Tussi fällig.“
Eins wird reichen. Dann wird Daniel sie gefunden haben und verfrachtet sie mit Ellen hoffentlich nach Hause. Und ich bin überrascht, dass mir wichtig ist, sie in Sicherheit zu wissen.
Zu allem Überfluss regen sich die beiden Brüder erneut über mich auf, weil ich angeblich nicht den Mumm besitze, endlich mal so eine Schnalle für den Job klarzumachen. „Mit so etwas wie der könntest du ein Vermögen machen und wir hätten auch etwas davon“, meint Teddy und trinkt sein Bier aus. Viel zu schnell.
Mir ist natürlich klar, dass sie diese ganzen Mädels erst ins Bett kriegen, wenn sie letztendlich für sie arbeiten müssen. Wenn Sam und Teddy, wie einige der anderen Zuhälter, die ich kenne, mit der netten Bruder- oder Freundtour fertig sind, dann sind die Mädels auch fertig. Aber Sam und Teddy bringen es höchstens zur Brudertour, denn keine würde sich freiwillig in einen der beiden verlieben. Wenn dann, nach vielen Partys und vielen Drogen, die Mädels nicht mehr klarkommen, dann wird ihnen beigebracht, womit sie das nötige Geld für ihre Drogen beschaffen können, die auf einmal nicht mehr gratis sind.
Bisher war dieses Spiel mir völlig egal. Es war nicht mein Spiel und die Opfer dieses Spieles rührten keine Sekunde auch nur eine meiner Nervenzellen. Aber bei dieser Kleinen hat sich heute etwas gerührt. Ich will sie nicht diesen Halbaffen ausgeliefert wissen.
„Wenn ihr noch einen mit mir trinkt, überlege ich es mir“, sage ich grinsend und schlage Teddy freundschaftlich auf den Rücken.
Der bestellt noch drei Bier und ich atme auf. Das muss Daniel an Zeit reichen.
Aber nach einem abermaligen schnellen herunterspülen der schalen Flüssigkeit schießen die beiden Neandertaler los und begeben sich wie Spürhunde auf die Suche.
Ich bleibe an der Theke und hoffe, sie bringen mir den Falter nicht doch noch und werfen sie mir vor die Füße, wie apportierende Jagdhunde.
Ich nehme unauffällig eine der selbstgebauten Pillen von Sam, um dem Ganzen gewappnet zu sein.
Wenig später geht es mir wieder besser und in meinem Inneren hört der Kampf, Gut gegen Böse, auf. Ich lasse mich in ein munteres, schönes Land fallen, in dem es keine kleinen, weißen Falter gibt, die Ärger verursachen.
Es muss bald Mittag sein. Ich hätte schlafen gehen sollen. Aber zu viele Drogen hatten mich zum Übermenschen ohne Schlafbedürfnis werden lassen.
Als Daniel mich in den frühen Morgenstunden zu Hause ablieferte, musste ich in Ellens Zimmer erst nachsehen, ob sie mit dem Falter auch wirklich gut gelandet war. Natürlich hatte Daniel mir das schon gesagt, als er wieder in den Hyde Park kam. Aber ich konnte es mir nicht verkneifen, mich dessen selbst zu versichern.
Leise war ich in den Raum geschlichen, hatte meine schlafende Schwester in dem Bett gesehen und vor dem Bett, auf der Matratze, den Falter. Ihr T-Shirt mit der Mohnblume auf weißgelbem Hintergrund war vom Schlafen verknittert und ihre hellblonden Haare lagen um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Fächer. Eine Strähne hing ihr im Gesicht und ich kniete mich kurz neben ihr nieder. Meine Hand wollte schon die Strähne wegschieben, als Ellen im Schlaf aufseufzte.
Ich verließ den Raum wieder, ohne irgendetwas anzufassen und ging in meine Wohnung. Am liebsten hätte ich mich erneut mit einer Line betäubt, aber dann käme ich morgen in der Uni nicht mehr klar.
„Sei etwas vorsichtiger mit dem Zeug“, hatte Daniel mir nochmals in der letzten Nacht eingebläut. „Du wirst langsam zu maßlos.“
Jaja! Daniel! Mein Bruder, mein Freund, mein Aufpasser, mein Retter.
