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Julian

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Das ist ein rabenschwarzer Tag für mich. Meine Freundin Carolin will heute Abend mit ihren Freundinnen ausgehen. Ich bin dagegen und habe ein echt schlechtes Gefühl dabei. Aber Carolin macht einfach dicht und lässt sich nicht auf eine Diskussion mit mir ein.

Ich telefonierte mit Marcel, der mir eine Gefahr durch Carolins Bruder Julian weder bestätigen noch dementieren konnte. Carolins Vater rief an und versicherte uns, dass Julian völlig harmlos und wieder normal ist und ihr durch ihn angeblich keine Gefahr mehr droht. Und von Sam und Teddy, meinen Ziehbrüdern aus dem Milieu, hörten wir auch nichts mehr.

Ich habe demnach nichts in der Hand, was mich berechtigt, ihr einen Abend mit ihren Freundinnen zu verbieten. Zumal auch meine Schwester Ellen fest dahintersteht und mir immer wieder versichert, dass sie schließlich nicht von Carolins Seite weichen wird.

Aber in mir löst es eine Lawine von erschütternden Gefühlen aus.

Während ich die ganze Zeit vorschob, dass ich sie nicht wegen Julian und den beiden Maas gehen lassen möchte, muss ich mir nun eingestehen, dass ich überhaupt nicht will, dass sie ohne mich irgendwohin geht. Sie gehört mir und ich finde es unerträglich, dass jemand mir das streitig machen könnte. In meinem tiefsten Inneren lebt eine beständige Angst, dass jemand kommt und mit ihr das macht, was ich mit ihr machte, um sie für sich zu gewinnen. Es war nicht einfach … aber ich habe sie bekommen. Genauso könnten das auch andere schaffen und der Gedanke macht mich ganz fertig.

Ich bin schließlich kein Traummann und jeder andere ist wahrscheinlich besser als ich. Und mit meiner Vergangenheit, meinen Narben und meiner bisherigen Lebensweise …

Ich glaube, umso mehr sie von mir weiß, umso klarer wird ihr werden, dass ich eigentlich eine Zumutung für diesen Engel bin. Wie lange wird es dauern bis sie das begreift?

Daniel holte Carolin vom Cafe ab, weil er sowieso gerade in der Nähe etwas erledigen musste und ich noch für Walter unterwegs war. Jetzt stehe ich im Wohnzimmer ans offene Fenster gelehnt und rauche schon meine dritte Zigarette.

Vorher war ich nervös durch die Wohnung getigert und Carolin musste mir immer wieder ausweichen, wenn ich ihr auf dem Weg zwischen Schlafzimmer und Badezimmer in die Quere kam. Aber sie beschwerte sich nicht und ihr Blick sagte mir, dass ihr meine Not bewusst ist. Dennoch lässt sie sich nicht erweichen und bleibt zuhause.

Nun ist sie zum Aufbruch bereit und sieht mich immer wieder mit dieser Mischung aus Beunruhigung und Mitleid an. Sie weiß, dass ich nicht akzeptiere, dass sie heute mit ihren Mädels die Stadt unsicher machen will. Aber Daniel hatte mir mehr als einmal ins Gewissen geredet, dass ich sie gehen lassen muss. Alles andere würde nur einen Keil zwischen uns treiben.

Ellen kommt, um Carolin abzuholen und wirft mir auch einen mitleidigen Blick zu. Ich möchte nicht wissen, was sie sehen, wenn sie mich ansehen. Gebe ich ein so erschreckend mitleiderregendes Bild ab?

Ellen kommt zu mir und legt ihre Hand auf meinen Arm. „Ich passe auf sie auf. Mach dir keine Sorgen. Keiner wird ihr zu nahekommen.“

Sie weiß, dass es nicht die Angst wegen Julian oder den Maas ist, die mir so zusetzt, sondern meine Eifersucht, die mich fast ins Grab bringt.

Ich nicke nur, als Carolin aus dem Badezimmer schießt und gut gelaunt ruft: „Wir können los!“

Ich folge Ellen zur Tür, an der Carolin auf mich wartet. Wieder wird ihr Blick weich und ihre Hand streicht über meine Wange. „Bis später, Schatz. Mach dir keine Sorgen. Mach dir auch einen schönen Abend.“

Wie soll dieser Abend aussehen? Sie hatte mir schon einmal gesagt, ich soll mir einen schönen Abend machen und mich amüsieren. Das war, als Marcel sie wenig später vom Alando abgeholt hatte. Selbst da war mir das nicht mehr möglich gewesen … ohne sie. Und da gehörte sie mir nicht mal. Und heute …?

Zumindest funkelt etwas in ihren Augen auf, das meine Gefühle widerspiegelt. Und als sie leise raunt: „Aber brav bleiben!“, weiß ich, sie ist auch nicht ganz frei von einem Gefühl, das sich Eifersucht nennt. Das lässt mich ein wenig aufatmen.

Kurz schießt mir durch den Kopf ihr zu sagen, dass ich ihr das nicht versprechen kann, um sie vielleicht doch daran zu hindern, zu gehen. Aber seltsamerweise hatte Daniel im Vorfeld genau das schon als falschen Weg bezeichnet. „Komm ihr nicht damit, dass du fremdgehst, wenn sie meint, den Abend durchziehen zu wollen. Das ist das Schlimmste, was man tun kann. Dann ist alles Vertrauen weg und man erreicht nur, dass sie sich denkt: Okay, wenn das so ist …“

Daniel ist so viel schlauer in solchen Dingen als ich.

Auf Carolins „Brav bleiben“ murre ich: „Das gleiche gilt für dich“, und kann nicht verbergen, wie aufgebracht ich bin.

Sie schiebt sich auf die Zehenspitzen und bietet mir ihre Lippen zum Abschiedskuss an.

Ich lege meine Hand in ihren Nacken und küsse sie ungestüm.

Ellen sagt diesmal nichts und wartet geduldig. Aber sie geht nicht zu Daniel, der unten bei seiner Wohnungstür wartet, als befürchtet sie, Carolin sonst nicht mitzubekommen.

Ich schaffe es kaum, sie loszulassen und weiß, ich muss es dennoch tun. Als sie hinter Ellen die Treppe hinuntergeht, dreht sie sich noch einmal um, als Ellen sich einen schnellen Abschiedskuss von Daniel abholt. Unsere Blicke treffen sich noch einmal und es ist Daniel, der an Carolin vorbei zu mir hochkommt und unseren Blickkontakt unterbricht.

„Nah komm, lass uns einen Kaffee trinken und sehen, was wir mit unserem mädelfreien Abend anfangen“, sagt er und schiebt mich in die Wohnung zurück.

Ich knurre nur ungehalten: „Das du Ellen so losziehen lässt. Die sieht aus, als wolle sie auf den Strich gehen.“

Daniel lacht laut auf und antwortet kopfschüttelnd. „Erik, sie hat sich nur schick gemacht.“

Ich kann ihn nur verdattert ansehen. Diese hohen Schuhe, ihre Klamotten und die hochgesteckten Haare … Das Einzige, was mich ein wenig beruhigt ist, dass ich genau weiß, wo die beiden hingehen werden und ich eigentlich jederzeit nachsehen kann wie es so läuft.

„Komm, bleib locker. Lass denen jetzt etwas Freiraum und später schauen wir mal nach den beiden“, meint Daniel beschwichtigend und ich nicke viel zu schnell. Er lacht wieder und sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass er mich für völlig durchgeknallt hält. So versuche ich den coolen Gangster nach außen zu kehren - und mache uns einen Kaffee.

Daniel geht schon durch die Tür in den Tanzschuppen, in dem ich gleich Carolin finden werde. Länger hatte ich es nicht ausgehalten, den Ort, an dem sie sich befindet, zu stürmen. Aber vor der Tür fängt mich Ulf mit einigen Freunden ab.

„Ah Erik, dich brauche ich! Wann können wir mal wieder bei dir in der Villa abfeiern? Wir wollen mit ein paar Freunden ordentlich Party like Erik machen“, sagt er grinsend.

Ich will schnell Daniel folgen und habe gar keine Lust, mich mit Ulf auseinanderzusetzen. „In nächster Zeit nehme ich keine Partys mehr an“, murmele ich ausweichend.

Ulf stößt einen seiner Kumpels an und meint wichtig: „Siehste, der ist schon voll ausgebucht!“ Dann wendet er sich an mich. „Aber für einen guten Kunden?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein, keine Chance.“ Ich kann ihm schließlich nicht sagen, dass es sich ausgefeiert hat und ich da auch gar nicht mehr wohne. Es fällt mir sowieso schwer, eine passende Ausrede zu finden, warum ich keine Partys mehr organisiere.

Ulf kramt eine Karte aus seiner Jackentasche und gibt sie mir. „Aber den nächsten freien Termin bekomme ich, ja?“

Was soll ich dazu sagen? Ich nehme die Karte entgegen und nicke nur.

„Super! Und umso früher, desto besser“, meint Ulf noch und schlägt mir freundschaftlich mit der Faust gegen meine Schulter, als wären wir Freunde.

Ich überlege kurz, ob ich ihm eine reinhauen soll. Aber ich habe keine Zeit. Ich will jetzt endlich ins Alando gehen und sehen, was Carolin und ihre Mädels machen.

„Gut, also bis dann“, sagt Ulf etwas zurückhaltend, weil mein Killerblick kurz durchblitzte. Es ist erfreulich, dass der wesentlich noch Eindruck schindet.

