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Drogenkinder

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Mein Handy reißt mich aus dem Schlaf. Verwirrt suche ich danach und finde es unter meinem Kopfkissen.

Mir wird klar, dass ich in meinem Bett liege und mich tatsächlich in den Schlaf geweint hatte.

Auf dem Display sehe ich Ellens Nummer, und ich raune kraftlos: „Hallo!“ in den kleinen Apparat.

Ellen ist meine neue Freundin aus der Schule, in die ich seit zwei Tagen gehe. Wir hatten sofort einen besonderen Draht zueinander und verbrachten sogar schon den vergangenen Abend zusammen in der lauten, wilden Partyscene der Osnabrücker Nachtwelt.

Ohne eine Begrüßung höre ich Ellen fröhlich das Gedicht ins Telefon trällern, das wir als Fleißaufgabe von unserer neuen Klassenlehrerin aufgebrummt bekommen haben. Das Gedicht am Montag vortragen zu können, ist die Voraussetzung dafür, dass wir weiterhin Schüler in ihrer Klasse bleiben dürfen.

Als Ellen geendet hat, bittet sie mich um meinen Einsatz. Ich sehe sie vor mir, wie sie ihr Handy in das lockige Gewusel ihrer blonden Haare drückt und ihre braunen Augen zusammenkneift, als ich nicht sofort antworte.

Völlig durcheinander versuche ich erst mal meine Gedanken zu ordnen.

Stotternd und überfordert beginne ich die Strophen aus meinem Gedächtnis zu ziehen, das scheinbar aber beschlossen hat, die Arbeit zu verweigern.

„Wow, vielleicht noch an den Einzelheiten pfeilen und du schaffst das morgen schon irgendwie“, meint Ellen gnädig und will mir damit wohl Mut machen.

„Hoffentlich!“, jammere ich mit weinerlicher Stimme.

„Hey, alles in Ordnung? Du klingst nicht gut“, höre ich sie sofort besorgt fragen.

Ich überlege, was ich ihr sagen soll. Marcel hat mich verlassen und ich Tim, und meine früher mal beste Freundin hasst mich bis zum Sankt Nimmerleinstag. Das ist das bittere Resümee dieses Sonntags.

In mir fühlt sich alles trostlos und traurig an. So beginne ich ihr von Marcel zu erzählen, und dass er jetzt über Tim und mich Bescheid weiß und er mich deshalb zum Mond geschossen hat. Außerdem, dass meine bislang beste Freundin nicht mehr meine Freundin ist, weil Tim sie wegen mir stehen ließ und ich Tim gesagt habe, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.

„Ellen, alle sind weg. Und das innerhalb von einem Tag. So was kann auch nur ich schaffen“, schluchze ich.

„Ach, die sind doch nicht weg. Weg heißt tot, und das sind die nicht. Du kannst sie alle noch wiedersehen und mit ihnen sprechen, wenn du willst. Glaub mir, weg ist etwas anderes.“ Sie klingt bedrückt und mir ist klar, sie erinnert sich an ihren Alex, der sich mit einer Überdosis in den Himmel beförderte.

Verdammt, das wollte ich nicht! Ellen sollte nicht durch mich an ihren eigenen Kummer erinnert werden.

„Du hast recht. Sie sind nicht weg. Ich habe nur ihre Freundschaft und Liebe verloren. Alles nicht ganz so schlimm“, versuche ich sofort einzulenken und Ellen zu beruhigen. Es tut mir leid, sie mit meinem unbedachten Ausruf an Alex und seinen Tod erinnert zu haben.

„Schon gut. Ich bin ziemlich drüber weg“, sagt sie und ich würde sie am liebsten in den Arm nehmen.

„Gut, dass morgen wieder Alltag ist. Rocken wir morgen die Schule?“, versuche ich mit gespielter guter Laune unsere Stimmung zu heben.

„Klar! Also noch mal von vorne: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland …“

Ellen ist unerbittlich.

Ich sage es noch mal auf und dann gibt sie es ein weiteres Mal zum Besten. Weil ich noch ziemlich schlecht bin, muss ich auch noch mal ran und bringe immer mehr durcheinander.

Ellen lacht und versucht es mit einer Engelsgeduld so lange, bis auch ich ziemlich textfest bin. Mit ihr zusammen geht es mir wieder besser und ich freue mich auf den Start der neuen Woche. Ellen ist mein Halt und die neue Schule und Osnabrück mein neues Zuhause.

Die komplette Klasse findet sich am Montag wieder im Klassenzimmer ein und unsere Lehrerin ist zufrieden. Sie hatte uns, angesichts der Tatsache, dass es ihr letztes Jahr vor der Rente ist, vor die Wahl gestellt, nicht mehr zu erscheinen oder lern- und wissbegierig zu bestmöglichen Schülern zu mutieren. Sie will aus uns die beste Klasse machen, die sie je befehligte und hat sofort schweres Geschütz aufgefahren, um da keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Als fünf das Gedicht mehr oder weniger gut vorgetragen haben, ist sie noch zufriedener und gibt für alle in der Cafeteria ein Eis aus. Scheinbar ist sie doch nicht so ein Drachen, wie wir erst befürchteten.

So vergeht die Woche mit viel lernen. Ich fahre jeden Tag mit dem letzten Bus nach Hause und begründe das vor meinen Eltern damit, dass ich mit Ellen zusammen lerne. Meine Mutter ist darüber wenig erfreut, duldet es aber ohne großes Murren.

Sie hatte mich am Montagabend noch nach Marcel gefragt, und was aus uns und unserem vielversprechenden Neubeginn geworden ist.

„Ach Mama, frag nicht. Es ist endgültig vorbei“, hatte ich nur antworten können und an meinem traurigen Blick und meinen aufsteigenden Tränen merkte sie, dass ich schwer damit kämpfe. Deshalb ist sie wohl froh, dass ich wenigstens in der neuen Schule glücklich bin und dort gute Freunde gefunden habe, die mich auf andere Gedanken bringen. Sie selbst sieht sich mit meinem Zustand schon wieder völlig überfordert.

Mein Handy bleibt die ganze Woche erschreckend leer und still. Tim schreibt mir kein einziges Mal und ruft mich auch nicht an. Von Marcel höre ich auch nichts, was mir allerdings klar war. Und von Christiane erwarte ich nichts mehr. Auch die anderen Mädels schreiben mir nicht mehr zurück. Scheinbar hat Christiane ihnen erklärt, dass man mich besser meidet. Also liegt mein altes Leben völlig brach.

Die letzte Scheunenfete des Jahres steht an und ich beschließe, nicht hinzugehen.

Stattdessen wollen Ellen und Susanne am Freitagabend mit mir durch Osnabrück ziehen und ich sage ihnen sofort zu.

Susanne kennt noch andere Clubs als Ellen und wir verbringen den Freitagabend mit Tanzen, Reden und Trinken. Mittlerweile habe ich mir sogar schon selbst Zigaretten gekauft, damit ich nicht immer bei den anderen schnorren muss. Dass ich das mal tun würde, hätte ich nie im Leben gedacht.

Aber Susanne ist den ganzen Abend nicht besonders gut gelaunt. Während Ellen und ich viel Spaß haben, geht ihre Laune immer mehr baden und da es ein langer Tag war, beschließen wir früh zu gehen.

Ellens Eltern sind erneut das ganze Wochenende unterwegs. Mittlerweile weiß ich, dass ihrem Vater einige Sportgeschäfte in Dortmund, Oldenburg, Bremen und Osnabrück gehören und sie immer irgendwo eingeladen sind oder einfach nur so für einige Tage verschwinden. Ellen weiß eigentlich nie, wo sie gerade sind.

Ich konnte meine Eltern überreden, das Wochenende bei Ellen bleiben zu dürfen. Auch sie scheinen immer mehr das kinderlose Leben zu genießen, zumal Julian und ich für sie nur noch stressmachende Problemkinder sind.

Auch in der vergangenen Woche besuchten sie Julian in der Klinik, in der er bis zu seiner Verhandlung sein Dasein fristet. Angeblich weiß er nicht, was er mir und Tim mit seinem Übergriff angetan hatte. So wie meine Mutter es auslegte, kann er sich nicht erinnern, was wirklich vorgefallen war. Aber ich bezweifle, dass er ihnen immer die Wahrheit sagt.

Es ist spät, als wir zu Ellen aufbrechen wollen. Susanne will nicht mehr mitgehen und so bringen wir sie zu ihrem Bus. Ich vermute langsam, dass sie es nicht gerne sieht, dass Ellen und ich sogar schon ganze Wochenenden zusammen verbringen. Sie zickte in der letzten Stunde, nachdem wir ihr das sagten, fast nur noch herum, als wäre sie eifersüchtig auf mich. So sind wir beide froh, dass wir sie los sind und beschließen, am nächsten Tag die Stadt ohne sie unsicher zu machen.

Als wir bei Ellen zu Hause ankommen und durch die Seitentür ins Haus gehen wollen, bleibt Ellen beunruhigt stehen. Innen ist scheinbar der Teufel los und sie wirft mir einen schnellen, beunruhigten Blick zu. Als wir die Tür aufschließen, brüllt uns laute Musik entgegen.

Ellens Bruder Erik kommt aus dem oberen Stockwerk die Treppe hinunter, gefolgt von einem Mädel mit schwarzen Zöpfen, bunter Bluse, schwarzem Rock mit Tüllunterrock, kaputten Netzstrümpfen und Springerstiefeln. Sie ist so dick geschminkt, dass man von ihrem Gesicht kaum was sehen kann.

Erik schiebt sie an uns vorbei und gibt ihr einen Klaps auf den Hintern, der ihr unmissverständlich klarmacht, dass sie weitergehen soll. Wohin auch immer.

Ellen schließt wutschnaubend die Tür hinter uns und Erik baut sich direkt vor mir auf und sieht mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.

Er ist fast einen Kopf größer als ich und seine blonden Haare sind heute nicht zurückgekämmt und mit Gel gebändigt. Er hat Locken wie Ellen, die ihm ins Gesicht fallen und unter denen seine Augen seltsam aufblitzen. Mit seiner dunklen, rauchigen Stimme raunt er an mich gerichtet: „Nah, ihr zwei fehlt noch. Wir machen gerade Party. Kommt doch auch ein bisschen dazu.“

Seine fast netten Worte passen aber irgendwie nicht zu seinem Gesichtsausdruck. Der wirkt eher abweisend, als sein Blick zu Ellen gleitet.

Die ignoriert seine Worte und stürmt an uns vorbei die Treppe hoch. Dabei schnauft sie wütend wie ein Stier.

Ich bin etwas irritiert, weil sie so aufgebracht ist. Was regt sie so auf?

Ich folge ihr, um Eriks Aufmerksamkeit nicht weiter herauszufordern. Er soll sich besser um andere kümmern.

Ellen folgt unterdes der immer lauter werdenden Musik in Eriks Wohnbereich, dessen dunkle Tür heute weit offensteht.

Ich bleibe unschlüssig an der Treppe stehen und warte lieber darauf, dass sie wieder herauskommt. Aber die Musik ist gut und ich höre Stimmen aus Eriks Wohnung in den Flur dringen, die gute Laune verkünden.

Plötzlich spüre ich eine Bewegung hinter mir und sehe mich erschrocken um. Erik steht direkt hinter mir auf der Treppe und sieht mich immer noch so seltsam an. Sein schwarzes T-Shirt und seine verwaschene Jeans zeigen klar ersichtlich, dass er ziemlich durchtrainiert ist.

Heute fällt mir das besonders auf. Am letzten Wochenende, wo ich ihm schon begegnet war, hatte ich das weitgehendst zu übersehen versucht, noch völlig von Marcel und Tim ausgefüllt. Aber heute registriere ich das – was mir gar nicht gefällt. Schließlich soll mein Interesse an Männern für die nächste Ewigkeit ausgelöscht sein. Doch dass er uns nun folgte und sich hinter mir aufbaut, wie eine undurchdringliche Mauer, macht mich nervös. Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Schließlich wartet unten ein Mädel auf ihn, der er eben noch sein ganzes Interesse geschenkt hatte.

Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken, die mich weiterdrängt. Um seiner Berührung zu entgehen, folge ich Ellen schnell, die irgendwohin in Eriks Wohnbereich verschwunden ist. Da ich in Eriks Teil des oberen Stockwerks noch nicht war, und nur Ellens kenne, kann ich meine Überraschung kaum verbergen, als ich durch einen kleinen Flur in ein separates Wohnzimmer gelange. Seine Wohnung muss viel größer als Ellens sein. Ellen hat ein Zimmer, das Wohn- und Schlafzimmer zugleich ist.

Einige junge Männer und drei Mädels sitzen oder stehen mit einer Bierflasche oder seltsam bunten Getränken in der Hand in dem großen Raum. Ein riesiger Fernseher zeigt Musikvideos. Unscheinbare Boxen mit einer unglaublichen Klangstärke, die an den Wänden angebaut sind, geben die Musik aus den Videos wieder. Ein Sofa und ein Sessel sind vor dem Fernseher gruppiert und auf dem kleinen Wohnzimmertisch stehen seltsame Gefäße und Flaschen, sowie Gläser mit einem bunten Getränk. Ein dicker, bunter Aschenbecher prangt zwischen all dem Kram. An der seitlichen Wand stehen ein großes Sideboard und ein bis zur Decke reichender Schrank.

„Mann Erik! Was stinkt das hier drinnen?“, faucht Ellen außer sich und ich sehe sie nur irritiert an. Warum ist sie so wütend? Ich rieche den süßen Geruch auch, kann aber nicht bestimmen von was das ist. Aber das Ellen sich deswegen aufregt, verstehe ich nicht.

„Komm Schwesterchen. Reg dich ab und trink etwas mit mir“, raunt Erik und sein Blick wandert erneut in mein Gesicht. „Ihr könnt bei dem Lärm eh nicht schlafen.“

Ich sehe Ellen an und lächele ihr zu. Mir will nicht in den Sinn kommen, warum sie hier den Moralapostel spielt. Sie ist sonst auch nicht so und kann schlecht die Party ihres großen Bruders crashen.

In einem Anfall von „Geschwister sollten nett zueinander sein“ sage ich: „Kurz können wir doch. Ein Getränk, okay?“, um die Stimmung zwischen den beiden etwas zu entschärfen.

Mir selbst geht es im Moment zu gut, und ich möchte, dass das so bleibt. Mein Befinden ist zumindest besser, als ich es je für möglich gehalten hätte. Solange ich beschäftigt bin, gehören meine Gedanken nur mir und nicht Marcel oder Tim. Und um sie auch nicht wieder zu ihnen gleiten zu lassen, ist mir etwas Trubel um mich herum nur recht.

Mich trifft Ellens ungläubiger Blick. Aber sie lässt sich von mir erweichen, scheint aber nicht gerade glücklich über meine Entscheidung zu sein.

Erik wirft seiner Schwester einen Handkuss zu. Doch sein Blick wirkt unergründlich und wenig freundlich. Fast erscheint mir seine Geste verächtlich, statt geschwisterlich zugetan. Er ist offensichtlich von Haus aus kein netter Typ. Aber das hatte Ellen mir in den letzten Tagen auch schon mehrfach zu verstehen gegeben.