Ich lasse mir nicht gerne etwas vorschreiben. Von niemandem! Daniel weiß das eigentlich.
Wie lange ich nun schon auf meinem Sofa hänge, immer noch in meiner Lederjacke, die ich damals von Clemens bekam, bevor er diesen Unfall hatte, und meinen Designerturnschuhen, weiß ich nicht. Die Musik von Blueneck hatte mich erneut weit weggetragen.
Aber jeder Flug endet mal, und als ich wieder in meinem Wohnzimmer aufschlage - das ist als die Musik ausgeht - erhebe ich mich schwerfällig und gehe erneut in Ellens Wohnbereich. Sie wird mich lunchen, wenn sie mich dort antrifft. Aber mir ist langweilig und ich will eigentlich nichts Bestimmtes.
Wie lange ich an der Wand neben der Badezimmertür lehne, weiß ich nicht. Wieder haben sich Zeit und Raum verschoben. Aber als die Tür zu Ellens Schlafzimmer langsam aufgeht, viel zu langsam und zu vorsichtig, als dass es Ellen sein kann, mache ich einen Schritt vor und lehne mich in den Türrahmen der Badezimmertür.
Ich sehe den Falter auf mich zuflattern. Ihre Haare sind zerzaust und ihr blasses Gesicht noch blasser. Die Sommersprossen wirken wie übermalt. Nur diese großen Augen mit den schwarzen Schatten der Wimperntusche sind gleich wie am vergangenen Abend. Sofort frage ich mich, welche Farbe sie haben.
Ich versuche ein freundliches Lächeln, um keinen Argwohn bei ihr zu schüren. „Hey, auch schon auf den Beinen?“, frage ich und sehe an ihr herunter. Sie hat verdammt wenig an. Nur ihr T-Shirt und eine Panty. Ihre Beine sind nicht zu verachten.
„Ist hier nicht männerfreie Zone?“, brummt sie und geht an mir vorbei ins Badezimmer. Sie ist wirklich ein Falter. Ein weißer Falter mit Elfenbeinhaut und so zierlich, ich könnte sie mit einer Hand zerquetschen.
Sie will die Tür hinter sich schließen. Aber das geht nicht, weil ich am Türrahmen lehne.
„Kannst du bitte mal Platz machen?“, fragt sie und sieht zu mir auf.
Ich könnte sie zerquetschen … ganz sicher.
„Klar!“, raune ich und mache einen Schritt ins Badezimmer. „Ich mache sie auch selber hinter uns zu.“
„Nix da! Raus mit dir!“, murrt sie.
Viel zu energisch schiebt sie mich aus dem Badezimmer. Ich bin ein wenig überrascht, wie energisch, und sie schlägt die Tür zu.
„Schade!“, rufe ich durch die Tür.
„Erik, lass Carolin in Ruhe und verpiss dich“, faucht Ellen plötzlich hinter mir wütend.
Nah toll. Das beendet wohl mein kleines Spiel und schickt mich wieder auf die Bank der Langeweile, von der ich an dem Spiel nicht mehr teilnehmen darf.
Die Tür geht auf und hinter Ellen wieder zu.
„Und ich?“, frage ich, nicht interessiert daran, auf die Bank der Langeweile versetzt zu werden und kratze über das Holz, das mich von ihnen trennt. Ich weiß, ich führe mich völlig bescheuert auf. Aber mir ist danach.
Das muss an den Drogen liegen, die in letzter Zeit immer öfter seltsame Anwandlungen in mir hervorzurufen scheinen. Eigentlich bin ich nicht so. Eigentlich sind mir solche Regungen, die wie Gefühlsregungen erscheinen, völlig fremd.
„Verpiss dich endlich! Du hast hier nichts zu suchen. Verschwinde in deinen Teil!“ höre ich Ellen durch die Tür blaffen.
Ich weiß, ich muss gehen, wenn ich nicht riskieren will, dass meine blöde Schwester einen Aufstand macht, wenn unsere Alten wieder zu Hause sind. Darin ist sie Meister.