Ich gehe an ihm vorbei zur Eingangstür ins Alando und einer der Typen raunt zu Ulf: „Der ist aber unfreundlich!“

Das lässt mich zufrieden Grinsen und ich schiebe mich durch eine Gruppe junger Männer zur Kasse und kurz darauf in den großen Raum, in dem ich bestimmt Carolin finde.

Mein Blick gleitet durch die Menge, während ich mich zwischen den Körpern hindurchschiebe.

Ich sehe zur Theke, an der ich Ellen und Daniel stehen sehe. Auf einem Hocker, mir mit dem Rücken zugewandt, sitzt ein blondes Mädchen mit locker hochgesteckten Haaren und es dauert eine Sekunde, bis mir klar ist, dass das Carolin ist, die nicht mehr so aussieht, wie sie bei uns aus dem Haus gegangen war. Eine weitere Sekunde verstreicht, bis ich peile, dass ein ausgesprochen gutaussehender Typ neben ihr steht und gerade seinen Arm um sie legt. Er hat dunkelbraunes, welliges Haar und eine schlanke Figur mit breiten Schultern. Als er den Kopf etwas neigt, sehe ich die Silhouette eines feingeschnittenen Gesichts mit dunklen Augenbrauen.

Daniels Hand greift nach ihm und ich sehe, dass Daniel wütend ist. Sein Blick gleitet an dem Typ vorbei in mein Gesicht und er lässt seine Hand wieder sinken. Auch Ellen sieht mich an und ich schiebe die letzten Hindernisse, die mich daran hindern, an die Theke zu gelangen, energisch zur Seite. Ich stürme regelrecht auf Carolin und den Typ zu, packe seinen Arm mit einer Hand und reiße ihn von Carolin runter, die sich nicht weniger energisch des aufdringlichen Typs zu entledigen versuchte.

Ich drehe ihm wütend seinen Arm auf den Rücken und er verzieht erschrocken und vor Schmerzen das Gesicht. Gnadenlos und von einer unbändigen Wut getrieben, drücke ich seinen Arm noch höher, was ihn fast in die Knie gehen lässt und fauche: „Alter, such dir eine andere. Die gehört mir!“

Ich nehme am Rande Michaela wahr, die mich anstarrt. Aber sie hat mittlerweile wohl geschnallt, dass unsere gemeinsame Nacht keine Bedeutung hatte und sie nicht dazu berechtigt, sich einzumischen.

Carolin lässt sich von ihrem Hocker rutschen und greift nach meiner Hand, die den Typ unerbittlich in die Knie zwingen will. Ihr Blick trifft meinen und sie brüllt gegen die Musik an: „Das ist Julian - mein Bruder!“

Langsam erfasse ich ihre Worte. Der Typ soll Julian sein?

Nur widerwillig lasse ich den Arm los und Daniel, sowie Ellen starren Carolin fassungslos an.

Der Kerl richtet sich auf und reibt sich die Schulter. Sein Blick aus tiefdunkelbraunen Augen trifft mich und ich kann diesen Enrique Iglesias Verschnitt an Carolins Seite kaum ertragen.

„Das soll dein Bruder sein?“, frage ich aufgebracht.

Carolin nickt. „Das ist Julian. Mein und Tims Bruder“, erklärt sie eindringlich, als müsse ich ihr jetzt unbedingt glauben. Und tatsächlich, mit Tim hat er eine gewisse Ähnlichkeit.

„Oh Mann! Verdammte Scheiße!“, flucht Daniel in dem Moment und Ellen fragt ihn verdattert: „Kennst du ihn?“

Carolin ist blass und schiebt sich mit unsicheren Bewegungen auf den Hocker zurück.

Julian reibt sich immer noch den Arm und sieht sie mit einem Blick an, als solle sie ihn trösten.

Ich kann nur fassungslos von diesem Schönling in Dunkel auf meinen hellen Falter starren. Und Carolin sieht mich an, als hätte ich ihr den Arm umgedreht.

Daniel antwortet Ellen gerade: „Aus der Uni. Er sprach mich an, ob ich ihm sagen kann, wo wir immer zum Feiern hingehen, weil er sich hier nicht auskennt. Poor, es tut mir leid!“, höre ich Daniel zerknirscht antworten.

Julian richtet sich zu seiner ganzen Größe auf und sieht Daniel verächtlich an. „Hat ja auch gut geklappt. Ich habe auf deine Empfehlung hin auch gleich gefunden, was ich gesucht habe. Ich hatte gar nicht erwartet, meine Schwester so schnell hier in der Stadt zu finden.“

Carolin wird eine Nuance blasser und ich starre Julian wütend an. Er ist fast so groß wie ich, hat aber bestimmt nicht meine Kraft. Er ist allerdings weitaus durchtrainierter als Tim, was wohl auf seine Zeit im Knast zurückzuführen ist. Ich weiß nur zu gut, dass man dort zum Liegestützenjunkie wird, um die Zeit totzuschlagen und um sich abzureagieren.

„Was willst du von Carolin?“, brumme ich und weiß, ich habe meinen Killerblick drauf. „Halt dich von ihr fern! Du tust ihr nicht noch einmal etwas an.“

Carolins Bruder wirkt erschrocken. „Habe ich auch nicht vor! Ich will nur, dass sie mir verzeiht und dass wir wieder wie früher Geschwister sein können und ich sie sehen kann. Mehr will ich nicht. Ehrlich!“ Seine Stimme klingt mit jedem Satz flehender.

„Das sollen wir dir glauben? Du hast sie das letzte Mal schlimm verletzt“, knurre ich aufgebracht. Mein Blick gleitet von dem Iglesias-Gesicht in Carolins, als sie mit unsicherer, dumpfer Stimme raunt: „Julian …!“

Alle Blicke richten sich auf sie. Auch Julian sieht sie verunsichert an.

„Julian, wie stellst du dir das vor? Du kannst nicht einfach wieder in mein Leben platzen und so tun, als wäre nichts gewesen. Du hast mich unter Drogen gesetzt, dass ich dachte, ich muss sterben, und das zweimal. Du hast Tim vor meinen Augen übel zugerichtet und uns beide glauben lassen, dass du uns umbringen wirst. Außerdem hast du mir mit einem Messer in den Hals geschnitten, dass ich fast dabei draufgegangen bin. Und jetzt tauchst du hier auf und meinst, ich muss dich als deine Schwester in die Arme schließen und es ist alles vergessen?“ Carolin klingt erschreckend aufgebracht und Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihre Hände zittern und auch ihr ganzer Körper beginnt zu vibrieren.

Ich schiebe Julian unsanft aus dem Weg und schlinge meine Arme um ihren zitternden Körper. „Beruhige dich. Es kann dir nichts passieren. Komm, ich bringe dich nach Hause. Atme tief ein und versuche dich auf deine Atmung zu konzentrieren“, raune ich ihr eindringlich zu und hoffe, sie beruhigt sich und driftet nicht erneut in einen Zusammenbruch.

Sie sieht mich nur aus ihren tränenverschleierten Augen hilflos an, dass es mir einen Stich versetzt.

Ellen kommt an unsere Seite und legt Carolin ihre Hand auf den Rücken. Sie sieht genauso besorgt aus, wie ich mich fühle

„Ganz ruhig“, raunt auch sie aufgebracht und wirft mir einen verunsicherten Blick zu.

„Was ist mit ihr?“, höre ich Julian hinter mir fragen und würde ihn am liebsten mit einem Faustschlag ins Jenseits befördern. Aber dafür müsste ich Carolin loslassen.

Ellen sieht ihn mit wütendem Blick an und brüllt: „Sie steht wegen dir ständig kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Also lass sie in Ruhe!“, und Daniel schubst Julian noch weiter von uns weg.

Der steht nur da und starrt uns an.

Sabine und Susanne fragen, was los ist und das kleine Dickerchen taucht neben Ellen auf und flüstert: „Gibt es Stress wegen diesem Typ?“

„Komm, wir gehen“, sage ich und nicke Daniel zu.

Als ich Carolin vom Hocker ziehe, merke ich, dass sie kaum stehen kann. Ich greife fest um ihre Taille und bringe sie zum Ausgang, ohne großes Aufsehen zu erregen. Nicht, dass noch jemand die Polizei verständigt.

Daniel folgt uns und hält die Tür nach draußen auf.

„Hol das Auto“, sage ich und er sprintet los.

Ellen taucht an Carolins anderer Seite auf und schiebt ihren Arm um sie, um sie zu stützen. „Nicht schon wieder! Soll ich Dr. Bremer anrufen?“, fragt sie.

„Nein, ich denke, das kriegen wir allein hin. Sie muss bloß nach Hause“, antworte ich ihr und Daniel kommt mit dem Mustang vor uns zum Stehen.

Ich bin froh, als ich endlich mit Carolin im Auto sitze und Daniel uns nach Hause fährt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Carolin lehnt mit blassem Gesicht an meiner Brust und noch immer laufen ihr Tränen über das Gesicht. Aber sie scheint das gar nicht wahrzunehmen.

Daniel lenkt den Wagen auf unseren Hof und lässt den Motor ausgehen.

„Erik, hey, sie wird schon wieder!“, versucht Ellen mich zu beruhigen.

Ich schüttele nur mit diesem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit den Kopf. „Ich kann nichts tun! Gar nichts! Ihr Bruder wird sie niemals in Ruhe lassen und irgendwann bricht sie ganz zusammen. Und dann?“, antworte ich ihr und sehe in Carolins blasses Gesicht.

Ellen zieht nur die Schultern hoch und steigt aus, um uns herauszulassen.

Ich ziehe Carolin aus dem Auto. Sie scheint aller Kraft beraubt zu sein und von Ellen und Daniel flankiert, trage ich sie in unsere Wohnung hoch und lege sie ins Bett.