Trotzdem werde ich bei den beiden fast schon ein wenig melancholisch. Immerhin haben sie ein normales Geschwisterverhältnis. Nicht wie ich und Julian.

Erik bringt uns tatsächlich ein Bier, das er mit einer theatralischen Bewegung vor uns öffnet. Dabei grinst er seine Schwester unverschämt an.

Ich bin etwas verwirrt. Hatte er nicht letztes Wochenende braune Augen wie Ellen? Seine Augen wirken heute seltsam dunkel und seine langen, dichten Augenwimpern tonnenschwer und geben seinem Blick etwas Verwegenes. Aber mir fällt trotzdem wieder auf, dass die beiden sich sehr ähneln. Erik hat das gleiche feingeschnittene, schmale Gesicht, aber eine gerade Nase, während Ellens etwas schief ist. Außerdem hat er breite, interessant geschwungenen Augenbrauen, die dunkler sind als seine blonden Locken, die ihm heute wild ins Gesicht fallen.

Ellen nickt nur, als wäre ihr das Flaschenöffnen auf diese Weise wichtig. Warum auch immer. Hier kann es schließlich nicht darum gehen, dass sie untergeschobene Drogen oder KO-Tropfen befürchtet.

Wir werfen uns zusammen in den freien Sessel und sehen uns dicht aneinandergedrängt die Videos an.

„Prost!“, raune ich ihr zu.

„Prost!“, antwortet sie und wir lassen die Flaschen aneinander klirren. Sie scheint ihre Wut langsam wieder herunterzufahren.

Interessiert schaue ich mich in dem Raum um und sehe Erik am Schrank lehnen und uns beobachten. Schnell sehe ich weg. Er ist mir heute irgendwie unheimlich.

Noch ein neuer Pulk junger Leute trifft ein und der Raum füllt sich noch mehr. Ellen winkt Daniel zu, der ihr einen Handkuss zuwirft. Er ist der Fahrer des BMWs, der uns letzten Samstag nach Hause brachte.

Ich bin von seiner Geste überrascht und seine blauen Augen ruhen ausschließlich auf Ellen, als wäre sie sein Universum. Dabei streicht er sich durch sein kurzes, dunkles Haar.

„Hu, was war das denn?“, frage ich neugierig und spreche auf den Handkuss an.

Ellen grinst. „Du meinst wegen Daniel? Der ist voll süß und wir waren Mittwoch noch zusammen im Kino“, flüstert sie und ich knuffe ihr in die Seite. „Soso!“

Sie hatte mir nichts davon erzählt, aber ich erinnere mich, dass sie es am Mittwochabend sehr eilig hatte.

Zwei Videos später, und nach dem leeren des Biers, wird Ellen unruhig.

„Ich gehe mal eben aufs Klo. Kann ich dich hier einen Moment allein lassen?“, fragt sie.

Ich nicke.

Sie schiebt sich aus dem Sessel und geht.

Ich bin froh, etwas mehr Platz zu haben und mache es mir bequem, mich auf die Videos konzentrierend. Aber ich bemerke trotzdem, dass Daniel den Raum direkt hinter Ellen verlässt. Sind die beiden irgendwie verabredet?

„Wo ist Ellen hin?“, fragt Erik plötzlich neben mir.

Ich bin verwirrt. Sie ist doch gerade erst aus dem Raum verschwunden und schon fragt er nach ihr.

„Toilette“, brumme ich und sehe mir weiter das nächste Video an. Dabei versuche ich ihn zu ignorieren.

„Magst du?“ Erik setzt sich auf die Sessellehne und reicht mir eins der bunten Getränke.

Ich sehe aus dem Augenwinkel den Riss in seiner Jeanshose, der über seinen Oberschenkel verläuft und darunter kräftige Muskelpartien erahnen lässt. Kann er sich keine heilen Jeans leisten?

„Was ist das?“ Ich sehe auf das Glas und habe das Gefühl, bei ihm vorsichtig sein zu müssen.

Ich höre ihn leise lachen, sehe ihn aber nicht an, als er antwortet: „Muntermacher. Schmeckt gut. Probiere mal!“

Ich nehme das Glas entgegen und probiere das etwas dickflüssige Getränk. Es ist teuflisch süß.

„Danke!“ Ich hoffe, er geht jetzt wieder. Aber stattdessen nimmt er sich eine Zigarette aus seiner Schachtel und bietet mir auch eine an. Ich nehme sie, ohne ihn anzusehen und er gibt mir Feuer. Langsam wird mir klar, dass ich nach Marcel und Tim überhaupt nicht scharf darauf bin mit einem Mann irgendwelche Konversation zu betreiben. Aber Erik geht nicht. Er stößt sein Glas an meins und raunt: „Prost!“

Ich nicke nur und nehme noch einen Schluck. Dabei lasse ich meinen Blick durch den Raum zur Tür wandern. Wo bleibt Ellen nur?

„Wo kommst du eigentlich her? Ich habe dich noch nie vorher hier irgendwo gesehen“, fragt er und schaut auf mich herunter. Ich spüre seinen Blick wie ein Brenneisen auf mir. Unangenehm.

„Ich komme auch nicht aus Osnabrück. Ich wohne außerhalb“, gebe ich eine vage Angabe und sehe an ihm vorbei.

Sein Blick fixiert mich immer noch und eine Locke fällt in sein Gesicht. Ich sehe das aus dem Augenwinkel und wage nicht, ihn direkt anzusehen.

„So, von außerhalb! Und gibt es da außerhalb so etwas wie einen Freund?“, fragt er und betont unwirsch das Wort „außerhalb“.

„Nicht mehr“, antworte ich ehrlich und wünsche mich in diesem Moment an Marcels Seite, wo ich doch immer behütet unterkriechen konnte. Die Anwesenheit und der Blick von diesem aufdringlichen Typ beunruhigen mich allmählich immer mehr.

„Gut!“, raunt er und lässt sich, bevor ich Einwände erheben kann, zu mir in den Sessel rutschen.

Ich will aufstehen und ihm den Platz überlassen, aber er legt den Arm um mich und hält mich fest. „Wo willst du hin?“, fragt er, als könne er sich gar nicht vorstellen, warum ich jetzt aufstehen will.

„Ich muss mal gucken, wo Ellen steckt“, brumme ich und fühle mich schrecklich unbehaglich.

In dem Moment kommt sie auf uns zugestürmt und reißt ihren Bruder aus dem Sessel. „Das ist mein Platz! Verschwinde!“, faucht sie ihn böse an. Sie nimmt mein Glas und riecht daran und dann an meiner Zigarette.

Das ist mir dann doch etwas peinlich. Er ist doch ihr Bruder!

„Mann Ellen, was soll das?“, schnauzt Erik sie auch schon aufgebracht an und schiebt seine Locken hinter das Ohr. Eine kürzere Strähne fällt ihm in einem welligen Kringel wieder ins Gesicht.

„Sie hat verdammt schlechte Erfahrungen mit Brüdern gemacht … wie ich auch“, faucht sie und funkelt ihn wütend an.

Eriks Blick wird noch eine Nuance dunkler, aber er dreht sich auf der Stelle um und geht.

Mich angrinsend, fragt Ellen: „Alles klar?“

Kleinlaut flüstere ich: „Ja schon. Warst lange weg.“

Ellen lächelt jemandem zu und ich sehe Daniel an der Tür stehen und ein Bier in der Hand halten. Das ist wohl die Erklärung.

Wir bleiben nicht mehr lange und schließen alle Türen bis in Ellens Reich, die wir schließen können. So ist der Lärm weitgehend ausgesperrt.

Als wir endlich in der Waagerechten liegen, frage ich Ellen: „Was meintest du damit, dass du auch schlechte Erfahrung mit deinem Bruder gemacht hast? Was hat er denn getan?“

„Der ist nicht so schlimm wie dein Bruder, aber es reicht“, brummt sie nur und äußert sich nicht weiter. Ich frage lieber auch nicht weiter nach.

Wir schlafen am nächsten Tag bis mittags, bummeln durch die Stadt und machen nachmittags noch die Hausarbeiten für Montag fertig. Eigentlich wollen wir noch am Abend los, aber Ellen hat keine richtige Lust und wir beschließen, uns bei ihr einen Videofilm anzuschauen. Auch ihre Fernsehanlage ist mit allem Drum und Dran. Die Eltern müssen wirklich reich sein.

Aber es ist Samstag, und mir drängt sich immer wieder auf, dass mein altes Leben heute die letzte Scheunenfete des Jahres feiert.

Es ist ein komisches Gefühl, nicht dabei zu sein. Aber dieses Leben ist vorbei und mit seltsam bleischwerem Herzen versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren.

Irgendwann klopft es an Ellens Zimmertür und Erik schaut herein. „Ellen, Daniel ist da. Kannst du eben kommen? Irgendwas ist los.“ Er klingt herablassend und arrogant, als könne er sich nicht vorstellen, dass Daniel etwas Wichtiges von Ellen will.

Ich weiß mittlerweile, dass Daniel Eriks bester Freund ist und die beiden ständig zusammenhängen. Ellen sagte mir gestern noch, dass dieser Umstand der einzige dunkle Aspekt an Daniel und seinem Wesen ist. Ansonsten scheint sie ihn wirklich zu mögen.

Ich kann ihn noch nicht einschätzen und glaube, dass er mich nicht gerne an Ellens Seite sieht. Aber ich weiß nicht, warum das so ist.

Ellen springt sofort auf und bittet mich in ihrem Zimmer auf sie zu warten. Dann geht sie und ich schaue beunruhigt den Film weiter. Was kann nur passiert sein?

Es dauert und dauert. Irgendwann klopft es wieder an der Tür und Erik steht erneut im Türrahmen. „Carolin, Ellen musste weg. Magst du zu uns kommen? Wir sind in der Küche und backen Plätzchen.“ Diesmal klingt er freundlicher.

Im Sommer Plätzchen backen?

„Ne, lass mal. Ich schau mir noch den Film an“, winke ich verunsichert ab.

Er kommt ins Zimmer und ich starre ihn erschrocken an.

„Gut, dann schaue ich mit“, sagt er, als wäre es das normalste der Welt.

Das ist doch wohl ein Scherz!

Er steuert direkt das Bett an und ich kann es nicht fassen. Ich will mit ihm auf gar keinen Fall fernsehen und schon gar nicht, wenn wir zusammen dabei auf Ellens Bett liegen müssen. Die bringt mich um … oder ihn, wenn sie das sieht.

„Okay, ich komme ja!“, zische ich und springe regelrecht von der Matratze.

Erik schmunzelt und nickt süffisant. War das seine Absicht?

Er wartet in Seelenruhe ab, bis ich meine Schuhe übergestreift habe und an ihm vorbei durch die Tür schlüpfe.

Ich muss mir dabei eingestehen, dass ich schon etwas neugierig bin, wer da was für Plätzchen backt.

Tatsächlich riecht es nach Keksen, als wir die Treppe hinunter in den unteren Wohnbereich gehen und die Küche ansteuern. Es herrscht schon am Eingang reges Treiben, laute Musik und Gelächter. Als wir in den Raum treten, sehen alle auf.

„Das ist Carolin!“, stellt Erik mich vor, was aber scheinbar niemanden wirklich interessiert. Er schien das auch nur anstandshalber gesagt zu haben.

Seine Hand in meinem Rücken drängt mich zu einer großen Esstheke weiter und er schiebt mir einen Hocker zurecht.

Ich setze mich verunsichert und er sagt freundlich: „Ich hole dir etwas zu trinken. Möchtest du etwas Bestimmtes?“

„Weiß nicht. Vielleicht ein Bier?“, frage ich verunsichert.

Diese fremden, jungen Leute, die mich mit Desinteresse strafen oder mich sogar herablassend mustern, geben mir das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Erik nickt und verlässt die Küche, was mich etwas irritiert. Ein Mädel steht vor dem offenen Kühlschrank und nimmt ein Bier heraus. An der Tür ist ein integrierter Flaschenöffner, an dem sie gekonnt die Flasche öffnet und damit zu der Gruppe an der Tür Stehender geht, durch die Erik gerade verschwunden ist.

Mich völlig fehl am Platz fühlend, will ich lieber wieder in Ellens Zimmer gehen, als ein Typ mit einem langen Pferdeschwanz mir einen Teller vor die Nase stellt.

„Die sind sau gut!“, rühmt er die runden Kekse, die nicht besonders appetitlich aussehen. „Willste?“

Ich bin über seine fast schon netten Worte irritiert, die er an mich richtet.

Natürlich nehme ich einen seiner Kekse, wenn er sie mir schon so nett anbietet. Und er schmeckt - wenn man mal von dem seltsamen Nebengeschmack etwas absieht. Aber ich habe Hunger und esse auch noch einen zweiten. Auch der Langhaarige bedient sich und auch andere, die an mir vorbeikommen, greifen beherzt zu.

Erik taucht wieder auf und lacht, als er mich an einem Keks knabbern sieht. „Braves Mädchen.“ Seine Augen blitzen dabei auf und ich sehe, dass sie heute brauner sind als gestern. Auch sein Blick wirkt klarer. Aber ich weiß nicht, was er meint. Wohl, weil ich hier noch brav sitze.

Er stellt mir eine Cola hin. „Alkohol gibt es für dich erst mal besser nicht“, sagt er und um seine Mundwinkel spielt ein verschmitztes Lächeln.

Ich verstehe nicht, was der Ausspruch soll. Aber vielleicht hat Ellen ihm verboten, mir Alkohol zu geben, wenn sie nicht da ist.

Er nimmt sich auch einen Keks und schiebt mir noch mal den Teller hin.

Ich nehme auch noch einen und er grinst mich an. Das ist schon alles komisch.

Als ich fertig gegessen habe, zieht er mich vom Hocker.

Beunruhigt sehe ich mich um, weil ich nicht weiß, was er vorhat.

Er beugt sich zu mir vor und raunt: „Komm, wir gehen nach oben.“

Ich starre ihn verunsichert an. Was hat er nur mit mir. Er soll sich doch um seine Freunde kümmern und nicht um mich. Außerdem will ich nicht mit ihm irgendwohin gehen.

Er dreht sich mit mürrischem Blick zu mir um, als ich ihm nicht folge, als könne er es nicht fassen. Seine Hand schnellt vor und greift nach meinem Handgelenk, bevor ich es verhindern kann. Sowieso bin ich heute irgendwie nicht besonders auf Zack. Meine Reaktion lässt wirklich zu wünschen übrig und mein Kopf füllt sich mit einem zähflüssigen Nebel. Wahrscheinlich liegt das an der abgestandenen Luft.

Er zieht mich erbarmungslos hinter sich her … hoch in sein Wohnzimmer.

Ich will protestieren, weiß aber, dass ich hier und ohne Ellen keine Chance gegen ihn habe. Er füllt groß und stark den kompletten Raum vor mir. Zumindest kommt es mir so vor und mein Herz beginnt ängstlich gegen meine Brust zu hämmern.