Aber etwas in mir will sie provozieren und das Spiel hier noch nicht enden lassen.
„Der soll dich bloß in Ruhe lassen“, höre ich sie aufgebracht fauchen und schüttele fassungslos den Kopf. Ich weiß, sie hat dem Falter schon klargemacht, dass ich hier der böse Wolf bin und entschließe mich, das Feld zu räumen.
Unschlüssig gehe ich. Meine Füße tragen mich vor die Tür, auf die Straße und weiter in die Stadt hinein. In mir ist eine unbestimmte Unruhe und ich habe das Gefühl, irgendwer muss jetzt unter mir leiden.
Darum mache ich mich auf den Weg zu Daniel, um ihn aus dem Schlaf zu reißen und mir einen Kaffee abzuholen.
Ellen sagte unseren Eltern nichts, als sie am Abend wieder in der Villa auftauchten und auch die ganze weitere Woche nicht. Aber sie redet auch nicht mit mir, was allerdings nichts Neues ist.
Und ich rede sowieso mit niemandem in diesem Haus, wenn es nicht zwingend erforderlich ist.
So vergeht eine weitere langweilige Woche.
Ich weiß nicht, was meine Schwester jeden Nachmittag treibt und es ist mir auch egal. Aber Daniel irgendwie nicht. Langsam geht er mir wirklich auf die Nerven. Soll er doch Ellen selber fragen, was sie an den Nachmittagen macht und mit wem sie sich trifft. Mich soll er bloß damit in Ruhe lassen.
Die einzigen Lichtblicke dieser Woche waren die Anrufe bei dem Autohändler, der mir mein Auto besorgen soll. Er schickte mir Bilder, die ich begutachtete und Daten, die ich gegeneinander abwog. Er will mir in der nächsten Woche noch mehr schicken. Aber ich glaube, ich habe mich entschieden. Ich werde nach Hamburg fahren müssen, wenn das Schmuckstück da ist und es mir angucken. Dann könnte ich dort auch gleich die Geschäftslage in dem dortigen Drogenmilieu checken und schauen, ob ich irgendwo einsteigen kann. Etwas Kapital hätte ich dafür noch übrig.
Nun ist schon wieder Freitag und da wir erneut sturmfreie Bude haben, diesmal sogar schon ab heute, habe ich gleich ein paar Leute eingeladen.
Wenn man kleine Partys schmeißt, kann man immer gut seine Drogen verticken und neue Kunden anwerben.
Ich fühle mich nach meiner blauen Pille echt gut. Sogar so gut, dass ich das schwarzhaarige Mädel neben mir auf dem Sofa küsse. Sie könnte Nina Hagens kleine Schwester oder Tochter sein und hängt sich an meinen Hals, wie eine Ertrinkende. Fast habe ich das Gefühl, sie will mich mit ihren feuchten Küssen ersticken und irgendwann habe ich genug davon. Sie von mir runterschiebend, murre ich, dass ich mir etwas zu Trinken aus der Küche holen will.
Sie sieht mich schmollend an und ich nehme sie an die Hand, um sie mit in unverfänglicheres Gebiet zu nehmen. Miss Klein Hagen tendiert mir zu sehr Richtung meines Schlafzimmers und irgendwie habe ich im Moment keinen Bock.
Als ich sie die Treppe hinunterziehe, geht die Haustür auf und mein noch ziemlich langsam laufendes Gehirn sagt mir, dass es Ellen sein muss, weil sie mit einem Schlüssel aufgeschlossen wird.
Hoppla, hatte ich ihr gegenüber erwähnt, dass ich hier heute eine Party mache?
Zu meiner Überraschung schiebt sich mit Ellen der kleine, weiße Falter in den Flur. Carolin - sagt mir mein Gehirn. Ich hatte das Wort einige Male diese Woche gedacht. Aber jetzt ist es mir irgendwie unklar warum.
„Nah, ihr zwei fehlt noch. Wir machen gerade Party. Kommt doch auch ein bisschen dazu“, sage ich und schiebe Miss Klein-Hagen an mir vorbei. Als sie stehen bleiben will, so direkt vor dem Falter, gebe ich ihr einen Klaps, damit sie gefälligst ihren Arsch in die Küche bewegt.
