Читать книгу Ein verhängnisvoller Wunsch - Sabine von der Wellen - Страница 4
Ein neuer Weg
ОглавлениеEtwas riss Isabel erbarmungslos aus dem wundervollsten aller Träume. „Nein, nicht aufwachen …!“
Lautes Getöse, quietschende Reifen, Gebrüll und jede Menge Schüsse prasselten auf sie ein und ließen sie sich erschrocken aufsetzen. Einige Augenblicke starrte sie noch auf das Szenario auf dem Bildschirm, dann drückte sie mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Sofort folgte Stille und seichte Dunkelheit.
Fassungslos ließ sie sich auf das Sofa zurückfallen und versuchte den unglaublich schönen Traum wieder heraufzubeschwören, den der Kugelhagel im Fernsehen gnadenlos beendet hatte. Oder war es ihr Herz gewesen, das sich aufgebäumt und sie damit in die Gegenwart gerissen hatte?
Ein tiefer Seufzer drang aus ihrem Inneren empor und ließ alles in ihr wohlig und zugleich aufgebracht vibrieren, während sie dem Traum nachsinnierte.
Sie sah sich erneut die Straße vor ihrer Wohnung hinunterlaufen, seltsam verängstigt und verstört, als wäre sie vor etwas auf der Flucht. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war Cedric vor ihr aufgetaucht. Sie hatte ihn die Straße hochkommen gesehen … beschwingt, jugendlich, schön. Seine braunen, welligen Haare fielen auf seine Schultern und seine braunen Augen leuchteten ihr entgegen. Sein Lächeln ließ ihr Herz höherschlagen und seine Schritte wurde schneller, als er sie erkannte. Ja, so war es in ihrem Traum gewesen. Ganz genau so. Er freute sich darüber, sie zu sehen. Es war, als hätte er sie gesucht und endlich wiedergefunden. Als er sie erreicht hatte, nahm er sogar ihre Hand fest in seine, dass es Isabels Herz fast sprengte - und er zog sie mit sich mit, als wolle er sie nie wieder verlieren. Sein Blick war dabei voller Freude auf ihr Gesicht geheftet und er hatte leise aber bestimmt zu ihr gesagt: „Komm Isabel. Ich nehme dich mit zu mir.“
Und sie hatte seine Zuneigung zu ihr regelrecht spüren können, hatte in seinen Augen gesehen, dass er sie wollte und alles in ihr hatte glücklich zu strahlen begonnen. Denn sie wollte nichts anderes als ihn und seine Zuneigung. In dem Moment war sie die glücklichste Frau auf der Welt.
Ein Traum mit Cedric. Sie hatte schon lange keinen mehr geträumt, und daher barg dieser eine gewaltige Kraft, die ihr Innerstes erwärmen konnte.
Nein, lass es nicht wieder zu. Das ist Kinderkram. Cedric ist Kinderkram. Du bist jetzt eine gestandene Frau Mitte dreißig und darfst dich nicht mehr von einem Traum mit Cedric, und nur durch ein Lächeln und Händchen halten, einlullen lassen. Das ist falsch! Alles an den Träumen mit Cedric ist falsch. Du weißt das!
Isabel wusste das tatsächlich. Aber ihn zu sehen und zu fühlen war so unsagbar tröstlich gewesen. Und es weckte die alte Sehnsucht zu ihm, wie jedes Mal, wenn sie in den letzten Jahren von ihm geträumt hatte.
Nein, mach das nicht. Du hast nur verdrängt, was damals wirklich war … wie er wirklich war.
Isabel wollte das schöne Gefühl und die Vertrautheit und Geborgenheit, die sie in ihrem Traum kurz gespürt hatte, nicht verlieren. Auch wenn ihr klar war, dass es nur wieder ein dummer Traum war. Cedric hatte ihr in Wirklichkeit nie auch nur im Ansatz diese Gefühle entgegengebracht. Aber sie hatte viele Jahre ihrer Jugend damit verbracht, sich das zu wünschen und immer wieder auszumalen.
Nun ließen sich die Gedanken nicht mehr zurückhalten. Nun war das Tor zu ihren Erinnerungen aufgerissen und sie ließen sich nicht mehr stoppen.
Isabel schloss betroffen die Augen und ließ sie hochquellen.
Cedric war damals nicht wie in ihren Träumen. Er lächelte fast nie, er schien nicht mal zu Gefühlen fähig zu sein und neigte eher dazu, schnell durchzudrehen. Er erschien vielen damals als seltsam verschlossen und einige Leute hielten ihn sogar für verrückt. Aber Isabel wollte nichts davon wissen. Sie glaubte, dass es die Umstände waren, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war. Und sie wollte ihm beistehen. Es schien ihr, als wäre es ihre Aufgabe, ihm, wobei auch immer, zu helfen.
Aber Cedric wollte diese Hilfe nie. Da war eine Kluft zwischen ihnen gewesen, die sie nicht zu überbrücken geschafft hatte. Und Cedric wollte diese Kluft auch nicht überbrücken, obwohl er bestimmt wusste, was sie für ihn empfand. Während sie alles tat, um ihm nahe zu sein, hielt er sich immer möglichst von ihr fern.
Cedric war damals fast zwanzig und dennoch hatte er sie nie geküsst oder auch nur angefasst. Sie selbst war damals fünfzehn und zu allem bereit.
Als sie sich einmal auf einer Party trafen, was schon unglaublich selten vorkam, tat sie so, als wäre sie angetrunken und setzte sich auf seinen Schoß.
Erst war er etwas pikiert darüber, dann scheuchte er sie schnell auf einen Stuhl neben sich, als würde er sich sonst an ihr verbrennen. Als sie einen erneuten Versuch startete, ließ er sie wenigstens auf seinem Schoß sitzen und sie war einen Augenblick glücklich. Aber er blieb kalt und zurückhaltend und als sie sich in seinen Arm kuscheln wollte, von ihrem Erfolg beseelt, stieß er sie zu Boden.
Es schien immer so, als könne er mit ihrer Nähe nicht umgehen. Dann wurde er nervös und fast ein wenig panisch.
Aber sie war so unglaublich auf ihn fixiert gewesen. Da halfen nicht mal die Sprüche über Cedric, in denen er als durchgeknallt deklariert wurde. Isabel glaubte an das Gute in ihm und nichts konnte die Liebe zu ihm zerstören, bis eines nachts ihr Haus zu brennen begann und ihre Familie gerade noch rechtzeitig daraus fliehen konnte. Es hieß damals, dass Cedric das getan hatte.
Aber sie glaubte das keinen Augenblick. Cedric hätte ihr so etwas niemals angetan.
Sie zogen erst in die nahe Stadt zu ihrem Onkel und dann dort in eine Wohnung, wofür Isabel die Schule wechseln musste. Ihre Eltern wollten nicht in das Haus zurückkehren, obwohl es wieder aufgebaut und erneut vermietet wurde. Isabel erklärten sie nie, warum. Und für Isabel begann ein neues Leben und sie ging bald darauf weit weg in eine Lehre und lernte Detlef kennen.
Mit diesem Brand hatte für sie die erzwungene Abnabelung von Cedric begonnen. Das alles war wie das Bekämpfen einer Sucht gewesen, die sie erst in den Griff bekam, als sie sich auf andere einließ.
Seitdem folgten viele Männer und dennoch träumte sie nur von ihm so unglaublich mitreißend. Dabei hatte sie nie etwas Vergleichbares mit ihm erlebt. Denn den Cedric aus ihren Träumen gab es nicht und seine Ablehnung von damals steckte ihr bis heute in den Knochen. Dabei glaubte sie, dass er sie eigentlich mochte. Sie glaubte es sogar so fest, dass sich dies wohl in ihre Träume hinübergerettet hatte und sie bis heute immer noch bestimmte. Aber was wirklich damals alles geschehen war, hatte sich irgendwie aus ihrem Inneren herausgespült. Sie konnte sich kaum noch an etwas, außer ihren Gefühlen zu Cedric, erinnern, die von ihren Träumen aufrechterhalten wurden. Nur an den Schmerz, als sie gehen musste, konnte sie sich erinnern, auch wenn er heute nur ein Abklatsch dessen war, was sie damals wirklich gefühlt haben musste. Diese Zeit war irgendwie wie mit einem dunklen Tuch überdeckt, dass das wirkliche Ausmaß bestimmt nur übertünchte.
Hatte das eine Bedeutung? Wollte ihr Schicksal ihr damit etwas sagen? Hatten die Träume eigentlich einen tieferen Sinn, den sie nicht erkannte? Sollten sie ihr zeigen, dass er es immer noch für sie war?
Ein Gedanke schoss ihr plötzlich durch den Kopf, den sie gar nicht so schnell greifen konnte, wie er von ihrem Inneren wieder als unmöglich verworfen wurde.
Isabel setzte sich auf und starrte mit großen Augen in die seichte Dunkelheit ihres Wohnzimmers. In ihrem Inneren fing ein Orkan zu toben an.
Vergiss es! VERGISS ES!
Aber dieser Gedanke ließ sich nicht mehr vertreiben. Er schien irgendwo schon festzusitzen und ihr Körper reagierte einen Augenblick mit Panik. Doch da war auch Hoffnung und ein warmer Hauch eines unglaublichen Glückgefühls, das sie verspürte. Genauso wie in ihrem Traum.