Nur, weil überall junge Leute herumstehen und trinken, rauchen oder sich unterhalten, versuche ich mich zu beruhigen, weil mir eigentlich nichts passieren kann. Trotzdem ist mir klar, dass ich die nächste Gelegenheit nutzen muss, um mich wieder in Ellens Zimmer abzusetzen.

„Komm, ich möchte tanzen“, höre ich Erik sagen.

„Oh ne! Nicht tanzen!“, erwidere ich erschrocken, was aber offensichtlich von der lauten Musik verschluckt wird, weil Erik nicht darauf reagiert. Er zieht mich einfach in seine Arme.

Erik ist ein guter Tänzer, was ich schon am letzten Samstag auf unerfreuliche Weise feststellen musste. Trotz seiner bulligen Gestalt war er sehr vorsichtig mit mir umgegangen, als wäre ich aus Porzellan und hatte mich kaum berührt. Da war sogar Tim, der körperlich fast nur die Hälfte von Erik ist, wesentlich ruppiger mit mir umgegangen.

Aber ich hatte Schwierigkeiten, die Nähe eines männlichen Wesens zu ertragen – und habe es noch. Zu sehr hatte ich in den letzten zwei Wochen unter ihnen gelitten. Und Marcel fehlt mir schrecklich. Das wird mir in diesem Augenblick auf beängstigende Weise klar und dieses Gefühl gewinnt erschreckend an Intensität.

Erik zieht mich etwas mehr an sich, sich wohl daran erinnernd, wie ich beim letzten Mal vor ihm geflohen war. Da hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mich aus seinem Griff winden werde. Diesmal scheint er schlauer zu sein – oder ehrgeiziger.

Ich sehe immer wieder zur Tür, ob Ellen nicht bald aufkreuzt, um mich zu retten. Dabei geht es nicht nur um ihren Bruder, der mich im Arm hält, sondern auch um die aufkeimenden Gedanken an Marcel, die meinen Kopf matern. Ob er heute bei der Scheunenfete ist und dort seinen Spaß hat? Zumindest lässt mich der Gedanke daran und an das, was auf der letzten Scheunenfete passiert war, erschauern.

Mittlerweile bereue ich, dass ich ihm das mit Tim gesagt habe. Ich hatte meine letzte Chance auf ein bisschen Glück damit zerstört.

Ich schlucke und spüre die Traurigkeit darüber in mir hochkriechen.

„Alles klar?“, fragt Erik und sieht mir in die Augen, sich etwas zu mir herunterbeugend.

„Ja sicher!“, seufze ich und verdränge den Gedanken an Marcel. Sogar Tim fehlt mir in diesem Moment. Ich möchte nicht hier sein und in den Armen dieses blondgelockten Bären liegen … und ich will nicht mehr tanzen. Mich haben meine Erinnerungen plötzlich so fest im Griff, dass ich heulen könnte.

„Können wir bitte aufhören?“, frage ich und klinge jämmerlich.

„Wenn du mich so lieb bittest.“ Erik sieht grinsend über mich hinweg. In dem Moment erhasche ich einen Blick auf Daniel, der an der Tür steht und zu uns herüberstarrt.

Ich sehe mich nach Ellen um.

Erik nickt Daniel zu und der nickt zurück. Daniels Blick wirkt mürrisch und mir fällt wieder ein, dass er mich eigentlich nicht mag.

Wo Ellen wohl ist? Ich sehe sie nirgends.

Erik lässt mich los und ich eile an Daniel vorbei rüber in ihre Wohnung. Ich sehe das als meine Chance an, mich aus Eriks Fürsorge zu stehlen, die ich sowieso nicht verstehen kann.

Ellen ist nicht in ihrem Zimmer und auch nicht in ihrem Badezimmer. Ich suche sie woanders, finde sie aber nirgends. Mir wird mulmig. Unten in der Küche ist sie zwischen den vielen Gestalten, die sich mittlerweile eingefunden haben, auch nicht auszumachen.

Der Langhaarige nimmt erneut ein Blech Kekse aus dem Ofen.

Plötzlich steht Erik wieder hinter mir. „Suchst du mich?“, fragt er ironisch.

„Nein Ellen. Ich dachte, sie ist auch wieder da. Ich habe Daniel gesehen“, antworte ich leise und verunsichert.

„Die kommt gleich nach. Sie hat Schwierigkeiten mit einer Freundin, der es nicht so gut geht. Sie muss aber auch gleich da sein“, erklärt Erik und scheint mich beruhigen zu wollen. Er sieht auf die Uhr und schenkt mir tatsächlich ein beruhigendes Lächeln. „Tanzen?“, fragt er und legt den Kopf etwas schief, um mir ins Gesicht sehen zu können.

Ich schüttele den Kopf und lächele zaghaft zurück. Auf seine Art ist Erik eigentlich doch irgendwie nett.

„Nein!“, erwidere ich aber trotzdem, um meinen Unwillen dennoch zu verdeutlichen. Mir ist irgendwie nicht gut. Vielleicht hätte ich die Kekse nicht so in mich hineinstopfen sollen. Offenbar vertragen sie sich auch nicht mit der Cola. Mein eh schon labiler Magen dankt mir das nicht gerade. „Ich gehe lieber wieder in Ellens Zimmer und warte da auf sie.“

Ich lasse Erik stehen und gehe die Treppe hoch. Als ich gerade auf Ellens Seite der Etage abbiegen will, wird nach meiner Hand gegriffen und ich zurückgehalten.

„Ach, Blödsinn! Da bist du doch ganz allein. Hier ist die Party!“, sagt Erik mit seiner dunklen Stimme und zieht mich gnadenlos zu seinem Wohnzimmer.

Ich bin etwas wie ferngesteuert und kann ihn nur gewähren lassen. Vielleicht kann ich im Sessel ein wenig die Videos ansehen? Die Welt um mich herum beginnt langsamer zu laufen oder ich werde immer langsamer. Mein Kopf scheint weiter in einem Nebel zu versinken, der mich seltsam willenlos macht.

Erik lässt mich los und spricht mit einer jungen Frau, die ihn regelrecht anhimmelt und ihre langen, rotlackierten Fingernägel nach ihm ausstreckt.

Ich steuere auf den Sessel zu und schaue auf den großen Bildschirm, an dem gerade ein Lied anläuft, das mich magisch in seinen Bann zieht. Auf dem Bildschirm erscheint in dunklen Farben eine Welt, die auf einen weißen Kokon zusteuert. Ein Schmetterling schlüpft aus ihm hervor, spreizt seine Flügel und startet in ein neues Leben. Doch er findet sich in der Welt nicht zurecht und er lässt sich von einer vorbeifliegenden Schar Faltern mitreißen. Mit ihnen mitfliegend, landet er letztendlich in einem Spinnennetz. Das Lied dazu lässt mich wie gebannt den Bildschirm anstarren. Es versetzt etwas in mir in seltsame Schwingungen.

Erik taucht neben mir auf. Ich spüre seine Hand in meinem Rücken, bin aber im Moment gar nicht in der Lage, mich daran zu stören. „Wer ist das?“, frage ich nur.

„Blueneck Lilitu“, raunt Erik neben mir völlig fasziniert.

Mag er das Lied und das Video auch?

Als ich ihm einen schnellen, fragenden Blick zuwerfe, sieht er mich an, statt die Mattscheibe.

Als das Lied zu Ende ist, folgt ein deutsches Lied von Style Aroma und Besk mit dem Text „Ich bin nicht glücklich“. Und wieder mit viel Klavier.

Ich komme aus meinem Gefühlschaos, dass das erste Lied in mir verursacht hat, kaum wieder heraus und sehe mich um, ob ich mich irgendwo hinsetzen kann.

Der Sessel ist mit einem knutschenden Pärchen belegt und das Sofa mit drei Typen, die sich das scheinbar ansehen.

„Komm!“ Erik packt mich und reißt mich aus meiner Verwirrung, die mich immer noch wegen dem Lied umfängt, hebt mich wie eine Puppe hoch und setzt mich auf seine Anrichte.

Ich bin völlig irritiert, dass er das tut und auch noch schafft. Es ist ziemlich hoch.

Er stellt sich direkt vor mich und greift nach einer Fernbedienung, die in einer Schale neben mir liegt, dreht sich um und drückt ein paar Knöpfe.

Brutal wird das Lied von Style Aroma abgewürgt und Blueneck Lilitu läuft wieder an und schlägt mich erneut in seinen Bann. Es ist wirklich schön.

Erik lässt die Fernbedienung neben mir in die Schale fallen und sieht zu mir auf.

Ich sehe fasziniert auf den Bildschirm und lasse das Lied durch meinen Körper rauschen. Dabei spüre ich Eriks warmen Brustkorb an meinen Beinen und sehe von dem Bildschirm in sein Gesicht. Er steht so dicht vor mir, dass ich nicht mal herunterspringen könnte, ohne direkt in seinen Armen zu landen.

Seine Hände legen sich um meine Taille und fixieren mich an meinem Platz. „So können wir uns mal vernünftig unterhalten“, erklärt er die Aktion, während ich ihn nur wie ein Hintergrundrauschen wahrnehme.

Das Lied läuft aus, um wieder von vorne zu beginnen. Ich sehe erneut die dunkle Welt, die auf den weißen Kokon zusteuert …

„Was ist mit deinem Bruder? Ellen sagte, du hattest Probleme mit ihm?“, höre ich Erik fragen und sehe ihn wieder an. Will er jetzt wirklich mit mir über Julian reden?

Ich schüttele langsam den Kopf. „Ach, ist doch egal“, murmele ich und sehe erneut auf den Bildschirm. Was ist das bloß für ein Lied? Das ist Marcel und Tim zusammen. So schön und fasst nicht auszuhalten!

Meine Gefühlswelt wird durcheinandergeschüttelt, wie ein Schiff bei starkem Seegang. Dabei will kein Gedanke mehr vernünftig zu einem anderen passen.

„Nun sag schon. Was war mit ihm?“ Erik legt seinen Zeigefinger auf meine Wange und drückt meinen Kopf zur Seite, damit ich ihn wieder ansehen muss. „Ist der dir an die Wäsche gegangen?“

Ich sehe ihn beunruhigt an. Ist es das, was er bei Ellen verbockt hat?

„Nein!“, brumme ich und wünsche mir, dass er mich endlich loslässt. Mein Blick gleitet erneut zu dem Video, als wäre ich damit verbunden.

„Was war es denn dann? Komm, sag es mir. Ich bin wirklich neugierig“, raunt Erik mit strengem Blick und in einem barschen, ungeduldigen Ton.

Er nervt und meine Stimmung sinkt, wie in dem Video der Schmetterling im Sog der vielen anderen Falter. Mir wird flau im Magen und eine Sehnsucht packt mich. Ich will zu Marcel! Warum kommt Ellen nicht endlich wieder?

Ich sehe über Erik und die seltsamen Gestalten hinweg, die den Raum bevölkern, als das Lied endlich endet und ich hoffe, es beginnt nicht wieder von vorne.

Es fängt tatsächlich ein anderes Lied an und ein neues Video. Ich atme auf.

„Ich lasse dich nicht eher runter, bis du mir gesagt hast, was ich wissen will. Hat der dich belästigt?“ Erik grinst unverschämt und er wird mir wirklich langsam unsympathisch.

Plötzlich schießt es mir durch den Kopf. Marcel, der mich aus dem Labor holt und völlig panisch nach einem Krankenwagen schreit. Oh Mann! Ich fühle mich von dieser plötzlichen Erinnerung wie überfahren.

„Komm, spucks aus, sonst lasse ich dich hier nicht weg“, zischt Erik ungeduldig. Sein Blick wird hart und unnachgiebig und ich spüre die kalte Angst durch meine Adern kriechen. Aber ich weiß nicht, ob es an Erik liegt oder weil er meine Vergangenheit heraufbeschwört.

„Julian wollte mich umbringen“, raune ich und das Entsetzen packt mich stärker.

Erik scheint jetzt verwirrt zu sein. „Was? Hast du Halos?“

„Wieso? Ne! Er hat mir in den Hals geschnitten.“ Ich schiebe meine Haare an die Seite, beuge mich zu ihm runter und zeige ihm die Narbe. Damit soll doch wohl alles geklärt sein und er lässt mich endlich in Ruhe.

„Krass! Das ist natürlich hart“, raunt er überrascht, packt mich um die Hüfte und hebt mich von der Anrichte runter. Er stellt mich direkt vor seine Füße und seine Lippen legen sich plötzlich auf meine.

Ich drehe den Kopf zur Seite und schiebe ihn energisch von mir weg, ein: „Lass das“, zischend.

„Warum?“ Seine Stimme klingt plötzlich ungewöhnlich weich.

In dem Moment kommt Ellen ins Zimmer, schubst alle weg, die ihr im Weg stehen und reißt mich von ihrem Bruder weg.

„Ellen! Alles klar?“, fragt Erik mit einem bedrohlichen Unterton und zieht mich erneut zu sich heran.

„Erik, hör auf!“, brummt sie mit wütendem Blick. Sie sieht mich an und wird noch wütender. „Carolin, wie geht es dir?“, fragt sie und ich finde die Frage verwirrend.

„Weiß nicht so recht.“

„Ich rieche die Scheiße doch bis nach draußen“, faucht Ellen aufgebracht. „Hat Erik dir irgendetwas gegeben?“

Ich schüttele den Kopf. „Nur eine Cola. Er hat sie vor mir aufgemacht.“

Ich denke das ist wichtig.

Ellen sieht mir in die Augen und Erik lacht laut auf, bevor er klarmacht: „Sie hat die Kekse allein gegessen. Ich bin unschuldig und jetzt bleibt sie bei mir. Sie schläft doch eh heute hier. Und du musst dich bestimmt noch um Tina kümmern. Ich kümmere mich so lange um Carolin.“ Den letzten Satz drückt er süffisant über die Lippen.

Ellen scheint hin und her gerissen zu sein. „Verdammt!“, brummt sie und schießt aus dem Raum.

Ich will hinterherlaufen, aber Erik hält mich fest und ich fühle mich seltsam benommen und unfähig, mich loszureißen. Außerdem ist mir zum Heulen. Warum lässt Ellen mich hier stehen? Wie Marcel. Und Tim. Alle sind weg.

Ich sehe mich vor einer Linie stehen. Da wo ich stehe, sind alle weg … springe ich über die Linie, sind alle wieder da. Aber ich kann nicht hinüberspringen.

Erik zieht mich in seine Arme und tanzt mit mir, langsam und bedächtig.

Ich fühle mich nicht in der Lage, mich zu wehren. Die traurigen Gedanken an Marcel und Tim halten mich gefangen und machen mich irgendwie willenlos.

Ellen kommt wieder in den Raum gerauscht und sieht sich nach Daniel um. Der geht zu ihr, als sie ihn zu sich winkt.

Ich sehe sie an und hoffe, sie wird jetzt hierbleiben. Ich fühle mich in den Armen ihres Bruders nicht wohl. Zumal erneut das Lied von Blueneck anläuft und mir mittlerweile eine Gänsehaut über den Körper treibt. Ich kann den Bildschirm von hier aus nicht sehen … aber das Lied dringt aus allen Boxen in meine Eingeweide.