Ellen zieht ihr die Stiefel aus und ich hülle sie in die Bettdecke ein. Carolin öffnet nicht mal mehr die Augen.

Ich streiche ihr die Haare zurück und hauche ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr Gesicht verliert alle Anspannung und sie scheint zu wissen, dass ich da bin. Die Decke noch ein Stück höher ziehend, lasse ich sie schlafen, etwas dadurch beruhigt, dass sie zumindest meine Nähe als beruhigend empfindet.

Ellen und Daniel warten in der Küche auf mich. Daniel kocht uns einen Kaffee und Ellen steht an den Küchenschrank gelehnt. Sie sieht mir entgegen und ich raune: „Sie schläft. Das ist gut. Auch ohne Beruhigungsmittel.“ Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.

„Dass das Carolins Bruder ist“, meint Daniel fassungslos. „Und ich habe ihm auch noch gesagt, wo wir immer hingehen. Ich habe keine Sekunde damit gerechnet, dass der Carolins Bruder sein könnte.“

„Wie solltest du das auch wissen? Der sieht Carolin überhaupt nicht ähnlich“, versucht Ellen ihn zu beruhigen und ich kann das nur bestätigen. Ich hatte mich schon einmal gefragt, wie Carolin an Tim geraten konnte. Er ist mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen so ganz anders als Marcel … und ich. Aber jetzt wird mir klar, dass sie mit diesem dunklen Typus aufgewachsen war. Mit diesem Schönlingsverschnitt.

Ich sehe Ellen an und würde sie gerne fragen, wie sie Julian findet. Aber das kann ich natürlich nicht machen, wo Daniel neben uns sitzt. Und es gibt weitaus Wichtigeres. Wie kann ich Carolin vor ihm beschützen?

Wir trinken unseren Kaffee und Daniel erzählt uns genau, wie Julian ihn in der Uni ansprach und mir noch, wie Julian sich plötzlich Carolin auf der Tanzfläche gegriffen hatte und sie sich versuchte, aus seinem Griff zu winden. Ich kann fast fühlen, wie sie sein plötzliches Auftauchen erschreckt haben muss und wie entsetzt sie gewesen sein muss, als er sie an sich zog. Mir stellen sich die Nackenhaare bei dem Gedanken auf, dass sie völlig in Panik gewesen sein muss. Und ich hatte mich draußen von diesem Blödmann aufhalten lassen.

Ich bekomme von Ellen und Daniel auch noch den weiteren Verlauf des geschwisterlichen Zusammentreffens geschildert, bis zu dem Punkt, als ich Julian ausbremste … und bis drei Uhr am Morgen besprechen wir, wie wir Carolin am besten vor ihm beschützen können. Dann verabschieden sich Ellen und Daniel, und Ellen drückt mich sogar. „Ruf an, wenn du uns brauchst. Jederzeit.“

Ich nicke nur und hoffe, das wird nicht notwendig werden.

Alle Lichter löschend, gehe ich zu Carolin, ziehe meine Hose und mein T-Shirt aus und schiebe mich vorsichtig unter die Decke. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Sie muss schlafen, bis all ihre Ängste und ihr Kummer an Kraft verloren haben.

Das Wetter schlägt um und es beginnt zu regnen. Ich höre das Prasseln der Regentropfen an der Fensterscheibe und bin müde. Aber immer wieder schieben sich die Ereignisse des Abends in meinen Kopf und lassen mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Und zu diesen Gedanken gesellen sich auch noch die an Sam, Teddy und Walter und wie ich einen Moment glaubte, sie würde mich wegen denen verlassen, und dass ich vorher tagelang von einer Unsicherheit getrieben mir nicht sicher war, ob ich überhaupt bei ihr bleiben möchte. Und irgendwo dazwischen gab es auch noch so etwas wie eine Einsicht, dass ich, weil ich sie aus ihrem alten Leben riss, um sie an mich zu binden, eine Verantwortung für sie habe.

Carolin ist sechs Jahre jünger als ich. Ich muss sie beschützen und meine Verantwortung für sie ernst nehmen. Und ich werde das auch. Sie zu verlieren ist für mich erneut undenkbar und ich spüre nun, dicht an ihren warmen Körper gedrängt, dass ich Julian eigenhändig den Hals umdrehe, wenn er ihr noch einmal zu nahekommt oder sie wegen ihm ganz zusammenbricht.

Vielleicht war ich zwischendurch weggenickt. Aber ich habe das Gefühl, gar nicht geschlafen zu haben, als Carolin neben mir erwacht. Sie hatte sich in der Nacht immer wieder aus meiner Umarmung gestohlen und war auch immer wieder dorthin zurückgekehrt, ohne wirklich wach zu werden. Sie hatte sich dann an mich geschmiegt und einmal hörte ich sie ganz deutlich meinen Namen raunen. Es war kein Rufen, sondern ein Seufzen, als wäre mein Name für sie wie ein Segen. Das hatte mein Herz erwärmt.

Fast die ganze Nacht ließ ich mein Leben Revue passieren und wog es mit meiner Zeit mit ihr auf. Daniel hat recht, sie ist das Beste was mir je passiert ist.

Jetzt dreht sie sich zu mir um, sich leicht aus meiner Umarmung windend und sieht mir direkt ins Gesicht.

„Hey, wie geht es dir?“, frage ich sie beunruhigt.

„Ich bin in Ordnung“, antwortet sie mir und ich weiß nicht, wie weit ich ihr glauben kann. „Aber ich bin ganz nassgeschwitzt. Poor, die Hose ist so warm“, murmelt sie.

„Ich wollte dich auf keinen Fall wecken. Ich war so froh, dass du geschlafen hast.“

Carolin lässt ihre Hand über meine Wange gleiten und sie sieht mich besorgt an. „Hast du gar nicht geschlafen?“, fragt sie.

Ich schüttele den Kopf: „Kaum.“

Sie schlägt die Decke zurück, deckt mich aber wieder fürsorglich zu und beugt sich in das Bett zurück, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. „Schlaf ein bisschen. Mir geht es wirklich gut. Ich gehe duschen und komme dann wieder zu dir. Bleib einfach liegen“, raunt sie und ich sehe sie unsicher an. „Komm, schlaf. Du hast über meinen Schlaf gewacht und wenn ich gleich wieder da bin, wache ich über deinen Schlaf. Das nennt man Arbeitsteilung“, sagt sie grinsend und will mir ein gutes Gefühl vermitteln, das sich bei mir nach dieser Nacht aber nicht so einfach einstellen will. Aber ich bin erschöpft und spüre jetzt, wo es ihr scheinbar bessergeht, die Müdigkeit und Erschöpfung durch meine Adern kriechen. Ich lasse mich wieder ins Kissen fallen und sie verlässt das Schlafzimmer. Doch ich will nicht schlafen. Besorgt lausche ich auf die Geräusche in der Wohnung. Und dann ist sie wieder da. Ihre Haare sind noch feucht und sie ist nicht mehr so blass. Scheinbar geht es ihr wirklich gut.

Meine Sorge um sie legt sich noch ein klein wenig mehr und gibt meinem Inneren noch ein wenig mehr Ruhe.

Sie schiebt sich nackt unter die Decke und ich schließe sie in meine Arme. Sie küsst meine Narben und flüstert: „Ich bin wieder ganz in Ordnung. Komm, schlaf, mein Schatz.“

Ich schließe die Augen und lasse mich in die Wärme ihres Körpers fallen, was mein Herz immer mehr beruhigt.

Sie legt ihre Hand auf meine Brust, als wolle sie meinen Herzschlag so zur Ruhe zwingen und flüstert erneut: „Schlaf!“ und ich lasse mich ganz fallen.

Wärme zieht mich aus einem traumlosen Schlaf. Sie breitet sich wie ein Feuer in mir aus und ich spüre meinen Körper reagieren, bevor ich weiß, was das auslöste.

Ich werde vollends wach und spüre Carolins warmen Körper an meinem Rücken, ihre Hand auf meinem Bauch und ihre weichen Lippen zwischen meinen Schulterblättern. Durch meine Lenden rauscht ein Ziehen, als die heiße Hand über meine Hüfte meinen Oberschenkel hinunterwandert und an der Innenseite wieder hochklettert. Nur die Fingerspitzen wandern über meine empfindliche Leiste weiter nach oben und streichen durch meine Haare unter meinem Bauchnabel.

Ich wage kaum zu atmen und eine Erregung packt mich, die mir alle Müdigkeit aus dem Körper zieht.

Die Finger gleiten über meinen Freund, der sich ihnen erwartungsvoll entgegenstreckt. Als sie ihre Hand darum schließt, bin ich verloren. Ich drehe mich stöhnend zu ihr um und raune: „Hey, was machst du mit mir?“

Ich sehe in unschuldige Augen und auf einen schmunzelnden Mund. Nichts zeigt etwas von der Schwäche, die sie gestern noch überrollt hatte. Ihre Lippen senken sich auf meine Brustwarze und ihre Zunge spielt mit dem kleinen, harten Knopf. Ich schließe die Augen und gebe mich den Gefühlen hin, die sie in mir auslöst, während ihre Lippen sich langsam zu meiner Taille hinabküssen und bis zu meinem Bauchnabel wandern.

Meine Bauchmuskeln spannen sich erwartungsvoll an und ich spüre meine Erregung wachsen. Ihre Lippen fangen meinen Freud ein, der sich ihr gierig entgegenstreckt und ich atme hektisch die Luft ein. Meinen Arm über meine Augen legend, versuche ich mich zur Ruhe zu zwingend. Aber alle meine Sinne sind auf ihre Zunge gerichtet, die meine Eichel liebkost.