Isabel versuchte den Gedanken, der dieses Getöse ausgelöst hatte, zu fassen und hatte Angst, dass er verschwand, wie dieser Traum und ihre Erinnerungen an damals. Darum versuchte sie ihn festzuhalten, aus dem Schleier zu reißen, der ihn in das Vergessen ziehen wollte, und ihn wieder ins Licht zu zerren.
Cedric ist offenbar der Einzige in deinem Leben, zu dem deine Liebe niemals gestorben ist.
Dieser Gedanke drängte sich aber eher resigniert an die Oberfläche. Aber er musste stimmen, sonst würde sie nicht von ihm so träumen. Wenn er sie damals gewollt hätte … sie hätte alles mit ihm durchgestanden. Sie liebte ihn. Aber das war nun alles kalter Kaffee und mehr als zwanzig Jahre her.
Damals war sie noch voller Begeisterung für ein Leben auf einem Gut gewesen, wollte den ganzen Tag Tiere versorgen, Rasen mähen, aus Beeten Unkraut jäten und einen Mann versorgen.
Nein, du wolltest nicht irgendeinen Mann, du wolltest Cedric und du wolltest ihm bei der schwierigen Aufgabe, dieses riesige Gut zu bewirtschaften, helfen. Du hattest das Gefühl, er brauchte diese Hilfe und du wolltest sie ihm geben. Dafür hättest du dich sogar mit Haut und Haaren verkauft.
Isabel schüttelte den Kopf, als ihr klar wurde, was sie damals wirklich alles für ihn getan hätte. Sie hatte diesen Umstand in ihrem Leben völlig verdrängt. Sie war damals zu allem bereit gewesen, wenn er ihr dafür seine Zuneigung geschenkt hätte. Völlig verrückt. Aber das brennende Haus hatte sie davor bewahrt, sich noch tiefer in diese Liebe zu verstricken, die kaum verständlich und nur in ihrer kindlichen Fantasie begründet gewesen sein musste.
Etwas in ihr begehrte dagegen auf. Sie wollte ihre Gefühle für ihn nicht so herablassend sehen. Nicht nach diesem Traum, der sie immer noch in ihrem Inneren tief berührte.
Aber Cedric war mittlerweile auch schon über vierzig. Heute wäre ein Leben mit ihm undenkbar. Sie brauchte die Anerkennung anderer Mitarbeiter, einer Chefin und die Herausforderungen in einer großen Firma. Sie wollte, dass viele Leute sagen: „Die Isabel Iding, die ist wirklich klasse und so schlau!“
Sie fand den Gedanken sogar abschreckend, wieder aufs Land zu ziehen und sich mit Schmutz und Tierdung abzugeben. Früher war sie gerne auf dem Gut gewesen. Heute würden sie keine zehn Pferde dort hinbekommen, um dort zu leben, mal ganz zu schweigen von heiraten und sich abhängig machen.
Aber Cedric schien auch keine Frau an seiner Seite haben zu wollen. Soweit sie wusste, hatte er nie geheiratet. Und auch damals gab es keine Freundin oder andere Frauen in seinem Leben als seine Mutter und seine Schwester. Sie hätte das ändern wollen.
Du warst keine Frau, sondern eine dumme, naive Göre. Was sollte er mit dir?
Er war meistens anderen Menschen gegenüber unnahbar. Auch wenn er manchmal etwas aufzutauen schien, schaffte sie es nie, ihn aus der Reserve zu locken. Nur in ihren Träumen schenkte er ihr Beachtung.
Isabel erstarrte.
Dort hatte sie eine Bedeutung für ihn und dort wollte er sie.
Isabel horchte benommen in sich hinein. Aber ihr Gewissen schien dazu keinen Kommentar abgeben zu wollen. Seltsam!
Aufgewühlt zog sie aus einem kleinen Zigarettenetui eine Zigarette. Mit dem Kerzenanzünder zündete sie sie an und inhalierte den Rauch. Ihr Magen drehte sich augenblicklich und sie musste husten. Es war Wochen her, als sie die letzte Zigarette geraucht hatte. Das Zigarettenetui war eigentlich nur noch für Besucher gedacht, die sich besonders wohl fühlen sollten.
Lüg dich nicht selbst an. Du hast das für Hardy gekauft, damit er immer etwas zu Qualmen hat.
Isabel wartete, doch ihr Gewissen machte keine Bemerkung über die Zigarette in ihrem Mundwinkel.
Sie lehnte sich zurück.
Cedric …!
Isabel konnte nicht fassen, dass ein Traum von ihm sie so niederdrückte und gleichzeitig in den Himmel hob.
Das ist sentimentaler Quatsch. Du bist nur durcheinander. Überlege doch mal, wie nervtötend eure Zusammentreffen früher schon waren. Er wollte dich damals schon nicht!
Offenbar war ihr Gewissen nun doch wieder ganz wach.
Nein, nein, nein! Das stimmte nicht. Irgendwie wollte er sie damals vielleicht doch. Doch er wusste das nur nicht. Damals …!
Isabel strich sich die Haare zurück. Sie schloss die Augen und sah ihn plötzlich wieder vor sich. Er stand vor ihr wie ein leuchtender Gott, lächelte sie an und reichte ihr seine Hand. „Komm Isabel!“ Und sofort spürte sie wieder diese Wärme wie in ihrem Traum.
So ist er nicht. So war er nie! Außerdem ist er nun zwanzig Jahre älter.
Das Gefühl aus dem Traum schmolz in sich zusammen.
Und er wollte sie tatsächlich damals nicht.
Isabel starrte betroffen zum Fenster, hinter dem sich die dunkle Nacht spiegelte, und langsam schlug noch eine letzte Welle des Gefühls in ihr hoch, das der Traum in ihr hinterlassen hatte. Und plötzlich überkam sie sowas wie ein sehnsuchtsvoller Wunsch, Cedric einmal wiederzusehen. Wie er jetzt wohl aussah und ob er immer noch ihr Herz berühren würde, wenn sie ihm noch einmal begegnete?
Betrink dich, nimm eine Schlaftablette oder spring aus dem Fenster. Aber hör auf damit!
Nur einmal! Ich möchte doch nur wissen, ob ich noch immer etwas für ihn empfinde.
Erst langsam wurde ihr klar, was sie sich da gerade wünschte. Einen Moment nahm ihr dieser Gedanke den Atem. Ihr war noch nie in den Sinn gekommen, sich noch einmal Cedric und ihrer Vergangenheit zu stellen. Der Gedanke, ihn wirklich wiederzusehen, ihm gegenüberzustehen und sich mit ihren alten Gefühlen auseinanderzusetzen ließ es in ihrem Bauch seltsam eng werden.
Das kannst du nicht wirklich wollen.
Doch!
Dieser neue Gedanke begann Isabel aufzurühren. Er war erregend und abschreckend zugleich und alles in ihr wollte ihn eigentlich verwerfen. Außerdem, wie sollte sie das auf die Reihe bekommen? Sie hatte ihn seit ihrem 15 Lebensjahr nicht mehr gesehen und konnte doch nicht einfach zu ihm gehen und sagen: „Hallo, da bin ich. Ich dachte mir, ich schau mal, wie du es so hast und ob du mit mir eine Nacht verbringen willst.“
Isabel nahm dieser Gedanke einen Moment lang die Luft.
Plötzlich schien ihr alles so glasklar. Fast war es so, als wäre alles in ihrem Leben nur auf diesen Punkt hinausgelaufen. Sie wollte Cedric wiedersehen, diesen Traum mit ihm endlich verwirklichen und weiter ausbauen, um ihn für ihr restliches Leben als Erinnerung in sich zu tragen … und vielleicht sogar dabei ein Kind mit ihm zeugen.
Dieser Gedanke nahm ihr ganz die Luft. Ein Kind von Cedric! Mit der Erinnerung an ihren Traum gepaart, entstand etwas in ihr, dass sich wie die unsagbare Vorfreude aller Weihnachten und Geburtstage in ihrem Leben anfühlte.
Sie wollte ihn wiedersehen, und vielleicht eine Nacht mit ihm verbringen … nur eine Nacht. Sie wollte ihren Traum einmal Wirklichkeit werden lassen. Mehr nicht.
Dieser Gedanke machte sie ganz schwindelig, weil er auch gleich einen anderen aufkeimen ließ. Vielleicht hätte das Schicksal sogar ein Einsehen und würde ihr wirklich aus nur einer Liebesnacht ein Kind schenken. Fast erschien es ihr so, als könne das nur eine Vorsehung sein, die schon seit immer in den Arsenalen der Welt geschrieben stand und nur auf die Erfüllung wartete. Daher die Träume von ihm. Das Schicksal hatte ihr diese Wegweiser geschickt.
Der Gedanke elektrisierte sie immer mehr.
Überwältigt setzte Isabel sich auf. In ihrem Kopf überschlug sich alles.
