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Verwirrendes Leben

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Abends habe ich immer noch keine Lust auf die Party. Zumindest hat Emilio auch ein paar Weiber angeschleppt, die ganz brauchbar sind. Vielleicht muss ich auch nur mal wieder ein Mädel in mein Bett lassen.

Aber im Moment scheint das noch Meilen weit von dem entfernt zu sein, was ich will.

Daniel kommt durch die offene Haustür und sieht sich um. Etwas stimmt nicht. Ich sehe es an seinem Blick.

Schnell kommt er auf mich zu und raunt: „Ist Ellen da? Jasmin steckt in Schwierigkeiten.“

Jasmin ist eine Freundin von Ellen aus der Zeit, als ihr Freund Alex sich mit einem goldenen Schuss in den Himmel befördert hatte. Sie ist genauso, wie Alex und Ellens andere Freundin Tina, im Drogensumpf versunken und nur Ellen hatte es geschafft, sich nicht ganz abzuschießen.

Ich habe Jasmin letztens noch an der Straße getroffen, an der sie sich verkauft und sie fast nicht wiedererkannt.

„Wie in Schwierigkeiten?“, frage ich unwirsch.

Mir ist es eigentlich völlig egal, was diese abgestürzten Engel für Probleme haben. Aber ich weiß, hier geht es um etwas anderes.

„Sie sollen an schlechten Crack geraten sein. Die Sorte von schlecht, die einen in den Himmel befördert“, raunt Daniel nur.

Mir ist klar was das heißt. Daniel will Ellen holen, um die Mädels zu finden und sie notfalls ins Krankenhaus zu schaffen. Ich halte das für so eine blöde Idee, dass ich das gar nicht in Worte fassen kann. Jedes der Mädels ist Tod besser dran als in einem Krankenhaus. Keine von denen will in die Mühlen der Justiz geraten.

Aber wahrscheinlich ist Ellen gar nicht da. Ich habe von ihr noch nichts gehört oder gesehen.

„Ich schau nach, ob sie im Haus ist“, knurre ich und überlege schon, was ich Daniel auftische, damit er diese Aktion lässt. Aber wenn Ellen nicht da ist, hat sich das sowieso erledigt.

Daniel nickt und geht in die Küche zu Emilio, der mit zwei Damen an unserer Theke sitzt und sich scheinbar köstlich amüsiert. In deren Welt ist noch alles easy und ungefährlich.

Kopfschüttelnd gehe ich nach oben. Wenn Daniel ahnen würde, wie sehr es mich ankotzt, dass er und Ellen immer wieder diese Retternummer abziehen …

Aber ich bin mir manchmal sicher, dass Daniel diese Samariternummer nur macht, um Ellen zu beeindrucken. Es kann doch nicht wirklich so sein, dass ihm irgendwelche drogensüchtigen Strichmädchen so ans Herz gehen, dass er sie vor dem sicheren Tod retten will, der schnell in Form von Gepantschtem oder von zu viel kommt. Jeder ist doch für sich selbst verantwortlich und für die bösen Geister in einem. Mich rettet auch niemand vor meinen …

Ich öffne die Tür zu Ellens Reich. Der Flur ist dunkel und das angrenzende Badezimmer auch unbeleuchtet. Aber aus ihrem Schlafzimmer höre ich Geräusche. Der Fernseher läuft.

Die Schlafzimmertür öffnend, schaue ich ins Zimmer und finde Ellen lang auf dem Bett ausgestreckt … und neben ihr liegt der weiße Falter.

Fast versetzt mir das Herzklabastern. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie auch da ist und sofort finde ich die Idee, dass Ellen mit Daniel Drogentussis retten will, doch gar nicht mehr so schlecht.

„Ellen, Daniel ist da. Kannst du eben kommen? Irgendwas ist los“, werfe ich in den Raum.

Ich weiß nicht, inwieweit der kleine Falter in Ellens Geheimnisse eingeweiht ist und möchte daher das Drogenproblem ihrer früheren Freundinnen nicht erwähnen. Meine Worte scheinen Ellen trotzdem sofort in solch eine Unruhe zu versetzen, dass sie aufspringt. Sie flüstert dem kleinen Falter etwas zu, die sie mit großen Augen ansieht und ihr leise antwortet. Da ist eine Vertrautheit, die sogar mir ins Auge sticht.

Ellen geht an mir vorbei, schnappt im Flur nach ihrer Jacke und wartet, bis ich wieder im Treppenhaus bin. Fürsorglich schließt sie die Tür zu ihrem Bereich, als könne sie mich so daraus unüberwindbar verbannen. Aber sie sagt nichts. Die Angst und Unruhe hat sie fest im Griff. Ihr muss klar sein, dass es sich wieder einmal um jemanden aus ihrem alten Freundeskreis handelt.

An der Treppe wartet Daniel und sie läuft hinunter zu ihm. Ich folge ihnen langsamer.

„Jasmin und Tina“, sagt er nur.

„Scheiße!“, murmelt Ellen entsetzt und reißt die Haustür auf. „Weißt du, wo sie sind?“

Daniel nickt mir kurz zu und folgt ihr. Ich höre ihn antworten. „Zuletzt am Südpark. Es ging ihnen nicht gut. Katrin rief mich an, weil sie selbst von dem Zeug etwas genommen hat und schreckliche Krämpfe davon bekam und nur noch kotzt. Jasmin ging es noch schlechter und Tina ist wohl abgehauen.“

Ich sehe sie in den BMW steigen, der an der Straße steht und schließe langsam die Haustür. Unschlüssig gehe ich in die Küche, wo ein Teil der jungen Leute sich bei lauter Musik und Getränken in Laune säuft. Toni schiebt gerade das erste Blech in den Ofen. Er ist unser Keksking. Die ersten Jointreste liegen in den Aschenbechern. Das wird diese Kinder heute umhauen. Aber das ist egal. Sie haben gut gezahlt. Lauter reiche Schnöselkinder. Diese Party wird schnell zu Ende sein. Da bin ich mir sicher.

Emilio ruft. „Erik, unser Gastgeber für die besten Partys der Welt!“

Ich gehe zu ihm. Die Mädels himmeln mich an. Ich kann sie heute Abend alle haben. Das weiß ich. Für sie bin ich der große Drogenboss mit der Villa und dem Gangsterauftreten. Ich sehe sie dahinschmelzen, wie Eis in der Sonne.

Aber mein Kopf ist bei dem kleinen Falter auf Ellens Bett.

Ich bin unschlüssig, was ich tun soll. Mein Entschluss, heute keine Line zu ziehen, gerät erschreckend ins Wanken.

Toni grinst mich an. „Nah Boss, läuft gut. Der erste Schub ist gleich fertig.“

Toni ist mindestens zehn Jahre älter als ich und sieht schon ziemlich verbraucht aus. Seine langen, strähnigen Haare hat er in einem Pferdeschwanz zusammengebunden und seine Arme zeigen keinen Millimeter untätowierte Haut. Dass er mich Boss nennt, beeindruckt alle noch mehr und ich höre schon die ersten beglückten Ausrufe, als Toni wenig später das erste Blech aus dem Ofen zieht.

Ob der kleine Falter auch manchmal an solchen Partys teilnimmt und sich dann in irgendeiner Ecke vernaschen lässt?

Ich gehe um die Theke herum und stibitze mir einen Keks direkt vom Blech. Sie sind gut und schmecken sogar.

„Toni, wenn du hier unten heute auf ein Mädel triffst, dass hellblond ist und Sommersprossen hat, dann sieh zu, dass sie deine Kekse probiert.“

Toni grinst. „Geht klar.“

In mir regt sich so etwas wie das Gefühl, das mich immer überkommt, wenn wir kurz vor einem Deal stehen. Dieses Gefühl von Verbot, Gefahr und Abenteuerlust, gepaart mit dem Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, von dem man bei dem leisesten Windstoß in die Tiefe stürzt.

Ich verlasse die Küche und gehe die Treppe hoch. Es ist nicht so, als hätte ich einen klaren Entschluss gefasst. Es ist eher, als wenn mein Körper einfach ein Eigenleben entwickelt und ich dem nur nachgebe.

Im Flur von Ellens Reich ist immer noch alles dunkel, als ich mich leise hineinschiebe. Aber ich höre immer noch den Fernseher.

Erneut öffne ich an diesem Abend die Tür zu Ellens Schlafzimmer, dass auch ihr Wohnzimmer ist.

„Carolin, Ellen musste weg. Magst du zu uns kommen? Wir sind in der Küche und backen Plätzchen.“ Meine Stimme klingt wie die eines Schuljungen vor seinem ersten Mal. Ich räuspere mich.

„Ne, lass mal. Ich schau mir noch den Film an“, winkt der kleine Falter ab.

Kurz sehen mich ihre großen Augen an und ich sehe die Unsicherheit darin. Ihre ganze Haltung strahlt Unsicherheit und Verletzlichkeit aus.

Ich weiß, ich werde mich nicht abwimmeln lassen. Jetzt nicht mehr.

„Gut, dann schaue ich mit“, sage ich kurzentschlossen.

Wenn sie nicht mit mir nach unten gehen will, dann sehe ich mir mit ihr auch diesen beschissenen Mädelfilm an, wenn es sein muss. Der kann schließlich nicht mehr lange dauern. Es klingt schon abgedroschen nach Happyend.

Ich mache einen Schritt ins Zimmer, um mich neben sie zu setzen.

„Okay, ich komme ja!“, höre ich da das Mädchen böse wie ein Hund knurren.

Hoppla!

Und sie springt regelrecht aus dem Bett.

In ihre Schuhe schlüpfend, sieht sie mich an. In ihren Augen ist die Resignation der ganzen Welt aufgetürmt. Bin ich der Grund? Ist es die Situation?

Als sie an mir vorbei in den dunkeln Flur geht, sieht sie zu Boden, als würde ich sie zur Schlachtbank führen.

Ich gehe mit ihr hinunter in die Küche. Sie scheint jeden Einzelnen der Gäste auf einer Gefahrenscala einzuordnen. Liegt es daran, dass Ellen nicht da ist?

„Das ist Carolin“, sage ich laut, als könne ich ihr so die Unsicherheit nehmen und ihr das Gefühl geben, dass sie dazu gehört. Dann lasse ich sie an der Theke platznehmen und nicke Toni zu, der sie sofort abschätzend mustert.

Hellblond mit Sommersprossen …

„Ich hole dir etwas zu trinken. Möchtest du etwas Bestimmtes?“, frage ich sie.

„Weiß nicht. Vielleicht ein Bier?“, sagt sie unsicher und sieht sich immer noch um, als rechne sie jeden Moment mit einem Angriff.

Mir ist klar, dass ich heute zu clean für so eine Situation bin. Sonst würde sich bei ihrem Anblick nichts in meinem Inneren rühren. Da bin ich mir sicher. Dann hätte ich alles bestens unter Kontrolle.