So geweckt zu werden ist mit keiner Droge der Welt zu vergleichen und ich lasse mich in diesen Strudel aus Gefühlen sinken, die mich erbarmungslos überrollen.

Es ist schon Nachmittag, als ich mich neben sie fallen lasse. Es ist unglaublich, wie sie mich immer wieder hochbringt und mit welcher Intensität wir uns lieben können. Alles ist dann vergessen. Nichts Schlechtes kann mich dann erreichen. Ich bin dann völlig in einer anderen Dimension gefangen. Und das Unglaubliche daran ist, dass dies eine Welt ist, die nur Carolin und mir gehört. Es ist wie eine einsame Insel, zu der wir uns flüchten und auf der es nur uns beide gibt und nur unsere Gefühle. Nichts anderes kann uns dort erreichen.

„Du machst mich fertig“, stöhne ich und sehe in ihre mich mit dieser Zärtlichkeit musternden Augen. Diesen Blick möchte ich niemals mehr missen, denn er versetzt Berge und schließt Tiefen.

Ich ziehe sie dicht an mich heran und gebe mich der Müdigkeit hin, die mich mittlerweile auch immer wieder ausknockt, seit ich ohne Drogen zu leben versuche.

Es ist scheinbar schon Nacht, als ich wieder wach werde. Draußen tobt ein Gewitter, und der prasselnde Regen an der Fensterscheibe riss mich offensichtlich aus meinem Traum. Ich lenkte darin ein Schnellboot über himmelblaues Wasser auf eine kleine Insel zu. Mein Blick fiel hinter mich auf Carolin, die sich in der Sonne rekelte und mich mit diesem Blick ansah, der mich den Gasknüppel noch weiter nach vorne treiben ließ. Auf der Insel wird sie mir gehören …

Zu schade, dass ein Blitz sogar durch meine geschlossenen Augenlieder drang und mich das Donnergrollen des Gewitters weckte.

Mein Magen grummelt und ich stöhne auf: „Ich habe Hunger wie ein Bär!“

Carolin sieht mich an und antwortet mit sanfter Stimme: „Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen.“

„Du denn?“, frage ich sie.

Sie schüttelt den Kopf und ich sehe auf meine Armbanduhr. Es ist kurz vor zweiundzwanzig Uhr.

Mit einem Ruck erhebe ich mich. „Komm, wir beide gehen etwas essen.“

Carolin verzieht das Gesicht und kuschelt sich noch tiefer unter ihre Decke.

Ich ziehe ihr lachend die Decke weg und greife nach ihrem Arm, um sie aus dem Bett zu treiben. „Komm jetzt! Oder soll ich verhungern?“

„Natürlich nicht“, antwortet sie resigniert und schleppt sich zum Kleiderschrank.

Mir kommt eine Idee, und ich gehe ins Wohnzimmer. Vielleicht bringt uns noch jemand Essen?

Tatsächlich habe ich beim Chinesen sofort Erfolg und bestelle uns leckere Entenpfanne mit süßer Soße, Morcheln und Bambussprossen und einen Wein dazu.

Als ich ins Schlafzimmer zurückkehre, steht Carolin immer noch unschlüssig und mit Büßermiene vor dem Kleiderschrank.

Ich greife um ihre Taille und katapultiere sie ins Bett zurück, was sie erschrocken aufschreien lässt.

„Hey!“, murrt sie vorwurfsvoll.

Ich drücke sie auf den Rücken und sehe sie an. „Ich möchte nicht, dass du dich anziehst.“

„Was? Aber ich kann doch nicht nackt gehen!“, brummt sie entsetzt.

„Doch, das Essen wird gebracht. Wir bleiben hier und stellen uns ein paar Kerzen auf und machen es uns urgemütlich … und essen so wie wir sind.“

Carolins Augen leuchten auf und sie meint verwegen: „Gute Idee!“

„Und dann …“, raune ich süffisant grinsend und streiche ihr eine Strähne aus dem Haar.

„Und dann?“, fragt sie genauso lächelnd.

„Und dann machen wir Musik … Blueneck. Und wir schließen die Schalosien und löschen alle Lichter …“

„Ja?“, kommt es fast schon wie ein Stöhnen über ihre Lippen.

„Und dann möchte ich dich so fühlen wie an unserem ersten Abend“, sage ich und spüre ein Kribbeln im Bauch.

„Ja“, antwortet sie und ihre Augen versenken sich in meine und eine Leidenschaft flackert darin auf, die mich sofort reagieren lässt.

Ich atme tief durch und bremse uns aus. „Aber erst Essen wir ganz romantisch. Komm, ab in die Küche und Tisch decken. Wir brauchen Weingläser und Kerzen. Ich will das volle Programm. Und weißt du weshalb?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Weil ich dich liebe und ich so froh bin, dass du wieder einmal eine Hürde genommen und erneut alles überstanden hast. Du bist so unglaublich stark und ich so unglaublich stolz auf dich.“

Meine Worte scheinen sie zu verwirren. Verlegen sieht sie an mir vorbei und schiebt sich aus dem Bett. Carolin hat immer noch nicht gelernt Komplimente von mir anzunehmen.

Ich ziehe mir ein T-Shirt und eine Boxershort an, bevor das Essen geliefert wird. Aber als die Tür hinter dem Lieferanten ins Schloss fällt, steht Carolin schon hinter mir und zieht mir alles wieder aus. Sie wartet nicht mal ab, bis ich die Packungen mit dem Essen und den Wein irgendwo abstellen kann und ihr Blick läuft über meinen Körper, als ich mich abwende und auf die Küche zusteuere.

In der Küche erhellen etliche Kerzen den Raum, es läuft ein Trance Musikmix von You Tube und der Tisch ist schön gedeckt. Das Essen verströmt einen betörenden Duft, als ich die Verpackungen öffne und Carolin schenkt den Wein ein, der gelb leuchtet.

Alles ist perfekt, als sich plötzlich ein Gedanke durch meinen Kopf schiebt, der die Perfektion augenblicklich in sich zusammenfallen lässt.

Carolin kommt zu mir und ihr Blick gleitet erneut über mein Gesicht und meinen Körper.

Ich sehe nichts von einer Unzufriedenheit oder sogar Ekel und doch drängt sich diese alles vernichtende Frage in meinen Kopf. „Sag mal, stören dich meine Narben eigentlich gar nicht?“

Carolin lässt ihren Blick erneut über meine Brust gleitet, diesmal aufmerksam und beurteilend. Sie tritt dicht an mich heran und ihr Zeigefinger streicht ohne Scheu über meine Narbenwölbungen. Ich fühle das wie beim ersten Mal, als sie auf der Tanzfläche im Alando meinen Narben mit dem Finger nachgeforscht hatte.

„Ich habe deinen Körper, so wie er ist, von Anfang an geliebt. Ich glaube schon vom ersten Mal an, als du mir einen Blick auf deinen Oberkörper gestattet hast“, raunt sie ernst und ihre Augen leuchten im Kerzenlicht.

Ich schüttele ungläubig den Kopf. „Wie kann man so etwas lieben?“, frage ich verständnislos.

„Wie kann man so etwas nicht lieben? Er ist wunderschön und deine Narben machen dich zu etwas Besonderem und zu dem, was du bist. Und ich liebe dich, so wie du bist und möchte nichts an dir verändert wissen, außer …“ Sie stockt und sieht zum Tisch, als könne sie so das letzte Wort ungehört machen.

Ihre Worte nehmen mich gefangen, obwohl ich sie keinesfalls nachvollziehen kann. Niemals hätte ich gedacht, dass jemand meine Narben „lieben“ könnte. Für meine Eltern waren sie so schlimm, dass sie sie nicht mal ansehen konnten. Und wenn Eltern den Makel an einem Kind nicht lieben können, wie soll das dann ein Außenstehender? Und die Narben waren mit mir mitgewachsen, als wollten sie niemals das Größenverhältnis verändern, um ihre Intensität nicht zu verlieren.

Dennoch gibt es etwas, das sie nicht an mir mag, und das versetzt mir einen Stich in den Magen. Was ist schlimmer als diese Narben?

„Außer?“, frage ich nach und lege meine Hände auf ihre Oberarme, weil sie einen Moment Anstalt macht, zum Tisch zu fliehen.

Es dauert, bis sie antwortet und ich sehe ihr an, dass sie es auch lieber nicht tun möchte. Aber mein durchdringender Blick lässt ihr keine Wahl. Nun ist es angesprochen worden und muss ausgesprochen werden. Was mag sie an mir nicht?

Leise murmelt sie, ohne mich anzusehen: „Ich möchte, dass ich für dich wichtiger bin als deine Drogen, und dass du mich mehr brauchst als sie.“

Fassungslos starre ich Carolin an. Das übersteigt alles, was mir vielleicht noch selbst eingefallen wäre, und ich muss das erst mal verkraften. Ich lasse sie schnell los und beginne das Essen auf Teller zu verteilen.

„Komm!“, locke ich sie, und möchte dieses Thema lieber vertagen. Darüber muss ich erst mal nachdenken, denn das war eine Antwort, die ich noch weniger verstehen kann als die, dass sie meine Narben liebt. „Und bring deinen Teller mit“, sage ich noch und lächele sie zurückhaltend an.

Wir verschlingen das Essen, weil wir so hungrig sind und es so wahnsinnig gut schmeckt. Dazu gibt es Wein, der eher wie Meet schmeckt. Total lecker und süß. Trotz, dass Carolin hungrig war, schafft sie ihre Portion nicht und füttert mich mit ihrem Essen noch mit. Als ich die Lippen zusammenpresse, um sie etwas zu ärgern, klatscht sie es mir trotzdem an den Mund.