Ellen redet auf Daniel ein und er schüttelt den Kopf, was sie wütend macht. Sie sieht auf die Uhr und dann zu mir. Was ist nur los?

Mir ist seltsam zumute. Ich will nach Hause.

Erik zieht mich noch fester in seine Arme und ich versuche ihn etwas auf Abstand zu halten. Aber ich fühle mich benommen und wie der Schmetterling in dem Lied. Alles um mich herum wirkt wie in Zeitlupe. Selbst Erik, der mein Kinn umfasst, um mir in die Augen sehen zu können. Was sucht er in meinen Augen? Er irritiert mich.

„Hey, Süße! Wie fühlst du dich?“, fragt er und dieses „Süße“ geht mir voll quer.

„Ich muss mal“, antworte ich aufgebracht und schiebe ihn, meine ganze Kraft aufbietend, energisch weg.

Erik lässt mich widerwillig los und ich gehe durch den Raum rüber zu Ellens Reich. Ich will nicht bei Erik auf die Toilette gehen, wo immer die auch sein mag.

„Erik!“, höre ich hinter mir Ellen wütend rufen.

Ich drehe mich verunsichert um. Er ist direkt hinter mir und Ellen eilt an ihm vorbei und zieht mich in ihr Badezimmer. Krachend fällt die Tür ins Schloss und sie schließt sogar zu.

Ich gehe auf die Toilette, während sie mich verlegen mustert. Leise, und als hätte sie ein schlechtes Gewissen, höre ich sie sagen: „Es tut mir leid. Ausgerechnet heute ist das mit Jasmin passiert. Sie ist eine alte Freundin und sie hat Probleme mit Drogen. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht. Ich habe, seit das mit Alex war, immer Angst, dass es noch jemanden trifft.“ Sie klingt dabei völlig fertig. „Deshalb habe ich etwas getan, was du mir wahrscheinlich nie verzeihen wirst. Aber es geht nicht anders. Ich muss gleich noch mal los. Jasmin war bei Tina gewesen. Die habe ich noch nicht finden können. Ich wollte dich holen und mitnehmen, aber ich wusste nicht, dass Erik hier heute seine eigene Session geplant hat und du da voll reingeraten bist“, brummt sie wütend.

„Nicht schlimm. Hoffentlich findet ihr diese Tina. Ich komme schon klar“, versuche ich sie zu beruhigen, und verstehe nicht ganz, warum ich jetzt nicht mehr mit ihr mitfahren kann.

Ellen schüttelt besorgt den Kopf. „Nein, du kommst bald nicht mehr klar. Und die Geier kreisen schon.“

„Was?“ Ich verstehe nicht, von was sie spricht und mein Kopf wirkt immer umnebelter.

Ein Handy klingelt und sie atmet auf. „Endlich!“ Dann nimmt sie ab. „Okay, bleib vor der Tür und klingele bloß nicht. Schau, dass dich keiner sieht. Wir kommen zur Tür und du verschwindest mit ihr, so schnell es geht. Ich kann dir jetzt nichts erklären.“

Sie klingt wie gehetzt und scheinbar ist jemand am anderen Ende der Leitung, dem sie auch nichts erklären muss.

„Danke!“, sagt sie noch und legt auf.

„So, komm! Hier ist dein Handy.“ Sie gibt mir das Handy, mit dem sie gerade telefonierte, und ich frage mich, woher sie es hat. Sie muss es aus meiner Jacke aus ihrem Zimmer geholt haben. Aber warum? Sie hat doch ihr eigenes.

„Wo gehen wir denn hin?“, frage ich völlig verunsichert.

„Carolin, was jetzt auch passiert, du tust was ich dir sage. Versprichst du mir das?“, trichtert sie mir ein. „Und morgen darfst du mir dann den Kopf abreißen.“

Langsam werde ich nervös und ängstlich. Was ist nur los?

Sie macht die Badezimmertür auf und schiebt mich aus dem Raum.

Erik lehnt an der Wand neben seiner Wohnungstür und wartet auf uns. Hat er denn niemanden, um den er sich sonst noch kümmern muss?

Abermals höre ich das Lied im Hintergrund. Oder meine ich nur, dass ich es höre?

Daniel sieht uns kommen und schiebt sich vor Erik, ihm eine Zigarette anbietend.

Schnell zieht mich Ellen an den beiden vorbei die Treppe hinunter, was mir fast die Füße verheddert. Die Haustür aufreißend, schiebt sie mich in die kühle Nacht und direkt jemandem in die Arme.

„Ellen?“, rufe ich erschrocken und will wieder zurück zu ihr. Aber sie schmeißt die Tür hinter mir zu und schließt ab.

Ich stehe vor dem weißen Holz und kann es nicht fassen, dass sie mich einfach ausgesperrt hat.

In dem Moment bricht im Haus ein Tumult los und ich höre Erik Ellen anschreien. Er will die Tür aufreißen, die aber verschlossen ist.

„Carolin, komm! Ich nehme dich mit“, höre ich jemanden neben mir sagen und etwas durchzuckt mich wie ein Dolchstoß. Irritiert sehe ich mich um.

„Marcel, was machst du hier?“

Träume ich? Das Lied wird in meinem Kopf lauter.

Marcel zieht mich zur Straße, reißt die Autotür auf und schiebt mich in seinen Golf. Er beeilt sich, auf seiner Seite einzusteigen und fährt mit quietschenden Reifen los. Er sieht noch in den Rückspiegel und dann mich an.

Mein Blick muss dem eines Kindes gleichen, das zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum sieht.

„Diese Ellen hat mich angerufen. Sie wollte, dass ich dich da weghole. Sie meinte, sie könne nicht auf dich aufpassen und ihr Bruder hätte nichts Gutes mit dir vor. Und sie klang wirklich besorgt. Ich bin sofort losgefahren. Gut, dass ich in der Nähe war.“

Ich verstehe nichts. Nur das Marcel da ist und von Ellen gerufen mich nun abgeholt hat. Mir schießen Tränen in die Augen. Marcel ist wieder einmal gekommen, um mich zu retten. Wie immer.

„Danke, dass du mich nach Hause bringst.“

Marcel sieht mich kurz an. „Ich bringe dich nicht nach Hause. Was meinst du, was deine Eltern mit mir machen, wenn ich dich mitten in der Nacht bei ihnen abliefere, völlig stoned“, brummt er wütend.

Völlig was?

Ich sehe verwirrt aus dem Fenster und verstehe nicht, von was er da redet. Aber das wird auch nebensächlich, angesichts des Spektakels hinter der Scheibe.

Seltsamerweise scheinen die Lichter der Stadt heute alles übermächtig zu beherrschen und das nimmt mich gefangen. Dass man da überhaupt durchfahren kann? Ich sehe fast nichts außer Licht.

Ich schaue unsicher zu Marcel. Kann er das schaffen, das Auto dadurch zu lenken? Es sieht so aus, als wenn er das ohne Probleme meistert.

Ich schließe die Augen. Das viele Licht macht mich ganz konfus.

Sofort drängt sich mir der Gedanke an diese Linie auf, an der ich stehe. In meinem Inneren baut sich ein gutes Gefühl auf und verdrängt alles andere. Lachend springe ich über den weißen Strich in den Bereich „wieder da“. Ich sitze bei Marcel im Auto.

Ich muss lachen. Es geht mir gut.

„Was hast du dir eingeworfen?“, höre ich Marcel bissig fragen.

„Was eingeworfen?“, frage ich irritiert und versuche ernst zu bleiben.

„Mensch Carolin, stell dich doch nicht blöd“, faucht er ungehalten. „Vor zwei Wochen warst du noch völlig normal und jetzt steigst du bei irgendwelchen Junkies ab und nimmst Drogen.“

So ein Quatsch. Marcel sieht das Ganze völlig falsch. Ich habe nur angefangen zu rauchen. Mehr nicht. Das muss ich ihm unbedingt sagen. Aber mein Kopf und mein Mund sind nicht ganz kompatibel. Es scheint mir ewig zu dauern, bis ich antworte: „Ich habe nur angefangen zu rauchen und das tust du auch.“

Ich will wütend klingen, aber das geht irgendwie nicht. Ich stehe an der Linie auf der Seite von ‚nicht wütend‘ und komme nicht auf die andere Seite.

Marcel schüttelt den Kopf und wir verlassen über die letzte Ampel die Lichter der Stadt und fahren in die Dunkelheit hinein.

Die Dunkelheit ist auch irgendwie cool. Damit ist das viele Licht weg. Es liegt hinter uns und frisst die Stadt. Wir sind dem entkommen.

Ich bin erleichtert und raune seufzend: „Geschafft!“

Auch im Auto ist es dunkel und ich kann Marcel nicht mehr richtig sehen. Aber er ist da.

Ich vergewissere mich aber lieber noch mal und sehe zu der Silhouette, die den Wagen lenkt.

„Was ist geschafft?“, fragt er.

„Ah, das Licht ist weg“, erkläre ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dabei spüre ich, dass ich ruhiger werde. Das muss die Dunkelheit machen.

Schweigend lassen wir Wallenhorst links liegen und fahren über die zweispurige Straße weiter, bis wir über einen Hügel kommen, hinter dem sich die Stadt Bramsche mit ihren gleißenden Lichtern präsentiert.

Wir fahren von der Schnellstraße ab und ich bin irritiert. „Wo fahren wir hin?“

„Zu mir“, raunt Marcel nur.

Ich sehe verunsichert auf die Stadt, auf die wir unaufhörlich zurollen. Das ist Bramsche! Was sollen wir da?

Marcel erklärt: „Ich wollte dir das eigentlich am Sonntag erzählen. Aber dann war das mit dem MP3 Player und Tim.“

Er schluckt schwer und ich sehe ihn an.

MP3 Player und Tim. Ganz böse Sache.

Aber sie tangieren mich irgendwie nicht. Doch ich weiß zumindest, dass sie böse sind. Das ist mir klar. Doch ich fühle mich mittlerweile wie in einem Kokon, der mich vor unliebsamen Erinnerungen mit ihren negativen Gefühlsausbrüchen schützt. Wie der Schmetterling in Eriks Lied, der besser in seinem Kokon geblieben wäre.

„Ich habe eine Wohnung in Bramsche, die ich mir gerade einrichte“, höre ich Marcel sagen.

„Echt?“, frage ich und irgendwie ist mir plötzlich wieder zum Lachen.

„Ja, echt“, brummt Marcel genervt.

Was hat er nur? Ich beschließe, besser nichts mehr zu sagen. Ich habe das erschreckende Gefühl, sonst wirklich Lachen zu müssen. Und diese Gefühlsregung ist offensichtlich etwas, was Marcel noch wütender macht als er sowieso schon ist.

Nun tauchen erneut riesige Mengen Lichter vor uns auf, die sich wie greifende Arme nach uns ausstrecken und alles umschließen. Aber die Farben sind viel greller und es gibt Orangetöne und Gelbtöne …

„Wow!“, hauche ich ergriffen und sehe mir das Spektakel an, in das wir direkt hineinfahren.

Scheinbar problemlos bringt uns Marcels Golf durch dieses gewaltige Lichtspektrum, bis der Wagen plötzlich in eine tiefschwarze Dunkelheit eintaucht. Was ist auf einmal passiert?

„Wir sind da. Warte, ich mache Licht. Du bleibst sitzen, bis ich dich hole. Sonst ramponierst du mir noch meine Autotür“, knurrt Marcel.

Mann, ist der empfindlich. Warum sollte ich das tun?

Brav bleibe ich an meinem Platz und warte.

Grelles Licht schlägt über mir und dem Auto zusammen. Licht ist eigentlich echt cool!

Marcel macht mir die Tür auf. „Sei bitte vorsichtig. Hier ist nicht viel Platz“, ermahnt er mich und ich steige aus.

Wir sind in einer Garage. Was hatte er gesagt? Er hat eine Wohnung. Erst jetzt begreife ich, was er damit meint.

„Wohnst du hier?“

Marcel nickt. „Das ist das Haus meines Großonkels. Ich habe ihm erzählt, dass ich von zu Hause ausziehen will und eine Wohnung suche und er bot mir die Untergeschosswohnung hier an. Der Untermieter ist vor zwei Monaten ausgezogen und das Haus steht komplett leer. Ich bin also auch der Hausaufpasser.“

Durch eine Seitentür schiebt Marcel mich aus dem Gebäude in einen Garten und von dort zu einer Haustür, durch die wir in eine kleine, ziemlich leere Wohnung treten.

„Ich habe noch nicht viele Möbel, aber das kommt noch. Aber ich habe alles fertig gestrichen und geschrubbt. Der Untermieter muss ein ziemliches Schwein gewesen sein“, erklärt er.

Es riecht sogar noch nach Farbe und im Flur stehen verschiedene Eimer mit Farbresten und einer mit Wasser, in dem Pinsel und eine Farbrolle schwimmen.

Marcel schaltet überall Licht an und schiebt mich in die Küche. Das ist der einzige vollständig eingerichtete Raum.

„Darf ich mal deine Toilette benutzen?“, frage ich kleinlaut. Der neue Marcel schüchtert mich ein. Ist es wirklich erst zwei Wochen her, seit ich mich wegen dieser Katjageschichte von ihm trennte und eine, seit er mich dann wegen Tim abschoss?

Er nickt nur und sieht mich unter seiner Kappe seltsam an. Ich kann mir nicht denken, dass es ihn freut, mich hier zu haben. Er sieht zumindest nicht so aus.

Da er keinerlei Anstalt macht, mir den Weg zu zeigen, gehe ich selbst auf die Suche.

Es gibt ein komplett leeres Wohnzimmer und einen Raum, in dem Berge von Wäsche an der Wand lehnen. Eine große Matratze liegt auf der Erde, in der Marcel wohl schon geschlafen hat. Es gibt Kissen und eine zerwühlte Decke.

Das Badezimmer finde ich am Ende des Flures. Es ist klein, aber schön. Eine Dusche mit einer Glaswand und einer Toilette nehmen fast die gesamte hintere Wand ein. An der Seite ist das Waschbecken und zu meiner Überraschung steht daneben sogar eine Waschmaschine. An der anderen Wand steht ein Regal, in der auf einem Regalboden Handtücher und verschiedene Utensilien liegen. Die restlichen Böden sind noch unbenutzt.

Mein Blick gleitet zu dem Spiegel über dem Waschbecken und ich bin einen Moment verwirrt. Bin ich das? Und was ist mit meinen Augen? Das grünblau ist fast vollständig verschwunden.

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und gehe zur Toilette. Während ich auf dem kalten WC Sitz hocke, sehe ich mich weiter um. Marcel hat alles hier. Zahnbürste, Kamm, Rasierer. Er bewohnt diese Wohnung scheinbar wirklich schon.

Er hat nicht gelogen.

Als ich wenig später wieder in die Küche komme, sehe ich Marcel mit in den Händen vergrabenem Gesicht am Tisch sitzen. Ich bleibe im Türrahmen stehen und sehe ihn nur an.

Er sieht so gut aus und die ganze Wohnung ist so schön. Außerdem wirkt er so erwachsen und selbstständig … und ich?

Mir ist plötzlich zum Heulen.

