Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4

Für immer und ewig?

Оглавление

Eigentlich wollte ich Marcel, statt Tim, anrufen und nun bin ich nicht mehr in der Stimmung. Der Streit mit Tim wirft mich unglaublich aus der Bahn. Warum tun wir uns das an? Wie konnte aus einer unglaublich starken Liebe erst nur Freundschaft und dann sogar Feindschaft werden?

Ich beschließe erst einmal einen Gang ins Badezimmer anzutreten und mich bettfertig zu machen.

Als ich unten an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbeikomme, höre ich meinen Vater schimpfen: „Und was soll das heißen? Dass sie jetzt bei dem einzieht? Das kann sie vergessen. Sie ist noch nicht achtzehn!“

Ich bleibe stehen und lausche. Meine Mutter höre ich nur undeutlich. „Niklas, wir können nichts daran ändern, dass Carolin ihren eigenen Weg gehen wird. Wir treiben nur einen noch größeren Keil zwischen sie und uns, wenn wir versuchen, sie aufzuhalten.“

Dass meine Mutter sich so für mich ins Zeug legt, finde ich wirklich toll. Aber es erschreckt mich ein wenig, dass sie so tut, als hätte ich mit ihnen Stress. Bisher hatten sie mir wenige Vorschriften gemacht. Oder waren diese Vorschriften meines Vaters nur bis zu meiner Mutter vorgedrungen und sie hatte sie nicht in seinem Sinne weitergeleitet? Zumindest wird mir klar, dass mein Vater kein Fan mehr von Marcel ist. Warum auch immer.

Ich setze meinen Weg ins Badezimmer fort. Mir ist egal, was mein Vater über Marcel denkt. Ich gehöre zu ihm und fertig.

Es ist schon nach zweiundzwanzig Uhr, als ich mich erneut entschließe Marcel anzurufen. Ich finde, ich habe lange genug gewartet.

Sofort nimmt er ab und ruft mit schuldbewusster Stimme: „Oh Mann, Süße! Tut mir leid. Aber ich bin so im Stress! Drei Mal bin ich jetzt von zu Hause nach Bramsche gefahren und habe alles rüber geschafft, was ich nur konnte. Meine Eltern hatten heute die Absicht, mir mein Vorhaben mit der Wohnung auszureden und ich habe ihnen erklärt, dass ich auf alle Fälle nach Bramsche ziehe, weil das auch näher an deiner Schule ist. Nah, du kannst dir ja denken, wie dumm die geschaut haben. Als ich dann noch einen draufsetzte und ihnen mitteilte, dass wir wieder zusammen sind, meinten sie doch tatsächlich, sie könnten mir noch irgendetwas verbieten. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht und ich habe angefangen alle meine Sachen abzutransportieren. Ich habe die Schnauze so was von voll.“

Er redet sich richtig in Rage. Scheinbar gibt es nichts und niemanden auf dieser Welt, der mit unserer neugezimmerten Liebe einverstanden ist.

Traurig darüber sage ich: „Ich habe meiner Mutter auch mitgeteilt, dass ich wohl ab und an bei dir bleiben werde. Eigentlich hatte sie sich erst noch gefreut, dass wir wieder zusammen sind. Allerdings nur, weil sie meinte, dass ich mich dann nicht mehr so viel in Osnabrück aufhalte und wir wieder hauptsächlich hier sein werden. Ich habe ihr den Zahn aber gleich gezogen. Du hättest sie sehen sollen, als ich ihr sagte, dass ich vorhabe, viel Zeit mit dir in deiner neuen Wohnung zu verbringen und dass ich natürlich auch viel in Osnabrück bin. Schon wegen Ellen. Jetzt hängt auch hier der Haussegen schief.“

Es ist still am anderen Ende und ich bin etwas verwirrt, ob ich Marcel vielleicht mit der Aussage, dass ich viel bei ihm sein will, zu viel zumute.

„Hallo Marcel?“, frage ich vorsichtig: „Stimmt etwas nicht?“

Er scheint sich am anderen Ende der Leitung langsam zu fangen. „Doch, schon! Aber …“ Er ist sich wohl nicht sicher, ob er das wirklich anbringen soll, was in seinem Kopf herumspukt.

„Aber?“, hake ich etwas ängstlich nach. Hat er sich das Ganze anders überlegt und mich nur vor seinen Eltern vorgeschoben? Wieder einmal.