Ich lache und lecke mir über die süßen Lippen. Sie zieht mich zu sich heran und leckt mir über das Kinn, über das die süße Soße läuft.

Das ist der Auftakt zu einer Essenschlacht. Wir schmieren hemmungslos rum und ich vergesse sogar meine Narben und diesen seltsamen Umstand, dass Carolin möchte, dass sie wichtiger als die Drogen für mich ist. Wie kommt sie nur darauf, dass sie das nicht schon längst ist?

Sogar den Reis essen wir auf, bis auf den, der auf uns und auf dem Tisch verteilt ist. Nichts bleibt übrig. Nicht mal ein Tropfen Wein, bis auf den, der auf Carolins Stuhl und auf dem Fußboden gelandet ist, als ich versuchte, ihn aus ihrem Bauchnabel zu trinken. Alles klebt. Carolin, ich, die Stühle, der Tisch und der Fußboden.

Lachend ziehe ich sie vom Stuhl mit der Aufforderung, im Badezimmer schon mal unter die Dusche zu springen. Dabei drücke ich ihr zwei Kerzen in die Hand und raune verschwörerisch: „Wir haben keinen Strom, verstanden? Das ist alles an Licht, was du mitbekommst.“

Sie lacht verwegen und geht mit den flackernden Kerzen Richtung Badezimmer. Ich wische schnell das Gröbste vom Fußboden und mache alle Kerzen aus, außer zweien, die ich mit ins Wohnzimmer nehme. Eine stelle ich bei Carolins Laptop auf und eine auf dem Tisch. Blueneck ist auch schnell gefunden und ich lasse alle Schalosien in der Wohnung herunter.

Endlich kann ich ihr folgen und finde sie mit geschlossenen Augen unter dem heißen Wasserstrahl stehend.

Schnell steige ich zu ihr in die Dusche und flüstere: „Ich habe die Kerzen in der Küche noch ausgemacht. Sonst brennt es nachher noch“, um mein langes Ausbleiben zu erklären.

Wir seifen uns gegenseitig ein und Carolin versucht mich immer wieder mit sehnsuchtsvollen Küssen zu locken. Aber ich weiß, ich darf nicht zu hochfahren. Ich habe noch viel vor und will in dieser Erwartungshaltung noch einige Zeit verharren. „Warte“, hauche ich deshalb und kann über ihren Schmollmund nur lächeln. Selbst beim Abtrocknen muss ich sie ein wenig zurückweisen und dann, als ich sie ins Wohnzimmer ziehe, sieht sie, was ich vorbereitet habe. Ihre Augen funkeln in freudiger Erwartung, als ich Blueneck anstelle. Ich puste eine Kerze aus und decke das Display mit einem Handtuch ab.

Die Wohnung wird nur noch vom Schein einer Kerze erhellt. Langsam drehe ich mich um und sehe Carolin an, die dasteht, als wäre sie festgewachsen. Ihre Augen funkeln.

Ich gehe langsam auf sie zu und meine innere Anspannung steigt. Mir ihre Konturen einprägend, trete ich an den Tisch heran.

„Erik?“, haucht Carolin verunsichert.

Ich bücke mich und puste auch das letzte Licht aus.

Mich packt sofort die Erregung und als meine Hände sich auf ihre Arme legen, ist alles wie an dem Abend, als ich sie zu diesem Deal nötigte, der der Anfang von allem war. Jede meiner Berührungen entlocken ihr ein Seufzen und ich erforsche ihren Körper in dieser Dunkelheit und erinnere mich daran, wie es beim ersten Mal war. Bloß diesmal ist meine Anzahl an Küsse nicht begrenzt und ich schiebe ihr meine Zunge zwischen die Lippen, wann immer ich sie treffe.

„Komm!“, locke ich sie und lege ihre Hände auf meine Brust. Auch sie beginnt mich zu streicheln, zu fühlen, zu genießen … mit allen Sinnen, die die Dunkelheit bis ins Unermessliche steigert. Selbst unsere Küsse werden zu einem Erlebnis der besonderen Art. Wir streicheln uns und küssen uns mit einer Leidenschaft und Hingabe, als wäre es wirklich das erste Mal und doch mit der Intensität, die man nur in einer längeren Beziehung erreicht. Wir lassen nichts aus und in mir tobt das Verlangen wie ein Buschfeuer. Irgendwann ziehe ich sie durch die Dunkelheit ins Schlafzimmer.

Carolin lässt sich ins Bett fallen und zieht mich mit.

Auch diesmal erobere ich sie so wie beim ersten Mal, als sie selbst unseren Deal ausbaute und mir ihr Ja gab, sie ganz besitzen zu dürfen. Und die Erinnerung daran lässt mich kurz das Atmen vergessen.

Was mir damals als ein Erfolg der besonderen Art erschien, den ich erst nicht glauben konnte und daher fast panisch umsetzte, lasse ich jetzt mit allen Sinnen mich noch einmal erleben. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, was dieses Ja von ihr wirklich bedeutet hatte. Ich besaß sie damals schon so viel mehr, als mir bewusst war.

Und Carolin ist diesmal nicht zurückhaltend und wird diesmal nicht von einem schlechten Gewissen gequält. Sie erwidert meine Liebe mit einer Hingabe, die ich damals nur erahnen konnte. Jetzt weiß ich um diese Stärke und fordere diese komplett für mich. Carolin gehört jetzt mir und das darf sich niemals ändern.

Am Montagmorgen habe ich Schwierigkeiten, sie in die Welt zu entlassen. Sie wirkt blass und müde und auch mir gibt die Zeitumstellung, die an diesem Wochenende erfolgte, ein Gefühl der Müdigkeit und Unzulänglichkeit mit.

Sie an mich ziehend, raune ich ihr mit belegter Stimme ins Ohr: „Ich lasse dich so ungern gehen. Am liebsten würde ich mit dir für immer hier in dieser Wohnung bleiben.“ Dabei schweift mein Blick durch unsere vier Wände, die für mich durch Carolin wieder zu einem Zufluchtsort wurden und mit denen ich mittlerweile die schönsten Zeiten meines Lebens verbinde. Hier und bei ihr geht es mir gut.

„Das würde ich mit dir auch lieber“, antwortet sie. „Aber wir müssen los und auch das Leben da draußen meistern.“ Sie sieht mir ins Gesicht und ich weiß, was sie meint. Ich hatte das ganze Wochenende ohne Drogen überstanden und sie ist stolz auf mich. An diesem Morgen hatte ich ihr eine Erwiderung auf das gegeben, was sie mir am Samstag in der Küche gesagt hatte. Als wir fest umschlungen uns noch einige Minuten in unserem Bett gönnten, sagte ich ihr, dass sie meine Droge ist und ich keine andere brauche, solange sie bei mir ist. Sie hatte mir daraufhin geantwortet, dass sie aber nicht ständig bei mir sein kann. Das ist mir natürlich klar, aber ich hatte nur in meiner alten, grimmigen Erikmanier geknurrt: „Ich weiß!“ und fühlte mich wie ein störrisches Kind. Ginge es nach mir, würde ich das ändern.

Nun stehen wir eng umschlungen zusammen im Flur und ihre Augen strahlen in meine. „Hier ist unser Treffpunkt! Hier findest du mich! Und ich habe mein Handy an und wir telefonieren heute Mittag, wenn ich zur Arbeit laufe, okay?“, sagt sie mit diesem Blick, der mir einen wohligen Schauer über den Körper treibt. Doch er kann mir nicht das ungute Gefühl nehmen, gleich ohne sie zu sein.

Ich nicke unzufrieden und mein Blick bleibt grimmig. „Und du passt auf dich auf. Jede Minute des Tages!“, zische ich und küsse sie noch einmal.

An der Wohnungstür klopft es schon ungeduldig und ich weiß, Ellen will sie mitnehmen.

„Natürlich!“, antwortet Carolin lächelnd, greift hinter sich zur Türklinke und öffnet Ellen die Tür.

„Guten Morgen!“, ruft die uns gut gelaunt zu. Aber dann legt sich sofort ein genervter Ausdruck über ihr Gesicht. „Mein Gott, ihr tut ja so, als müsstet ihr euch für Wochen trennen. Komm Erik, lass Carolin los. Es wird Zeit.“

Ich löse meine Umarmung und Carolin gibt mir noch einen schnellen Abschiedskuss. „Bis heute Abend, Schatz“, sagt sie und streicht mir noch einmal über meine Wange.

„Ich hole dich ab“, brumme ich, und Ellen verdreht die Augen.

Ihr geht das alles wieder einmal viel zu langsam und sie zerrt Carolin am Arm von mir weg. „Was ist los? Können wir jetzt endlich?“, brummt sie.

Auf der Treppe geht Daniel an ihnen vorbei. Wir wollen noch schnell einen Kaffee trinken, bevor wir losfahren.

„Hallo Daniel“, begrüßt Carolin ihn.

Er nickt ihr nur zu und kommt zu mir. Ich halte ihm die Tür auf und er brummt ein: „Hey Alter, alles klar?“ und begrüßt mich mit unserem alten Handschlag.

„Sicher“, murmele ich, und gehe ihm voraus in die Küche, um uns einen Kaffee zu kochen.

Schwerfällig lässt Daniel sich auf einen Stuhl sinken und murrt: „Was für ein Wochenende. Echt ätzend langweilig und dazu noch so ein scheiß Wetter. Und die Zeitumstellung gibt einem den Rest.“

Ich drehe mich nicht zu ihm um und lasse die zweite Tasse Kaffee durchlaufen. Mein Wochenende war, trotz dem schlimmen Beginn am Freitagabend, wirklich nicht langweilig und schon gar nicht ätzend und das schlechte Wetter hatte ich nur am Rande registriert.