Ich sehe den Falter an, neugierig darauf, welche Augenfarbe sie mir heute präsentiert. Mir fällt ein, dass dies vermehrt ein Thema in der letzten Woche war. Etwas, was in meinem Kopf rotierte, wenn ich mich auf Engelsschwingen in den Himmel schraubte.
In dieser Woche habe ich es nicht oft getan. Aber wenn, war diese Frage da. Welche Augenfarbe hat dieser Falter wirklich?
Ellen scheint vor Wut zu kochen und stürmt an mir vorbei die Treppe hoch. Der kleine Falter flattert hinter ihr her, sich auf der Hälfte der Treppe unsicher nach mir umsehend.
Ich weiß immer noch nicht welche Farbe ihre Augen haben.
Langsam, wie von einem Magnet angezogen, folge ich den beiden.
Ellen trampelt wie ein wütender Stier in mein Reich und hätte ich einen Plattenspieler, wie meine Eltern im Wohnzimmer, würde die Nadel über die alten schwarzen Scheiben springen. Aber meinem PC und meiner Anlage ist ihr Getrampel völlig egal.
Der Falter bleibt unschlüssig am Treppenabsatz stehen.
Ich weiß nicht, ob ich mich verbrenne, wenn ich sie berühre. Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihren Rücken und schiebe sie weiter.
„Mann Erik, was stinkt das hier drinnen?“, faucht Ellen in meinem Wohnzimmer aufgebracht und versucht die laute Musik zu übertönen, die aus meinen Boxen dröhnt. Mein Fernseher liefert dazu in gestochen scharfen Bildern die Videos. Alles eigentlich ganz easy. Wenn da nicht Ellen wäre, die mich wütend anfunkelt.
Ich schiebe immer noch den Falter vor mir her, kann Ellen aber über den Kopf der Kleinen ansehen. Ich ziehe meine Hand zurück. Die letzten Meter hatte ich nur noch mit einem Finger schieben müssen. Der Falter ist federleicht.
„Komm Schwesterchen, reg dich ab und trink etwas mit mir“, murmele ich und grinse meine Schwester an.
Das hatte ich noch nie zu ihr gesagt. Sie sieht mich auch eher misstrauisch deswegen an.
Mein Blick wandert erneut in das Gesicht des Falters, die mich mit großen Augen ansieht. Blaugrün, stelle ich die Augenfarbe fest. Aber wieder mehr mit Stich ins Grüne. Liegt das an dem Musikvideo, das sich in ihren Augen spiegelt und einen rasanten Flug über das grüne Blätterdach eines brasilianischen Regenwaldes zeigt. „Ihr könnt bei dem Lärm eh nicht schlafen“, füge ich noch hinzu.
Meine Schwester ist eigentlich nicht diejenige, die ich gerne auf meinen Partys sehe. Aber da sie den Falter im Schlepptau hat, mache ich eine Ausnahme. Außerdem kommt Daniel gleich und wird sich freuen.
Meine Gäste sehen schon zu uns herüber und fragen sich bestimmt, warum Ellen so eine Welle macht. Jeder kennt sie und eigentlich ist sie kein Spielverderber. Aber sie will nicht, dass wir hier in der Villa Partys feiern. Mir ist das aber völlig egal.
Ein glasklares Lachen dringt an mein Ohr. „Kurz können wir doch. Ein Getränk, okay?“, sagt der Falter und lächelt Ellen an.
Der Falter hat Macht! Über meine Schwester und über die energetischen Felder des Raumes. Ich spüre das nicht nur, ich sehe das auch an den Blicken der Männer. Aber das ist mir egal. Nur das meine Schwester aufhört zu zetern und sich tatsächlich von dem Falter führen lässt, macht mich stutzig. Sie nickt sogar, ohne weiter Theater zu machen.