Ich reiße mich zusammen. Zwischen uns liegen mindestens fünf oder sechs Jahre, die ich älter bin. Außerdem bin ich hier der Boss und der Gangster, und kein weibliches Wesen kann mich in meinen Tiefen berühren. Niemals! Dafür hat eine dumme Schlampe von Kindermädchen gesorgt, als ich fünf war.

Gut, ich gehe jetzt raus und hoffe, Toni hat Erfolg. Ich will dieses Mädchen endlich aufwecken, ihr meine dunkle Welt zeigen und es dann wieder hinausschubsen und vergessen.

Ich gehe vor die Tür und rauche eine Zigarette in dem lauwarmen Wind vor der Villa. Als ich erneut in die Küche zurückkehre, sitzt Carolin immer noch an der Theke und knabbert gedankenverloren an einem Keks. Toni sieht mich an der Tür stehen und hält unauffällig zwei Finger hoch. Also ist es schon ihr zweiter. Das ist gut.

Ich greife mir aus einer Kiste eine Cola und gehe zur Theke.

„Braves Mädchen!“, sage ich zu ihr und weiß, das Spiel ist eröffnet. Ich stelle ihr die Cola hin. „Alkohol gibt es für dich erst mal besser nicht.“

Ich muss erst abchecken, wie sie auf die Kekse reagiert. Toni macht die immer besonders scharf.

Ich setze mich zu ihr und nehme auch einen Keks. Ihr schiebe ich den Teller auch noch mal hin und sie nimmt einen dritten. Kleiner Nimmersatt! Das kann ja interessant werden. Wirklich interessant. Ellen ist nicht da, um sie zu beschützen und ich habe auf einmal tatsächlich Lust auf mehr. Bei einem Blick in ihre großen Augen sogar auf viel mehr.

Als sie ihre Cola ausgetrunken hat und der Keks aufgegessen ist, bin ich zu allem entschlossen. Mich hat tatsächlich das Jagdfieber gepackt. Etwas, was mir eigentlich schon vor langer Zeit abhandengekommen war.

Es gab für mich eine Zeit, wo alles mit den Frauen und dem Sex neu war. Da machte das noch Spaß. Da hatte das wenigstens eine kleine Bedeutung. Da gab es noch das Jagdfieber und das Gefühl, der Beute überlegen zu sein, was antörnt. Aber das ist schon lange her. Vielleicht hat sich das in zu viel gewälzten Lacken und mit zu vielen Drogen abgenutzt?

Ich ziehe sie vom Hocker. „Komm, wir gehen nach oben.“

In ihren Augen blitzt Unbehagen auf und sie sieht sich um, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Offensichtlich ist sie auch nicht bereit, mir zu folgen. Ich sehe, dass sie eher einen Schritt zurückmacht und mich groß ansieht.

So ist das also.

Ich greife nach ihrer Hand, die sie nicht schnell genug wegziehen kann. Aber ich sehe, dass sie es versucht. Gibt es so etwas Widerspenstiges? Alle anderen Weiber fallen mir förmlich entgegen, wenn ich das will und sie sträubt sich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

Sie stolpert hinter mir her und wehrt sich nicht mehr, als ich sie die Treppe hochziehe. Oben ist bessere Musik. Zumindest für meinen Geschmack. Unten im Erdgeschoss läuft das Gesäusel von Popmusik, die Emilio mitgebracht hat. Er hatte darauf bestanden, weil er meint, als Schul-DJ etwas davon zu verstehen.

Wir schlängeln uns durch die Leute, die herumstehen und sich unterhalten oder zugedröhnt tanzen.

Ich drehe mich zu Carolin um, die ich immer noch an der Hand habe. Ich weiß, lasse ich sie los, wird sie mir davonfliegen. Ich sehe das an ihrem Blick.

„Komm, ich möchte tanzen“, brumme ich und ziehe sie zu einer freien Stelle im Raum.

„Oh ne, nicht tanzen!“, höre ich sie ausrufen, als hätte ich ihr vorgeschlagen, eine Schlammschlacht zu veranstalten.

Mir ist egal, was sie sagt. Ich ziehe sie in meine Arme, unerbittlich. ICH will jetzt tanzen, und zwar mit IHR!

Ich spüre sie kaum. Sie ist wie Luft und Wind. Nur ein Hauch Mensch.

Als ich an uns heruntersehe und einen Blick in ihr Gesicht erhaschen kann, zieht es in meinem Magen. Sie sieht aus, als wenn sie gleich anfängt zu heulen.

„Alles klar?“

„Ja sicher“, höre ich es leise Rauschen.

Ich möchte sie fester an mich ziehen, sie spüren lassen, dass sie keinen Grund hat unglücklich zu sein. Bei mir sind die Mädels nie vorher unglücklich. Immer nur hinterher.

„Können wir bitte aufhören?“, fragt sie und ich glaube, ein Zittern in ihrer Stimme auszumachen.

An der Tür erscheint Daniel und sieht mich an. Sein Blick verfinstert sich, als er Carolin in meinen Armen sieht.

Ich nicke ihm kurz beruhigend zu, bevor ich mich an das Mädchen wende. „Wenn du mich so lieb bittest“, sage ich lächelnd und lasse sie los. Daniel soll nicht denken, dass ich etwas mit ihr vorhabe. Er ist zwar mein Freund, aber er mag nicht, wenn ich Ellens Freundinnen in mein Bett zerre, weil Ellen es hasst. Dabei kann ich nichts dafür, wenn sie hinterher dem Irrtum erliegen, mir etwas zu bedeuten und Ellen deshalb Stress machen.

Als hätte ich vor, ihr Säure ins Gesicht zu schütten, schießt Carolin aus dem Raum.

Ich sehe ihr überrascht hinterher. Wo will sie so schnell hin?

Daniel schüttelt den Kopf.

Ich gehe zu ihm und lasse freundschaftlich meine Faust seinen Oberarm streifen. „War nur ein Tanz“, sage ich und sehe an seinem Blick, dass er mir nicht glaubt. Er kennt mich einfach zu gut.

„Lass die Kleine in Ruhe. Sie ist Ellen wichtig“, knurrt er.

Ich fasse es nicht. Als wenn mich interessiert, was Ellen wichtig ist. Mir ist auch einiges wichtig. Darauf nimmt auch keiner Rücksicht.

Ich schüttele wütend den Kopf und knurre: „Und … gefallene Engel gerettet?“

„Nur Jasmin. Ellen ist noch bei ihr im Krankenhaus. Sie schickte mich los, um nach Carolin zu sehen. Für den Fall, dass sie nach Hause möchte.“

So ist das also. Ellen traut mir nicht und hat Angst um ihre neue Freundin.

Ich nicke nur missmutig und gehe an ihm vorbei. Carolin sehe ich in diesem Moment die Treppe hinunterlaufen. Sie will doch jetzt nicht gehen?

Schnell folge ich ihr und finde sie in der Küche, sich suchend umsehend.

„Suchst du mich?“, frage ich ironisch.

„Nein Ellen. Ich dachte, sie ist auch wieder da. Ich habe Daniel gesehen“, antwortet sie leise.

„Die kommt gleich nach. Sie hat Schwierigkeiten mit einer Freundin, der es nicht so gut geht. Sie muss aber auch gleich da sein“, antworte ich ihr zur Beruhigung und sehe theatralisch auf die Uhr, als würde ich die Minuten checken, die es nur noch dauern kann. Ich sehe sie an und schenke ihr ein Lächeln. Wie gerne möchte ich sie wieder an mich ziehen. Diesen Hauch aus Luft und Wind, diesen kleinen, weißen Falter.

„Tanzen?“ Ich lege den Kopf schief, was eine Locke widerspenstig in mein Gesicht fallen lässt und sehe ihr in die Augen.

Plötzlich ist es da. Ein winziges Lächeln. Es versetzt mir fast einen Schock. Und dem Lächeln folgt ein Klares: „Nein!“ Dann fällt erneut dieser Schatten über sie und sie schluckt. Ihre Hand macht eine hilflose Geste zu ihrem Bauch und sie raunt: „Ich gehe lieber wieder in Ellens Zimmer und warte da auf sie.“

Sie lässt mich stehen und geht zur Treppe. Ihr Gang ist immer noch über alles erhaben, aber etwas verlangsamt. Die Plätzchen wirken.

Ich sehe sie die Treppe hochsteigen und folge ihr, wie von einem unsichtbaren Band gezogen. Die lächelnden Gesichter, verführerischen Gesten und vom Alkohol und Drogen mutig gestimmten Hände, die nach mir greifen, übersehe ich.

Oben auf der Treppe bin ich wieder hinter ihr. Sie will gerade in Ellens Bereich abdrehen, als ich nach ihrer Hand greife. Ich kann sie nicht gehen lassen. Ich brauche sie, um durch diesen Abend zu kommen.

„Ach Blödsinn, da bist du doch ganz allein. Hier ist die Party!“, sage ich, von diesem seltsamen Gefühl in mir überrumpelt.

Sie wehrt sich nicht. Mir wird klar, dass die Kekse wirklich ihre Wirkung tun. Ich schiebe sie an mir vorbei ins Wohnzimmer. An der Tür steht Daniel mit Corinna. Sie unterhalten sich.

Als ich an Corinna vorbeigehen will, fährt sie ihre rot lackierten Krallen aus und packt mein T-Shirt, um mich aufzuhalten. Sie legt beide Hände auf meine Brust, was mich gleich in Abwehrhaltung nach ihren Handgelenken greifen lässt, um sie von meinem Körper zu ziehen.

„Erik, begrüßt du heute keine alte Freundin?“ Sie lächelt mich herausfordernd an.

Ich weiß gar nicht, was sie auf dieser Kinderparty will. Kleine Jungs vernaschen, wenn die durch die Drogen willig genug sind? Gut, sie ist vielleicht vier Jahre älter als die meisten hier. Sie ist fast so alt wie ich. Aber ich bin etwas gereizt, wenn es Frauen auf Jüngere abgesehen haben. Bei Männern ist das allerdings etwas anderes.

Mein Blick wandert zu Carolin, die vor dem Fernseher steht. Sie sieht auf das Bild, als wäre sie hypnotisiert. Ich kenne das Video, ohne es zu sehen. Ich höre das Lied dazu, das reicht mir schon.

Ich wende mich wieder Corinna zu und knurre: „Ich muss weiter! Schönen Abend noch.“ Damit lasse sie sie einfach stehen.

Daniel sehe ich erst gar nicht an. Ich weiß, er verfolgt mein Verhalten mit Argusaugen und ihm wird nicht gefallen, was ich tue.

Mich zieht alles zu dem kleinen, blonden Falter, die mit riesigen Augen auf den Bildschirm starrt. Als ich bei ihr ankomme, fragt sie völlig entrückt: „Wer ist das?“

Ich spüre unter meiner Hand die Wärme ihres Rückens durch ihre dünne Bluse und kann nur fasziniert antworten: „Bluenecks Lilitu.“

Sie sieht mich plötzlich an. Ihr Blick ist Verwirrung pur. Ich muss schlucken.