Was mache ich bloß? Marcel ist bestimmt ganz unglücklich, weil er mich abholen musste. Was tue ich ihm nur wieder an?

Marcel schaut plötzlich auf und sieht mich im Türrahmen stehen.

Ich schlucke bei seinem Anblick, aber der Kloß in meinem Hals will nicht weichen.

„Was mache ich jetzt mit dir?“, fragt er und sieht mich kopfschüttelnd an.

Ich stehe nur da. Unschlüssig, was nun passieren soll.

„Willst du einen Kaffee oder so? Ich weiß auch nicht, was ich dir am besten gebe und was nicht. Ich habe keine Anleitung für die neue Carolin bekommen“, meint er barsch.

Was redet er für einen Quatsch.

„Ich will nichts. Hättest mich schließlich nicht abholen brauchen“, antworte ich, aber meine Stimme versagt mir fast.

„Ja klar! Und dann? Was meinst du, warum diese Ellen es für nötig hielt, jemanden dich da wegholen zu lassen? Und schau dich doch an? Du bist doch völlig fertig! Nicht auszudenken, was die Typen da mit dir angestellt hätten.“

Was für ein Aufriss. „Da wäre mir nichts passiert. Außerdem kann ich gut auf mich selbst aufpassen. Ich habe nicht mal etwas getrunken. Erik hat mir nur Cola gegeben. Extra, hat er gesagt.“

„Erik? Ah, ist das dieser Bruder von dieser Ellen? Glaub mir, du hast das nur nicht geschnallt. Tim hat da echt recht. So ein Mauerblümchen wie du geht da sang- und klanglos unter. Du hast nicht mal geschnallt, dass die dir Drogen gegeben haben“, knurrt er aufgebracht.

Ich muss mich hinsetzen. Marcel ist wirklich böse zu mir.

Langsam schleiche ich zu einem seiner Küchenstühle und setze mich. „Das stimmt doch gar nicht! Die Cola hat Erik vor mir aufgemacht. Das habe ich voll gecheckt. Und seine Zigarette kam auch aus der Schachtel.“

Ich beginne meine Taschen nach meinen Zigaretten abzusuchen. Aber die sind wohl bei Ellen geblieben … mit meiner Jacke. Ich habe noch nicht mal meinen Hausschlüssel mitbekommen.

„Hast du eine Zigarette für mich?“

Marcel sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Da kann man nur hoffen, dass du wirklich nicht schwanger bist“, raunt er leise und schüttelt den Kopf.

„Bin ich nicht!“, beteuere ich.

Er greift nach seiner Schachtel und gibt mir eine Zigarette, steckt sich auch eine in den Mund und gibt uns Feuer. Er beobachtet, wie ich rauche und schüttelt erneut den Kopf. „Das man in so kurzer Zeit so unter die Räder kommen kann“, brummt er leise und mehr zu sich selbst.

Aber ich habe es gehört.

„Bin ich doch gar nicht!“, sage ich und setze mich gerade hin, ihn hochmütig ansehend.

Was meint er eigentlich? Mir ging es nie besser!

Jetzt wird Marcel richtig böse. „So, nicht? Vor zwei Wochen hast du zwar mal auf einer Party Alkohol getrunken, aber das war’s. Jetzt rauchst du, säufst und nimmst Drogen. Keine zwei Wochen später. Und treibst dich mit seltsamen Typen in irgendwelchen dunklen Absteigen herum. Du schnallst nicht mal, wenn dir einer irgendeinen Scheiß gibt, damit er dich in die Kiste kriegt.“

„Hat doch keiner“, sage ich betroffen.

Marcel steht langsam auf und setzt sich direkt vor mir auf einen Stuhl. Seine Nähe lässt mein Herz seine Taktzahl erhöhen. Er sieht mich herausfordernd an und zischt leise: „Dann erzähle ich dir mal, wie ich das alles sehe.“ Sein Blick verfinstert sich. „Irgendwer hat dir heute auf irgendeine Weise Drogen verabreicht. Wahrscheinlich dieser Erik.“

Ich sehe ihn groß an. Marcel ist wirklich böse. Gar nicht nett. Überhaupt nicht.

„Überleg doch mal! Was ist passiert? Was hast du zu dir genommen oder geraucht?“

Ich überlege. „Nichts! Ich habe nur ein paar Kekse gegessen. Die hat man mir gegeben. Aber nicht Erik!“

Ich sehe Erik vor mir. „Braves Mädchen“, hatte er gesagt, als ich den dritten nahm. War da etwas in den Keksen?

„Oh Mann! Ich weiß nicht viel darüber. Aber wahrscheinlich waren das irgendwelche Drogenplätzchen. Und schau dir deine Pupillen an. Aber dass die das machen ohne dich zu fragen, ob du das überhaupt willst, zeigt doch, dass die nichts Gutes im Schilde führten“, knurrt er aufgebracht.

Marcel sieht alles viel zu schwarz. Es ist doch nichts passiert. Ich hatte alles unter Kontrolle.

„Hm, keine Ahnung. Wie sehen denn meine Pupillen aus?“, frage ich neugierig.

„So groß, dass fast nichts Grünes zu sehen ist. Und das bei dem Licht hier!“

Ach, alles Nonsens. Mir geht es schließlich gut. Ich spüre nichts. Vielleicht ist das Licht etwas ausfallend geworden und die Farben etwas unwirklich. Aber sonst? Ich rege mich nicht mal darüber auf, dass ich bei Marcel bin. Also ist doch alles gut!

„Vielleicht solltest du einfach schlafen gehen und den Rausch ausschlafen“, murmelt er nachdenklich und wirkt verunsichert. „Dann kann wenigstens nichts passieren.“

„Was soll denn passieren?“, frage ich verwirrt. Marcel ist wirklich komisch drauf.

„Keine Ahnung, was da für Wirkungen noch auftreten?“, brummt er.

Okay! Marcel ist mit mir überfordert. Das wird mir jetzt klar. Dabei ist doch nichts! Ich bin wie immer! Oder hat er Angst, dass ich ihm etwas antue?

„Hast du Angst, ich überfalle dich?“, frage ich und unterdrücke einen Lachanfall, der sich hocharbeitet. „Oder dass ich dich vergewaltige? Uuuh!“ Ich fuchtele ihm vor der Nase herum.

Mich ernst musternd, brummt er: „Damit könnte ich noch leben. Aber du verstehst mich nicht. Ich habe Angst um dich. Wenn ich sehe, was aus dir in so kurzer Zeit geworden ist, dann möchte ich nicht wissen, was in den nächsten Wochen noch alles mit dir passiert. Du bist völlig aus der Bahn!“

Das ist nicht fair. Ausgerechnet er muss mir das Vorhalten?

„Da kann ich doch nichts dafür! Ich habe mir das nicht ausgesucht. Du hast das gemacht!“, werfe ich ihm mit der aufsteigenden Traurigkeit kämpfend vor, die meinen vorherigen Lachanfall in die Flucht schlägt. „Du mit deiner Katja.“

Auf den Boden sehend, nickt er. „Das tut mir alles echt leid. Aber es musste wohl so laufen, damit ich endlich mal erfuhr, dass du die ganze Zeit Tim im Anschlag hattest. Wann hättest du mir von euch erzählt? Wohl nie! Und ich laufe wie ein Trottel einfach mit.“ Er sieht auf und der Schmerz in seinen Augen trifft mich, trotz des dicken Panzers, der mich eigentlich in meinem tiefsten Inneren ruhig hält. Nur die Schwankungen von traurig und lachend machen mir etwas zu schaffen.

„Es war nichts mehr zwischen uns. Das war vor dir. Zumindest von meiner Seite. Und Tim hatte das eigentlich akzeptiert. Aber nur solange wir beide zusammen waren. Ich habe zwei Optionen, hat er gesagt. Die erste bist du und die zweite er. Aber ich kann mit ihm nicht zusammen sein. Du hast den angeblich allmächtigen alchemistischen Fluch zerstört. Tim weiß das auch“, knurre ich aufgebracht.

Marcel hat alles zerstört. Auch meine Fähigkeit zu lieben.

Der sieht mich an. „Ja, so etwas hat Tim auch gesagt. Ich wollte ihm eigentlich eine reinhauen. Aber er tat mir nur noch leid. Du hast ihn ziemlich getroffen. Er war sich sicher, dass er es bei dir sein wird, wenn er mich erst mal ausgestochen hat. Dass das nicht so kam, hat ihn ziemlich fertiggemacht. Er geht erst mal auf irgend so eine Tour.“

„Er spielt Klavier. Total schön. Und er spielt jetzt in einem Musical mit. Im Orchester. Voll cool“, sage ich ergriffen, erneut von einer Stimmung in die andere fallend. Ich greife in meinen Ausschnitt und hole die Kette hervor. „Süß, nicht!“

Marcel sieht mich wütend an. „Was soll daran süß sein? Von dem behältst du eine Kette und meinen Ring nicht?“, faucht er.

„Das war etwas anderes. Er hat sie mir gegeben, weil wir immer irgendwie familiär verbunden sein werden, auch wenn wir nicht zusammen sind. Es ist nichts daran gebunden. Dein Ring war als Verlobungsring gedacht, damit deine Eltern und diese Katja wissen, wen sie zerfleischen müssen.“

Mich sprachlos anstarrend, versucht er meine Worte zu begreifen. „So siehst du das?“, flüstert er fassungslos.

„So war das!“, bestätige ich mit großen Augen und heftigem Nicken.

Ich sehe mich um. Irgendwie fühle ich mich seltsam. Ich komme immer schlechter mit den Gefühlschwankungen klar, die mich mal in die eine oder andere Richtung ziehen. Wir müssen aufhören uns über alte Geschichten zu unterhalten. Das kann nicht gut gehen.

„Lass uns damit aufhören. Das ist alles vorbei. Du hast mich verlassen, ich habe Tim verlassen und jetzt müssen wir alle unser eigenes Leben leben“, sage ich, etwas zu laut und aufgedreht.

„Mit Drogen und Junkies?“, faucht Marcel und ist offensichtlich nicht bereit, einfach aufzuhören.

„Du bist auch nicht mehr so wie vor zwei Wochen“, keife ich. „Du bist gar nicht mehr lieb. Du schimpfst nur noch mit mir und bist böse. Hättest du mich doch einfach dagelassen? Du hast keinerlei Verpflichtung mir gegenüber. Wenn ich so enden will wie Ellens Alex, dann ist das mein Problem und nicht deins.“

Ich spüre, wie mir eine kalte Hand ans Herz greift. Jetzt werde ich erschreckend wütend und traurig. Marcel soll mich in Ruhe lassen. „Bring mich doch einfach nach Hause. Ich steige auch unten an der Straße aus und sage niemanden, dass du mich gebracht hast. Oder bring mich zum Bahnhof und ich fahre mit dem nächsten Zug nach Hause“, brumme ich wütend und versuche meine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

„Jou, klar! Ich setze dich beim Bahnhof ab, wo du dich gleich, so breit wie du bist, zu den anderen Junkies legen kannst.“

Marcel ist wirklich blöd.

„Dann lass mich doch in Ruhe! Ich bleibe einfach hier sitzen, bis es wieder hell wird und gehe dann selbst zum Bahnhof.“ Ich lege meine Arme auf den Tisch und meinen Kopf darauf, damit er mein Gesicht nicht sehen kann. Warum streiten wir uns? Ich wünsche mich zu Ellen und Erik zurück. Das kann nicht schlimmer sein.

„Da mag man mich wenigstens“, sage ich zu mir selbst.

„Was?“, brummt Marcel und steht auf.

Mir war nicht bewusst, dass ich überhaupt etwas laut gesagt hatte.

„Wo mag man dich wenigstens?“, fragt er verächtlich, als hätte ich einen Witz gemacht.

„Bei Ellen und Erik. Hättest du mich dagelassen, dann brauchtest du dich jetzt nicht um mich zu kümmern. Verdammt! Ich habe dich nicht darum gebeten. Es kann dir völlig egal sein, wenn ich draufgehe“, schluchze ich den letzten Satz.

Der erschüttert Marcel sichtlich. Er kniet vor mir nieder, damit er mir ins Gesicht sehen kann und ich setze mich auf, um Abstand zwischen uns zu bringen. Tränen kullern mir über die Wange, was mir aber unwirklich vorkommt. Es kitzelt nur.

„Poor, Carolin! Das ist es mir aber nicht. Das wird es mir auch niemals sein“, raunt er leise. „Trotz Tim und all dem Scheiß bist du mir total wichtig und ich komme überhaupt nicht damit klar, dass du da mit irgendwelchen Typen abhängst. Es macht mich rasend! Wie soll ich dich in Ruhe lassen können, wenn ich nicht mal weiß, was die dir da alles antun, ohne dass du das willst? Das ist nicht wie bei uns auf dem Land. In der Stadt ist sich jeder der nächste und nimmt sich, was er will. Wenn es sein muss auch mit Drogen.“

„Ach, so schlimm ist das da nicht“, versuche ich nicht zu weinerlich hervorzubringen. Mir geht es Quer, dass ich mich nicht besser im Griff habe. Jetzt müsste ich Marcel zeigen, dass ich in meiner neuen Welt gut allein klarkomme.

Dass ich keinerlei Einsicht zeige, macht ihn erneut wütend. „Ach, mit dir darüber zu reden bringt nichts. Wir sollten schlafen gehen. Es ist fast drei.“

Ich sehe ihn groß an. Kann es schon so spät sein? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Und wo soll ich hier schlafen? Es gibt nicht mal ein Sofa.

Marcel steht auf. „Ich habe nur die Matratze. Aber sie ist groß genug und es ist schließlich nicht so, als hätten wir noch nie zusammen in einem Bett geschlafen.“

Er sieht mich mürrisch an.

Ich nicke nur. Er hat recht und ich werde ihm auch nicht zu nahekommen.

Als erstes schickt er mich in sein Badezimmer. Den Spiegel nutzend, sehe ich mir meine Augen erneut genauer an. Hm, so schlimm sind die doch gar nicht. Mir fällt Erik ein, der mir in die Augen gesehen hatte, immer wieder, als wolle er etwas checken. Er wusste, dass ich die Kekse mit irgendwelchen Drogen gegessen habe und wollte wissen, ob es anschlägt. So sehr ich auch vor Marcel alles herunterspiele, Erik hatte das gut geplant. Aber er hat seine Schwester unterschätzt. Hoffentlich geht es ihr gut.

Als ich aus dem Badezimmer komme, geht Marcel hinein und ich greife nach meinem Handy. Ich will Ellen anrufen. Auf ihre Nummer drückend, warte ich, während ich wieder in die Küche gehe und mich an den Tisch setze.