Ja natürlich. Wieso sollte sie auf ein Kind verzichten, bloß weil sich kein Hammel finden ließ, der es mit ihr großzog? Sie brauchte niemanden, außer einen Erzeuger. Und den hatte sie schon immer gehabt. Cedric! Er war es früher für sie gewesen und wahrscheinlich schon ihr Leben lang. Wenn er der Vater ihres Kindes werden würde, dann hätte sie alles, was sie sich je gewünscht hat. Dann hätte sie ein Kind - aus Liebe gezeugt und etwas, dass sie für immer mit jemanden verband, dem sie schon vor langer Zeit ihr Herz geschenkt hatte. Auf Ewig.
Isabel griff nach dem Kissen und zog es sich in die Arme. Langsam stand sie auf und schob sich an dem Tisch vorbei.
Außerdem würde sie ihn weiterhin in ihren Träumen haben und es würde darin endlich ein vielzugestaltendes Happy End geben. Und sie würde dieses eine Mal auskosten, es bis ins Unendliche genießen. Denn es würde das letzte Mal in ihrem Leben sein.
So ein hysterischer Quatsch. Du bist doch wohl nicht ganz bei Trost. Das macht der doch nie mit. Oder meinst du, du brauchst dich nur vor ihm zu räkeln und er reißt sich gleich die Klamotten vom Leib? Der wollte dich doch damals schon nicht!
Isabel drückte das Kissen fester an sich. Langsam begann sie sich tanzend zu drehen.
Das schaffe ich schon. Ich muss es irgendwie schaffen! Ich bin kein Kind mehr, dass darauf wartet, dass er den ersten Schritt macht. Ich werde es tun. Ich bin stark und weiß, was ich will.
Ja, das war eine Perspektive. Dies war ein Gedanke, den man ausbauen konnte. Das war ein unglaubliches Ziel für das neue Jahr.
Beschwingt durch diesen Gedanken, der einen aufregenden Gefühlsturm durch ihren Körper jagte, ging sie ins Schlafzimmer. Etwas in ihrem Inneren schien noch nicht daran glauben zu wollen, dass ihr etwas Derartiges gelingen konnte. Doch Isabel wollte daran glauben. Mehr als an alles andere. Es erfüllte ihr Herz mit Liebe und Zuversicht … und Spannung! Einer unbändigen Spannung und Unternehmungslust … und Lust auf das Leben.
„Dort in die Ecke stelle ich das kleine Bettchen oder vielleicht auch eine schöne Wiege mit Spitzenhimmel … und dort passt noch der Wickeltisch hin. Das wird so genial.“
Isabel drehte sich ein paar Mal um sich selbst und tanzte, das Kissen wiegend, durch den Raum. Vor dem großen Spiegel blieb sie stehen. Sie streckte den Bauch aus und strich sich darüber.
„Ich werde immer für dich da sein und die Jagd nach einem Mann fürs Leben wäre mit Cedric im Herzen für immer beendet. Genauso, wie er schon immer in meinen Träumen erschien, würde er auch weiterhin in mir bestand haben. Durch dich!“
Wieder tanzte sie durch den Raum zum Fenster.
Gerade, als sie nach dem Schalosienband greifen wollte, fiel ihr Blick auf das dunkle Fenster gegenüber. Die Glut einer Zigarette wurde sichtbar und verglomm im nächsten Moment wieder. Nur wie ein Schatten war eine Gestalt zu erkennen.
„Ach du Scheiße …“, entfuhr es ihr. „Dieser Spanner!“
Sie ließ schnell die Schalosie herunter und trat vom Fenster weg.
Ob der wohl auf eine Fortsetzung von neulich wartete? Der denkt bestimmt, dass sie öfters so etwas macht.
Sie spürte die Hitze auf ihren Wangen. Hoffentlich begegnet sie ihm nie auf der Straße. Sie würde vor Scham versinken.
Isabel sah wieder in den Spiegel und bemerkte die Röte auf ihren Wangen. Egal! Sie würde sich schon Ende des Jahres keine Sorgen mehr um Männer machen. Für sie gab es nur noch den einen, und sie sah ihn lachend auf sich zukommen, ihre Hand greifen und sie mit sich mitziehen und sie hörte sich fragen: „Cedric, was hast du vor?“
Seine braunen Augen blitzten auf und er flüsterte leise: „Dasselbe wie du.“
Isabels Gewissen murrte aufgebracht: Du bist doch vollkommen verrückt!
Ja! Und es ist so schön, verrückt zu sein.
Doch plötzlich erstarrte sie in ihren Bewegungen. Was ist, wenn Cedric bereits eine Frau hat? Sie hatte nie etwas davon gehört und er galt lange als Junggeselle. Aber das konnte sich durchaus inzwischen geändert haben.
Sie sah sich im Spiegel an und raunte, nun nicht mehr voller Glückseligkeit, sondern eher kampfbereit: „Das finde ich schon heraus.“ Aber etwas in ihr war sich sicher, dass das Schicksal ihren vorgesehenen Plan wieder aufgenommen hatte und es diesmal der richtige Weg war.
Mit diesem neuen Plan im Kopf bekam Isabels Leben einen neuen Aspekt, der sie mit Elan und Vorfreude den Januar überstehen ließ. Dazu hatte sie ihrer Schwester Karin sogar den längst fälligen Besuch abgestattet. Da die mit ihrer Familie in einem Nachbarort und ihre Schwiegereltern sogar im gleichen Ort wie Cedric lebten, hatte Isabel so gehofft an referenztaugliche Informationen zu gelangen. Aber Karin hatte anderes im Sinn. Sie klagte ihrer Schwester ihr Leid wegen ihrer Ehe, und dass Klaus sie betrogen hatte, wahrscheinlich sogar mehrmals, viel auf dubiose Geschäftsreisen fuhr und Karin mit allem allein ließ. Nur auf Umwegen und über einige Hindernisse hinweg konnte Isabel in Erfahrung bringen, dass das Gut der Schneiders immer noch von Cedric allein geführt wurde. Aber mehr wollte Karin über dieses für sie völlig unwichtige Thema nicht sprechen. Schließlich hatte für sie das, was auf dem Nachbarsgut aus Kindertagen stattfand, keinerlei Bedeutung. Sie erwähnte nur herablassend, dass Cedric immer noch der alte zu sein schien und keiner ihn wirklich mochte. Außerdem galt das Gut nicht gerade als Vorzeigeobjekt.
Isabel reichte das. Cedric war allein, höchstens noch unterstützt von seiner Mutter, die aber schon in einem biblischen Alter sein musste. Und die Vorstellung, dass Cedric immer noch sein Leben allein meisterte und von den Einheimischen immer noch abgestempelt wurde, machte sie traurig. Aber für sie hieß das auch, dass sie eine Chance haben würde, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Karin hatte auch zu Cedrics Geschwistern Till und Stefanie nichts gesagt. Sowieso war alles, was sie wollte, ihrer großen Schwester ihr Leid über ihren Ehemann zu klagen und Isabel wollte sich über ihn nicht äußern. Alles, was sie hätte sagen können wäre: „Meine liebe Schwester … nur zu deiner Information: Klaus schmiss sich schon immer auf Gedeih und Verderb an alles Weibliche heran. Ich weiß das, weil ich auch schon eine Nacht mit ihm verbracht habe, ohne ihn länger als drei Drings gekannt zu haben. Außerdem hat er mich damals angebaggert, als du mit Natalie schwanger warst. Aber ich dachte mir, ich erwähne das alles besser nicht …“
Nein, Isabel schwieg. Und raten konnte sie ihrer Schwester auch nichts. Karin hatte diesen Kerl nun mal geheiratet, Kinder mit ihm bekommen und ein Haus gekauft. Das hieß: Alles schlucken.
Isabel konnte und wollte ihr nicht helfen. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun.
Mit der Gewissheit, dass Cedric immer noch Junggeselle war, reifte ihr Plan immer mehr heran. Einige Male war sie drauf und dran gewesen, den Weg in ihr altes Heimatdorf anzutreten, um ein wenig zu spionieren. Aber Isabel tat es nicht, weil sie eine seltsame Furcht davon abhielt. Etwas in ihr befürchtete, dass dann etwas passieren könnte, dass sie alles abbrechen ließ. Was das sein könnte, wollte ihr nicht bewusstwerden. Aber ihr war es lieber, alles nur auf die eine Karte zu setzen und somit alle Bedenken erst gar nicht hochkochen zu lassen. Sie würde sich Urlaub nehmen, den in ihrer alten Heimat verbringen und dort Cedric neu kennenlernen. Das war ihr Plan, den sie sich täglich schöner ausmalte und der damit enden würde, dass sie schwanger und mit Cedric im Herzen ein neues Zeitalter antreten konnte.
Aber bis dahin musste sie den Winter überstehen, in ihrem Job alles wieder in die richtigen Bahnen lenken, zeigen, dass sie unentbehrlich war und die Frühjahrskollektion an den Mann bringen.