Das Lied geht zu Ende und ein anderes folgt.

Style Aroma und Besk singen über das Glück und Leid des Lebens.

Carolin sieht sich um, als wolle sie sich setzen. Es ist allerdings alles belegt und ich will sie nicht an ein Sofa oder Sessel verlieren. Ich will sie bei mir behalten.

„Komm!“ Ich lege meine Hände um ihre Hüfte, bevor sie protestieren kann und setze sie auf meine Anrichte. Sie wiegt bestimmt nicht mehr als fünfzig Kilo und wirkt so zerbrechlich.

In ihren Augen flackert erneut diese Unsicherheit und eine gehörige Portion Unmut auf. Ich stelle mich direkt vor sie, damit sie mir nicht davonfliegen kann. Dass sie das will, sehe ich an ihrem Blick.

Ich greife nach der Fernbedienung, die neben ihr in meiner Schale liegt und drücke einige Knöpfe. Lilitu läuft wieder an und ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was sie sieht. Ich sehe es in ihren Augen, die wieder wie gebannt auf den riesigen Fernseher starren.

Ich lasse die Fernbedienung in die Schale gleiten und lege meine Hände erneut um ihre Taille, um sie an ihrem Platz zu fixieren.

Langsam wandern ihre Augen von dem Video mit dem davonfliegenden Schmetterling in mein Gesicht. Sie scheint irritiert darüber zu sein, mich zu sehen. Irgendwie wirkt sie, als käme sie aus einer anderen Dimension wieder in unsere. Dann sieht sie wieder an mir vorbei zum Fernseher.

Ich weiß, was ich jetzt tun muss und unbedingt tun will und ich bin gespannt, wie es sich bei ihr auswirken wird. Zwei Semester Psychologiestudium haben mir einige Weisheiten beschert, obwohl sie mir nicht halfen, meine Geister in den Griff zu bekommen, die mich immer wieder quälen. Dafür faszinierten mich die Möglichkeiten, Menschen zu manipulieren. Und ich will dieses Mädchen verunsichern, ihre Gefühlswelt aus den Angeln heben und ihr meine Welt aufzwingen. Unter Drogen ist das ein leichtes Spiel.

So fahre ich ein einstudiertes Programm hoch, um ihren Willen zu brechen und sie in etwas zu stürzen, das meiner Welt gleichkommt. Ich will ihre tiefsten Ängste hervorzerren und schüren und ihre Reaktion sehen.

„So können wir uns mal vernünftig unterhalten“, versuche ich ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. „Was ist mit deinem Bruder? Ellen sagte, du hattest Probleme mit ihm?“

Ich weiß von Daniel, dass sie nur einen hat. Warum Ellen von Brüdern sprach, weiß ich nicht und Daniel äußerte sich nicht weiter darüber. Um ihn nicht denken zu lassen, dass der kleine Falter mich irgendwie interessiert, hakte ich auch nicht mehr nach. Jetzt will ich das aber wissen.

Ihr Blick gleitet erneut in mein Gesicht und sie schüttelt langsam den Kopf. „Ach, ist doch egal“, murmelt sie und sieht wieder zum Fernseher hoch.

Aber in ihrem Gesicht spiegeln sich erschreckend viele Gefühle gleichzeitig ab. Trostlosigkeit, Trauer, Wut und Sehnsucht, wohl von meiner Frage ausgelöst.

Ich erschrecke richtig und versuche das Gefühl zu unterdrücken, sie in die Arme nehmen zu wollen, um sie tröstend an mich zu ziehen.

Ganz gegen meine eigentliche Absicht will ich plötzlich nicht mehr, dass sie verletzt wird oder leidet. In mir ringen zwei Gefühle miteinander. Das eine will dieses Mädchen verletzen und ihr meine dunkle Welt zeigen, um sie dann zu Boden treten zu können und das andere will diesen Ausdruck von Traurigkeit und Verletztheit nie wieder in ihrem Gesicht sehen.

Ich kann nur über mich den Kopf schütteln. Was ist bloß heute mit mir los?

Das Verlangen, sie auf meine Arme zu heben und in mein Schlafzimmer zu tragen, überkommt mich. Aber es ist nicht die Aussicht auf Sex und ihre Niederlage, die mich dazu verleitet, sondern der Wunsch, sie vor dem zu beschützen, was sie in dieser Welt bedrohen könnte und ihr ihre Ängste zu nehmen, die sich mir gerade offenbarten.

Verdammt!

Ich sehe zur Tür, wo Daniel zu uns herübersieht und mich nicht aus den Augen lässt. Ich muss so tun, als will ich mich hier wirklich nur unterhalten. Aber nur der Fernseher hat ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und ich lege meinen Finger auf ihre Wange und drücke leicht gegen die samtene Haut. Sie soll mich ansehen, nicht diesen gottverdammten Fernseher und Daniel soll mit Ellen weiter versumpfte Drogis suchen.

Ich bin erneut irritiert darüber, was ich in ihrer Gegenwart fühle. Das verunsichert mich und das geht gar nicht. Unsicherheit und Angst sind mein größter Feind und ich will sie nie mehr in mir spüren. Das hatte ich in meinem Leben zu lange getan und zu schwer dagegen angekämpft. Darum nehme ich das angesprochene Thema schnell wieder auf, weil ich damit wieder Oberhand über die Situation zu bekommen hoffe. Ich brauche meine Abgebrühtheit und Coolnis wieder.

„Nun sag schon. Was war mit ihm? Ist der dir an die Wäsche gegangen?“, bringe ich das Einzige auf den Plan, was ich mir bei ihr denken könnte. Sonst fällt mir nichts ein, was ein Bruder Schlimmes verbrechen könnte.

„Nein!“, brummt sie und ich höre Entrüstung in ihrer Stimme aufpeitschen … und das war’s. Ihr Blick gleitet erneut zum Fernseher zurück, auf dem ich Lilitu in einer Endlosschleife laufen lasse. Mir ist dabei völlig egal, was die anderen hier im Raum davon halten.

„Was war es denn dann? Komm, sag es mir. Ich bin wirklich neugierig“, versuche ich ihr großes Geheimnis endlich aus ihr herauszukitzeln. Dabei lege ich meine ganze Autorität in meine Stimme.

Ihr Blick schweift unruhig durch den Raum, als suche sie nach etwas, was sie von mir befreit. Aber da hat sie keine Chance.

„Ich lasse dich nicht eher runter, bis du mir gesagt hast, was ich wissen will. Hat der dich belästigt?“ Ich umschließe ihre Taille fester, schenke ihr aber ein beruhigendes Lächeln, das ihr zeigen soll, dass sie sich mir ruhig anvertrauen kann. In meinem Bauch kribbelt etwas bei dem Gedanken, dass der ihr etwas aufzwingen wollte. Ich weiß nicht, ob mich der Gedanke anmacht oder eher Wut entfacht. Mit meinen Gefühlen stehe ich heute irgendwie auf Kriegsfuß.

Aber ich bekomme keine Antwort.

„Komm, spuck es aus, sonst lasse ich dich hier nicht weg“, raune ich ungeduldig.

Ihr Blick gleitet erneut in mein Gesicht und ich sehe in ihre von großen Pupillen ausgefüllten Augen. Und in diesem Schwarz glänzt Angst, nackte Angst. Ich pralle fast vor diesem Blick zurück, als sie raunt: „Julian wollte mich umbringen.“

„Was? Hast du Halos?“, knurre ich verunsichert.

„Wieso? Ne! Er hat mir in den Hals geschnitten“, höre ich sie antworten und sie schiebt ihre blonden Haare zurück und beugt den Kopf etwas herunter, damit ich in ihren Nacken sehen kann.

Ich sehe eine lange rote Narbe, die kurz vor der Halsschlagader endet.

Einen Moment glaube ich, gar nicht mehr richtig denken zu können. Obwohl ihr Haar schon längst wieder wie ein Wasserfall über die Narbe fällt, habe ich sie noch vor Augen und ich bin entsetzt. Schwer schluckend versuche ich mich schnell wieder zu fangen. Aus meinem Mund dringen nur verdatterte Wörter. „Krass! Das ist natürlich hart!“

Ich kann ihren Blick nicht ertragen und fühle mich betroffen. Das letzte Mal, als ich wirklich von etwas betroffen war, da stand ich an Clemens Grab und mir wurde klar, dass er wirklich nie mehr für mich da sein wird.

Meine Hände fester um ihre Taille legend, hebe ich sie wieder von der Anrichte herunter. Ganz langsam stelle ich sie vor meinen Füßen ab, von einem Gefühl gefangen, sie nicht loslassen zu wollen und von diesem Gefühl völlig verwirrt, suchen meine Lippen ihre.

Mit einer unglaublichen Entschlossenheit wendet sie den Kopf zur Seite und knurrt Böse: „Lass das!“

„Warum?“, kann ich nur wie ein dummer Schuljunge fragen.

In dem Moment werde ich auch schon weggeschubst und Carolin aus meinen Armen gerissen. Ich sehe meiner Schwester in ihr wütendes Gesicht.

Die hat mir noch gefehlt. Und ihr Blick sagt mir, dass sie meine Beute will.

„Ellen! Alles klar?“, knurre ich und versuche ihr noch eine Chance zu geben, sich aus der Sache herauszuhalten. Dabei umfasst meine Hand wie von selbst Carolins Oberarm und zieht sie neben mich.

„Erik, hör auf!“, brummt Ellen mit wütendem Blick. Sie sieht Carolin an und wird noch wütender. „Carolin, wie geht es dir?“, fragt sie.

Typisch! Der böse Wolf kann sie nur gebissen haben.

„Weiß nicht so recht“, höre ich sie antworten.

„Ich rieche die Scheiße doch bis nach draußen!“, faucht Ellen. „Hat Erik dir irgendetwas gegeben?“

Ich sehe von Ellen zu Carolin, deren Oberarm noch immer von meinen Fingern umspannt wird.

Die schüttelt den Kopf. „Nur eine Cola. Er hat sie vor mir aufgemacht.“

Ich lache laut bei ihrer naiven Antwort auf.

Ellen sieht Carolin in die Augen und ich hebe beide Hände in abwehrender Haltung hoch, immer noch grinsend. „Sie hat die Kekse allein gegessen. Ich bin unschuldig.“

Um meiner kleinen, dummen Schwester gleich klar zu machen, was hier jetzt läuft, sage ich bestimmend: „Und jetzt bleibt sie bei mir. Sie schläft doch eh heute hier.“

Ellen sieht mich aufgebracht an und ich drücke ihr süffisant rein: „Und du musst dich bestimmt noch um Tina kümmern. Ich kümmere mich so lange um Carolin.“

Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Frau dermaßen eingefordert zu haben. Fast komme ich mir einen kurzen Moment so vor, als wäre ich Sam oder Teddy.