„Carolin?“, kommt es fast sofort. „Ist bei dir alles im grünen Bereich?“

„Ja, alles okay. Und bei dir?“

Ellen wirkt erschöpft. „Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Wir haben Tina nicht gefunden. Hoffentlich geht es ihr gut. Jasmin besuche ich heute Nachmittag im Krankenhaus.“

Eine Pause entsteht, bevor Ellen endlich fortfährt: „Wie geht es dir? Es tut mir leid. Ich hätte dich besser mitnehmen sollen, statt bei uns zu lassen. Aber ich wollte nicht, dass du das Milieu kennenlernst, in dem ich gestern Abend nach Jasmin und Tina gesucht habe. Das ist nichts für dich. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass du in Eriks Beuteschema passt und er es dermaßen auf dich abgesehen hat. Wir haben uns so gezofft. Er war so wütend, dass ich dich wegholen ließ. Der ist völlig ausgeflippt. Ich rede nachher noch mal mit ihm. Das kann er alles vergessen.“

Marcel steht vor mir und sieht mich fragend an.

„Mach das lieber nicht. Ich kläre das selbst mit ihm. Ich werde mich bis zur Rente mit keinem Kerl mehr einlassen. Die tun einem nur weh“, raune ich, mir bewusst, dass Marcel das hört. „Marcel ist auch ziemlich sauer. Aber wir gehen jetzt ein bisschen pennen und dann ist er mich ja wieder los. Wir telen später noch mal, okay?“

„Klar! Ich rufe dich an, wenn ich von Jasmin wieder da bin. Bis dann!“

„Tschau Ellen.“

Ich sehe auf. „Das war Ellen. Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht. Ihr Bruder war ziemlich sauer wegen mir.“

Marcel brummt nur etwas, was ich nicht verstehe. Dabei geht er zu seinem Schlafzimmer und betätigt an der Küchentür den Lichtschalter der Küchenbeleuchtung.

Ich sitze im Dunkeln und stehe langsam auf. Marcel ist gar nicht mehr lieb zu mir.

In seinem Schlafzimmer zieht er sich die Hose aus und das T-Shirt. Unter die Decke steigend, legt er sich ganz an den Rand der Matratze.

Ich ziehe mir auch meine Hose aus und krabbele auf die andere Seite. Dabei wage ich aber nicht, die Decke über mich zu ziehen, weil die bestimmt nicht so groß ist, dass sie die ganze Matratze abdeckt.

Ich rolle mich frierend zusammen, wobei meine Gedanken zu Ellen abschweifen. Sie hatte diese Tina nicht gefunden und ich kann mir ausmalen, was sie für eine Angst haben muss, wenn sie damit rechnet, dass die sich mit ihren Drogen umbringt. In was für einem Elend steckt Ellen da nur? Da sind meine Probleme echte Kinderkacke.

Ich höre Marcel sich bewegen, was sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf die andere Matratzenseite richtet. Er will wohl das Licht ausmachen.

Da ich mit dem Rücken zu ihm liege, kann ich ihn nicht sehen, und das ist auch besser so.

Plötzlich spüre ich wie die Decke über mich gelegt wird. Dann geht das Licht aus.

Ich wage mich nicht zu rühren und tue so, als schliefe ich schon. Aber der Abend lässt mich nicht los. Es drängen sich Ellen und Daniel in meine Gedankengänge, die von ihrem Rettungseinsatz für verkappte Drogis zurückkamen … und Ellens Blick, als sie mich sah und wegen ihrem Bruder ausflippte … dann Erik, der mir auf die Toilette folgen wollte, und den sie daran hinderte … und dann der Anruf von Marcel, ohne dass ich wusste, dass er von ihm ist. Daraufhin hatte Ellen mich mit Daniels Hilfe aus dem Haus geschmuggelt.

Ob Ellen und Daniel wohl zusammen sind? Sie hatte mir nichts davon erzählt. Ich werde sie in der Schule danach fragen.

Was war das für ein verrückter Abend und jetzt bin ich bei Marcel, der mich nur schnell wieder loswerden will.

Ich spüre Tränen über meine Wange rollen und versuche keinen Ton von mir zu geben. Wegwischen will ich sie auch nicht, um keine verräterischen Bewegungen zu machen.

Aber auch das werde ich überstehen. Man übersteht vieles. Dann ist Marcel mich endlich los und kann sein Leben leben. Ohne mich! OHNE MICH!

Ich ziehe den Deckenzipfel in mein Gesicht und wische mir verstohlen die Tränen weg. Mit aller Macht versuche ich an etwas anderes zu denken. Mir fällt das Video von dem Schmetterling ein, und das Lied dazu. Ich lasse es durch mein Innerstes wallen. Dabei komme ich etwas von meinen mich zermürbenden Gedanken runter und schlafe endlich erschöpft ein.

Ich sehe Tim zusammen mit Julian und einem Pulk Geistern durch einen Wald laufen. Kurt Gräbler, Maja und ein Mann, den ich für Aaron halte, sind direkt hinter ihnen. Sie schleifen jemanden durch den Wald.

Marcel!

Ich spüre einen Schmerz durch meinen Körper fahren.

Vor einem tiefen Loch bleiben sie stehen und werfen ihn hinein. Tim und Julian nehmen sich zwei Schaufeln und beginnen das Loch zuzuschütten.

Ich renne durch den Wald auf sie zu, falle immer wieder hin und schreie nach Marcel. Irgendwie scheint die Entfernung zu ihnen aber nicht geringer zu werden und meine Füße fühlen sie bleischwer an. Es erfasst mich eine unbeschreibliche Panik. Wenn ich sie nicht aufhalten kann, wird Marcel dort sterben. Diese Einsicht erschüttert mich zutiefst, zumal ich nicht weiß, wie ich die alle stoppen soll. Es scheint jetzt schon ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, unmöglich zu verhindern und für Marcel endgültig.

Als ich sie dann doch endlich erreiche, hält Julian mich fest. Ich schreie erneut nach Marcel … und werde hochgerissen.

Im Licht der nackten Birne an der Decke sehe ich in das erschrockene Gesicht von Marcel, der mich an sich drückt. „Ich bin doch da! Es ist alles gut!“, stammelt er.

„Scheiße!“, hauche ich entsetzt.

Ich sehe mich um. Einen Augenblick lang weiß ich nicht, wo ich bin und was los ist. Mein entsetztes Herz rast in meinem Brustkorb und mein Magen rebelliert schmerzhaft. Dann fällt es mir wieder ein. Ich bin bei Marcel. Er ist Okay. Das war nur ein Traum. Ein Traum mit Julian und Kurt Gräbler …

Marcel kniet vor mir und hält mich fest umschlungen.

Ich werfe meine Arme um ihn und flüstere: „Oh Mann! Es geht dir gut. Bin ich froh!“

Marcel raunt fassungslos: „Du hast geschrien.“

Langsam lasse ich ihn los und er mich auch.

„Tut mir leid!“, murmele ich verlegen und sehe ihn nicht an. Mir ist das Ganze unendlich peinlich.

Seine Wärme rückt ganz von mir ab und er legt sich langsam hin, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Dabei zieht er mich vorsichtig mit … in seinen Arm.

Ich bin verwirrt und weiß nicht, ob er das wirklich will. Doch er legt vorsichtig die Decke über mich und hält mich fest umschlungen. Mit rauer Stimme stammelt er aufgebracht: „Und du hast immer wieder meinen Namen gerufen.“

Ich kann nur nicken. Dieser Traum entsetzt mich immer noch zutiefst. Diese Angst, dass jemand Marcel etwas antun könnte, setzt mir schmerzhaft zu. Es ist nicht auszuhalten! Wenn ihm etwas passieren würde, wäre es auch mit mir vorbei.

Ich lege den Arm über seine Brust und schiebe mich so dicht an ihn heran, wie es nur geht. Ihm darf nie etwas passieren. Wie hatte Ellen das mit ihrem Alex nur überstehen können?

Marcel schiebt mich weiter. Ich begreife erst nicht, was er vorhat. Mit dem einen Arm schiebt er mich, mit der anderen Hand zieht er mich auf sich.

Ich stütze mich verwirrt links und rechts neben seinem Kopf ab und sehe ihn an. Seinen warmen Körper unter mir zu spüren, verwirrt mich vollends.

Er streicht mir ganz vorsichtig die Haare aus dem Gesicht, die immer wieder zurückfallen. Leise raunt er und sieht mir dabei aufgebracht in die Augen: „Du hast diese schrecklichen Träume wieder, stimmt’s?“

Gott, er hat recht. Die Erkenntnis schiebt sich wie ein Schneeflug durch meine Eingeweide und mir bleibt einen Augenblick die Luft weg. Bitte nicht! Ich hatte es doch überwunden!

Mit Marcel an meiner Seite hatte ich sie im Griff.

Marcel …!

Ich kann nicht anders. Ich bin bei ihm und unsere Körper berühren sich und schreien nach ihrer Zusammengehörigkeit. Ich muss ihn einfach küssen, vorsichtig und abwartend, ob er das überhaupt erlaubt. In meinem Kopf gibt es nichts anderes mehr. Ich will Marcel jetzt und hier und egal, was vorher war und was noch in unserem Leben kommen wird - und ich werde nie etwas anderes wollen. Ich brauche ihn.

Marcel packt mich an den Oberarmen und wirft mich von sich runter auf die Matratze.

Erschrocken und entsetzt denke ich, dass er mich aber nicht mehr will.

Unsicher scheint er mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Seine grauen Augen funkeln aufgebracht und er schüttelt fassungslos den Kopf. Mit einem Ruck kommt er hoch und kniet im nächsten Moment über mir. Seine Augen glänzen wie Silber und plötzlich packt er meine Handgelenke, die ich erschrocken wie zum Schutz vor meiner Brust verschränkt halte. Einen Moment macht er mir Angst und seine Ablehnung mich fassungslos. Wütend reißt er meine Hände über meinen Kopf und fixiert sie dort, mich wieder unsicher musternd. Und dann fällt ein Schleier über sein Gesicht und er gibt seine bockige und angsteinflößende Haltung auf. „Oh Mann, Carolin!“, stammelt er und küsst mich.

Seine starre Haltung wird zu einer fließenden Bewegung und er lässt meine Handgelenke los. Seine Hände legen sich um mein Gesicht und er schiebt sich neben mich, mein Gesicht mit Küssen bedeckend. Als seine Zunge sich zwischen meine Lippen schiebt, weiß ich, er will mich auch.

Seine zärtliche Art und Leidenschaft hauen mich um.

Langsam zieht er mich aus, mich weiter küssend und ich ziehe ihn aus, ihn weiter küssend. Als seine Lippen über meinen Körper gleiten, ist alles wieder da. Die letzten zwei Wochen sterben im Hagel seiner Küsse. Es gibt nur noch unsere Liebe vor dieser Zeit, … und das Erkennen dieser Liebe. Als er sich auf mich schiebt, bin ich bereit, ihm mein ganzes Leben zu schenken. Es soll keine Partys, keine Drogen und keine anderen Männer mehr geben. Nur noch ihn.

Wir sind ausgehungert wie Wölfe nach einem langen Winter und wollen uns nur noch spüren. Und diese Heftigkeit unserer Gefühle macht uns beide fassungslos. Wie konnten wir nur glauben, je ohne den anderen leben zu können?

Als ich am Vormittag wach werde und in Marcels Armen liege, bin ich verwirrt.

Allmählich fällt mir wieder ein, was passiert war. Er hatte mich von Ellen weggeholt, weil Erik mir Drogen untergejubelt hatte, und zu seiner Wohnung gebracht, die er neuerdings für sich einrichtet. Nach einem schrecklichen Traum, in dem ich um Marcels Leben fürchtete, hatte er mich geweckt und wir waren übereinander hergefallen, als gäbe es kein Morgen mehr.

Jetzt liege ich an ihn gepresst auf der Matratze und seine starken Armen halten mich umschlungen.

Ich sehe in sein schlafendes, schönes Gesicht. Was wird passieren, wenn er aufwacht? Er war so sauer wegen Tim und wegen der Drogen …

Marcel stöhnt leise und regt sich unter der Decke. Seine Arme ziehen sich noch enger um meinen Körper und ich befürchte, ich verstauche mir noch etwas.

„Hey, Marcel!“, flüstere ich leise und hauche ihm einen Kuss auf die Brust, gerade mal dort, wo ich ihn erreichen kann, ohne mich bewegen zu müssen.

Sofort schlägt er die Augen auf und ruckt mit dem Kopf hoch, seinen Griff keinen Millimeter lösend. Er sieht mir ins Gesicht und lässt seinen Kopf in sein Kissen fallen.

„Ich habe das nicht nur geträumt“, stellt er fest und wirkt genauso verwirrt, wie ich es war, als ich aufwachte. Langsam löst er seine Umklammerung und lässt seine Arme kraftlos auf die Matratze sinken.

Ich fühle mich plötzlich allein und habe Angst vor dem, was nun folgen wird.

„Es tut mir leid“, sage ich leise.

„Was tut dir leid?“, fragt er etwas zu barsch.

„Alles! Dass du mich abholen musstest und ich da fast unter die Räder gekommen bin. Und auch alles andere.“

Marcel schiebt sich von mir weg und sieht mich an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Alles andere? Wenn es noch mehr zu beichten gibt, außer der Sache, dass du mit Tim geschlafen hast, du rauchst und dich von irgendwelchen Junkies mit Drogen vollpumpen lässt, dann sag es bitte gleich“, knurrt er.

Ich habe das Gefühl, ein Abgrund tut sich zwischen uns auf. Oh Mann!

Ich schüttele den Kopf. „Nein, das war’s.“ Dabei setze ich mich auf, um freier atmen zu können. Mir ist übel und in meinem Inneren rebelliert alles. Wir sind trotz unserer Liebesschwüre in der vergangenen Nacht noch nichts weiter.

„Es tut mir wirklich alles leid. Ich wusste nicht, dass in den Keksen irgendetwas drinnen war. Woher auch?“, versuche ich mich zu verteidigen.

Mir fällt Erik ein und wie er mich den ganzen Abend nicht mehr aus seinem Zugriffsbereich gelassen hatte. Hätte Ellen nicht Marcel angerufen, wäre ich bei ihm im Bett gelandet. Zumindest hatte er seiner Schwester gegenüber diesbezüglich eine Äußerung gemacht. „Sie schläft eh hier! Sie bleibt heute Nacht bei mir.“

Gott, was war ich dumm. Und völlig unwissend hatte ich bei Marcel noch behauptet, keine Drogen genommen zu haben. Kein Wunder, dass er sauer ist.

Marcels Hand legt sich um meinen Arm und zieht mich auf die Matratze zurück und weiter an seine Schulter. Leise raunt er: „Mensch, Carolin! Was mache ich nur mit dir? Du ziehst Ärger magisch an und wenn keiner auf dich aufpasst, gehst du unter.“ Sein Arm legt sich beschützend um mich.

Ich sehe ihn an und schürze die Lippen. Das will ich so nicht stehen lassen. „Das stimmt nicht! Ich habe nur das mit den Drogen in den Keksen nicht gewusst. Das passiert mir nicht noch mal. Ellen hat mir immer gesagt, dass ich bei allen Getränken und Zigaretten aufpassen muss. Die nimmt nichts, was schon geöffnet ist. Sie passt eigentlich gut auf mich auf. Nur gestern konnte sie halt nicht …“, versuche ich Marcel klarzumachen, dass ich eigentlich in kürzester Zeit schon viel diesbezüglich gelernt habe und dass das alles nur eine Verkettung dummer Umstände war.