Dieser Zeitaufschub war ihr mehr als recht. Denn nichts war schöner, als zu träumen und sich alles immer wieder in den schillerndsten Farben auszumalen. Die wirkliche Umsetzung schob sie immer wieder hinaus, bis dann doch Ende März ihr Urlaub beantragt und das Zimmer in dem Gasthaus ihres ehemaligen Heimatortes gebucht war. Sie hatte gerade ihren siebenunddreißigsten Geburtstag hinter sich und fühlte sich dennoch nicht annähernd so niedergeschlagen, wie all die Jahre zuvor. Vielleicht lag das an den Pillen, die sie sich seit Januar jeden Morgen einwarf. F 35 plus - Das Nahrungsergänzungsmittel für die Frau ab 35 mit Kinderwunsch.
Isabel hatte nach ihrem Entschluss, mit Cedric ein Kind zu zeugen, ihre erschreckend geringe Chance für einen guten Ausgang dieses Wunsches erkannt und sich darüber schlau gemacht, was man tun konnte. Unerwarteter Weise war sie auf dieses Mittel gestoßen, dass sogar von einer führenden Kinderwunschklinik angepriesen wurde und so hatte sie sich eine Dreimonatspackung bestellt. Seitdem nahm sie jeden Morgen eine Pille und hoffte darauf, dass ihr Körper für den großen Showdown gewappnet war, der im nächsten Monat anlaufen sollte.
Aber sie war überrascht, wer alles in diesem Jahr zu ihrem Geburtstag aufgetaucht war. Sie hatte wohl in den vergangenen Monaten eine positive Energie ausgestrahlt, die sich zwar niemand erklären konnte, aber die Isabel zu einem erträglichen Menschen gemacht hatte. Selbst ihre Schwester Karin war mit den Kindern vorbeigekommen, obwohl die beiden sich immer noch nicht oft sahen. Isabel wusste, dass war nicht nett ihrer kleinen Schwester gegenüber, deren Ehe wohl nicht das Gelbe vom Ei war. Aber sie sah sich außer Stande, ihr damit zu helfen und hatte keine Lust in Karins Tief gerissen zu werden. Außerdem befürchtete Isabel, dass Karin doch noch hinter ihren Plan kommen könnte und dann hätte Isabel nichts mehr zu lachen. Schon der Umstand, dass sie mit ihrem Lebenswandel ein Kind haben wollte, hätte Karin erschüttert. Aber auch noch Mutter werden zu wollen, ohne einen Vater dazu haben zu wollen, hätte die ganze Familie gegen sie aufgebracht. Und dass der Erzeuger des Kindes Cedric sein sollte, hätte Isabel eine Einweisung ins Irrenhaus beschert. Deshalb hatte Isabel nervös ihr Schlafzimmer abgeschlossen, als der Besuch anstand. Dort stapelten sich schon einige Zufallsschnäppchen. Wenn sie nun abends in ihr Schlafzimmer kam, besah sie voller Freude die kleine Wiege, die sie in einem Warenhaus günstig erstanden hatte. Die Sonntage verbrachte sie entweder damit, Pläne zu schmieden, oder die kleinen Hosen und Pullover, Strümpfchen und Wickelhemdchen nochmals zu bügeln und zusammenzulegen. Irgendwie waren ihr diese Sachen in den Kaufhäusern, die sie neuerdings Samstagnachmittags unsicher machte, in die Finger geraten. Mittlerweile hingen auch unzählige Spieluhren an der Wand und sie drehte gerne eine nach der anderen auf. Hätte jemand davon etwas mitbekommen, hätte Isabel das erklären müssen. Und sie wollte niemandem etwas erklären.
Isabel fürchtete sich davor, dass ihr jemand ihren Traum zerstörte, bevor sie ihn umsetzen konnte. Denn in ihrem Inneren rumorten oft genug Zweifel, die ihr immer wieder gnadenlos zu verstehen gaben, dass sie einen Plan verfolgte, der nur in ihrem Kopf rosarot war.
Sie ignorierte das geflissentlich und hielt sich vor Augen, dass alles in Gang gesetzt war. Im April wird sie sechs Wochen Urlaub haben, in denen sie in ihre alte Heimat zurückkehren will, um sich ihrer Vergangenheit und dem Mann darin zu stellen. Und bis dahin bekämpfte sie alle Zweifel und Ängste, die immer wieder in ihr hochkrochen und sich nicht immer durch schöne Tagträume ausmerzen ließen.
Dazu gab es in letzter Zeit auch noch etwas anderes, was sie beunruhigte. Isabel bekam in den letzten Wochen oft Telefonanrufe, bei denen sich entweder keiner meldete, jemand schnell auflegte oder jemand sich als falsch Verbunden ausgab. Erst dachte Isabel sich nichts dabei, bis ihr eines Tages der Verdacht kam, dass der Mann, der diesmal falsch verbunden war, der gleiche vom letzten und vorletzten Mal war. Das beunruhigte Isabel dann doch etwas. Dazu kam, dass sie nie jemanden sah, der sich ihr auffällig näherte oder dem sie diese Telefonanrufe zuordnen konnte. Sie glaubte fast, dass dieser Kerl so ein Spinner sein muss, der sich eine Nummer aus dem Telefonbuch sucht und dann eine Zeitlang seine Spielchen damit trieb. Sie machte sich daher keine weiteren Gedanken darüber und vergaß über die Tage des Geburtstagsfeierns ganz, dass es diesen Typ überhaupt gab, als ihr Telefon an diesem Abend erneut klingelte.
Isabel war gerade dabei, die Gläser der Besucher vom Vorabend abzuwaschen und legte das Handtuch zur Seite. Sie ging zu dem kleinen Tisch und nahm den Hörer auf, ein müdes: „Isabel Iding!“, raunend.
Es antwortete niemand. Es war noch nicht einmal ein Atemzug zu hören.
Ach, der wieder! schoss es Isabel durch den Kopf und sie wollte gerade genervt auflegen, als eine Männerstimme bat: „Hallo! Bitte legen Sie nicht auf!“
Isabel wusste sofort, dass es der Mann war, der sich sonst als falsch Verbunden gemeldet hatte.
„Sie kennen mich nicht. Aber ich möchte Ihnen trotzdem alles Gute zu ihrem Geburtstag wünschen.”
Isabel war einen Moment sprachlos und schon im Begriff aufzulegen, als ihr Gewissen sich einschaltete.
Immer höflich bleiben, Isabel.
„Danke …“, raunte sie deshalb, konnte aber den aufsteigenden Unmut nicht unterdrücken „Aber woher wissen Sie, dass ich Geburtstag hatte?“
Die Leitung schien erst tot zu sein. Doch dann räusperte sich der Mann und sagte, ohne auf ihre Frage einzugehen: „Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören.“
Isabel wollte ihn anfahren, dass er seine blöden Anrufe endlich lassen soll. Aber sie brachte es nicht über sich. Diese Stimme hatte etwas Verletzliches und klang zu nett, als dass sie sie wütend machte, und er hatte bisher nichts Blödes oder Perverses gesagt.
„Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie wissen, dass ich Geburtstag hatte.“
Sie meinte, ein Seufzen zu hören. Dann antwortete der Anrufer als Erklärung: „Sie hatten in den letzten Tagen viel Besuch und man brachte Ihnen Geschenke mit.“
Isabel versuchte zu erfassen, woher der Typ das alles wissen konnte, als er plötzlich fragte: „Wenn ich Ihnen ein Geschenk machen möchte, würden Sie es annehmen?“
Isabel wusste wirklich nicht, was sie darauf antworten sollte. Darum fragte sie zurückhaltend: „Warum wollen Sie mir etwas schenken? Ich kenne Sie doch gar nicht und Sie mich nicht.“
Lass dich nicht auf so einen Scheiß ein! Solche Leute sind verrückt und wer weiß, was der wirklich im Schilde führt. Nachher bekommst du eine Briefbombe oder dergleichen frei Haus.
Fast schon entrüstet, rief der Mann in den Hörer: „Das stimmt nicht! Ich habe Sie schon oft gesehen und glaube, sie schon gut zu kennen. Und wenn ich das sagen darf: Ich halte Sie für eine sehr schöne Frau, die ihr Leben sehr gut im Griff hat. Ich mag selbstständige Frauen, die ihre Unabhängigkeit behalten. Und …!“ Er stockte verlegen, bevor er leiser raunte: „Und ich hoffe, dass Sie unabhängig und … frei sind. Ich hoffe das sehr.“
Isabel verstand nichts. Was wollte der Typ? Wollte er wirklich bei ihr anbändeln? Und was heißt, er findet sie schön und emanzipiert und frei? Um das zu wissen, müsste er sie beobachtet haben.
Langsam wurde sie nervös. Ihr gefiel nicht, was ihr alles im Kopf herumzuspuken begann.
„Was verstehen Sie unter frei?“, brummte sie.
Die wohltönende tiefe Stimme antwortete: „Nicht vergeben. In keiner Beziehung. Ich habe in den letzten drei Monaten niemanden gesehen, der ihnen etwas zu bedeuten scheint.“
In Isabels Kopf überschlug sich alles. „In den letzten drei Monaten?“
Einen Moment schien ihr Gegenüber zu überlegen, was er noch preisgeben sollte. Doch dann raunte er: „Ich bin vor drei Monaten hergezogen. Aber ich bin viel geschäftlich unterwegs. Daher kann es natürlich sein, dass ich mich irre. Dann täte es mir leid, dass ich Sie belästigt habe.“
Der Typ stalkte sie schon seit drei Monaten? Isabel war völlig sprachlos.