„Verdammt!“, keift Ellen, scheint aber einzusehen, dass sie gegen mich keine Chance hat. Sie weht aus dem Raum wie ein Wirbelsturm und ich sehe an Carolins Gesicht, dass sie völlig fassungslos darüber ist.

Ich will sie trösten. Sie bleibt heute Nacht bei mir und ich werde noch viel mehr tun als das, wenn meine dumme Schwester erneut ihren nächtlichen Trip zur Errettung hoffnungsloser Fälle aufnimmt und die zweite abgestürzte Drogentussi sucht. Dass sie das tun muss, habe ich an ihrer aufgebrachten Art gesehen. Hier ging es nicht nur um Carolins jetzige Situation, sondern darum, dass Ellen nicht bleiben kann, um sich an ihre kleine Freundin zu hängen und mich damit zu zwingen, meine Finger von ihr zu lassen.

Ich ziehe Carolin wieder in meine Arme - diesen kleinen Falter aus Luft und Wind mit der schlimmen Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die von Schrecken gekennzeichnet ist, wie meine eigene.

Kurz spüre ich ihren Widerstand. Aber gegen mich und meine Kraft hat sie null Chance und sie ergibt sich. Die Drogen brechen ihren Widerstand. Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man verletzlich ist wie ein Baby …

Ich lege ihr meine Hand unters Kinn, um ihren unsteten Blick, den sie immer wieder durch den Raum gleiten lässt, auf mich zu lenken.

„Hey Süße, wie fühlst du dich?“, frage ich sie und versuche zu ergründen, wie stoned sie ist.

„Ich muss mal“, antwortet sie nur und schiebt mich mit einer ungeahnten Kraft weg.

Ich lasse sie widerwillig los, völlig perplex. Aber statt in mein Badezimmer zu verschwinden, geht sie ins Treppenhaus hinaus.

Ich folge ihr schnell, da sie Ellens Badezimmer ansteuert. Kurz kommt mir in den Sinn, mich mit ihr dort einzuschließen.

„Erik!“, höre ich hinter mir plötzlich Ellen rufen.

Ich drehe mich um.

Vor mir dreht sich Carolin auch um und erstarrt regelrecht, als sie mich hinter sich sieht.

Es ertönt ein Pfiff, als solle ein Hund zurückgepfiffen werden und Ellen ist schneller an mir vorbei, als ich auch nur die Augen einmal auf und zuschlagen kann. Sie zieht Carolin ins Badezimmer und der Schlüssel wird schnell herumgedreht.

Verdammt!

Langsam gehe ich durch den Flur zurück zu meiner Tür, die das Treppenhaus von meinem Bereich trennt. Das hin und her der Partygäste bemerke ich gar nicht. Ich bin darauf fixiert, dass diese Badezimmertür wieder aufgeht.

Daniel taucht vor mir auf, breit grinsend. „Nah Alter, alles klar?“

Ich schüttele den Kopf. Irgendwie ist heute gar nichts richtig klar.

Er hat seine Zigarettenschachtel in der Hand. „Schau mal, was für ein bescheuerter Spruch“, sagt er und hält mir die Schachtel direkt vor die Nase, ohne weiter nachzufragen, was eigentlich los ist.

Ich lese ihn zwar, aber diese Nichtrauchersprüche auf Zigarettenschachteln interessieren mich überhaupt nicht.

In dem Moment bemerke ich eine schnelle Bewegung hinter Daniel und sehe Ellen mit Carolin die Treppe hinunterhechten. Carolin fällt fast und ich frage mich, was das Ganze soll.

Aber dann wird mir klar, dass Ellen Carolin aus dem Haus bringen will und ich schiebe Daniel wütend zur Seite und laufe den beiden hinterher. Doch in dem Moment knallt schon die Haustür hinter Carolin zu und Ellen schließt ab, den Schlüssel oben in ihre Bluse versenkend.

Ich schreie sie an, sie soll sofort den Schlüssel rausrücken. Sie kann Carolin doch nicht einfach vor die Tür setzen. Dass sie dort draußen nun vor verschlossener Tür steht, ist für mich unerträglich. Warum tut Ellen das?

Aber an dem zufriedenen Blick meiner Schwester sehe ich, dass sie sich sicher ist, dass sie Carolin erfolgreich aus meinem Gefahrenbereich gebracht hat. Sie faucht zurück, dass ich mir den Schlüssel schon holen muss und Carolin dann nicht mehr da ist, weil sie in diesem Moment schon weggebracht wird. „Ich habe sie von dir wegholen lassen“, faucht sie gehässig und ihre Augen blitzen giftig.

Ich packe sie mir. Meine Hände legen sich um ihre Handgelenke und ich drücke sie zu Boden.

In mir wird alles dunkelgrau. Ich weiß, dass ich kurz vor dem Ausrasten bin.

Daniel kommt dazu und versucht mich von Ellen wegzuzerren. Ich lasse sie los und knalle Daniel an das Treppengeländer. In dem Moment fährt draußen ein Wagen weg und ich weiß, es ist zu spät.

Ich greife erneut Ellens Arme und ziehe sie hoch. An ihrem Blick sehe ich, dass sie sich nicht sicher ist, was nun passiert.

Ich brülle sie an, meine aufgestaute Wut rauslassend: „Warum hast du das gemacht? Sie wollte doch bleiben. Warum schmeißt du sie raus?“

Ellen ist auch erschreckend wütend. Sie faucht aufgebracht: „Ich habe sie nicht rausgeschmissen, sondern in Sicherheit gebracht. Ich habe ihren Exfreund angerufen und der nimmt sie jetzt mit. Sie wollte keine Minute bei dir bleiben. Ist dir das nicht klar?“

Ich lasse sie los. Ihre Worte sind wie glühende Kohlen, die man über mich ausschüttet.

„Schließ jetzt auf, du blöde Kuh oder ich verpasse dir eine, dass dir hören und sehen vergeht“, zische ich fassungslos und weiß nicht, wie ich meine Wut noch kontrollieren soll. In mir will alles nur noch zuschlagen und nur, weil Daniel sich neben Ellen aufbaut, schaffe ich es, mich im Zaum zu halten.

Ellen zieht schnell ihre Bluse aus dem Hosenbund und der Schlüssel fällt klimpernd auf die Fliesen.

Ich bücke mich und greife danach.

Daniel noch einen wütenden Blick zuwerfend, schließe ich die Tür auf und laufe hinaus. Fassungslos sehe ich mich um.

Der Falter ist tatsächlich weg. Weggeflogen! Wenn sie noch da wäre, könnte mich das ein wenig besänftigen.

Ich gehe zur Straße und wende mich Richtung Innenstadt. Meine Füße bringen mich einfach nur weg von all dem hier und ich bin allein. Wie immer.

Es ist Mittag, als ich wieder bei der Villa ankomme. Es geht mir beschissen. Das Zeug, das ich mir auf der Straße von so einem komischen Typen kaufte, war wohl scheiße.

Ich hatte mir die Line in einer Kneipe auf der Toilette gezogen und noch einige Bier draufgekippt. Völlig breit war ich daraufhin durch die Diskotheken getingelt. Irgendwie war da noch was mit so einer blonden Tussi, die sich auf dem Klo nageln ließ. Aber das verdränge ich lieber aus meinem Lebenslauf. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich mittendrin abbrach oder sie keinen Bock mehr hatte.

Die ganze Nacht flog mir der kleine Falter im Kopf herum. Hätte ich gewusst, wo ihr Ex sie hingebracht hat, ich hätte sie da weggeholt. Zumindest hatte mein Kopf solche Fantasien heraufbeschworen - dass ich sie mir wiederholen dürfte und sie auch mit mir mitgehen würde. Ellens bösen Worte, dass sie nicht bei mir bleiben wollte, drängten auch zwischendurch immer mal wieder in mir hoch und warfen mich in einen Abgrund. Mir schwirrt eine Erinnerung durch meinen Kopf, dass deswegen meine Stehfähigkeit auch Schaden nahm, als ich dieses Blondchen nagelte.

Oh Mann, ich kann nur hoffen, ich irre mich diesbezüglich und das sind nur die Wirren der Drogenfantasien, die mir das vorgaukeln, um mich noch mehr niederzudrücken.

In meinem Wohnzimmer lasse ich mich auf mein Sofa fallen.

Das kleine Russenmädchen Elisa war wieder da gewesen und hat alles aufgeräumt und saubergemacht. Wenn ich die nicht hätte … Sie kommt immer, wenn ich hier eine Party veranstaltete und sieht zu, dass alles wieder so aussieht, wie vor der Party. Meine Eltern und unsere Haushälterin sind noch nicht einmal dahintergekommen, dass ich auch noch eine eigene Putzfrau habe.

Ich bezahle sie gut und sie schweigt. Und Ellen schweigt für gewöhnlich auch. Aber nach gestern bin ich mir da nicht mehr sicher. Ich war ganz schön ausgetickt.

Hunger treibt mich erneut vom Sofa hoch und ich gehe nach unten in die Küche. Im Wohnzimmer höre ich Ellen telefonieren. Vielleicht sollte ich gleich die Wogen glätten?

Ich nicke ihr zu und murmele ihr ein „Hi“ zu, als sie mich in der Tür stehen sieht.

„Ah, Erik ist wieder da. Ich muss jetzt erst ein Hühnchen mit ihm rupfen. Der ist gestern Nacht noch abgehauen, nachdem er mir den Schlüssel weggenommen hat und du weg warst. Wir sehen uns dann morgen, okay?“, höre ich Ellen in ihr Handy rufen und werde sofort wütend. Hoffentlich ist das Daniel. Ansonsten hat sie gleich ein riesen Problem.

Ellen lacht in das Handy hinein: „Du gönnst mir auch gar nichts. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf, ihn in Grund und Boden zu stauchen.“

Ich bleibe wie erstarrt in der Tür stehen und verschränke die Arme vor der Brust.

Ellen verabschiedet sich grimmig lachend und dreht sich wieder zu mir um. Sie sieht mich immer noch in der Tür stehen und wird ernst.

„War das Daniel?“, frage ich lauernd.

„Nein, Carolin“, sagt sie hochnäsig.

„Warum erzählst du ihr so eine Scheiße?“, fauche ich sie an. Will sie den kleinen Falter gegen mich aufbringen?

„Ich erzähle Scheiße? Nah hör mal, Bruderherz“, zischt sie wütend, „das war gestern das Letzte! Du kannst doch nicht einfach jemanden mit Drogen gefügig machen. Wie tief willst du eigentlich noch sinken? Carolin hat noch nie Drogen genommen und hatte das auch nie vor.“

Ich muss tief einatmen, um den Sturm in meinem Inneren zu kontrollieren. „Das ist mir so was von scheißegal. Und gefügig gemacht habe ich niemanden. Ich war freundlich zu ihr, mehr nicht.“

Ellen lacht gehässig auf. Mich nachäffend sagt sie: „Die schläft doch eh hier. Die bleibt heute Nacht bei mir.“

Ich baue mich vor ihr auf. „Nah und! Das kann dir doch scheißegal sein. Dann hätte sie wenigstens mal ein wenig Spaß gehabt.“

„Spaß gehabt? Du schätzt dich echt verdammt falsch ein. Als wenn du es wärst, den sie haben will. Nicht ums Verrecken. Sie ist keine deiner billigen Flittchen!“

Der Sturm wird unkontrollierbar. „Was weißt du denn schon?“, brülle ich sie an.