Ich werfe Ellen einen angedeuteten Handkuss zu, die für mich nur einen bösen Blick übrighat und hole zwei Flaschen Bier aus einer Kiste in der Ecke. Dort hängt auch ein Öffner. Aber ich gehe zu Ellen und öffne die Flaschen vor ihren Augen mit meinem Feuerzeug. Dabei schenke ich ihr ein Lächeln.
So viel Nettigkeit hatte ich ihr noch nie entgegengebracht. Das muss auch ihr auffallen.
Als ich dem blonden Sommersprossenfalter das Bier reiche, sieht sie mich seltsam an. Sie scheint in meinen Augen etwas zu suchen. Was glaubt sie darin zu finden? Das Universum?
Die beiden setzen sich zusammen in meinen Sessel, in dem eigentlich nur einer sitzen kann. Scheinbar stört die beiden nicht, dass sie sich fast stapeln müssen. Ich sehe sie sich zuprosten und hole mir selbst ein Bier.
Ob Miss Klein-Hagen unten immer noch auf mich wartet?
Ich lehne mich an den Schrank und sehe mir das Video an. Aber aus dem Augenwinkel verfolge ich jede Bewegung meiner Schwester und ihrer Freundin. Dass die plötzlich so befreundet mit diesem Falter ist irritiert mich. Die beiden kennen sich doch noch gar nicht lange. Ein paar Tage vielleicht. Ellen war nie der Typ für Schnellschussfreundschaften. Aber hier liegt das scheinbar anders. Dieser kleine Falter hat halt Macht.
Mein Blick wandert automatisch immer wieder von dem Video zu Ellen und ihrer Freundin. Ich sehe den Blick des kleinen Falters interessiert durch den Raum schweifen und alles in Augenschein nehmen. Dann trifft er sich mit meinem. Schnell sieht sie weg.
Ach ja, ich bin schließlich der böse Wolf.
Von unten kommen einige meiner Gäste nach oben, die eben noch die Küche bevölkerten. Unten werden die Cocktails gemixt und Miss Klein-Hagen wartet bestimmt dort auf eine Fortsetzung unserer Zungenakrobatik. Aber mir ist nicht mehr nach Miss Klein-Hagen.
Daniel kommt mit den anderen in mein Wohnzimmer. Er sieht Ellen im Sessel sitzen und sie winkt ihm zu. Ich bemerke, wie seine Augen förmlich aufblitzen und ich sehe auch, dass er ihr einen theatralisch schmachtenden Handkuss zuwirft. Nicht zu fassen! Dass er sich immer wieder so benimmt macht mich wütend. Sie ist meine Schwester und er ist mein bester Freund. Die beiden sollten sich mal zusammenreißen.
Ich trinke mein Bier und nicke Daniel mürrisch zu.
Der nickt kurz zurück und grinst mich an. Klar, jetzt ist seine Welt auch wieder in Ordnung.
„Hey Erik, alles klar?“, fragt Klaus und deutet mit der Faust einen Schlag in meinen Magen an. Ich sehe ihn an und sein blödes Grinsen gefriert. Er kann froh sein, dass meine Faust nicht sein Gesicht trifft, nicht angedeutete, sondern wirklich.
Daniel sieht mich von der anderen Zimmerseite her beunruhigt an.
„Schieb ab!“, knurre ich und Klaus verschwindet eilig aus meinem Zugriffsbereich.
Eine Bewegung aus dem Sessel lässt mich aufmerksam werden. Ellen lässt ihre leere Bierflasche neben den Sessel auf den Boden sinken und raunt dem Falter etwas zu. Die nickt nur.
Ich sehe wie meine Schwester sich aus dem Sessel stemmt und zur Tür geht.
Meine Laune wird schlagartig besser und dass Daniel ihr ganz offensichtlich folgt ändert da im Moment nichts dran. Ich stoße mich vom Schrank ab.
Auf der Anrichte steht ein Tablett mit unseren Cocktails. Meine Bierflasche wegstellend, greife ich mir zwei Gläser und werfe noch schnell einen Blick zur Tür. Aber Ellen bleibt verschwunden.
Ich baue mich vor dem Sessel auf. „Wo ist Ellen hin?“, frage ich den Falter und sehe auf sie hinunter.