„Bitte, ich möchte nichts weiter, als Sie einmal zum Essen ausführen. Zu ihrem Geburtstag … als Nachbarschaftsgeste.“
„Machen Sie das bei allen Nachbarn?“, fragte sie, weil sie nicht wusste, wie sie auf seine Einladung reagieren sollte. Der Typ klang einfach zu nett und höflich, als dass sie ihn als perversen Stalker abtun konnte, dennoch schrie alles in ihr nach Vorsicht.
Sie hörte ein leises Lachen. Dann antwortete er: „Naja. Ich dachte mir, ich beginne mal mit Ihnen!“
Dieses Lachen und seine etwas lapidar hingeworfenen Worte gaben dem Gespräch einen vertrauenerweckenden Charakter.
„… bevor Sie sich durch die anderen Stockwerke arbeiten“, beendete Isabel seinen Satz und konnte nicht verhindern, dass auch sie etwas belustigt klang.
Wieder hörte sie das leise Lachen. „Vielleicht kann ich ja bei Ihnen beginnen, mit Ihnen weitermachen und bei Ihnen aufhören?“, erwiderte der Anrufer.
Was sollte Isabel darauf antworten? Offensichtlich ging es ihm ausschließlich um sie und das rührte etwas in ihr. Aber das machte sie auch schrecklich nervös und sie sah sich gezwungen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Ich habe wirklich wenig Zeit. Ich plane einen längeren Urlaub“, warf sie erklärend ein und dachte sich im selben Moment, dass dies unklug war. Vielleicht räumte er ihr die Wohnung aus, wenn sie ihm steckte, dass sie länger nicht da sein würde?
Es dauerte, bis er darauf erwiderte: „Schade! Und es gibt keine Chance zu einem kleinen Rendezvous, bevor Sie diesen Urlaub antreten?“
In Isabel wollte etwas ihm einen Abend einräumen, nur um den Typ zu der netten Stimme und dem unglaublich sympathischen Lachen zu sehen. Aber sie wusste, dass das keine gute Idee war, nun, wo sie vorhatte ihre Vergangenheit aufzusuchen.
„Leider nicht. Ich muss erst einiges in meinem Urlaub hinter mich bringen. Deshalb habe ich für nichts anderes im Moment den Kopf frei.“ Das klang dramatisch und Isabel fragte sich erneut, warum sie ihm das steckte.
„Das ist schade. Aber vielleicht erlauben Sie mir, dass ich mich bei Ihnen noch einmal melden darf. Vielleicht ändern sie doch noch ihre Meinung.“
Der war wirklich hartnäckig. Aber Isabel mochte das. Das gab ihr das Gefühl, dass er sie wirklich kennenlernen wollte. In ihrem Kopf schwirrte schon der Gedanke, ihm ihre Handynummer zu geben. Doch den Gedanken verwarf sie. Sie musste erst die Sache mit Cedric überstehen. Da durfte sie nichts von abbringen.
„Schauen wir mal“, sagte sie nur zurückhaltend.
Etwas traurig hörte sie ihn sagen: „Okay, schauen wir mal. Dann bis hoffentlich bald. Es war schön, einmal mit Ihnen zu sprechen.“
Ja, das fand Isabel eigentlich auch.
„Ich fands auch nett“, gestand sie. „Bis Irgendwann!“ rief sie mit pochendem Herzen und legte schnell auf.
Sie wusste, es war falsch, ihm irgendwelche Hoffnung zu machen. Wie er so schön gesagte hatte: Sie war emanzipiert und stand ihr Leben allein durch … und daran sollte sich nun auch nichts mehr ändern. Und schon gar nicht durch so einen Typen, der sie heimlich beobachtete.
Sie sprang auf und ging zu jedem Fenster in ihrer Wohnung und zog die Schalosien herunter. Doch statt endlich beruhigt zu sein, fühlte sie sich nun wieder allein. Er klang so nett und sympathisch und wollte mit ihr Essen gehen.
Nein, sie würde sich jetzt nicht von so einem Kerl durcheinanderbringen lassen.
Aber er klang wirklich nett und kennt hier niemanden!
Isabel seufzte auf. Offenbar war er genauso einsam wie sie. Aber bei ihr wird sich das bald ändern. Ihre Vergangenheit wartete auf sie und sie konnte es kaum mehr abwarten, endlich ihren Urlaub anzutreten.
Am nächsten Morgen stand sie ausgeruht auf. Die Sache mit dem Anruf dieses seltsamen Mannes regte sie nicht mehr so auf. Alles hatte während der Nacht an Bedeutung verloren. Nach einem guten Schlaf werden Probleme nur noch nichtssagend. Alles erscheint dann wieder im richtigen Licht. So auch dieser Anruf. Sie hatte sich ein Ziel gesetzt und wird es sich erfüllen. Soll der Kerl ruhig die anderen Nachbarn zu umgarnen versuchen.
Aber er will dich!
Irgendwie hoffte sie zwar, dass sie ihn doch bald kennenlernte, doch sie räumte ihm keinerlei Chancen ein. Da konnte er noch so einschmeichelnd und nett klingen. Außerdem war sie sich mittlerweile sicher, dass die ganze Sache einen Haken haben musste. Entweder der Kerl war verrückt oder erschreckend hässlich.
So musste es sein, dachte sie sich. Sonst wäre er nicht mehr allein.
Isabel frühstückte, warf ihre F 35 Plus für den Kinderwunsch ein, und machte ihr Bett. Jetzt war es am Morgen nicht mehr dunkel und sie liebte es, die Schalosien hochzuziehen und die Fenster weit zu öffnen. Die frische Luft am frühen Morgen ließ den Tatendrang in ihr bis ins Unermessliche steigen. Doch sie musste sich an diesem Morgen eingestehen, dass sie aus jedem Fenster mit besonders wachsamem Blick schaute. Er galt nicht, wie sonst, dem neuen Tag, sondern den gegenüberliegenden Wohnungen. Doch sie konnte nirgends auch nur eine Menschenseele entdecken.
Das beruhigte sie. Das Bild von einem ständig auf sie lauernden Spanner verflüchtigte sich.
Beschwingt griff sie nach ihrer Jacke und der kleinen, schwarzen Ledertasche. Schnell schlüpfte sie durch die Tür, als ihr Fuß gegen etwas stieß und es an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Isabel sah sich erschrocken um. Aber außer einem lädierten Strauß gelber Tulpen war nichts Ungewöhnliches auszumachen.
Sie ging langsam darauf zu, als könne es sich um eine Bombe handeln und hob sie auf.
Einige Köpfe segelten zu Boden und drei Blätter rutschten kraftlos über ihre Hand. Aber sie gaben einen Zettel frei und Isabel starrte gespannt darauf. Ihr Herz fing wild zu schlagen an. Die können nur von diesem Anrufer sein.
Sie sah sich schnell noch einmal um, hob die heruntergefallen Blüten auf und huschte in die Wohnung zurück.
Schnell ging sie in die Küche und schnappte sich eine Schere, um das Band zu öffnen, das den Strauß und den Zettel zusammenhielt. Sie war aufgeregt wie bei einem ersten Liebesbrief. Sie zweifelte keinen Augenblick mehr, dass er von diesem Mann kam. Schnell faltete sie den Zettel auseinander und ließ die Tulpen achtlos auf den Tisch sinken.
„Unser Gespräch hat mir Mut gemacht. Ich werde versuchen mich in Geduld zu üben. M. Zikowski.“
Isabels Herzschlag erhöhte sich noch mehr.
Langsam und verunsichert, wie sie das Ganze finden sollte, legte sie den Zettel an die Seite und nahm die Tulpen zusammen. Sie stellte sie in eine Vase und brachte sie auf den kleinen Tisch, auf den sie damals die Rosen gestellt hatte. So lange ist das her, dass ihr jemand Blumen geschenkt hatte. Das letzte Mal war es an Neujahr und es waren die Rosen eines Unbekannten. Das war jetzt drei Monate her.
Drei Monate!
„Ich bin vor drei Monaten hergezogen …“
Isabel wandte sich wieder dem Tisch zu, auf dem der Zettel lag. Die Schrift war sauber und leicht verschnörkelt. Sie las die Zeilen noch einmal. Das war wirklich süß geschrieben und zeigte ihr, dass er nicht aufgeben wollte. Irgendwie freute sie das. Er schien wirklich um ihre Gunst kämpfen zu wollen. Aber leider passte das im Moment überhaupt nicht. Ihre Pläne sahen einen um ihr Herz kämpfenden nicht vor. Außerdem konnte sie sich immer noch nicht denken, dass er ein annehmbares Exemplar Mann sein konnte. Solche Männer waren doch alle vergeben oder hatten es nicht nötig einer Frau hinterherzurennen.
Aber vielleicht war er auch nur hoffnungslos romantisch und glaubte an die große Liebe?
Tja, dann stimmt aber hundertprozentig etwas mit ihm nicht.
Isabel musste mit Wehmut an das Musical denken, das sie damals so sehr in ihren Bann gezogen hatte. Sie hatte es im Stella in Hamburg gesehen und sofort drang die Musik wieder in ihr Gedächtnis. Da ging es auch um eine unglückliche Liebe - die Liebe eines verunstalteten Mannes zu einem Mädchen.