Ellens Worte treffen mich und das wirft mich aus der Bahn. Ihre sonstigen Bösartigkeiten gingen mir meistens am Arsch vorbei. Aber heute fühle ich mich angreifbar.

„Eine Menge! Und vor allem, dass ihr Exfreund gestern angerauscht kam, um sie schnell von dir wegzuholen und sie mit dem die heiße Nacht verbracht hat. Die beiden sind übrigens wieder zusammen. Dank letzter Nacht und dir.“

Ich sehe Ellens gehässiges Grinsen und in mir tickt etwas aus. Ich hasse meine Schwester.

Mein Arm schnellt vor und packt sie. Ich will sie eigentlich vor meine Füße ziehen, aber sie stolpert und fällt lang auf die harten Fliesen.

Sie schreit auf wie ein verwunderter Löwe und ich lasse sie los. Langsam kommt sie wieder hoch und hinkt, als sie zum Stuhl geht.

„Erik, du bist so ein Arschloch! Hau bloß ab! Ich hasse dich!“, schreit sie mich an und ich sehe Tränen in ihren Augen aufblitzen.

Wir geraten in letzter Zeit immer heftiger aneinander. Aber es tut mir nicht leid, dass sie sich wehgetan hat. Sie ist selbst schuld.

Ich gehe an ihr vorbei nach oben und lasse sie zurück. Essen will ich auch nichts mehr. Ich habe so die Schnauze von allem voll. Von diesem Haus, meiner Familie und meinem Leben.

Oben im Zimmer drehe ich mir Crack in meine Zigarette. Ich brauche das jetzt, sonst drehe ich durch.

Abends kommen unsere Eltern wieder nach Hause. Ich höre sie unten durchs Haus geistern und als sie keinen Tobsuchtsanfall bekommen, weiß ich, dass sie von der Party keine letzten Spuren mehr gefunden haben. Elisa hatte wieder ganze Arbeit geleistet.

Ellen geht zu ihnen. Ich höre sie mit ihnen reden. Aber auch diesmal passiert nichts. Sie heult sich scheinbar nicht bei ihnen aus. Das nimmt mir ein wenig der Wut auf sie. Aber ich bleibe im oberen Stockwerk, um sie nicht sehen zu lassen, wie schlimm ich zustehe. Ich setze mich nur oben auf die Treppe und lausche dem Treiben im unteren Stockwerk, da wo eine Familie wohnt, die sich unterhält, zusammen lacht, Musik hört oder fernsieht. Es ist nicht meine Familie. Ich bin bloß hier hineingeboren worden und mit fünf Jahren verloren gegangen …

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekomme, wie Ellen die Treppe hochkommt. Sie sieht mich an, sieht wie ich auf den Stufen hocke, zusammengesunken und klein. Sie hinkt immer noch etwas. Was hatte sie unseren Eltern wohl erzählt wie das passiert ist?

Ich sehe sie an, stehe schwerfällig auf und gehe vor ihr die letzte Stufe hoch. Es ist wohl besser ich verkrieche mich wieder in mein Reich.

Als ich die Tür schließe, sehe ich noch Ellen in ihren Teil verschwinden. Sie sieht noch mal zu mir herüber und knallt die Tür zu.

Ich nicke nur. Klar, ich bin an allem schuld und für alles verantwortlich. War ich schließlich schon immer.

Am nächsten Morgen treffe ich auf meine Eltern. Sie frühstücken am Küchentresen, statt am Tisch im Esszimmer. Allerdings sind sie schon fertig, als ich dazustoße und stehen auf, um sich für den Arbeitstag vorzubereiten. Mehr als ein „Guten Morgen!“ gibt es nicht.

Aber das war nie anders.

Dafür liegt auf Ellens Platz ihr Handy. Sie ist offenbar zur Toilette gegangen oder hoch, um ihre Sachen zu holen. Sie muss vor mir aus dem Haus und mit dem Bus fahren. Mich holt Daniel heute ab.

Unschlüssig setze ich mich an den Esstresen.

Mariella, unsere montags bis freitags Hausperle, putzt schon irgendwo herum und wartet, dass auch ich endlich gefrühstückt habe und verschwinde.

Ich greife nach Ellens Handy und drücke die Tastensperre aus. Auf dem Anrufspeicher sehe ich mit wem sie gestern telefoniert hat. „Caro“, steht da.

Ich präge mir die Nummer ein und lege schnell das Handy auf seinen Platz zurück. In dem Moment kommt Ellen um die Ecke, suchend und findend.

Sie geht zu ihrem Platz und greift nach ihrem Handy, dessen Display noch verdächtig leuchtet. Schnell wirft sie mir einen beunruhigten Blick zu.

Ich schaue desinteressiert weg.

Ohne ein Wort zu sagen, geht sie und ich hole mein Handy heraus und tippe die Nummer in den Speicher.

„So kleiner Falter. Wir sind noch nicht miteinander fertig.“

Einige Zeit später hupt es draußen und ich greife mir mein Brötchen, trinke den Kaffee aus, schnappe mir meine Tasche und gehe zur Tür.

Mariella krabbelt aus irgendeinem Loch, als ich die Tür öffne und schleicht in die Küche. Der böse Wolf ist fort. Sie kann wieder herauskommen.

Im Auto sieht mich Daniel immer wieder seltsam an und irgendwann blaffe ich: „Was?“

„Das frage ich dich! Was ist los mit dir? Du bist Samstagabend völlig abgedreht.“

Ich sehe aus dem Seitenfenster. Es war alles so schnell gegangen. Er hatte mir die Zigarettenpackung gegeben, um mich auf den blöden Spruch aufmerksam zu machen und Ellen hatte Carolin rausgeschmuggelt. Ich konnte das nicht verhindern und das hat mich wütend gemacht. Nah und?

Aber Daniel antworte ich: „Wenn meine blöde Schwester sich nicht immer in meine Angelegenheiten mischen würde …“

„Sie will nur nicht, dass du wieder ihre beste Freundin in dein Bett zerrst“, antwortet Daniel und fährt auf einen Parkplatz.

„Ach ne, sie will doch auch meinen besten Freund in ihr Bett zerren“, knurre ich aufgebracht.

Daniel schmunzelt.

Ich sehe das.

Während er einparkt, sagt er nichts. Aber als wir nebeneinander her durch das Tor gehen, umrahmt von etlichen anderen Mitstreitern aus dieser Uni, meint er: „Das ist etwas anderes. Du weißt, wie ich zu deiner Schwester stehe. Bei uns ist das etwas Ernstes. Du weißt gar nicht, was ernst ist. Und Ellen hat mir etwas über die Kleine erzählt und ich denke nicht, dass du sie auf deine alte Art und Weise missbrauchen solltest. Sie hat schon einiges hinter sich … genau wie du.“

Ich schlucke und sehe zur Seite. Also weiß Daniel auch von dem Übergriff auf Carolin und wie ihr Bruder sie dabei verletzte. Aber ich sehe mich nicht in der Lage, darüber mit ihm zu sprechen. Irgendwie habe ich Angst, dass mich diese Geschichte nur noch tiefer in einen Abgrund reißt. Heute kann ich nicht viel ertragen. Ich fühle mich von dem Wochenende völlig ausgelaugt und niedergetreten.

Vor uns tauchen Torben, Stefan und Timo auf. Das erspart mir ein weiteres Gespräch. Sie warten auf uns und wir gehen gemeinsam zum Unigebäude.

In der ersten großen Pause ringe ich mich allerdings doch dazu durch, Daniel zu fragen, was er über die Kleine weiß.

Er grinst, als hätte er darauf gewartet. „Sie hat halt Stress mit den Kerlen, wenn sie irgendwo aufkreuzt. Du warst am Samstag nur eines der besten Beispiele.“

Ich sehe ihn verdattert an. Ist das alles, was er zu bieten hat? Nicht zu fassen! Mehr weiß er von der Kleinen nicht?

Aber ich hatte vor diesem Betriebswirtschaftslehrestudium nicht zwei Semester Psychologie studiert, um diesen unnützen, blöden Spruch jetzt nicht wechseln zu können. „Dann ist sie bestimmt eine der Glücklichen. Welche Frau wünscht sich nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts?“

Daniel wirft mir nur einen schnellen Blick zu und erwidert nichts und ich lasse das Thema auch lieber wieder fallen.

Am Nachmittag allerdings, als wir in seinem BMW durch die Straßen fahren, um einen Auftrag auszuführen, fängt er wieder davon an.

„Lass Ellen das Mädchen. Die beiden mögen sich wirklich gerne und nach Alex hat sie lange keinen Menschen mehr an sich herangelassen. Und die Freundinnen aus der Zeit mit Alex … du weißt doch, die sammeln wir nachts von der Straße auf. Ich wäre froh, wenn du ihr diese Freundschaft lässt. Carolin tut ihr gut. Sie ist so völlig anders und Ellen ist gerne mit ihr zusammen.“

Ich sehe ihn wütend an. Ich bin sein Freund0 Warum sagt er nicht zu Ellen: „Komm, lass deinem Bruder doch die Kleine.“

Ich weiß warum. Weil ich sie einmal durchkaue und ausspucke. Aber was soll ich denn tun? Ist Ellen, Daniel oder sonst jemand mal in den Sinn gekommen, dass es auch für mich nicht toll ist, so zu sein wie ich bin? Vielleicht will ich auch nicht immer nur der böse, einsame Wolf bleiben? Aber ich kann halt nicht anders und mein Psychologiestudium hat mich diesbezüglich auch nicht weiser gemacht. Aber niemals würde ich zugeben, dass ich mir manchmal wünsche, mein Leben wäre anders verlaufen und ich wäre zu normalen Gefühlen fähig.

„Soll ich mich etwa wegen Samstag entschuldigen?“, knurre ich aufgebracht.

„Wow!“, ruft Daniel aus. „Das wäre natürlich schon mal ein Anfang.“

Meint er das ernst? In unserem Milieu entschuldigt man sich nicht.

Aber ich hole mein Handy aus der Tasche und sehe Daniels überraschten Blick. In meinem Kopf läuft schon ein Film ab, der seltsame Gefühle in meinem Inneren freikratzt. Ich kann mir nur schwer ein Schmunzeln verkneifen. Ich denke nicht, dass er ahnt, was ich wirklich vorhabe.

Ich gehe auf eine Nummer und warte darauf, dass jemand abhebt.