Sie sieht nicht auf, als wäre ihr klar, dass ich es nur sein kann, brummt aber: „Toilette.“
Ich halte ihr eins der Cocktailgläser hin und setze mich auf die Sessellehne. Ich will, dass sie mich anschaut. „Magst du?“
Sie sieht auf das Glas, aber nicht mich an. „Was ist das?“, fragt sie misstrauisch.
„Muntermacher! Schmeckt gut! Probier mal!“, antworte ich und schenke ihr mein unwiderstehlichstes Lächeln.
Sie sieht es nicht, weil sie mich immer noch nicht ansieht. „Danke“, höre ich sie nur sagen. Aber immer noch kein Blickkontakt.
Ich krame meine Zigaretten hervor, ziehe mit den Lippen eine heraus und halte ihr die Schachtel hin.
Sie sieht die Schachtel an, nicht mich, nimmt sich aber eine und ich gebe ihr Feuer.
Aber sie sieht wieder nur auf den Fernseher und ich starte einen neuen Versuch. Mein Glas an ihres schlagend, brumme ich ein „Prost!“
Sie nickt nur und trinkt einen Schluck. Ihr Blick wandert durch den Raum zur Tür.
„Wo kommst du eigentlich her? Ich habe dich noch nie vorher hier irgendwo gesehen“, frage ich und werde langsam missmutig. Ich mag nicht, wenn nichts so läuft wie ich will. Aber sie scheint ernsthaft beschlossen zu haben, mich zu ignorieren und das mag ich erst recht nicht.
Doch plötzlich sieht sie auf. Aber nur kurz und unsicher und ohne, dass unsere Blicke sich treffen. Fühlt sich der kleine Falter in der Gegenwart des bösen Wolfes unwohl? Das gibt mir augenblicklich Aufwind.
„Ich komme auch nicht aus Osnabrück. Ich wohne außerhalb“, sagt sie.
Nah toll. Vielen Dank für die unglaublich detaillierte Angabe. Dazu gleitet ihr Blick schon wieder zur Tür.
Der Wolf bekommt langsam Lust, seine Zähne in das Elfenbeinfleisch zu schlagen. Außerdem läuft mir die Zeit davon. Wer weiß, wann Ellen wieder in den Raum schneit?
„So, von außerhalb“, brumme ich. „Und gibt es da außerhalb so etwas wie einen Freund?“, frage ich und betone barsch das Wort „außerhalb“.
Erneut dieser Blick aus diesen unglaublichen Augen. „Nicht mehr“, antwortet sie und sieht wieder zur Tür.
Ihre Worte erreichen langsam den Bereich des Gehirnes, der abwägt, ob ein Mädel Opfer werden kann. Solomäuse sind schneller Opfer, als vergebene und ich stehe nicht auf langes Geplänkel.
Diese Solomaus ist also Freiwild.
„Gut!“, raune ich und lasse mich zu ihr in den Sessel sinken, wie Ellen eben. Natürlich gibt es für die kleine Zaubermaus kaum noch Platz und ich spüre ihre Wärme. Aber sie versucht sich aus dem Sessel zu winden. Als ich das schnalle, greife ich nach ihr und verlagere mein Gewicht, um sie fester in den Sitz zu drücken. „Wo willst du hin?“
„Ich muss mal gucken, wo Ellen steckt“, knurrt sie und zum ersten Mal sieht sie mich richtig an. Ihre Augen funkeln wütend. Kein blau! Kein grün! Eher dunkel böse.
In dem Moment schießt meine Schwester auf uns zu, packt mich am Arm und zerrt mich aus dem Sessel. Ich verschütte fast etwas von dem kostbaren Cocktail.
„Das ist mein Platz, verschwinde!“, faucht sie mich an. Sie lässt sich neben dem Falter in den Sitz fallen und riecht erst an ihrem Glas und dann an ihrer Zigarette. Unglaublich! Ich hasse diese Ziege!
„Mann Ellen, was soll das?“, knurre ich. Kommt sie nicht gerade von Daniel? Warum konnte sie da nicht einfach bleiben?