Isabel hatte die Schuld für ihr anhaltendes Helfersyndrom bei Männern oft auf dieses Musical geschoben. Zumindest hatte das offensichtlich einiges bei ihr verstärkt.
Ihr Blick fiel auf die Küchenuhr.
Schnell steckte sie den Zettel in die oberste Küchenschublade und griff wieder nach der Tasche und rannte zu Tür. Laut ein Lied aus Phantom der Oper pfeifend, lief sie die Treppe hinunter, verließ das Haus und bog in den Hof ein, wo ihr Auto in der Garage parkte. Erst dort wurde ihr bewusst, dass sie laut pfiff und stellte das sofort ein.
Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn du hier so herumkrakelst?
Schnell stieg sie ein und fuhr durch die Stadt Richtung Industriegebiet. Im Auto sang sie leise das Lied noch einmal und spürte wieder den längst vergessenen Flair, den diese Musik und die Geschichte damals bei ihr heraufbeschworen hatte. War sie nicht sogar regelmäßig in Tränen ausgebrochen, wenn sie sich hinterher die CD von dem Stück angehörte hatte. Wie sehr hatte sie immer mit den drei Protagonisten mitgelitten, die in ihrer Liebe verstrickt waren und wie sehr trauerte sie am Ende um die verlorene Liebe des verunstalteten Phantoms, der nichts wollte, als die Liebe dieses Mädchens und das sie ihm die Einsamkeit nahm.
Isabel schwor sich am Abend wieder einmal die CD herauszusuchen und sich damit einen herzerweichenden Abend zu gestalten. Das würde ihre momentane Gefühlslage noch mehr unterstreichen. So fuhr sie durch die Stadt und hoffte, die letzten zwei Wochen bis zu ihrem Urlaub werden schnell vergehen.
Als sie einige Tage später ihre Post aus dem Briefkasten nahm und müde die Treppe erklomm, sah sie sich wie jeden Abend vor ihrer Tür um. Aber der seltsame Anrufer schien wirklich keinerlei Anstalt mehr zu machen, sie umgarnen zu wollen. Zumindest gab es erneut keine Blumen vor ihrer Tür. Nicht das Isabel sich von dem etwas erhoffte. Gott bewahre! Aber dass er so ganz vom Erdboden verschluckt zu sein schien …
Sie zog ihre Jacke aus, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Dort sah sie die Post durch. Das meiste war Werbung und sie fand noch drei Rechnungen. Nur einen Brief konnte sie nicht zuordnen, weil der aus dem Ausland zugestellt worden war.
Sie riss ihn ungeduldig auf und fand ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Als sie ihn auseinanderfaltete, fiel ihr eine getrocknete rote Rose entgegen. Sie legte sie nach genauer Betrachtung auf den Tisch und las den Brief.
Blume in der Nachbarschaft
Seit ich sie erblühen sah,
dicht an meine eigenen Wurzeln reichend,
zu entfernt und doch so nah,
Erinnerung nicht aus meinem Herzen weichend,
möchte ich niemals vergehen
niemals an einem anderen Ort stehen
immer umgeben von der gleichen Luft
immer durchdrungen von dem gleichen Duft
Wurzel an Wurzel,
Blatt an Blatt
Zusammengehörigkeit, die nie ein Ende hat.
Schenken Sie mir einen Augenblick. Gehen Sie mit mir Essen.
Ich werde Mittwoch aus Frankreich zurückkehren und erwarte Sie an diesem Abend um zwanzig Uhr im Steak House in unserer Straße.
Hochachtungsvoll, M. Zikowski.”
Isabel starrte auf die Zeilen. Was für ein schönes Gedicht und was für ein netter Brief. Und er erwartet sie!
In ihrem Inneren rumorte es aufgeregt und verängstigt zugleich. Der Mann will sie treffen. Er will mit ihr Essen gehen. Unbedingt. Und er hatte ihr ein Gedicht geschickt, dass schon sehr persönlich klang … und nach dem Wunsch auf mehr.
Isabels Herz begann unruhig einen neuen Takt vorzugeben und ihr Magen wurde seltsam schwer. Einerseits, weil er so unverfroren ihr ein Treffen aufdrängte und andererseits, weil er so ein nettes Gedicht an sie geschickt hatte, dass von wirklich viel Gefühl sprach.
Wurzel an Wurzel … Blatt an Blatt … Zusammengehörigkeit, die nie ein Ende hat.
Puh! Entweder, der Typ war hoffnungslos romantisch oder erbarmungslos berechnend. Auf alle Fälle schaffte er es, in ihr einigen Tumult auszulösen. Und nun wollte er sie sogar ernsthaft daten.
Wann?
Isabel riss erneut den Brief hoch, den sie völlig hingerissen auf den Tisch sinken lassen hatte und suchte nach dem Datum. Meinte er vielleicht schon letzten Mittwoch?
Aber sie stellte beruhigt fest, dass er wirklich Übermorgen meinte.
„Um Gotteswillen!“ Isabel sank in sich zusammen. Er will mit ihr am Mittwoch essen gehen!
Soll sie sich wirklich mit ihm treffen? Soll sie das wirklich tun?
Das kann nur ein Psychopath sein, der dich als sein neues Opfer fixiert hat. Warum sollte er sich sonst solche Mühe wegen dir machen?
Isabel seufzte verunsichert auf.
Er wusste eine Menge von ihr, sie aber nichts von ihm. Was er wohl arbeitete, dass er sogar ins Ausland reiste? Also ein Dummkopf war er wohl nicht. Außerdem konnte sie wohl den Gedanken verwerfen, dass er ein Entflohener aus einer Anstalt war. Die reisen für gewöhnlich nicht für eine Firma ins Ausland und schreiben so schöne Gedichte. Aber vielleicht war das ja gar nicht von ihm? Vielleicht hatte er das nur geklaut, um sie um den kleinen Finger zu wickeln.
Fragen über Fragen, die Isabel und ihre Gefühlswelt immer mehr durcheinanderbrachten.
Und dann die rote Rose, die ziemlich unzerstörbar erschien. So ein Brief hatte schließlich einige Hürden zu überstehen, bevor er sein Ziel erreichte. Sie schien so unzerstörbar wie seine gewünschte Zusammengehörigkeit, die nie ein Ende haben soll.
Isabel machte dieser Brief wirklich zu schaffen. Er war zu schön und er hatte sich die Mühe gemacht, ihn aus Frankreich zu schicken. Offenbar war er nicht der Typ für Mails oder SMSen.
Er hat nur deine Adresse und deinen Namen. Also interpretier mal nicht so viel Romantik in das Ganze. Ihm blieb nichts anderes übrig. Und vielleicht ist ihm lieber, es von weit weg von dir zu tun. Vielleicht schrieb er ihn noch mit dreckigen, erdbesudelten Händen, während die Erde über der letzten Leiche noch nicht mal angetrocknet war.
Isabel schüttelte unwirsch über diese Gedanken den Kopf. Er hatte zumindest an sie gedacht und ihr diesen netten Brief geschrieben. Er hätte sie in Frankreich auch einfach vergessen können.
In Frankreich! Er dachte sogar dort an sie!
Isabel konnte das alles gar nicht fassen und in ihrem Inneren begann alles langsam immer mehr Amok zu laufen.
Okay, ruhig bleiben. Du weißt nichts von ihm. Du weißt nicht mal, wo er wohnt. Du weißt nur seinen Namen: Zikowski.
Das klang fremdländisch. Aber er hatte keinen Akzent.
Isabel sah sich unschlüssig um, ging zum Fenster und zog die Schalosien herunter. So fühlte sie sich nicht mehr beobachtet. Sie wollte ihre Ruhe haben, sich in die Badewanne legen, danach eine Kleinigkeit essen und ins Bett gehen.
Nach dem Bad und einem Tomatenbrot fühlte Isabel sich wieder besser. Nur wenige Tage noch, und Isabel wird ihren Urlaub antreten und ihren Plan umsetzen.
Für Isabel war es eine neue Zeitrechnung und diese Woche würde sie mit den letzten Vorbereitungen überbrücken. Sie wollte noch zum Friseur, zur Maniküre und zur Körperhaarentfernung. Damit wäre sie körperlich schon einmal gerüstet. Ihre Wäsche lag sauber, gebügelt und zusammengelegt auch schon zum Einpacken bereit. Alles andere wird sich dann schon finden.
Ihre Gedanken huschten wieder, wie so oft, zu dem Ort, in dem sie ihr großes Glück finden wollte. Der Mann am Telefon des kleinen Gasthauses, in dem sie das Zimmer gemietet hatte, hatte recht nett geklungen. Aber war da nicht auch eine Spur von Skepsis, als sie ihm die Anzahl der Wochen mitgeteilt hatte, die sie in seinem Haus verbringen will?
Nun ja. Sie hatte seinen Argwohn mit der Geschichte besänftigt, die sie sich zurechtgelegt hatte. Sie hatte sich bei ihm über den Großstadtlärm beklagt, und dass sie in den sechs Wochen die Ruhe ihre alte Heimat genießen möchte.