„Ja?“, kichert eine weiche Stimme albern ins Handy.

„Carolin?“, frage ich. Ich werfe Daniel einen Blick zu und grinse.

Er erwidert den wütend. Er dachte natürlich, ich rufe Ellen an.

„Ja!“, kommt es plötzlich erschrocken durch die Leitung gekrabbelt.

„Ich bin es, Erik.“

„Ja! Was willst du?“, höre ich sie ziemlich unfreundlich antworten.

„Nur hören, ob du den Samstagabend gut überstanden hast. Wenn ich gewusst hätte, dass du dir die Kekse reinziehst, hätte ich besser auf dich achtgegeben. Ellen ist deswegen ziemlich sauer auf mich.“

Einen Moment ist die Leitung wie tot. Dann höre ich Carolin raunen: „Du hast genug auf mich achtgegeben und du wusstest sehr wohl, dass ich die Kekse esse, wenn mir keiner sagt, was da drinnen ist. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir sogar noch den Teller zugeschoben. Aber egal. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Und warum bist du dann abgehauen?“, frage ich und wünsche mir plötzlich, dass Daniel nicht neben mir sitzt und mithört.

„Das war nicht ganz freiwillig, aber letztendlich wohl besser“, bekomme ich zur Antwort.

„Warum besser? Dir wäre doch bei uns nichts passiert. Aber so weiß ich ja nicht, wo du in der Nacht noch gelandet bist“, murre ich.

Was für eine Lüge. Ellen hatte mir natürlich reingedrückt, dass der Ex sie geholt hat und nun nicht mehr der Ex ist. Er hat den kleinen, weißen Falter eingefangen. In mir regt sich Unmut deswegen und etwas brennt in meinem Magen wie eine kleine Stichflamme.

Statt mir darauf zu antworten, schnauzt meine Gesprächspartnerin plötzlich wie aus heiterem Himmel: „Erik, wenn du das nächste Mal ein Problem mit mir hast, kläre das gefälligst mit mir und nicht mit deiner Schwester. Sie hat mir die blauen Flecken gezeigt, die du ihr zugefügt hast. Ich hasse solche Leute! Ist das klar?

Mir fällt fast die Kinnlade runter. Ich sehe sie vor mir, Luft und Wind. Wahrscheinlich nur ein wenig mehr als die Hälfte von mir und doch mit so einer großen Klappe, dass ich fast nicht weiß was ich antworten soll.

Daniel wirft mir einen schnellen Blick zu, während wir an einer Ampel warten. Wir wollen bei ihm zu Hause das Auto abstellen und in die Stadt laufen.

Ich muss mich tatsächlich erst räuspern, um den Frosch im Hals an die Seite zu schubsen, damit ich die aufsteigende Wut herunterschlucken kann.

„Okay, wann und wo?“, brumme ich und schaffe es nicht ganz, meinen Ärger zu unterdrücken.

Daniel wirft den Kopf herum und sieht mich entgeistert an.

Da ich keine Antwort bekomme, fühle ich mich ein wenig besser. „Ah, Schiss?“, raune ich ins Handy und lasse ein überhebliches Lachen erklingen. Dabei versuche ich Daniel neben mir auszublenden.

„Bestimmt nicht! Wir werden sehen, wann wir uns über den Weg laufen. Und ich habe keine Zeit mehr, die anderen warten. Tschau!“, bekomme ich als Antwort.

„Okay, dann bis ganz bald … zur Problembesprechung“, antworte ich übellaunig, weil sie mich einfach abwürgt. Unglaublich! Und es kommt auch schon das Besetztzeichen. Hammer!

Wir fahren auf Daniels Hof und er lässt den Motor ausgehen.

„Was war das jetzt wieder?“, knurrt er wütend. „Du sollst die Kleine in Ruhe lassen und dich bei Ellen entschuldigen und nichts anderes.“

Ich weiß, er ist stocksauer. Bei jedem anderen wäre es mir egal. Aber bei Daniel nicht. Ich grinse ihn an und antworte übertrieben: „Ach sooo!“

Daniel schüttelt den Kopf und steigt aus. „Dir ist auch echt nicht mehr zu helfen“, knurrt er.

Ich steige auch aus und er verschließt das Auto.

Wir machen uns auf den Weg in die Stadt. Wir haben da noch etwas abzuliefern. Ich trage es in der Innentasche meiner Lederjacke.

Ich greife erneut zum Handy. Wenn man telefoniert, wirkt man unauffälliger. Heute hat jeder, der nichts zu verbergen hat, ein Handy am Ohr und unterhält sich nett.

Daniel wirft mir einen beunruhigten Blick zu.

Ich lasse er klingeln bis jemand abnimmt.

„Moment!“, höre ich Ellen ins Handy raunen. Dann erklärt sie scheinbar jemanden den Weg. „Geht hier den Weg lang, dann kommt ihr direkt an der Hauptstraße beim Haseplatz raus. Dort haltet ihr euch rechts, bis zur Ampel. Dort geht ihr geradeaus drüber und folgt der Straße auf der anderen Seite, bis ihr links den Bahnhof seht. Ganz einfach.“

Mein Kopf arbeitet sich andersherum der Beschreibung nach und findet den Ausgangspunkt. Alles klar, ich weiß jetzt wo Ellen steckt. Vielleicht ist da auch der kleine Falter. Ich würde ihr gerne sofort die Flügel stutzen. Aber erst muss ich Daniel wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

„Ja“, meldet sich Ellen nun wieder am Handy.

„Ich soll mich bei dir entschuldigen“, bringe ich etwas mühsam hervor. Ich habe mich in meinem Leben noch nie bei ihr oder sonst wem entschuldigt.

„Sollst du?“, knurrt Ellen.

Ich sehe Daniel an, der am liebsten in den Hörer kriechen würde, um das Gespräch von beiden Seiten zu verfolgen.

„Wenn ich dir sage, dass ich es auch will, glaubst du mir das?“

Sie scheint zu zögern. „Nicht wirklich!“

„Ja oder nein?“, brumme ich.

„Nein“, sagt sie ehrlich.

Ich habe es nicht anders erwartet und knurre schwerfällig: „Doch, es tut mir leid.“ Ich bringe die Worte nur mühsam über die Lippen. „Reicht dir das? Ich bin da nicht besonders gut drin …“

„Ja“, sagt Ellen und ich höre wie perplex sie ist.

„Gut! Nimmst du die Entschuldigung auch an?“ Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich das nur wegen Daniel mache. Und vielleicht ist da auch etwas tief in mir, dass den kleinen Falter damit besänftigen will. Denn eigentlich hasse ich es, mich so klein vor Ellen machen zu müssen.

„Ja“, raunt sie wieder und scheint wirklich völlig perplex zu sein.

„Gut, dann ist das erledigt“, sage ich und lege auf.

Daniel sieht mich eher verdattert an, als zufrieden.

„Naja“, raunt er. „Das war wahrscheinlich das schwerste Gespräch deines Lebens.“

Ich nicke und grinse. Alles hat zwei Seiten. Ich habe mich brav entschuldigt und dafür habe ich gleich noch einen Überfall vor. Den hat mir das Gespräch ermöglicht. Ich habe den kleinen Falter zwar nicht im Hintergrund gehört, aber ich hoffe, sie ist bei Ellen.

Wir kommen in der Zwischenzeit bei einem Laden an. Dort wird alles verkauft was man sich denken kann. Von Klamotten über Schuhe und sogar kleinere Elektrogeräte. Wahrscheinlich alles mehr oder weniger heiße Ware und heute will dort jemand etwas Besonderes kaufen, was es dort so offensichtlich nicht gibt.

Wir gehen direkt an dem Tresen vorbei, an dem eine dicke Frau sitzt und uns nur dümmlich anstarrt. Aber ich weiß, wo wir hingehen müssen. Es ist nicht meine erste Lieferung in dieses Haus.

Wir betreten einen Hinterraum, der als Lager dient und wohl auch als Büro. Es gibt einen alten Schreibtisch mit einer Ansammlung von Papieren. Der Ladenbesitzer erwartet uns schon, hinter diesem Papierberg sitzend. Vor dem Schreibtisch sitzt ein älterer Türke, der aufsteht, als wir eintreten. Er sieht sich unsicher um. Aber als ich aus der Lederjacke die kleine, in Papier gehüllte Pistole ziehe, scheint er ruhiger zu werden. Er beäugt sie ausgiebig und ich gebe ihm die ebenfalls in Papier gehüllte Patronenpackung. Bei der Übergabe sehe ich zu, dass ich das Papier wieder einsammele. Es dürfen nirgends von mir oder Daniel Fingerabdrücke drauf sein. Das hatte mir Teddy eingebläut.

Es werden keine Fragen gestellt und bedarf somit keiner Antworten. Uns geht es nichts an, was damit gemacht wird. Wir bekommen das Geld und gehen wieder.

Als wir schon ein gutes Stück von dem Laden entfernt sind, atmen wir auf.

„So, und nun knöpfe ich mir den kleinen Falter vor“, raune ich leise.

Daniel bleibt stehen. „Wohin willst du?“, fragte er und sieht mich misstrauisch an.

„Das wirst du schon sehen“, sage ich nur und gehe weiter. Ich weiß nicht, ob er meinen unbedachten Ausspruch verstanden hat.

„Ich muss dort eben Zigaretten rausholen“, sagt er und zeigt auf einen Tabakladen.

Ich warte draußen und zünde mir eine Zigarette an. Daniel holt sich eine ganze Stange Marlboro und grinst mich an, als er wieder rauskommt.

Wir laufen durch die Fußgängerzone und durch eine Nebenstraße zu dem kleinen Park. Er ist wirklich winzig und wir müssten Ellen schnell finden. Aber sie sind nicht mehr da und ich kann mein Pech nicht fassen. So ein Mist!

Komischerweise steigt Daniels Laune wieder und er lädt mich auf ein Bier ein.

Als ich am nächsten Tag am Abend nach Hause komme und in dem schon dunklen Haus die Treppe hochgehe, kommt Ellen gerade aus ihrer Flurtür. Sie trägt einen rosa Jogginganzug und ihre Locken sind nass. Sie hat wohl geduscht.

Da ich im Dunkeln die Treppe hochkomme, erschrickt sie, als sie das Licht im Treppenhaus anmacht.

„Erik, was schleichst du hier rum?“, schnauzt sie aufgebracht und greift sich an die Brust, als erläge sie gleich einem Herzinfarkt.

„Ich bin gerade erst gekommen. Ich mache nie Licht im Haus an, wenn es nicht sein muss“, antworte ich und frage mich, wieso ich ihr das erzähle.

Sie sieht mich verunsichert an und fragt sich das bestimmt auch gerade.

„Was macht dein Bein? Du humpelst nicht mehr“, frage ich sie schnell, weil es noch nie vorkam, dass ich ihr etwas von mir erzählte. Das irritiert mich selbst.