„Nah, Carolin hat wenigstens das mit Julian gut weggesteckt, wie es scheint“, brummt er, als ich nicht antworte.

Ich stelle die Kaffeetassen auf den Tisch und hole Milch und Zucker. „Ja, hat sie. Sie ist wirklich ein Stehaufmännchen, wie du schon sagtest.“

Daniel schüttelt den Kopf. „Dass dieser Typ ihr Bruder ist!“

„Ja, unglaublich. Sie ist so hell und er so dunkel. Aber er ist ja auch nur ihr Halbbruder. Er muss wohl schwer nach dem Vater gehen … wie Tim“, antworte ich und lasse Zucker in meine Tasse rieseln.

„Geht Carolin denn nach ihrem Vater?“, fragt Daniel mich und ich hebe nur unwissend die Schulter. Ich kenne ihre Mutter nicht und weiß nicht, wem sie wirklich ähnelt.

Wir trinken schweigend unseren Kaffee und machen uns dann auf den Weg zur Uni. Ich ertappe mich dabei wie ich immer wieder nach Julian Ausschau halte, sehe ihn aber nirgends. So ein Enrique Iglesias Verschnitt fällt hier sofort auf.

In einer kurzen Pause vor der letzten Lesung rufe ich Carolin an. Ihr geht es gut und Ellen bringt sie zum Cafe. Die ruft zur Bestätigung ein: „Hallo! Nerv nicht rum!“ ins Handy.

Ich erinnere Carolin daran, dass ich sie am Abend abhole und sie auf alle Fälle auf mich warten soll. Dass Julian ihr am Freitag so auf die Pelle rückte, beunruhigt mich. Ich kann einfach nicht einschätzen, wie weit er gehen wird, um erneut an Carolin heranzukommen.

Als ich abends das Cafe betrete, räumt Carolin gerade das letzte Geschirr in die Spülmaschine. Ich setze mich auf meinen Platz und sie kommt wenig später mit einem Cappuccino mit einem Schaumherz, dass sie mir stolz präsentiert, zu mir.

Ich ziehe sie an mich und küsse sie. Ich weiß, sie mag das nicht. Aber es ist niemand im Cafe, den das aufregen könnte.

Zehn Minuten später verlassen wir den Laden und gehen zu dem türkischen Imbiss, um einen Döner zu essen.

Carolin ist blass und ich frage mehrmals, ob etwas vorgefallen ist und ob es ihr gut geht, bekomme aber keine vernünftige Antwort. Darum beschließe ich Ellen auszuhorchen.

Zu der ziehe ich Carolin, als wir nach Hause kommen. Statt in unsere Wohnung zu gehen, machen wir einen Abstecher zu Daniel. Wir finden Ellen auf dem Sofa und sie sieht sich mal wieder irgend so einen Schwachsinn im Fernsehen an.

Ich lasse mich neben sie auf das Sofa fallen und ziehe Carolin auf meinen Schoß. Daniel reicht jedem ein Bier und setzt sich in den Sessel.

„Und, alles in der Schule glattgelaufen?“, frage ich Ellen ohne Umschweife.

Sofort brummt sie aufgebracht: „Ey, voll der Hammer! Michaela hat die Seiten gewechselt. Die ist jetzt scheinbar mit Julian zusammen.“

„Scheiße!“, raune ich. Mir kommt sofort in den Sinn, dass sie schon hier bei Daniel auf dem Hof war. Weiß sie, dass Carolin hier wohnt?

„Diese blöde Schlampe“, brumme ich aufgebracht. „Die wird ihm alles stecken, was er wissen will. Sie weiß immerhin, wo Daniel wohnt. Zumindest wohntest du damals noch nicht hier“, wende ich mich nachdenklich an Carolin. „Hoffentlich kann Julian nicht eins und eins zusammenzählen.“

„Leider ist er viel klüger als ich“, antwortet Carolin nur.

Wir trinken unser Bier und versuchen uns mit belanglosen Sachen von dem leidigen Thema abzubringen. Aber mir kommt immer wieder in den Sinn, was Michaela alles von uns weiß. Sie war sogar in der Villa. Und sie ist mehr als wütend auf mich, weil ich sie so abservierte, nachdem ich sie in meinem Bett hatte. Hoffentlich ist das jetzt keine Retourkutsche?

Als ich später mit Carolin in unsere Wohnung gehe, ziehe ich sie im Wohnzimmer an mich und raune aufgebracht: „Das war echt ein blöder Fehler … an diesem Abend.“

„Was?“, fragt sie und weiß nicht, was ich überhaupt meine.

„Mich mit Michaela einzulassen. Das war so unnötig und blöd!“, knurre ich wütend über mich selbst. Ich war so lange so ein nichtsnutziges, hirnloses Individuum, dass ich es jetzt gar nicht fassen kann.

„Das lässt sich nicht mehr ändern“, flüstert Carolin resigniert. „Ich habe an dem Abend auch Scheiß gemacht, den ich besser gelassen hätte.“

„Ich frage besser nicht, von was du sprichst. Da Tim mit im Spiel war, kann es aber auf keinem Fall etwas Gutes gewesen sein“, brumme ich.

Sie antwortet nicht und vergräbt sich tiefer in meinen Armen.

Ich muss wieder daran denken, dass Julian sich nun immer in Carolins Nähe schleichen kann. „Wenn Julian mit Michaela zusammen ist, wird er bestimmt öfters an deiner Schule aufkreuzen“, sage ich nach einiger Zeit.

„Das ist egal. Solange er mich in Ruhe lässt“, murmelt Carolin leise und beendet damit das Thema.

Donnerstagabend sitzen wir alle vier in unserer Küche und Carolin telefoniert mit ihrem Vater. Er will scheinbar, dass Carolin zu Besuch nach Hause kommt.

Ich schüttele darüber nur den Kopf. Carolin wird auf keinen Fall nach Hause fahren. Oder wenn, dann nur mit mir zusammen.

Sie steht auf und wechselt ins Wohnzimmer, als Ellen sich lautstark aufregt: „Julian kreuzt jeden Tag an der Schule auf und holt Michaela ab. Dabei sieht er Carolin wie ein getretener Hund an. Und Michaela heult Carolin jeden Tag voll, dass sie ihm verzeihen muss, weil er doch sooo traurig ist.“

Ich kann es nicht fassen. Carolin hatte das mit keinem Wort erwähnt. Offenbar muss ich Julian mal den Kopf zurechtrücken und wenn es sein muss, Michaela gleich mit.

„Wir müssen wohl ein ernstes Wort mit Julian reden“, knurre ich, an Daniel gerichtet.

Im selben Moment erscheint Carolin wieder in der Tür und Daniel nickt nur bestätigend. Carolin scheint das nicht mitzubekommen und ich bin froh darüber. Sie soll davon besser nichts wissen.

Als wir an diesem Abend im Bett liegen und sie meine Narben streichelt, fragt sie leise: „Erik, habt ihr etwas wegen Julian vor?“

„Warum?“, stelle ich eine Gegenfrage und kann es nicht fassen, dass sie das ahnt.

„Bitte lasst es! Ich möchte, dass ihr euch ganz von ihm fernhaltet.“

Diese Bitte kann und will ich ihr nicht erfüllen. Aber ich kenne sie. Sie wird mir dafür ein Versprechen abknöpfen wollen.

Ich schiebe mich schnell auf die Seite und drücke sie auf den Rücken, um sie zu küssen. Sie versucht mich zur Seite zu schieben, um eine Antwort zu erhalten und ich fixiere ihre Arme über ihrem Kopf, dränge mich zwischen ihre Beine und küsse sie erneut. Ich bin sofort bereit und presse meine Hüfte an ihre und bedränge sie mit meinem fordernden Freund.

Nicht lange und sie gibt ihre Abwehrhaltung auf und erwidert meine stürmische Zuneigung. Das Thema ist erst mal beendet. Doch zu meinem Leidwesen alles andere auch bald. Carolin hat ihre Tage und ich lasse von ihr ab und nehme sie in meine Arme, mich nur noch auf Streicheleinheiten begrenzend, um sie das Thema auch nicht wieder aufnehmen zu lassen. Müde und abgekämpft lässt sie sich bald in den Schlaf fallen.

Ich kann nicht so schnell einschlafen. In meinem Kopf spielen sich hundert Möglichkeiten ab, was ich mit Julian anstellen möchte, um ihm klarzumachen, dass er sich von seiner Schwester fernzuhalten hat. Wenn ich tun könnte, was ich tun möchte, dann hätte er nichts mehr zu lachen.

Am nächsten Tag sind es allerdings nicht Daniel und ich, die Julian auflauern, sondern Julian, der uns auflauert. Wir stehen in der Pause in der Raucherecke, als Daniel mich anstößt und ich mich umdrehe.