Er legt den anderen Arm auch noch um mich und drückt mich an sich. „Verdammt, verdammt! Wo bist du da nur hingeraten? Das kann doch alles nicht wahr sein! Bei uns würde das keiner wagen“, brummt er mit aufkeimender Wut in der Stimme.

„Ach Marcel, das stimmt nicht“, beteuere ich verächtlich.

Ich habe das Gefühl, meine neue Welt und mein neues Leben verteidigen zu müssen.

„Bevor ich mit dir zusammen war, musste ich auch schon einige Übergriffe von Jungen abwehren, die halt statt Drogen Alkohol als Waffe einsetzten. Das gibt es bei uns auch“, versuche ich ihn zu überzeugen, dass meine neue und meine alte Welt gar nicht so verschieden sind. Zumindest nicht diesbezüglich. Allerdings muss ich sagen, dass Erik gestern wirklich alle Register gezogen hatte. Macht der das hobbymäßig und zum Zeitvertreib? Ellen hatte erwähnt, dass Frauen Aufreißen und Abschleppen zu seinem Leben gehört, wie Essen und Trinken.

„Das passiert einem halt, sobald die checken, dass du solo bist und sie keine gebrochene Nase befürchten müssen.“ Ich grinse Marcel vorsichtig an. Mit dieser kleinen Stichelei möchte ich dem Ganzen ein wenig den Ernst nehmen.

Marcel lässt mich los, schiebt mich zur Seite und setzt sich auf. Seine Augen sprühen Funken. „Was? Das ist dir schon mal passiert? Ich meine, außer auf der Scheunenfete, als ich unserem Lehrling hinterher einen auf die Nase gab?“

„Leider ja.“ Ich setze mich auch auf. Dass Marcel jetzt so darauf anspringt, hatte ich nicht erwartet. Er ist schon wieder wütend und langsam befürchte ich, dass er sich in etwas hineinsteigert, das unsere Stimmung der letzten Nacht völlig zunichtemacht.

Marcels Augen sprühen vor Wut. „Gut, dann ist das jetzt vorbei. Du sagst allen, dass du nicht solo bist und dass sie sich hüten sollen, dich anzupacken“, faucht er aufgebracht.

Mein Herz macht einen kleinen Luftsprung. Aber ich will mir sicher sein, was er damit meint.

„Marcel, das geht nicht“, flüstere ich und sehe auf meine Hände, die auf der Decke liegen.

„Warum nicht?“, knurrt er und um seinen Mund liegt ein verbissener Ausdruck, den ich bei ihm so noch nie gesehen habe.

„Weil … ich … solo … bin“, murmele ich leise und betone jedes Wort.

Marcel erstarrt. Er fährt sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Haar. Dann trifft mich sein Blick und er raunt: „Ich möchte das wir wieder zusammen sind. Ich brauche dich und ich liebe dich immer noch. Oder war das heute Nacht nichts wert?“ Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen herausfordernd an.

„Doch! Aber ich war mir nicht sicher, ob dir das so viel bedeutet hat wie mir. Du warst so wütend auf mich. Wegen Tim und wegen den Drogen gestern“, sage ich leise und verunsichert, und weiß, ich will ihn auch zurück. Koste es, was es wolle.

Bei der Erwähnung von Tims Namen schließt Marcel kurz die Augen und verzieht das Gesicht. „Oh, ich war mehr als wütend. Als du mir letzten Sonntag das von dir und ihm erzählt hast, war ich so geschockt. Ich bin einfach ins Auto gestiegen und nur noch gefahren, stundenlang. Irgendwann bin ich wieder in Bersenbrück gelandet und musste tanken. Dort habe ich mein Handy angeschaltet und von dir die SMS gelesen. Dass du Tim bemitleidet hast, hat mich fast ins Grab gebracht und ich habe ihn angerufen. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen und ich war mir sicher, dass ich ihn umbringe. Aber dann habe ich ihn gesehen und konnte ihm nichts mehr tun und wir haben über die Sache geredet und er konnte mir seine Sicht schildern und seine Hoffnung, die erst wieder Gestalt annahm, als er dich von der Scheunenfete weggebracht hatte - und dass du dich letztendlich sogar gegen ihn entschieden hast, obwohl dass wegen eurer Alchemistengeschichte unmöglich sein müsste.

Ich bin am nächsten Tag zu meinem Großonkel gefahren und habe mit ihm noch einmal über den Fluch gesprochen und vieles verstanden, was Tim mir erzählte. Aber dass du mit ihm geschlafen hast, darauf komme ich immer noch nicht klar“, resümiert er aufgebracht.

„Ich auch nicht“, raune ich, selbst von diesem Umstand betroffen. „Tim hatte, nachdem er mich zu sich brachte, schreckliche Tage und Nächte hinter sich, in denen er keine Sekunde zur Ruhe kam, von dieser triebhaften Liebe zu mir gesteuert. Ich hatte ihm so viel zu verdanken. Ohne ihn wäre ich völlig zusammengebrochen und hätte das, was du und Katja mit mir gemacht habt, nicht überstanden. Und so habe ich nachgegeben, um ihn einfach nur zur Ruhe kommen zu lassen.“ Ich hoffe ihm mit der Erwähnung, wie schlecht es mir wegen ihm und Katja ging, mein Verhalten etwas begreiflich zu machen. Aber ich erwähne nicht, wie oft Tim und ich versuchten, ihn dadurch zu beruhigen.

Ich sehe Marcel ins Gesicht, als ich hinzufüge: „Aber es ging mit uns nicht und so musste er mich nach Hause bringen. Ich konnte das mit ihm nicht und er konnte es nicht ohne mich“, füge ich hinzu und mir wird klar, wie schlimm das Ganze eigentlich für Tim gewesen sein muss, als auch ihm das bewusst wurde.

„Diese für uns angeblich vorgesehene Liebe ist nur noch von seiner Seite vorhanden. Unsere Liebe hat diesen Fluch so in seinen Standfesten erschüttert und war so viel stärker gewesen, dass bei mir alle Gefühle für Tim wie weggeblasen sind. Das spürten wir beide in seinem ganzen Ausmaß, als wir … miteinander schliefen.“ Ich schlucke bei der eigenen Erwähnung dieser Tatsache und sehe an Marcels Blick, dass ihn der Gedanke daran fast ins Grab bringt, egal, wie sehr ich das Ganze als für mich unwichtig hinstelle. „Ich wusste, es wird für mich immer nur dich geben und sonst niemanden“, ende ich und hoffe, meine Worte tun ihre Wirkung.

Unsere Blicke treffen sich. Das Gesicht von Marcel ist angespannt und seine Augen nachdenklich zusammengekniffen. Dann nickt er langsam.

„Tim hat das auch so ähnlich gesagt. Er war völlig fertig, dass du für ihn verloren bist und er sagte mir ins Gesicht, wenn jemand dafür Prügel einstecken sollte, dann eher ich, weil ich deine Liebe zu ihm so nachhaltig zerstörte. Ich wollte ihm das nicht glauben. Aber jetzt …“

Meine Gefühle weiter vor ihm ausbreitend, flüstere ich, meine Hand auf seinen Arm legend: „Und heute Nacht war alles wieder da. Meine Liebe zu dir und die Fähigkeit dazu. Es geht nur bei dir und mit dir. Mit niemandem sonst!“

Erleichtert registriere ich, dass ich sogar wieder fähig bin, eine romantisch säuselnde Seite herauszukehren, die ich schon für immer verloren glaubte. „Und ich weiß, dass ich erneut mit dir zusammen sein möchte. Ich brauche dich wie die Luft zum Leben. Ich liebe dich einfach zu sehr!“ Langsam schiebe ich die Decke an die Seite, damit ich mich vor ihn knien kann und streiche ihm das Haar zurück. „Lass es uns noch einmal versuchen und ich verspreche dir, keine Drogen mehr zu nehmen und mehr auf mich achtzugeben.“

Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn zärtlich. Er soll meine Liebe zu sich spüren und wenn noch ein winziger Rest von Unsicherheit irgendwo in ihm lauert, will ich diese zerstreuen. Mir wird klar, ich werde alles tun, was nötig ist, um ihn wiederzubekommen.

Langsam zieht Marcel die Decke von sich weg und ohne sich von mir zu lösen schiebt er sich vor mir auf die Knie.

Ich sehe ihn nur an, während er seine Arme um mich legt und mich an sich zieht.

Wir drängen uns aneinander. Seine Hände laufen über meinen Rücken und setzen jeden Millimeter meiner Haut in Brand. Ich lasse meine Hände über seine schmale Hüfte und seinen Rücken gleiten und genieße die Berührung seiner Muskeln unter meinen Fingerspitzen. Als ich meine Lippen über seine Wange und seinen Hals gleiten lasse, haucht er: „Können wir denn anders? Wir sind füreinander bestimmt!“

„Ja, sind wir“, flüstere ich ergeben und lasse mich von Marcels auf die Matratze legen. Sein Blick ist pures Verlangen und er lässt sich neben mich sinken. Langsam schiebt er sich dicht an mich heran und streicht meine Haare zurück. Seine grauen Augen funkeln mich mit einer Leidenschaft an, die mich das Atmen vergessen lässt. „Für immer und ewig“, raunt er leise.

„Für immer und ewig“, antworte ich ihm mit zittriger Stimme und kann es nicht fassen. Wir haben uns wieder!

Marcel fährt mich am Sonntagabend nach Hause. Meine Eltern sind irritiert, dass er mich bringt und auch mit in mein Zimmer geht.

„Oweh! Hast du deinen Vater gesehen? Ich dachte, der frisst mich“, raunt Marcel mir beunruhigt zu.

Ich lache auf. „Ach Quatsch! Das meinst du nur.“

Er nimmt mich in den Arm und zieht mich an sich. So stehen wir einfach nur da. Wir reden nicht. Geredet haben wir genug. Den ganzen Vormittag lang. Marcel hatte mich letztendlich inständig gebeten, besser auf mich aufzupassen und mich von der Drogenscene fernzuhalten. Er will auch, dass ich mich von Ellen fernhalte. Aber das geht nicht. Sie braucht mich. Und ich sie.

Wir machten Pläne, seine Wohnung betreffend. Ich allerdings nur in beratender Funktion.

Für uns beide steht fest, dass wir zusammengehören. Aber jeder soll sein eigenes Leben erst mal in den Griff bekommen. Das wird schon Energie genug erfordern.

Ich muss kämpfen, um die Schule auch nur annähernd gut zu schaffen, und ich bitte mir aus, dass ich mich auch mal mit Ellen treffen darf. Die neue Welt Osnabrücks gefällt mir zu gut, als dass ich sie jemals wieder missen möchte. Sie hat mir ein großes Stück Unabhängigkeit geschaffen und mich wachsen lassen und ich möchte auf keinen Fall erneut in mein altes Mauerblümchenleben zurückfallen.

Marcel ist damit nicht einverstanden, hofft aber darauf, dass ich mich noch besinne und ich musste ihm versprechen, dass ich nicht mehr verbreite, dass ich solo bin.

„Du gehörst jetzt wieder zu mir und wenn du mit Ellen oder deinen anderen neuen Freundinnen in Osnabrück bist, möchte ich, dass du das jedem sagst, der dir sonst krumm kommt. Verstanden?“, hatte er mir eindringlich eingetrichtert und ich versprach ihm das mit einem warmen Gefühl im Herzen.

Aber ansonsten haben wir beschlossen, dass wir uns zwar sehen werden, wann immer einer von uns beiden das will, aber andererseits erst schauen wollen, wie wir uns in unserer eigenen Welt schlagen. Ich, in meiner neuen Schule und in der Welt der Großstadt und Marcel als abgenabelter Wohnungsbesitzer. Außerdem möchte er erneut seinen Fußballsport ausbauen, den er in den letzten Wochen ziemlich vernachlässigt hatte.

Mit dieser Regelung wollen wir beide einen Neuanfang wagen und hoffen darauf, dass die Zeit die alten Wunden heilt. Mir steckt noch der Schmerz in den Knochen, den Katja und Marcel in mir ausgelöst hatten, die schlimme Zeit, die ich unter dem Verlust unserer Liebe gelitten hatte und dem erneuten Schmerz, als er mich wegen Tim verließ.

Marcel kommt noch immer nicht darüber hinweg, dass ich mit Tim geschlafen habe.

Wir wissen beide, dass wird noch länger an uns zehren.

Außerdem haben wir beschlossen, Tim nichts davon zu sagen, dass wir wieder zusammengefunden haben. Er ist schon in der letzten Woche nach Wolfsburg zurückgekehrt, um sich auf seine Tournee vorzubereiten und wir werden ihn somit lange nicht sehen. Aber uns ist klar, dass wir unsere neu gewonnene Beziehung auch vor vielen aus unserem alten Bekanntenkreis geheim halten müssen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, dass Tim dennoch etwas über uns erfährt. Erst wenn wir beschließen werden, es erneut öffentlich zu machen, wird es sich nicht mehr vermeiden lassen. Ich habe die Befürchtung, dass ihn das dann auch wieder in mein Leben platzen lässt und das ist ein Gedanke, den Marcel nicht ertragen kann.

Nun stehen wir in meinem Zimmer und halten uns nur fest. Marcel muss bald gehen und ich will ihn nicht gerne gehen lassen. Es ist so schön, dass wir uns wiedergefunden haben.

„Süße, ich muss jetzt los“, raunt er mit belegter Stimme. „Meine Eltern warten und sei mir nicht böse, aber ich werde ihnen sagen, dass wir wieder zusammen sind. Dann regen sie sich noch mehr auf und sehen, dass die ganze Aktion von Katja rein gar nichts gebracht hat, außer dass ich jetzt dreißig Kilometer entfernt wohne. Das ist für meine Mutter das Schlimmste.“

„Das wäre es für meine auch, wenn ich auch noch weg wäre“, erwidere ich und muss an Julian denken, der noch immer in dieser geschlossenen Anstalt sitzt und auf seine Verhandlung wartet.

Wir lösen uns widerwillig voneinander und sehen uns an.

„Ich liebe dich!“, flüstere ich, und Marcel flüstert: „Und ich liebe dich.“

Wir können noch nicht auseinandergehen. Es erscheint uns unmöglich.

Wir küssen uns und Marcel lacht auf einmal sein tiefes, raues Lachen, dass ich so an ihm liebe.

Ich drücke ihn von mir weg und sehe ihn an. „Hey, warum lachst du?“ Dabei knuffe ich ihn verspielt. Es freut mich, ihn wieder lachen zu sehen.

„Weil ich einfach glücklich bin, dass wir die Kurve noch mal gekriegt haben und ich sicher weiß, dass es diesmal für immer ist.“

„Das glaube ich auch. Ich möchte nicht noch mal so leiden, weil du mich verlässt“, sage ich ernst.

Er nimmt mich wieder in den Arm. „Ich danke Kurt Gräbler für diesen Fluch, der aus irgendeinem Grund mich in dein Herz brachte, statt jemand anderen“, säuselt er mir ins Ohr.