„Ne, geht auch wieder. War auch nicht so schlimm“, sagt sie und ich bin überrascht, dass sie das jetzt so abtut.

„Sonst alles okay?“, frage ich, noch irritierter über dieses seltsame Gespräch und bei der Frage schwirrt mir der kleine Falter im Kopf herum. Etwas drängt mich dazu, sie über das Mädchen auszuhorchen. Aber das bringe ich dann doch nicht. So viel Vertrautheit wäre dann doch wohl zu viel und würde sie nur wieder gegen mich aufbringen. Und der Falter mag es nicht, wenn Ellen und ich uns zoffen. Das hat sie zumindest am Handy gesagt. Ich hasse solche Leute!

„Sicher, alles bestens! Danke der Nachfrage.“

Ich gehe zu meiner Tür und öffne sie. „Dann gute Nacht.“

Ich höre Ellen noch antworten: „Gute Nacht!“ und schließe die Tür hinter mir.

Wann hatten wir jemals so viele freundliche Worte gewechselt? Ich weiß es nicht. Vielleicht noch nie.

Ich werfe mich auf mein Sofa und tue, was ich schon die ganze Zeit tun will. Das wird mir zumindest in dem Moment klar, als ich mit einem seltsamen Hochgefühl sofort nach meinem Handy greife. Dabei rollt eine Lawine heißer Lava durch mein Innerstes.

Ich wähle eine Nummer. Carolins.

Ich denke mir, weil sie mich gestern Nachmittag so abwürgte, habe ich eine Berechtigung, sie heute noch einmal anzurufen. Ich finde nicht, dass alles geklärt ist und außerdem hat sie gefälligst einen anderen Ton bei mir anzuschlagen.

Ein freudiges: „Hallo Schatz!“, erklingt und ich halte mir das Handy kurz verdattert vor das Gesicht und starre es völlig verblüfft an. Das habe ich aus meinem Handy noch nie gehört. Ist das überhaupt mein Handy? Und was ich höre ist echt herzerweichend …, wenn man auf so einen Schnulz steht.

„Was für eine Begrüßung! Da könnte ich mich dran gewöhnen“, antworte ich sarkastisch und versuche das seltsame Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren.

Es ist still in der Leitung, bis ein enttäuschtes und unfreundliches: „Ach Erik, du bist das“, erklingt.

„Ja Schatz, ich bin´s!“, brumme ich aufgebracht über so viel Ablehnung. Ich schüttele den Kopf. Warum zieht ein Telefongespräch mit Carolin mich gleich wieder so runter? Ich sollte über so einen Scheiß echt erhaben sein.

„Wer ist Schatz?“, frage ich und bemühe mich um einen netten Ton, damit sie nicht merkt, wie betroffen ich bin.

„Mein Freund“, bekomme ich als Antwort.

Ich will so tun, als wüsste ich nichts von ihrer neu entbrannten Zweisamkeit mit ihrem Ex, um sie ein wenig erzählen zu lassen.

„Du hast keinen, hast du Samstag gesagt.“

„Das war Samstag. Sonntag war das dann nicht mehr so“, antwortet sie. „Dank dir und deiner Drogenaktion. Mein Exfreund meinte daraufhin, dass es besser ist, nicht mehr mein Exfreund zu sein, damit ich bei euch nicht unter die Räder komme.“

Danke! Warum ist bei ihr alles wie ein Schlag in die Magengrube? Und dass so ein Pisser sich jetzt als ihr Retter und Beschützer aufspielen kann macht mich echt wütend.

„Erik, bist du noch dran? Sonst lege ich jetzt auf, wenn du nichts weiter willst, damit mein Schatz mich auch erreichen kann.“

Sie ist böse. Abgrundtief böse … zu mir.

Ich ziehe die Luft tief in die Lungen und knurre: „Nein, ich will noch was. Wir beide haben noch etwas offen.“

„Ich wüsste nicht was“, murmelt sie und ich bin mir sicher, ihre große Klappe ist plötzlich nicht mehr halb so groß. Das freut mich ungemein.

„So, willst du jetzt kneifen? Du hast gesagt, ich soll das mit dir, statt mit Ellen klären.“

In meinem Kopf rattern die Gedanken. Was soll ich ihr sagen, wenn sie fragt, was ich damit meine?

„Stimmt, dann spreche dich aus. Was müssen wir klären?“

Prompt! Mir wird warm. Da ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll, schwenke ich um.

„Du stehst also zu deinem Wort, dass ich, wenn ich ein Problem mit dir habe, das mit dir, statt mit Ellen, besprechen soll?“

„Ja, klar! Aber bitte schnell. Ich habe nicht ewig Zeit“, antwortet sie ziemlich barsch.

Nah warte, du kleines Luder - denke ich bei mir und lache mein leises, überhebliches Lachen, das beim Geld eintreiben den Leuten eine Gänsehaut über den Rücken treibt. „Gut zu wissen! Wir sehen uns dann und bring etwas Zeit mit“, antworte ich nur und hoffe, sie damit zu verunsichern.

„Was?“, höre ich sie erschrocken in das Handy raunen.

„So etwas bespricht man doch nicht am Telefon. Das macht man Auge in Auge. Und schauen wir mal, wann. Am besten dann, wenn du am wenigstens damit rechnest.“ Fast fühle ich mich so, als wäre ich beim Geld eintreiben. Aber es ist eher die Zähmung einer Raubkatze, die aussieht wie ein Kätzchen und sie ist immer noch die Beute und ich im Jagdfieber. Sogar schon mehr als Samstag. Da wollte ich sie nur durchkauen und ausspuken. Jetzt will ich sie erst mal nur durchkauen. Und zwar gehörig.

„Also bis dann … mein Schatz!“ Ich lache mein dunkelstes und gehässigstes Lachen, dass ich aufbieten kann und würde gerne ihr Gesicht sehen. Dabei lege ich auf, ohne eine Antwort abzuwarten und stelle mir vor, wie sie bibbernd vor ihrem Handy sitzt.

Das ist ein Spiel, das mir Spaß macht. So waren die zwei Semester Psychologiestudium nicht ganz verlorene Zeit. Wenn ich darin auch ansonsten nicht gefunden hatte, was ich suchte - nämlich den Ausweg aus meinen Untiefen - so habe ich doch gelernt, Menschen besser einzuschätzen und zu verunsichern.

An diesem kleinen Falter will ich mein ganzes dort erworbenes Wissen erproben … und noch mehr. Bis ich dann bekomme, was ich will.

Etwas in mir fragt verwirrt: So viel Einsatz traust du dir zu?

Was ich in dieser Woche wirklich noch bekomme ist allerdings nicht den kleinen Falter, sondern eine Abreibung, die mich und Daniel erschüttert. Geht man vom Resonanzprinzip aus, das besagt, dass man alles wiederbekommt, was man vorgegeben hat, dann wurde diese Woche zu einer Woche mit Ursache und Wirkung. Schafft man ein negatives Umfeld, werden schlimme Dinge angezogen.

Aber ich sage mir immer, das Schlechte hat bei mir als erstes angefangen, wo ich noch das Gute in mir trug. Also ist das Ganze nicht meine Schuld.

Am Mittwochabend musste ich ohne Daniel auskommen, weil er sich anderweitig verabredet hatte. Darum fuhr ich bei Walter vorbei, um neue Informationen bezüglich des Auftrages einzuholen, den Walter uns am Montag gegeben hatte. Danach warf ich mir eine Pille ein und fuhr mit Sam und Teddy durch die Straßen, um nach deren Mädels zu schauen. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken, dass ich den Auftrag an diesem Abend allein ausführen wollte, indem ich den Typ, dem wir das ausstehende Geld aus den Rippen leiern sollten, ohne Daniel finde und stelle.

Ich wollte Daniel auf diese Weise daran erinnern, an wessen Seite er seine Zeit zu verbringen hat. Schließlich will er doch immer, dass wir alles zusammen erledigen, um die Sicherheit zu erhöhen. Er ist es doch, der glaubt, ich laufe ohne ihn ständig Gefahr, geschnappt zu werden oder Schlimmeres.

Aber Daniel hatte an diesem Abend Besseres vor. Er ging lieber mit Ellen ins Kino oder sonst wo hin. Vielleicht war es sogar Daniel gewesen, der sie um das Date gebeten hatte? Doch das glaube ich nicht. Ellen hatte ihn bestimmt angebettelt.

So blieben mir nur Sam und Teddy und die Hoffnung, unseren Auftrag allein ausführen zu können, was Daniel ärgern sollte. Schließlich sind solche Aufträge gefährlich und er muss dabei eigentlich an meiner Seite stehen. Ich wollte damit Daniels schlechtes Gewissen wachrütteln, das bei ihm ziemlich dicht unter seiner Oberfläche ruht und schnell geweckt werden kann. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich kenne kein schlechtes Gewissen.

Sam, Teddy und ich fuhren einige Plätze ab, an denen ihre Damen ihre Dienste anboten und Sam regte sich auf, dass seine nur herumstanden, während Teddy zufrieden feststellte, dass nur eine anzutreffen war. Das hieß, die anderen waren im Einsatz. Das brachte Sam so auf die Palme, dass er mit mir, nachdem wir Teddy bei einer Bar abgesetzt hatten, wieder auf Streife fuhren. Er wollte erneut checken, ob seine Mädels arbeitswillig sind oder nur herumlungerten.

Wir parkten in der Nähe von einer Straße, auf der vier seiner Nutten ihren Standplatz haben und gingen zu einer Hausecke, von der Sam meinte, sie von dort aus besser beobachten zu können. Während er völlig fickerig eine Zigarette nach der anderen rauchte und ständig wilde Flüche und Verwünschungen ausstieß, behielt ich die Gegend im Auge, in der Hoffnung, den Typ zu sehen, von dem ich und Daniel für Walter das Geld eintreiben sollten. Er hatte eine größere Menge Drogen von Walter bekommen, die er in einem bestimmten Zeitraum verkaufen wollte. Walters Anteil der Einnahmen sollten Ende letzter Woche über den Tisch gehen, aber der kleine Pisser kam nicht. Walter gab ihm noch bis Montag, bis er uns den Auftrag erteilte, ihn ausfindig zu machen und das Geld von ihm einzufordern.

Ich verstehe nicht, wie jemand Walter bescheißen kann, wo doch jeder weiß, dass er dann Daniel und mich ausschickt oder schlimmer noch - Sam und Teddy? Wie verrückt muss man sein?

So dachte ich am Mittwochabend noch. Dabei sind wir die Verrückten!

Ich stand mit Sam also an dieser Hausecke, als der plötzlich wie ein wildgewordener Bulle auf seine Damen zustürmte.

Ich hielt mich lieber zurück und sah wie Sam eines der Mädchen am Kragen packte und wütend vor seine Füße zerrte, um ihr eine bessere Arbeitsmoral einzubläuen, während die anderen zwei auf ihn einredeten. Ich wusste nicht, worum die heiße Debatte ging, aber scheinbar war ein Wagen angehalten und wieder weggefahren, ohne dass das Mädel eingestiegen war.