Großstadtlärm! Das hier war wirklich keine Großstadt. Sie liebte diese nette, kleine Stadt mit ihrer kleinen Einkaufspassage, in der sie alles bekam, aber nicht von den Massen der Angebote erdrückte wurde. Auch gehörte ihre Wohnung zu einem Wohnpark recht weit am Ende der westlichen Stadtgrenze, hinter der sich schon die ersten Felder und Wiesen der angrenzenden Bauernschaften erstreckten. Das Industriegebiet lag im Süden und da es dort nur Werkstätten, Reifenhändler, und andere kleine Firmen neben den Möbel Altwerna Werken gab, wurde ihre Luft nicht unmittelbar durch irgendwelche luftverpestenden Fabriken vergiftet. Es tat ihr ein wenig leid, ihre Wahlheimat in den Dreck gezogen zu haben. Aber so war für den Gasthausbesitzer eher klar, warum es Isabel für so lange in seine eher trostlose Gegend verschlagen sollte.
Isabel dachte mit wachsender Spannung an ihren Trip und jedes Mal traf sie der Gedanke, Cedric dort wirklich wiederzusehen, wie ein Messerstich.
Ja, sie will ihm wiederbegegnen und sich von ihm in einen Strudel der Leidenschaft reißen lassen, wie sie ihn, so glaubte sie fest, noch nie erlebt hatte. Einen anderen Gedanken ließ sie gar nicht erst zu. Sie wollte fest daran glauben, dass es ihr nun gelingen wird, dieses Spiel für sich zu entscheiden. Außerdem war sie bereit, alles dafür zu tun.
Isabels Aufregung war mittlerweile grenzenlos. Aber sie wusste nicht, wie sie die Woche noch überstehen sollte, bis es endlich losging. Und sie nahm sich vor, ihren Gedichte-Kavalier besser nicht mehr vorher zu treffen. Irgendwie hatte sie Angst, er könne ihre Planung sonst ins Wanken bringen.
Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie neugierig war, wer hinter diesem „M. Zikowski“ stand.
Vergiss den Kerl ganz schnell. Mit dem kann etwas nicht stimmen, wenn er dir so den Hof macht.
Danke!
Aber Isabel beschloss, es doch dabei zu belassen. All ihr Denken und Handeln sollte nur noch Cedric und ihrem Plan gehören.
Doch am Mittwochabend, als sie gerade ziemlich gestresst die Wohnungstür hinter sich zufallen ließ, klingelte es an der Haustür.
Sie ließ genervt den Türöffner schnarren und öffnete ihre Wohnungstür, um hinauszuschauen. Kurz darauf sah sie einen Kurier mit einem Strauß gelber Rosen die Treppe hochhechten.
Isabel musste sich eingestehen, dass sie eigentlich drauf gewartet hatte, erneut von diesem Unbekannten zu hören. Nicht, dass sie das vor sich selbst zugeben würde. Aber die Freude, als nun der Kurier vor ihrer Tür stand, zeigte das nur zu deutlich. Es war einfach zu schön und romantisch und solange sie noch zuhause war, wollte sie sich gerne noch ein wenig mit dem aufregenden Gedanken an diesen Typen beschäftigen, der ihre Angst und Verunsicherung, was ihren Plan betraf, etwas relativierte. Und dass ihr immer mehr der Arsch auf Grundeis ging, konnte sie nicht leugnen. Mittlerweile meldeten sich, neben Magenschmerzen und Übelkeit, auch vermehrt Kopfschmerzen, was sie für Verspannungsprobleme hielt. Alles in ihr war dermaßen auf Spannung, dass sie sich langsam sogar krank fühlte.
In ihrer Küche nahm sie den Strauß aus der Folie und zog einen Umschlag zwischen den gelben, schönen Blüten hervor.
Beunruhigt stellte sie fest, dass sie nervös wie ein Schulmädchen war. Es war fast nicht zu glauben, dass nur so ein dämlicher Brief von einem Unbekannten sie so aus der Fassung bringen konnte, wo für sie in zwei Tagen doch eigentlich eine neue Zeitrechnung anbrechen sollte.
Nervös und mit einem flauen Gefühl im Magen öffnete sie den Briefumschlag.
Vorsichtig, als könne er eine ätzende Pulvermischung in ihre Augen verstreuen, entfaltete sie das Blatt Papier und warf einen Blick darauf. Wovor fürchtete sie sich nur so?
Blume in der Nachbarschaft, las sie. Wenn Sie diese Zeilen erhalten, sitze ich endlich im Flieger, der mich zurückbringt. Bitte machen Sie mich glücklich und kommen Sie zu unserer Verabredung. So viele Zufälle ließen in letzter Zeit einfach keine Begegnung zu, dass ich langsam Angst bekomme, ein anderer könne in ihr Leben treten, bevor ich Ihnen meins zu Füßen legen kann. Ich glaube, nachdem ich den Mut fand, Ihnen meine Gefühle und mein Herz auszuschütten, habe ich endlich auch den Mut, Ihnen zu zeigen, dass Sie diejenige sind, die mein Leben auf wundervolle Weise bereichern kann. Bitte schenken Sie mir diesen Abend. Ihr erwartungsvoller M. Zikowski.
Isabel legte die Zeilen aufgebracht zur Seite und starrte lange unschlüssig auf das gelbe Blütenmeer auf ihrem Tisch.
Wie in Trance stand sie auf und tauschte die langstielig gewordenen Tulpen gegen die Rosen aus. Dabei rieselten die Tulpenblätter zu Boden und Isabel holte wie ferngesteuert den Besen und kehrte sie auf.
Heute Abend treffen … Heute Abend treffen …
Isabel konnte nichts anderes denken und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Wo sein erster Brief noch keine Panik in ihr ausgelöst hatte, weil sie sich dachte, dass sie schließlich nicht zu dem Treffen hingehen musste, wurde ihr nun bewusst, dass er fest mit ihr rechnete. Mit diesem Brief wurde seine Einladung nun erschreckend konkret und ließ sich nicht mehr so einfach ignorieren. Was sollte sie also tun?
Unruhig lief sie in der kleinen Küche auf und ab. Dieser Mensch setzte so viel Hoffnung in diese Begegnung, dass sie fast mehr Angst davor hatte, seinen Vorstellungen nicht zu entsprechen, als dass er ihre nicht erfüllte. Außerdem war da etwas, was sie an diesem Menschen ängstigte. Sie war sich nicht klar darüber, ob es seine Art war, die sie auf diesem Planeten für ausgestorben hielt oder die Hingabe, mit der er sie als das Wesen auserkoren hatte, das sein Schicksal mit ihm teilen sollte. Vielleicht war es auch nur seine Art, sich mit viel Gefühl in ihr Leben zu drängen, ohne sich vorher einmal gezeigt zu haben oder auch nur seinen vollen Namen zu nennen.
Vielleicht verbarg er seinen Vornamen, weil sie auf keinen Fall mehr über ihn erfahren sollte?
M könnte für Marcel, Martin, Magnus oder Michael stehen.
Trotz ihres Misstrauens konnte Isabel nichts dagegen tun, dass sich in ihrem Inneren eine seltsame Wärme ausbreitete, je länger sie über den Typ nachdachte. Kurz sah sie sich von einem schönen dunkelhaarigen Mann in die Arme geschlossen, der sie herzlich anlächelte und dann leidenschaftlich küsste.
Bist du wahnsinnig, dir jetzt noch so einen Floh ins Ohr zu setzen! Du wirst in zwei Tagen in deine Heimat reisen und dort deinen vom Schicksal Auserkorenen treffen, schnell ein Kind mit ihm zeugen und wieder verschwinden. Dann wirst du all deine Liebe diesem kleinen Geschöpf widmen und es wird endlich keine Männer mehr geben müssen, die dein Leben aufmischen. Was werden dann für geruhsame Zeiten anbrechen!
Genau! So und nicht anders. Sie setzte sich energisch an den Küchentisch und dachte darüber nach, was sie tun sollte.
Am besten, sie ging hin und erklärte ihm, dass sie nicht mehr von ihm belästigt werden wollte. Ja, der Gedanke war gut.
Nein, das ist gar nicht gut!
Isabel spürte bei der Vorstellung eine unsagbare Angst durch ihr Innerstes kriechen. Es war nicht so, dass sie sich von dem Menschen körperlich bedroht fühlte. Nein, es war anders. Sie fürchtete sich vor ihren Gefühlen. Es ängstigte sie der Gedanke, dass dieser Mann nicht hässlich und unsympathisch war und sie sich wirklich zu ihm hingezogen fühlen könnte. Wenn sie ehrlich war, dann war das jetzt schon der Fall. Dieser Mensch schien wirklich nett und höflich zu sein. Dabei war er auch noch charmant und offensichtlich romantisch veranlagt. Dazu setzte er alles daran, sie für sich zu gewinnen. Eigentlich war er genau so, wie sie sich einen Verehrer immer vorgestellt hatte.