Hinter mir taucht Julian auf. Seine dunkelbraunen Augen sehen mich wütend an und er zischt, als ich mich zu ihm umwende: „Erik, auch wenn du dich für den Größten hältst, leg dich bloß nicht mit mir an. Wenn du Carolin nicht mit mir reden lässt oder sie irgendwie manipulierst, damit sie mich ignoriert, dann mache ich dir das Leben zur Hölle!“

Ich muss gestehen, dass ich erst etwas perplex bin. Aber dann knurre ich: „Was willst du Spinner überhaupt? Glaubst du wirklich, ich lasse dich auch nur auf zwei Meter in ihre Nähe kommen?“

Julians Augen verengen sich und er streicht sich mit einer fahrigen Bewegung seine dunklen Haare zurück. Dann stößt er seinen langen, schmalen Zeigefinger vor meine Brust und faucht: „Sie ist immer noch meine Schwester und du hast ihr und mir gar nichts zu sagen. Wenn ich mit dem Finger schnippe, bist du wieder im Knast, wo solche wie du hingehören. Ich weiß alles über dich! Also pass auf, was du tust oder sagst. Ich werde nicht zulassen, dass sie an so etwas wie dir hängen bleibt. Carolin und ich sind Geschwister und werden immer Geschwister bleiben, auch wenn solche wie du schon längst Schnee von gestern sind. Sie wird das irgendwann einsehen. Sie kann mich nicht ewig ignorieren. Also stell dich nicht zwischen uns.“

Ich starre ihn nur an, und er dreht sich um und geht. Jeden anderen hätte ich platt gemacht. Aber hier, heute und bei Julian stehe ich nur da, als wäre ich festgewachsen.

In mir brodelt etwas auf. Er weiß alles über mich und mit einem Wort kann er mich bei ihren Eltern in Misskredit bringen. Und das erscheint mir schlimmer, als die Drohung, mich wieder in den Knast zu bringen.

Daher erscheint mir dann auch der Deal, den wir am späten Nachmittag für Walter zu erledigen haben, wie eine unnötige Gefahr. Das sind die Momente, in denen Julian leichtes Spiel hätte, wüsste er davon. Aber woher soll er das wissen? Bisher hatte er sich angeblich nur bei Mitschülern über mich und Daniel erkundigt, was mir allerdings schon als schlimm genug erscheint. Selbst das, was er da zu hören bekommen könnte, soll Carolins Eltern auf keinen Fall zu Ohren kommen.

Aber bei dem Auftrag verläuft alles reibungslos und Daniel und ich gehen sofort in meine Wohnung hoch, weil in Daniels nicht mal Licht brennt.

Tatsächlich finden wir Ellen dort, die uns gleich entgegenspringt, Daniel küsst und ihn aufgedreht fragt: „Schatz, gehen wir gleich zur Kirmes? Die andern sind da heute Abend auch.“

In mir schrillen sofort alle Alarmglocken. Ich tue so, als hätte ich das überhört und suche Carolin. Aber sie ist nirgends.

„Wo ist Carolin?“, brumme ich eiskalt. Wenn Ellen nur diesen Scheiß im Kopf hat und Carolin nicht abgeholt hat, ist was los!

„Hier, Schatz!“, kommt es vom Badezimmer her und ich atme auf.

„Gut“, raune ich beruhigt. „Ich dachte schon, Ellen hätte dich vergessen. Die hat wieder nur Partys im Kopf!“

Carolin kommt zu mir und küsst mich, was mich ein wenig meine aufgekeimte Wut schlucken lässt. Aber dass die Mädels schon wieder losziehen wollen, lässt meine Wut nicht ganz verrauchen.

„Nah und? Dann wäre ich auch allein nach Hause gegangen“, sagt sie und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln.

Ellen sagt schmollend: „Wenn ich sage, ich hole sie, dann mache ich das auch.“

Wir gehen in die Küche und Carolin ruft, um die Stimmung etwas zu heben: „Wochenenddrink!“

Aus dem Kühlschrank nimmt sie zwei Bier und zwei Alster und verteilt sie. Zu meinem Leidwesen startet Ellen erneut: „Gehen wir heute zur Kirmes? Bitte! Die Mädels sind auch da.“

„Können wir“, sagt Daniel und stupst sie an ihre Nasenspitze. Seine blauen Augen funkeln sie spitzbübisch an. „Aber dann fährst du auch mit mir Karussell.“

„Was immer du willst“, sagt sie grinsend und sieht sich ihrem Ziel schon ganz nah.

„Wir nicht“, sage ich nur und trinke mein Bier.

Zu meiner Überraschung trinkt Carolin nur ihr Alster und sagt nichts. Sie scheint tatsächlich meine Antwort zu akzeptieren.

Aber Ellen will das nicht gelten lassen. „Natürlich kommt ihr mit“, knurrt sie.

„Nein, wir bleiben heute zu Hause. Morgen gerne. Aber nicht heute! Carolin war schon den ganzen Tag unterwegs und jeden Freitag passiert etwas. Sie ruht sich aus und morgen können wir machen, was sie möchte“, antworte ich Ellen mit unerbittlichem Blick.

Und Carolin sieht mich zufrieden an und murmelt: „Ich bin auch wirklich ziemlich kaputt.“

Ich werfe ihr einen schnellen, unsicheren Blick zu. Kein Widerstand heute? Unglaublich!

Daniel beschwichtigt Ellen, weil die schon wieder an die Decke zu gehen droht: „Süße, wir gehen einfach alleine. Morgen kommen die beiden dann mit. Carolin hat wirklich ein strenges Wochenprogramm und es soll ihr doch nicht alles zu viel werden.“

Ellen sieht ihn an, als wolle sie ihn fressen. Doch dann scheint sie die Ausweglosigkeit zu erkennen, in der sie ihr Anliegen von vornherein hätte sehen müssen und nickt nur schmollend. Dafür trinkt sie nun schnell ihre Flasche leer und mahnt zum Aufbruch.

Daniel kann nur genauso schnell sein Bier hinunterkippen und verabschiedet sich von uns, eine wegwerfende Handbewegung machend. Dabei grinst er mich an und ich nicke nur, froh, dass die beiden endlich gehen. Ich bringe sie sogar noch zur Tür und verabschiede sie.

Ellen geht, ohne mich auch nur anzusehen.

Als sie endlich weg sind, rauche ich am Wohnzimmerfenster stehend erst mal eine Zigarette, während ich Carolin in der Küche hantieren höre.

Die Backofentür schlägt zu und Carolin kommt aus der Küche ins Wohnzimmer. Ich sehe ihr entgegen, unschlüssig, ob ich ihr erzählen soll, was heute vorgefallen war.

Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich sofort in besorgt. „Okay, spucks aus. Was ist los?“, fragt sie ohne Umschweife und ich bin irritiert. Woher weiß sie, dass etwas nicht stimmt?

Um Zeit zu schinden, nehme ich eine weitere Zigarette für sie, zünde sie an und schiebe sie ihr zwischen die Lippen. Ich mache das immer noch gerne. Es ist ein Zeichen der Zusammengehörigkeit und ich muss immer daran denken, wie ich es das erste Mal tat und sie so gerne küssen wollte. Und ihren Blick damals …

Mir wird bewusst, dass wir eine Woche keinen Sex hatten, weil Carolin seit dem Wochenbeginn ihre Tage hat. Mir fehlt dieser Teil unserer Zusammengehörigkeit.

Um mich davon abzulenken, entscheide ich mich dazu, ihr von meiner heutigen Begegnung mit Julian zu erzählen. Den Blick wieder aus dem Fenster richtend, raune ich: „Julian!“

„Was ist mit dem?“, fragt Carolin und verschluckt sich fast an dem Zigarettenrauch.

„Er ist heute bei uns aufgekreuzt und hat Ärger gemacht“, murmele ich nur.

„Wie? Was hat er denn gemacht?“, fragt sie.

In mir kocht die Wut bei dem Gedanken hoch, wie er mich zusammengestaucht hatte und ich mich von ihm niedermähen ließ.

„Blöde Sprüche hat er losgelassen. Dass ich dich nicht davon abhalten soll, ihn zu treffen und dass er mich ohne weiteres aus dem Weg räumen könnte, wenn er wollte.“

„Was?“ Es ist fast wie ein Aufschrei, den Carolin entsetzt ausstößt.

„Er hat sich nicht weiter darüber ausgelassen, was er meint. Aber ich habe schon gehört, dass er Mitschüler über mich und Daniel ausfragt. Und ich weiß, was man von mir sagt“, füge ich leise hinzu.

Fassungslos sieht sie mich an. „Was genau kann ihm zu Ohren gekommen sein?“, fragt sie beunruhigt.

Ich antworte nicht sofort. Aber es nützt nichts. Es ist besser, sie weiß Bescheid.

„Drogen, Schlägereien, Knast, nicht gerade zuvorkommender Umgang mit Mädchen. Um nur ein paar Punkte zu nennen“, kommt es über meine Lippen und mir ist unbehaglich zumute. Wie sollen sich Eltern von einem Mädchen fühlen, wenn sie hören, dass der Freund ihrer Tochter das alles zu bieten hat?

„Alles Dinge, die Julian auch verbuchen kann. Zumindest auf die eine oder andere Weise“, meint sie nur. „Außerdem hat er noch versuchten Mord auf der Liste“, fügt sie noch hinzu.

Ich weiß, sie will mich beruhigen. Aber sie versteht nicht, was mich so verzweifeln lässt. „Darum geht es nicht. Was meinst du, wenn er das deinen Eltern erzählt?“, murmele ich.

Sie scheint nicht glauben zu können, dass mich das interessiert und meint dazu nur: „Nah und?“, und fügt etwas belustigt hinzu: „Du willst doch in nächster Zeit nicht um meine Hand anhalten, oder? Also was stört es dich?“

Ich sehe sie ernst an. Sie versteht mich einfach nicht. „Ich möchte dich nicht verlieren“, erkläre ich und schlucke den Kloß hinunter, der sich im meinem Hals gebildet hat.

Völlig verdattert sagt Carolin: „Erik, uns bringt nichts und niemand auseinander!“ Um das zu besiegeln, küsst sie mich auf die Wange. „Und jetzt essen wir erst was. Komm Schatz, und vergiss Julian. Er ist nur sauer, weil ich immer noch nicht einlenke und wieder die liebe Schwester spiele“, zischt sie und zieht mich in die Küche.