Ich starrte noch zu Sam hinüber, der das Mädchen in eine nahe Parkgarageneinfahrt zog, um ihr dort klarzumachen, was er für einen Einsatzwillen von ihr fordert, als neben mir eine dünne Stimme hauchte: „Erik?“

Ich drehte mich um und sah in ein blasses Gesicht, umrahmt von roten Locken, aus dem mich blaue Augen mit riesigen, schwarzen Pupillen anstarrten.

Ich suchte in meinem Gedächtnis nach einem Namen, obwohl ich alles andere sofort vor Augen hatte.

„Was willst du?“, knurrte ich und der Name fiel mir im selben Moment ein – Saskia.

Mit vor der Brust verschränkten Armen baute ich mich sofort zu meiner ganzen Größe auf. Alles in mir ging auf Abwehr.

Sie stellte sich auch gerade hin, wohl um größer und weniger mitleiderregend zu wirken und legte ihre Hand auf meinen Unterarm, als wolle sie mich festhalten oder sich an mich klammern.

Ich sah einen roten Büstenhalter unter der dünnen, schwarzen Jacke aufblitzen, der farblich zu dem engen, kurzen Rock passte. Für die schwarzen Stiefel, die sie trug, war es viel zu warm.

„Das ich dich noch mal wiedersehe“, sagte sie mit zittriger, gequälter Stimme, schob sich dicht an mich heran und sah zu mir auf.

Ich stieß sie von mir weg und raunte: „Sam ist da vorne. Du solltest zu ihm gehen. Er checkt hier gerade die Lage!“

Ihr Blick wurde traurig und sie schien meine Worte nicht zu registrieren, die ihr eigentlich eine Gänsehaut über den Rücken treiben sollten. Leise, fast anklagend, sagte sie: „Wäre ich dir nur niemals begegnet.“

Dieses Mädchen dachte wohl, mein Gewissen mit diesem Satz freikratzen zu können. „Saskia, alles was dir widerfahren ist, hast du dir selbst zuzuschreiben. Ich habe dich nicht darum gebeten, dich bei Sam auszuheulen. Dass das klar ist!“

Es gibt nichts Schlimmeres, als auf diese verbitterten Weiber zu stoßen, die ihren Wert in meinem Leben völlig falsch eingeschätzt hatten.

Sie schüttelte betrübt den Kopf und sah vor sich auf den Boden. „Erik, ich habe dich geliebt! Wirklich geliebt!“ Sie sah mich wieder an. „Wie konntest du mir das antun?“

Ich ließ ein verächtliches „Tzzz!“, erklingen, dass ihr Tränen in die Augen trieb und zischte: „Ich habe dir gar nichts angetan. Bei mir gibt es kein zweites Mal und keine Beziehungsscheiße. Das habe ich dir gesagt. Das du nicht hören wolltest war nicht meine Schuld. Ich habe dir niemals einen Grund gegeben zu glauben, dass du etwas Besonderes in meinem Leben darstellst, oder? Ich habe dich nicht anders behandelt als alle anderen.“ Damit wollte ich ihr klarmachen, dass es viele wie sie gab und sie das schließlich auch wusste.

Sie stand nur da und sah mich an und eine Träne lief über ihre Wange.

In mir rührte sich nichts. Saskia war eine Zeit lang mit mir in die Uni gegangen. Sie war damals ein Semester über mir gewesen, als ich kurz vor meinem dritten Semester Psychologie stand und wahrscheinlich der Grund, warum ich schließlich abbrach. Sie war immer in meiner Nähe und tat alles, um mir zu gefallen. Sie kaufte vor allem immer wieder Drogen bei mir und versorgte so ihre Freundinnen. Ich hatte schnell heraus, dass sie das nur tat, um mit mir sprechen zu können. Denn nur wenn ich Drogen vertickte, war ich für sie ansprechbar. Sie interessierte mich sonst nicht im Geringsten. Aber als wir uns auf einer Party begegneten, nahm ich sie mit zu mir nach Hause. Ich wollte an diesem Abend einfach nur meine angestauten Aggressionen loswerden und sie muss sich wer weiß was erhofft haben.

Ich weiß noch, dass sie glaubte, in meinen Armen sterben zu müssen und mir ewige Liebe schwor. Gott, war ich froh, als ich sie vor die Tür setzen konnte. Ich sagte ihr, dass ich niemals jemanden lieben könne und sie mir nichts bedeuten würde. Mein Standartspruch in solchen Situationen.

Ihr Liebesgesäusel war natürlich auch völliger Quatsch gewesen und ließ mich vollkommen kalt. Ich liebe niemanden und niemand liebt mich. Das steht für mich fest, wie das Amen in der Kirche und wurde in den letzten Jahren zu meiner festen, unumstößlichen Lebensphilosophie. Und wenn mich jemand vom Gegenteil überzeugen wollte, konnte ich darüber nur verächtlich lachen.

Was diese Personen zu sehen glauben, ist nicht, was ich bin. Niemand kennt mich und mein wahres Ich wirklich … und niemand weiß, dass selbst mein angeblich schöner Körper ein Geheimnis birgt, dass niemand lieben kann.

Damals wurde sie zu meiner Stalkerin, die nicht mal Schläge dazu bringen konnte, mir fern zu bleiben und sie versuchte letztendlich über Sam an mich heranzukommen. Er ließ sie an seinen Eingewöhnungspartys teilnehmen und erzählte ihr, dass ich auch öfters dort auftauche und mitmische. Sie müsse nur lang genug warten.

Sie wartete und hoffte … bis sie vollkommen abhängig war und sich ihr Geld für ihre Drogen verdienen musste.

Ich erfuhr erst später, wie Sam sie reingelegt hatte. Aber es interessierte mich nicht weiter, weil ich zu der Zeit mein Studium abbrach und viel mit Daniel unterwegs war. Als ich eines Abends mit Daniel bei Sam auflief und ihr dort begegnete, war sie schon völlig fertig und bettelte mich an, sie aus dem Sumpf zu holen, in dem sie steckte. Ich machte ihr klar, dass ich mit so etwas wie ihr nicht mal in einem Raum sein wollte, was sie fast zusammenbrechen ließ.

Natürlich ging ich, um meine Worte zu unterstreichen und weil ich Angst hatte, dass sie mich wieder auf Schritt und Tritt verfolgen würde.

Das war das letzte Mal, dass ich ihr begegnet war, bis Mittwochabend halt. Da stand sie vor mir wie ein Häufchen Elend und wischte sich die Tränen weg. Dabei wirkte sie erschreckend unkoordiniert. Die Drogen hatten sie schon völlig kaputt gemacht und sie wirkte wie ein Zombie.

Ich verstehe nicht, wie man auch noch dafür zahlen kann, um mit so etwas Sex zu haben.

So sah ich nur angewidert auf dieses Mädchen herab und hatte nicht ein Fünkchen Mitleid. Sie war mir genauso egal, wie ihr Schicksal.

Aber vielleicht ist sie einer der Gründe, warum mich dann Donnerstag mein Glück verließ.

Ich bin eigentlich nicht abergläubisch, wenn man mal davon absieht, dass ich auf der Kirmes zu dieser Hellseherin gehe, wenn die dort ihr Zelt aufschlägt, um mir meine Packung Zukunftsvision zu holen. Daniel hält mich deswegen wirklich für verrückt. Ich finde es eher cool und hoffe, ihre Aussagen geben meinem Leben eine positive Richtung, schon allein dadurch, dass sie positive Energie über mich ausschüttet, wenn sie mir sagt, dass mir etwas Gutes widerfahren wird. Und das hat sie beim letzten Mal getan.

Sam kam wütend auf uns zugestürmt. Saskia sah ihn nicht kommen, weil sie mich anstarrte. Erst als er sie in die Haare packte und zurückzog, reagierte sie und riss wie in Zeitlupe den Mund zu einem erschrockenen, lautlosen Schrei auf.

„Wo warst du? Kerstin sagte, du warst heute noch nicht auf deinem Platz. Verdammte Scheiße, macht denn jeder nur noch was er will?“, schrie Sam, wobei sein tätowierter Schädel sich rot verfärbte und seine muskulösen, tätowierten Bizepse sich anspannten, als wollten sie platzen. Seine hellblauen Augen hatten einen grimmigen Ausdruck, dass ich lieber nicht in der Haut seiner Mädels stecken wollte.

Er zerrte sie von mir weg und die Straße hinunter. Sie schrie und schlug um sich. Ich hörte sie noch meinen Namen schreien, drehte mich um und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Ich wollte nicht auf Sam warten. Meistens endeten seine Wutausbrüche auch erst, wenn er eins der Mädchen in sein Auto zerrte und mit zu sich nach Hause nahm.

Ich hatte keinen Bock, mich mit Saskia auch noch in einem Auto wiederzufinden.

Auf dem Weg nach Hause kamen mir seltsame Gedanken. Ich dachte an den kleinen Falter und Bilder kamen mir in den Sinn, wie sie als leicht bekleidete, drogenabhängige Nutte vor mir stehend mich weinend ansah.

Seltsamerweise kroch Unmut in mir hoch und das Gefühl, sie auf keinen Fall so enden sehen zu wollen.

Ich griff verwirrt darüber nach einer Zigarette und zündete sie mir an. Als ich am Bahnhof vorbei Richtung Innenstadt ging, kam ich an einem kleinen Park vorbei und blieb an einer Hausecke stehen, um zu checken, ob dort der Typ herumhängt, dem ich das Geld aus den Rippen leiern wollte.

Hektisch rauchte ich meine Zigarette auf und als ich ihn zwischen den Alkis und Drogensüchtigen nicht ausfindig machen konnte, setzte ich meinen Weg fort. Dabei musste ich wieder an den kleinen Falter denken.

Ich entschied gnadenlos: Wenn der kleine Falter so enden würde wie Saskia und einige andere Mädchen, die ich eine Nacht durchkaute und die dann bei Sam oder Teddy landeten, dann muss mir das egal sein.

Aber da war ein seltsames Gefühl, das sich in meinen Unterbauch schlich und sich nicht ignorieren ließ. Ich schob den Umstand, dass ich so seltsam drauf war, darauf, dass Daniel mit Ellen einen auf Schmusekurs machte und er mich dafür hängen ließ. Außerdem hatte ich schon länger keinen vernünftigen Sex mehr gehabt und es war Zeit, mal wieder etwas Druck abzulassen. Darum beschloss ich letztendlich, nicht mehr den Typ zu suchen und mir stattdessen in meiner Wohnung einen Porno reinzuziehen, um etwas runterzukommen. Aber irgendwie hatte ich nicht mal darauf wirklich Bock. Als ich zu Hause ankam sogar so wenig, dass ich es ließ.

Die Narben aus der Vergangenheit

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