Und dann knallt sie mir etwas an den Kopf, was sogar mich trifft. Irgendwo tief in meinem Inneren. Dort, wo die Drogen noch ein kleines, nichtvernebeltes Loch gelassen haben.
„Sie hat verdammt schlechte Erfahrungen mit Brüdern gemacht … wie ich auch.“
Der Falter hat Brüder und die haben ihr etwas angetan? Hat sie deshalb diesen Blick drauf, wenn ihr jemand zu nahekommt? Wie ein verwundetes Reh. Wird sie deshalb wütend, wenn man auf Tuchfühlung geht?
Ich drehe mich um und gehe. Vielleicht sollte ich noch einen Joint rauchen, damit diese Gedanken nicht Gefühle freikratzen, die ich nicht haben will.
Daniel kommt hinter mir her. Er folgt mir bis in die Küche und ich drehe uns an der Theke sitzend einen Joint. Miss Klein-Hagen kommt aus einer Ecke gekrochen. Sie schlingt von hinten ihre langen Arme um meinen Bauch, schiebt ihre Hände unter mein T-Shirt und legt sie auf meine Bauchmuskeln. Ich spüre ihre nassen Lippen in meinem Nacken.
Ich nehme einen tiefen Zug und reiche ihn an Daniel weiter. Als er ihn mir wieder zurückreicht, halte ich ihn meinem mich umschlingenden Klammeraffen hin und sie lässt mich los. Während sie an dem Joint zieht, greife ich nach ihrem Oberarm und ziehe sie mir zwischen meine Beine. Ich umfasse ihr Gesicht und lege meine Lippen auf ihre, den Qualm, den sie ausatmet, wieder einatmend. Vielleicht sollte ich sie doch heute mit in mein Bett nehmen?
Der Falter muss über Nacht geblieben sein. Ich sehe Ellen und ihre kleine Freundin am nächsten Tag das Haus verlassen und in Richtung Innenstadt gehen.
Vielleicht sollte ich erst mal duschen?
Langsam gehe ich, so nackt wie ich bin, in mein Badezimmer. Als die heiße Dusche läuft, steige ich darunter und lasse das Wasser über meinen Körper rauschen.
Miss Klein-Hagen hatte ich dann doch mit den anderen fortgeschickt. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Ellen und ihr Falter noch etwas bleiben und ich wollte Miss Klein-Hagen demonstrativ an ihnen vorbei in mein Gemach ziehen.
Aber es war niemand mehr da.
So zog ich Miss Klein-Hagen nur zum Sofa, ließ sie hineinplumpsen und ging wieder. Ich hatte einfach an diesem Abend auch nicht die richtige Power. Vielleicht war das Zeug scheiße oder ich hatte nicht das Richtige für so einen Abend eingeworfen? Daniel meinte nur, dass es daran liegt, dass ich langsam übertreibe und es nicht mehr so wirkt. Er hatte auch gedacht, dass ich Miss Klein-Hagen in mein Bett zerre. Dass ich es dann doch nicht tat, machte selbst ihn stutzig.
Ich steige aus der Dusche und trockne mich ab.
Ob es mir anders gegangen wäre, wenn der Falter nicht so gut behütet gewesen wäre und sich nicht so unnahbar gegeben hätte? Ich nehme mir vor, sie bei der nächsten Gelegenheit aus ihrem Kokon zu zerren.
„Bisher habe ich jede Nuss geknackt“, knurre ich mein Spiegelbild an. Etwas anderes verkraftet mein Ego auch gar nicht. Immer bin ich es, der bestimmt, wann und wo, und auch, wann nicht mehr. Daran soll sich auch nichts ändern.
Ich gehe eine Stunde später selbst in die Stadt, nachdem ich Elisa ins Haus ließ.
Elisa ist meine Geheimwaffe nach solchen Partys. Sie kommt immer, wenn es am Wochenende etwas aufzuräumen gibt und macht es so, dass weder meine Eltern noch unsere montags bis freitags Haushälterin Mariella etwas bemerken.
In der Fußgängerzone treffe ich Emilio aus der Uni, mit dem ich sofort abends wieder eine Party klarmache. Er will mit einigen Kumpeln aus seinem Semester eine ausgelassene Party Plus feiern. Natürlich sind seine Freunde zahlungskräftig und ich willige ein.