Aus dem Herd strömt uns der Duft von Hawaitoasts entgegen. Zumindest kommt mein Appetit wieder, seit ich keine Drogen mehr nehme.

Carolin wirkt beim Essen besorgt und ich weiß, sie macht sich auch Sorgen darum, wie es mit Julian weitergehen soll.

Ich möchte nicht, dass dieses Thema zu übermächtig wird und sie wieder einem Zusammenbruch entgegensteuert. So lasse ich mich von ihren manchmal ziemlich lustigen Geschichten über ihren Arbeitsalltag fesseln und versuche nicht mehr an Julian zu denken. Carolin scheint das gleiche Ziel damit zu verfolgen.

Und dann erzählt sie mir, wie es damals wirklich war, als ich sie das erste Mal vom Café abholte und bevor wir unser heißes Intermezzo in dem kleinen Hinterraum hatten.

„Du hättest die beiden Frauen sehen sollen, die ich da gerade bediente. Die wussten schließlich nicht, dass wir uns kennen und sie fanden, ich müsse ganz schnell den gutaussehenden, jungen Mann bedienen. Und dann wollten die gar nicht wieder gehen, weil sie miterleben wollten, wie wir beide aufeinander reagieren. So, als wollten sie die Entstehung der ersten großen Liebe zweier junger Menschen hautnah miterleben“, sagt Carolin lächelnd.

Ich muss lachen, als ich daran denke, wie ich mich an den Tisch gesetzt hatte und die Damen, die Carolin bediente, sie auf mich aufmerksam machten.

„Ich habe gehört, wie sie dich zu mir schickten und du so ganz verwegen gesagt hast: Nah, dann will ich den unglaublich tollen, jungen Mann mal bedienen." Ich lache über ihren Gesichtsausdruck und sie erwidert schnippisch: „So, habe ich etwas von einem unglaublich tollen, jungen Mann gesagt?“

„Ja, irgendwie so was. Kann auch der superschöne, unglaublich sympathische gewesen sein“, setze ich noch einen oben drauf.

Carolin schüttelt den Kopf und lacht laut auf. „Nein, war das nicht eher so was wie der muskulöse Adonis mit dem Quotienten von Einstein?“

„Ja, das kann es auch gewesen sein“, grinse ich schelmisch und Carolin steht auf und quetscht sich zwischen den Tisch und mir auf meinen Schoß. Ihre Augen funkeln anzüglich. „Gut Adonis. Dann lass uns die Küche aufräumen und schauen, ob du wirklich so gut gebaut und muskulös bist.“

„Geht das denn wieder?“, frage ich beunruhigt.

„Ja. Und ich habe eben die Pille wieder eingeworfen. Wir haben auch einiges nachzuholen und Ellen hätte mich mit nichts heute aus dem Haus gebracht. Nicht, bevor du die Hawaitoasts abgearbeitet hast.“ Sie grinst süffisant.

So ist das also! Sie hatte auch gar nicht vor zur Kirmes zu gehen.

Schnell antworte ich: „Ich bezahle sofort. Hawaitoast … was mag das kosten? Also mindestens ein schönes Vollbad zu zweit, eine heiße Ganzkörpermassage und die halbe Nacht Zuwendungen aller Art“, zähle ich auf. Mir wird heiß und ich kann es gar nicht abwarten, sie endlich wieder in meine Arme zu ziehen und lieben zu dürfen.

Carolin steigt von meinem Schoß. „Ja, klingt gut! Eine angebrachte Bezahlung.“

„Okay, ich lasse das Badewasser einlaufen“, sage ich.

„Und ich schaffe hier eben ein wenig Ordnung. Treffpunkt Badezimmer … in wenigen Minuten. So lange kann ich noch aushalten. Aber keine Minute länger“, sagt sie mit sanfter Stimme, die schon so viel verspricht.

Ich mache einen Schritt auf sie zu, aber sie hebt abwehrend die Hand. „Badewanne“, raunt sie nur.

Ich muss lachen. Würde ich es drauf anlegen … sie hätte keine Sekunde eine Chance. Aber ich füge mich, die Vorfreude auskostend.

Am Samstagnachmittag stehen Ellen und Daniel mit Kuchen vor der Tür.

Ich verstaue gerade die letzten Einkäufe, die ich mitgebracht habe, im Kühlschrank und Carolin beendet die Reinigung des Badezimmers.

Wir hatten am vergangenen Abend, bei heißen Küssen und stürmischen Erkundungen der Körper, das Wasser aus der Wanne verdrängt. Um den Wassermassen auf dem Fußboden Herr zu werden, mussten wir einige Handtücher opfern, die aber das ganze Ausmaß an Staub anzeigten, der sich überall angesammelt hatte. Darum wollte Carolin heute die Zeit nutzen, um die Wohnung zu entstauben und zu wischen. Dafür war ich einkaufen gegangen.

„Kuchen!“, ruft Ellen gut gelaunt und Carolin schickt sie und Daniel zu mir in die Küche, während sie selbst in unseren kleinen Wäscheraum verschwindet.

Daniel begrüßt mich mit unserem Handschlag und wirft einen Blick zurück, ob Carolin in der Nähe ist.

„Und? Alles klar?“, fragt er und ich weiß, er meint, ob ich mit Carolin über Julian gesprochen habe. Warum er allerdings so mit der Tür ins Haus fällt, erfahre ich, nachdem ich bejahe.

„Julian war gestern mit Michaela auch auf der Kirmes. Und nicht nur das! Er war auch den ganzen Abend bei uns“, raunt Daniel leise.

„Glaubst du, das war so geplant, um an Carolin heranzukommen?“, frage ich ihn.

„Ich denke schon.“

„Nah, dann war ja gut, dass wir nicht mitgegangen sind. Und kamst du mit ihm klar?“

„Ging so. Er war den ganzen Abend überfreundlich und hat mich sogar in eins der Karussells eingeladen.“

„Der versucht es auch mit allen Mitteln“, raune ich.

Daniel fügt hinzu: „Aber er ist auf dich ganz schlecht zu sprechen. Er führt sich so auf, als wäre er ein eifersüchtiger Gockel.“ Daniel grinst.

Ich kann nur ernst nicken. Die Gefahr, dass Julian einiges aus meinem Leben den Eltern steckt, ist nicht gebannt.

Carolin kommt zu uns in die Küche und wir beenden das Gespräch sofort.

Ellen sieht ihr lächelnd entgegen. „Bist du schon wieder arbeitswütig?“, fragt sie und kann das scheinbar gar nicht verstehen.

„Ich musste mal wieder sauber machen“, verteidigt Carolin sich und wirft sich auf einen Stuhl.

„Tja, das versteht sie bei mir auch nie“, sagt Daniel.

„Ihr Helden des Alltags habt es echt nicht leicht mit uns Zeiss-Clarkson“, brumme ich mürrisch, weil Daniel und Carolin da mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als mir lieb ist. Fast fühle ich eine Eifersucht auf Daniel in mir hochkriechen.

Wir trinken Cappuccino und essen Erdbeerkuchen. Carolin stochert gedankenverloren in ihrem Kuchenstück herum, während Ellen mich fragt: „Und … heute Abend? Geht ihr mit?“

Ich weiß, noch einen Abend entlässt sie uns nicht aus ihren Klauen. „Von mir aus! Aber erst abends. So um neun.“

Ellen freut sich und wendet sich an Carolin: „Gut, dass war gestern auch echt klasse dort. Ich zeige dir dann voll das schräge Karussell.“

Carolin stochert weiter in ihrem Erdbeerstück herum und reagiert nicht.

„Carolin? Hey, Erde an Carolin. Ich rede mit dir!“, versucht Ellen sie aus ihren Gedanken zu reißen.

Das sind die Momente, wo ich mir wünsche, Carolins Gedanken lesen zu können. Wenn sie so abdriftet, werde ich sofort nervös. Ich hätte auch gerne eine gewisse Kontrolle über diesen Teil von ihr, der sie ab und zu weit weg von mir gefangen hält. Ich hasse das.

„Ähm, ja? Was?“

„Das war gestern echt cool! Und dazu das tolle Wetter! Wir sind überall reingegangen, außer in dieses eine Wahnsinns-Monsterkarussel. Ich schwör dir, das ist der Hammer!“

„Wir können ja vielleicht heute Abend auch zur Kirmes gehen?“, meint Carolin ohne Begeisterung. Sie sieht mich an.

„Um neun! Wir haben das gerade eben schon geklärt. Wo warst du mit deinen Gedanken?“, brumme ich.

„Ach so. Gut!“, sagt sie nur, und isst ihren Kuchen weiter.

Nur weil Daniel und Ellen da sind, entgeht sie einem Übergriff von mir, der sie schon dazu bringen würde, mir zu sagen, was in ihrem Kopf vorgeht. Und ich kann es nicht mal verschieben. Daniel und ich müssen gleich noch zu einem befreundeten Automechaniker, der einige Ersatzteile für Daniels BMW verkaufen will.

Nach dem Kaffeetrinken wollen wir uns auf den Weg machen. Ellen möchte noch bei Carolin bleiben und sie wollen noch einen weiteren Cappuccino trinken.

Ich sehe Carolin unschlüssig an und muss doch schlucken, dass ich hier und jetzt nicht erfahren werde, was sie wieder so weit von mir wegbrachte. Aber dass es etwas Derartiges gibt, wurmt mich tief in meinem Inneren und ist für mich ein unerträglicher Zustand, den ich nur mit Mühe ertragen kann.

Die Narben aus der Vergangenheit

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