Er eroberte sie immer mehr ohne dass sie es sich eingestehen wollte und Isabel fürchtete sich davor, dass er ihren Plan zerstörte, der die letzten Monate ihr Leben lebenswert gemachte hatte. Außerdem konnte sie das Gefühl in ihrem Inneren nicht ignorieren, das ihr immer wieder sagte, dass es so etwas wie diesen Mann nicht wirklich geben konnte. Ihr vom Minderwertigkeitskomplex gemartertes Gefühlsleben wollte nicht glauben, dass sich jemand wirklich in sie verliebt haben könnte - außer es war ein Psychopath, Frauenmörder, Vergewaltiger oder ein Schreckgespenst.
Sie durfte ihn auf gar keinen Fall treffen.
Von der Anrichte holte sie sich einen Stift und aus dem Drucker ein Blatt Papier. Eilig schrieb sie ein paar Zeilen, faltete das Blatt zusammen und suchte sich einen Umschlag aus einem der Schubladen der Anrichte. Schnell schrieb sie den Namen des Mannes, der den Brief erhalten sollte, auf den Umschlag. Dann warf sie sich ihren Mantel über und verließ eilig die Wohnung. Sie bemühte sich, keinen Gedanken an ihr Gekritzel zu verschwenden, damit sie nicht doch noch die Zweifel packten.
Sie lief die Straße im Halbdunkeln zu dem Steakhaus an der Ecke hinunter. Es war schon spät und sie musste sich beeilen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, diesem Kerl doch noch zu begegnen.
Im Restaurant traf sie auf einen jungen Kellner und nahm ihn zur Seite. Mit wenigen Worten gab sie ihm zu verstehen, dass ein Mann in der nächsten halben Stunde hier eintreffen und sie erwarten würde. Sie erklärte schnell, dass sie diesen Mann nicht beschreiben könne, aber seinen Nachnamen auf das Kuvert geschrieben hatte, und bat den Kellner dafür zu sorgen, dass der richtige Gast ihn erhielt. Dazu reichte sie ihm zwanzig Euro.
„Kein Problem“, erklärte der grinsend und nahm den Geldschein entgegen. „Sie können sich auf mich verlassen!“
Isabel bedankte sich schnell und lief wieder zum Ausgang. Sie konnte nicht umhin, noch einen neugierigen Blick zu den Tischen zu werfen. Vielleicht war er schon da und sie konnte ihn kurz sehen?
Und wenn er dich sieht?
Panisch riss sie die Tür auf und prallte mit einem Mann zusammen. Isabel sah sich einem weißen Hemd mit blauer Krawatte gefährlich nahe, dass unter dem offenen schwarzen Mantel hervorblitzte. Er hatte die Arme hochgerissen, um sie notfalls zu halten und vor einem Sturz zu bewahren.
Sie sah kurz hoch, aber außer einem Dreitagebart war sie nicht in der Lage mehr zu registrieren, weil alles in ihr dem Fluchtmodus folgte.
„Tschuldigung!“, murmelte Isabel schnell und rannte an ihm vorbei hinaus. Sie lief in die entgegengesetzte Richtung, um dem M. Zikowski nicht auf der Straße in die Arme zu laufen und sah auf die Uhr. Es war erst zwanzig Minuten vor acht.
Keine Panik! Du hast es geschafft und nun machst du einen schönen, kleinen Spaziergang nach Hause und fertig. Die Sache ist erledigt und du widmest dich nur noch deinem Plan.
Ob der Kellner die Mitteilung überbringen wird? Sie hoffte es. Sie wollte diesen Menschen nicht verletzen und hatte ihm deswegen diese Zeilen geschrieben. Er musste das verstehen.
Der Kellner war weniger das Problem. Das Problem war sie! Immer noch zitterten ihre Hände und ihre Nerven beruhigten sich nur langsam. Sie schämte sich etwas, weil sie so kopflos das Lokal verlassen hatte. Dabei war sie diesem armen Kerl an der Tür voll in den Bauch gelaufen.
Isabel atmete tief ein und legte den Schlendergang ein.
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Nun war es acht Uhr. Jetzt wird dieser M Zikowski den Brief bestimmt gleich bekommen.
Nun gab es kein Zurück mehr.
Als sie wieder auf der Straße war, die zu ihrem Wohnblock führte, wurde sie wieder nervös. Was sollte diesen Mann daran hindern bei ihr zu klingeln, wenn er sie im Restaurant nicht antraf.
Sie sah sich erschrocken um, und als sie endlich vor ihrer Haustür ankam, schloss sie eilig auf und ließ sie schnell hinter sich ins Schloss fallen.
Blume in der Nachbarschaft!
Isabel fiel mit erschrecken ein, dass sie immer glaubte, er wohne in einem anderen Haus. Aber das musste nicht so sein.
Sie sprintet die Treppe hoch und schloss schnell ihre Wohnungstür auf, um sie hinter sich zuzuknallen. Mit einem Griff zur Türglocke schaltete sie sie schnell aus. Erst dann atmete sie auf.
Du kannst ihm nicht immer aus dem Weg gehen.
Isabel riss sich die Jacke aus und hing sie schnell auf. Mit wenigen, eiligen Schritten war sie bei ihrem Telefon und wählte eine Nummer.
„Hallo, hier ist Isabel“, rief sie kurz darauf in den Hörer. „Cornelia, ich glaube, ich bekomme eine Erkältung. Meinst du, ich kann schon die kommenden zwei Tage freinehmen?“
Das Beste wäre, wenn sie ganz schnell von hier verschwand und nichts mehr dem Zufall überließ.
Ein Gefühl der Beklemmung beschlich sie. Die letzten Wochen mit ihrem Traum, das Telefongespräch und die Briefe von diesem Mann und dass sie nun eine Zeit ansteuerte, die alles entscheiden würde, machten sie plötzlich schrecklich nervös und ängstlich. Wieso wusste man nie, wann man etwas Richtiges tat!
Isabel lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung. Nach einem überraschten Moment gab ihre Chefin ihr frei und wünschte ihr schöne, erholsame Wochen. Dann legten sie auf und Isabel warf sich beruhigt auf das kleine Sofa. Sie hasste es zu lügen, aber nur so konnte sie alldem entfliehen, was sie beunruhigte. Doch ihr wurde im selben Moment klar, dass sie noch nicht außer Gefahr war.
Sie sprang auf, ging die Wohnung ab und ließ überall die Schalosien herunter. Sie lief auch in den kleinen Flur und schaute nach, ob die Klingel auch wirklich ausgeschaltet war. Außerdem legte sie den Telefonhörer neben die Gabel. Dann holte sie ihren Koffer und packte alles zusammen, was sie sich schon seit Wochen zusammengelegt hatte. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte am nächsten Morgen alles ins Auto werfen und schnell verschwinden. Ihre Nachbarin aus der Wohnung unter ihr würde ihren Postkasten die nächsten sechs Wochen entleeren und die Blumen gießen. So hatte sie es mit ihr letzte Woche vereinbart. Ihr hatte sie auch die Adresse des Gasthauses gegeben, in dem sie die nächsten Wochen verbringen wollte, falls etwas mit der Wohnung war.
Da sie ihr Zimmer aber erst ab Samstag gebucht hat, beschloss sie die nächsten zwei Tage zu ihrer Schwester zu fahren und ihr einen unangemeldeten Besuch abzustatten. Von dort konnte sie dann am Samstag in ihr Heimatdorf aus Kindertagen fahren. Sie wollte so schnell wie möglich weg. Sie wollte lieber keinen Aufschub mehr und keine Unsicherheit aufkommen lassen. Sie wollte endlich ihren Traum verwirklichen.
Im Bett wälzte sie sich lange unruhig hin und her. Immer musste sie an ihren Brief denken und an den Mann, der vergeblich auf sie gewartet hatte. Sie hatte ihn damit bestimmt unglücklich gemacht. So würde er es zumindest ausdrücken. Wie hatte er wohl auf ihren Brief reagiert?
Isabel überdachte ihre geschriebenen Worte noch einmal und fand sie gewagt. Sie stellte sich vor, wie sie selbst auf so einen Brief reagieren würde.
Sie hatte ihm höflich für die Blumen gedankt und sich für ihr Nichterscheinen entschuldigt. Dann hatte sie ihm kurz zu erklären versucht, was in ihr in den letzten Wochen vorgegangen war und dass sie keineswegs eine glücklich alleinstehende Frau war und das nun ändern wolle. Sie schrieb nicht, wie sie das ändern will, erwähnte aber, dass sie sich erst selbst finden müsse und dazu einen Trip in die Vergangenheit machen würde, um sich eine neue Zukunft aufbauen zu können. Letztendlich hatte sie ihn gebeten, sie zu vergessen.
Sie wäre über so einen Brief todtraurig und … beunruhigt. Wieso hatte sie ihm nicht einfach geschrieben, dass sie keine Dates einging? Warum verfiel sie in solche Gefühlsduseleien wie er?
Naja, jetzt war es zu spät. Er hatte den Brief bekommen und wusste wenigstens, woran er war.
Jetzt, wo sie dieses Ziel vor Augen hatte, in dem alle Männer bis auf einen aus ihrem Leben ausgeschlossen wurden, durfte sie sich keine anderen Flausen mehr erlauben. Und ab Morgen würde dann alles vergessen sein und sie würde nur noch für einen guten Ausgang ihrer Pläne leben.
Endlich!