Mir ist klar, dass Emilio kein Drogi ist und beschließe, Toni Bescheid zu sagen. Er soll den Jungs ein paar Plätzchen backen. Dazu einige Joints und die werden schon fertig sein.
Wer weiß, vielleicht ist der kleine Falter am Abend auch wieder da?
Ich gehe durch die Altstadt zu Daniel, der an seinem Auto herumschraubt.
„Hey Alter, heute Abend ist wieder Party. Emilio aus dem Erstsemester Chemie kommt mit einigen Leuten. Alles kleine Pisser. Ich habe Toni Bescheid gesagt.“
Daniel zieht seinen Kopf aus dem Motorraum seines BMW. „Alles klar. Wir fahren am besten nachher noch zu Sam. Wie spät sind sie da?“
„Um zehn, denke ich. Toni habe ich zumindest zu zehn Uhr bestellt.“
Daniel lässt die Kühlerhaube zuknallen und wischt sich seine schwarzen Finger an einem Lappen ab. „Magst du einen Kaffee trinken?“
Ich folge ihm ins Haus. Als wir in Daniels Wohnung kommen und er immer noch seine Finger mit dem Lappen abreibt, grinse ich. „Waschen hilft. Unsere Prinzessin ist da wirklich zart besaitet. Sieh zu, dass du die Finger heute Abend wieder sauber hast, sonst darfst du ihr nicht näher als zwei Meter kommen.“
Es ist ein kläglicher Versuch, Ellen in Daniels Augen schlecht zu machen. Ich weiß, er liebt es, am Auto herumzuschrauben und ich kann nicht verstehen, warum er da meint, meine Schwester ist die Richtige für ihn.
Daniel winkt ab. „So zart besaitet ist sie gar nicht.“
Langsam geht der mir wirklich auf den Keks.
Wir trinken Kaffee und unterhalten uns über den nächsten Deal am Montagabend. Irgendwelche Türken haben mit Walter ein Treffen vereinbart, das wir reißen sollen. Ich mag nicht, wenn ich die Typen nicht kenne. Da weiß man nie, ob die sauber sind.
Daniel geht duschen und ich haue mich bei ihm vor den Fernseher. Durch die Programme zappend, kann ich mich für nichts begeistern. Kann mich überhaupt noch etwas begeistern? So richtig?
Ich stelle mir diese Frage lieber nicht. Die Antwort ist zu niederschmetternd.
Den ganzen Nachmittag fahren wir herum. Sam hat noch einige Kurierdienste, die wir erledigen sollen. Das machen wir natürlich. Dafür bekommen wir das, was wir dem Erstsemester verhökern wollen. Toni bekommt etwas Ordentliches für seinen Einsatz am Ofen. So wird der Abend schon laufen.
Aber je näher der Abend kommt, desto mehr kotzt mich diese Kinderparty an. Zu allem Überdruss kotzt mich in letzter Zeit ständig etwas an. Die Uni, die Villa, meine eigenen vier Wände, die Drogen, die Deals … einfach alles. Es wird Zeit, dass ich bekomme, was mir einen Lichtblick in meinem beschissenen Leben beschert. Aber mir ist klar, dass ich dann auch die Drogen reduzieren muss. Aber noch ist es nicht so weit. Ich habe mich noch nicht fest entschlossen und noch nicht das Richtige gesehen. Aber wenn es so weit ist, dann lasse ich endlich meinen Lichtblick auf den Hof rollen …
Aber bis dahin muss ich versuchen, nicht zu sehr in meine Untiefen abzudriften, die mich immer wieder packen und hinabziehen.
„Hey Erik, vielleicht versuchst du heute mal mit dem Zeug von den Jungs auszukommen? Du hast schon wieder diesen Blick drauf. Schlimmer darf es echt nicht werden“, brummt Daniel und sieht mich besorgt an.
Ich winke nur ab. Aber vielleicht hat er recht. Ich haue mir in letzter Zeit viel zu viel Hartes in die Birne.