„Glaub mir, das war nicht in seinem Sinne. Du bist von der Gegenseite, schon vergessen? Dass ich dich so liebe ist eine andere Macht. Deine Macht.“, kann ich nur antworten und bin überrascht, dass ich erneut meine Gefühle dermaßen vor ihm ausbreite. Irgendetwas hat mich verändert. Ich habe heftigsten Schmerz ertragen und ihn in allen Facetten ausleben müssen. Vielleicht kann ich deshalb nun auch besser Gefühle zeigen.

Wir küssen uns noch einmal und Marcel löst sich endgültig von mir.

„Ich muss jetzt wirklich los. Ich sollte schon vor einer Stunde bei meinen Eltern sein.“

Ich bringe Marcel zu seinem Auto und wir hängen uns abermals an den Lippen, als müssten wir Jahrhunderte überstehen. Nur widerwillig schaffen wir es, uns voneinander zu lösen.

„Ich melde mich später bei dir, wenn ich wieder in meiner Wohnung bin. Ich werde heute erneut mein Auto vollpacken und einiges mitnehmen. Mein altes Zimmer sieht aus wie nach einem Bombenangriff.“ Er lacht und ich liebe es, ihn Lachen zu sehen.

Auch meine Welt ist wieder in Ordnung.

Als er vom Hof braust und noch einmal hupt, winke ich ihm nach.

In meinem Zimmer schnappe ich mir mein Handy und rufe Ellen an. Sie wollte mich doch am Nachmittag angerufen haben. Jetzt ist es schon Abend.

Ellen meldete sich sofort. „Hallo Carolin!“

„Hi Ellen, alles klar bei dir? Du wolltest dich doch bei mir melden.“

Ellen klingt schuldbewusst. „Ich weiß, aber heute ist alles so blöd gelaufen. Wie ist es denn bei dir? Geht es dir gut? Ich schwör dir, hätte ich gewusst, was bei uns zu Hause abläuft, hätte ich dich nicht dagelassen. Du solltest niemals mit dem Scheißzeug in Berührung kommen. Ich könnte Erik dafür töten, dass er das zugelassen hat. Der hat nicht ein Fünkchen Verantwortungsbewusstsein“, schimpft sie.

„Das war alles gar nicht so schlimm. Außerdem wäre ich sonst wohl nicht wieder mit Marcel zusammengekommen. Das war so ein Drogenrausch wert“, sage ich lachend.

„Was? Ihr seid wieder zusammen?“, brüllt sie in ihr Handy und klingt völlig außer sich. „Das finde ich jetzt echt gut.“

Mir ist nicht klar, warum sie sich darüber so freut. Irgendwie irritiert mich das.

Aber Ellen fügt sofort hinzu. „Dass der, ohne zu fragen warum und weshalb, sofort angerast kam, fand ich voll lieb. Wer macht so etwas schon für seine Ex? Zumal wenn sie seine Ex ist, weil sie mit einem anderen gepennt hat. Und außerdem freue ich mich schon drauf, dass Erik als Ergebnis für seine Bemühungen unter die Nase zu reiben. Der wird ausflippen!“ Ellen lacht schadenfroh.

Nun bin ich noch irritierter. „Warum sollte ihn das interessieren?“

Einige Zeit ist es still am anderen Ende. Dann raunt Ellen: „Manoman! Bist du wirklich so schwer von Begriff?“

„Wieso?“ Mir ist schon klar, dass Erik den letzten Abend an mir klebte. Aber das hatte bestimmt nicht viel zu bedeuten. Er wollte halt nicht verpassen, wie ich auf die Drogenkekse reagiere und glaubte, mich dann locker abschleppen zu können. Was hatte Ellen gesagt? Für ihn gibt es nur einmal und dann schießt er alle wieder in den Wind. Er will nur Sex und sonst nichts.

Ellen raunt leise und verunsichert: „Du hättest den sehen sollen, als ich hinter dir die Tür zugeschlossen habe. Der ist völlig ausgeflippt! Erst dachte ich ja, es wäre, weil ich ihm sein Spielzeug weggenommen habe. Aber er wollte genau wissen, wieso du doch gegangen bist, statt bei uns zu schlafen. Er war voll geknickt. Und ich habe ihm reingedrückt, dass ich deinen Ex angerufen habe, damit er dich aus seinen Klauen befreit. Ich dachte, der bringt mich um, so wütend war er. Ich habe keine Ahnung, was ihr alles gemacht habt, aber er ist richtig abgedreht. So kenne ich den gar nicht.“

Entrüstet fauche ich: „Wir haben gar nichts gemacht! Überhaupt nichts! Mal getanzt, weil er das wollte. Aber sonst …“

Ellen scheint zu überlegen. „Wie kam es eigentlich, dass du bei der Bande gelandet bist? Du solltest doch in meinem Zimmer bleiben.“

Ich fühle mich genötigt, mich auch dahingehend zu verteidigen. „Nachdem du weg warst, kam Erik in dein Zimmer und fragte mich, ob ich nicht mit zu ihnen kommen wolle. Das wollte ich natürlich nicht und habe ihm gesagt, dass ich lieber den Film zu Ende sehen möchte …“

„Das wollte er aber nicht“, unterbricht mich Ellen besserwisserisch.

„Doch, das war für ihn völlig in Ordnung“, antworte ich ihr und füge hinzu: „Er wollte daraufhin den Film mit mir zusammen weiterschauen. Das wollte ich wiederrum nicht, weil ich nicht gerne mit deinem Bruder allein in deinem Bett liegen wollte. Sorry, dass ich das sage, aber manchmal ist er mir etwas unheimlich. Er war zwar total nett, so nicht, aber ich wollte halt nicht in deinem Zimmer mit ihm allein sein.“

Einen Augenblick ist es still in der Leitung. Leise raunt sie: „Das verstehe ich. Jetzt weiß ich auch, wieso du diesen seltsamen Trupp von zusammengewürfelten Leuten auf dich genommen hast. Oh Mann! Du Arme! Und ich habe dich da voll hängen lassen.“

Das Thema endlich abhakend, frage ich nach Jasmin und Tina.

„Hör bloß auf! Jasmin ist voll sauer auf mich, weil ich sie ins Krankenhaus gebracht habe. Sie hat jetzt voll die Probleme wegen ihrem Drogenkonsum. Und Tina ist noch nicht wieder aufgetaucht, wurde aber heute Morgen schon gesehen. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich gestern einfach auch nur völlig überreagiert, als Daniel das mit dem schlechten Speed erzählte, das im Umlauf ist und dass Katrin ihn anrief, weil es Jasmin so schlecht ging und Tina voll zugedröhnt abgehauen ist. Aber seit das mit Alex war …“

„Ellen, das ist doch logisch! Ich weiß gar nicht, wie du das überhaupt überstehen konntest“, sage ich, mich daran erinnernd, wie es mir nur damit ging von Marcel getrennt zu sein, ohne dass ihm etwas passiert war. Sollte ihm wirklich etwas zustoßen … poor, das will ich mir nicht mal vorstellen müssen. Dann werde ich auch sterben. Auf der Stelle.

Zum ersten Mal habe ich ansatzweise das Gefühl, Marcels Angst an dem Tag nachvollziehen zu können, als er mich aus dem Labor holte. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein, als er dachte, ich sterbe in seinen Armen. Ich hatte das nie richtig nachvollziehen können.

„Ich will so etwas auch nie wieder erleben müssen“, murmelt Ellen und sie tut mir schrecklich leid. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, frage ich sie nach den Hausaufgaben und ob sie die Seite Mathe schon fertig hat, die unser durchgeknallter Mathelehrer uns aufgebrummt hat.

„Verflixt, stimmt! Das habe ich völlig vergessen“, brummt sie missmutig.

Im Hintergrund höre ich eine Stimme.

„Ah, Erik ist wieder da. Ich muss jetzt erst ein Hühnchen mit ihm rupfen. Der ist gestern Nacht noch abgehauen, nachdem er mir den Schlüssel weggenommen hat und du weg warst. Wir sehen uns dann morgen, okay?“

„Ja klar! Aber es ist wirklich alles in Ordnung. Lass ihn am Leben! Ich möchte nicht, dass du dich mit ihm anlegst“, füge ich schnell hinzu.

Ellen sagt lachend: „Du gönnst mir auch gar nichts. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf, ihn in Grund und Boden zu stauchen.“

So verabschieden wir uns und ich lege auf. Allein und mir etwas verlassen vorkommend, hocke ich auf meinem Sofa. Ellen hatte wirklich schon viel Schlimmes erlebt. Wenn es irgendetwas gibt, was ich für sie tun kann, dann werde ich es tun. Und wenn es nur meine Freundschaft und Schulter zum Ausweinen ist, die ich ihr anbieten kann. Ich mag Ellen echt gerne.

Mich an meinen Schreibtisch setzend, hole ich meine Schulsachen aus der Tasche und mache mich an meine Hausaufgaben. Die Schule ist total schwer. Da kommt man gar nicht durch, ohne zu lernen.

Es klopft an meiner Tür und meine Mutter schaut herein. „Hallo, bist du allein?“

„Ja, sieht wohl so aus“, brumme ich, weil ich gerade keine Lust auf ein Gespräch mit ihr habe.

Sie kommt ins Zimmer und fragt vorsichtig: „Marcel … ist er wieder da? Habt ihr euch wieder zusammengerauft?“

„Haben wir. Er hatte doch keine andere. Das war nur von einem Mädel so hingestellt worden, weil sie sauer war, dass er mit mir zusammen sein will. Es ist alles wieder in Ordnung.“

„Schön, das zu hören. Ich mag den Jungen.“ Meine Mutter grinst zufrieden. „Vielleicht bist du dann auch nicht mehr so viel unterwegs.“

Was soll ich sagen?

„Marcel hat jetzt eine eigene Wohnung in Bramsche. Ich denke, ich werde doch ganz viel weg sein.“

Sofort ändert sich Mamas Laune. „Ach so! In Bramsche!“

„Joup, bei seinem Großonkel im Haus.“ Das hört sich wenigstens seriös an.

„Ah, bei seinem Großonkel! Okay! Nah dann! Wir können dich sowieso nicht mehr aufhalten, erwachsen zu werden.“ Ihr trauriger Unterton entgeht mir nicht. „Was ich noch sagen wollte … wir fahren übermorgen zu Julian. Möchtest du vielleicht mit?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich habe den ganzen Tag Schule.“ Mir ist nicht klar, warum ich sofort abblocke.

„Gut.“ Meine Mutter schleicht resigniert aus meinem Zimmer.

Ich werde halt wirklich erwachsen und habe mein eigenes Leben … und meinen eigenen Kopf, und ich will Julian nicht sehen. Mein Traum in der letzten Nacht sitzt mir noch in den Knochen. Sie wollten darin Marcel töten und wenn ich etwas in der vergangenen Nacht gelernt habe, dann, dass ich es nicht überstehe, wenn ihm etwas zustößt.

Ich versuche mich auf meine Schulsachen zu konzentrieren. Aber es fällt mir schwer. Es ist so viel an diesem Wochenende geschehen. Ich begreife das alles noch gar nicht richtig.

Irgendwann habe ich zumindest das Wichtigste geschafft und werfe mich auf mein Bett. Müde und noch völlig gerädert von dem Wochenende nehme ich mein Handy in die Hand. Ich will Marcel anrufen. Noch in Gedanken an das Erlebte der letzten Stunden verstrickt, drücke ich auf meinem Handy herum und halte mir den Hörer ans Ohr. Hoffentlich hat er auch Zeit für mich?

„Carolin?“, höre ich eine vorsichtige Stimme erstaunt fragen und erschrecke. Ich habe Tim am Handy, der nun erfreut ruft: „Hallo, schön, dass du mich anrufst! Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass du dich bei mir noch mal meldest.“

Ich bin irritiert und sprachlos, muss aber schnell schalten, will ich mich nicht zum Trottel machen. „Hallo Tim. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht“, raune ich völlig neben der Spur. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil mich mein eigener Anruf aus der Bahn wirft. Wie konnte mir das nur passieren?

Tim meint zurückhaltend: „Was denkst du? Ich versuche mein Leben in den Griff zu bekommen. Seit zwei Tagen proben wir jetzt hier im Theater und das macht Laune. Wenn ich das nicht hätte, dann müsste ich dich doch noch in einen Flieger zerren und auf einer einsamen Insel mit mir aussetzen.“ Er lacht leise und ich erinnere mich an die Geschichte, die er mir schon mal angedroht hatte. Dass er wenigstens noch etwas lachen kann, baut mich auf.

„Tim, es tut mir alles echt leid und ich bin froh, dass du da jetzt in dem Orchester mitspielst. Und schau mal, du hättest gar nicht in Ruhe dabei mitmachen können, wenn wir zusammengeblieben wären“, versuche ich das Ganze als für ihn gut hinzustellen.

Einen Moment ist es still, dann höre ich ihn brummen: „Stimmt, du bist ja nicht zu bremsen. Verdrehst allen den Kopf, wie es dir gerade in den Sinn kommt. Ich hätte keine ruhige Nacht gehabt.“

Ich schnappe nach Luft. Was soll das denn jetzt? Will er mir allen Ernstes die ganze Schuld in die Schuhe schieben und so tun, als hätte ich es die ganze Zeit drauf angelegt, ihn ins Bett zu kriegen?

„Sag mal …,“ schimpfte ich wütend los. „Was denkst du dir? Ich habe dich schließlich nicht gezwungen, mich mit zu dir zu nehmen und auch nicht, mit mir zu schlafen. Ich habe teuer dafür bezahlt.“

Ich weiß schon, dass ihn das treffen wird. Aber ich bin wirklich wütend. Schließlich springe ich nicht mit jedem einfach so ins Bett. Also, was will der überhaupt?

Leise und mit vor Wut bebender Stimme raunt Tim: „Warum rufst du mich überhaupt an? Ich habe dich auch nicht gezwungen und du wolltest bei mir bleiben. Das hast du zumindest gesagt. Ich habe auch teuer dafür bezahlt, dir das zu glauben. Also lass mich doch einfach in Ruhe.“

Ich würde ihm am liebsten sagen, dass der ganze Anruf nur ein Versehen war und ich ihn gar nicht anrufen wollte. Aber das hätte er mir in hundert Jahren nicht geglaubt.

„Okay, sorry dass ich dich gestört habe. Wird nicht wieder vorkommen“, brumme ich. „Schönes Leben noch.“ Ich drücke das Gespräch aus und starre ungläubig auf mein Handy. Was für eine Scheiße!

Meine Hand, die das Handy hält, zittert und es tut weh, dass von unserer Freundschaft nichts mehr übriggeblieben ist. Aber es ist hauptsächlich meine Schuld. Ich hatte ihm eine neue Hoffnung gegeben und sie auch genauso wieder zerstört.

Mir fällt der Ausspruch von Marcel ein: Ich danke Kurt Gräbler für diesen Fluch, der aus irgendeinem Grund mich in dein Herz brachte, statt jemand anderen.

Vielleicht ist es ein Fluch, wenn man der Arme ist, der sich in mich verliebt. Vielleicht bin ich ein Fluch, der nur Unglück über jeden bringt, auf den ich treffe? War Marcel je wirklich glücklich mit mir?

Ich will darüber lieber nicht nachdenken. Der Gedanke verunsichert mich zu sehr.


Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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