„Das mit dem vielen in Osnabrück bleiben … darüber müssen wir noch einmal reden. Ich möchte das eigentlich nicht. Das ist nicht gut für dich. Du hast doch gesehen, wie es dir ergehen kann, und ich kann nicht immer da sein und dich retten“, raunt er, sich wahrscheinlich schon sicher, dass das abermals in Streit ausarten wird.

„Das habe ich auch gar nicht so vor, wie es sich anhört“, beruhige ich ihn. „Aber ich gehe dort nun mal zur Schule und habe da meine Freundinnen. Außerdem will ich Ellen nicht hängen lassen. Ich mag sie wirklich gerne. Du musst dir aber keine Sorgen machen. Ich werde jetzt besser auf mich aufpassen.“

Marcel brummt nur etwas und ich muss lachen. „Du klingst wie mein Vater.“

Mich darum bemühend, ihn auf ein anderes Thema einzuschwören, frage ich ihn, was ihm in seiner Wohnung noch fehlt und was er schon alles geholt hat. So schaffe ich es, ihn von dem leidigen Thema abzulenken.

Marcel macht Pläne für die kommende Woche. Er hat Spätschicht und will die Vormittage nutzen, um einen Kleiderschrank und ein Bettgestell zu organisieren und erzählt mir von seiner Liste, die er sich zusammenschreibt, um einen Überblick zu haben, was er noch unbedingt braucht. Das erinnert mich an die Liste, die ich mit Tim für seine Wohnung zusammengestellt hatte. Es versetzt mir einen kleinen Stich. Tim hasst mich jetzt und ich bin für ihn Geschichte.

„Leider kann ich dir diese Woche nicht helfen. Aber wenn du nächste Woche Frühschicht hast, können wir uns nachmittags zusammen um das eine oder andere kümmern, wenn du willst“, sage ich und spüre schon wieder die Sehnsucht nach ihm durch meine Adern kriechen. Aber ich muss mich zusammenreißen. Unsere Liebe steht noch auf zu wackligen Beinen, als dass ich schon zu viele Ansprüche stellen darf.

Zu meinem Erstaunen raunt Marcel im nächsten Moment: „Carolin!“ Seine Stimme klingt so sehnsuchtsvoll, wie ich mich fühle. „Kann ich dich morgen Abend abholen? Schläfst du bei mir? Ich bringe dich auch am nächsten Morgen pünktlich zur Schule. Versprochen!“

Wie er das anbringt, berührt mich und ich will nichts lieber als das.

„Natürlich komme ich mit zu dir. Aber ich befürchte mein Vater macht einen Aufstand, wenn ich so spät noch wegwill. Der ist so schon nicht gut auf alles zu sprechen.“

„Kann ich denn zu dir kommen?“, fragt Marcel und es tut mir leid, dass ich auch das ausschlagen muss. Aber ich habe eine bessere Idee.

„Ich gehe morgen nach der Schule noch mit den Mädels lernen und fahre dann mit dem Zug um Zehn. Dann bin um halb elf bei dir. Das müsste doch passen, oder?“

Nicht gerade glücklich über diese Planung, raunt er: „Okay, gut. Aber musst du denn schon wieder …?“ Weiter kommt er nicht.

„Marcel, hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass du mir ein wenig die Möglichkeit gibst, mich meinen Weg finden zu lassen. Ich möchte auf keinen Fall den Anschluss an die Klasse verlieren, wie ich das in meiner alten Klasse hatte.“

Mit unsicherer Stimme fragte er: „Wie, den Anschluss verlieren? War das in der alten Klasse denn so?“

Ich will eigentlich nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber reden. Aber ich muss wohl Rede und Antwort stehen. „Leider. In meiner alten Klasse war ich zwei Jahre lang der Außenseiter. Darum war ich auch immer mit Christiane und den anderen aus der Realschule zusammen. In meiner Klasse hielten sie mich für etwas verrückt.“ Ich versuche ein Lachen erklingen zu lassen, was mir auch mehr schlecht als recht gelingt. Marcel wusste davon genauso wenig wie meine Eltern.

„Okay, es ist natürlich klar, dass es dir diesmal bessergehen soll“, brummt er. „Ich verstehe nicht, wie die so zu dir sein konnten.“

„Ach Schatz! Diese ganzen Träume und durchwachten Nächte und meine seltsame Art waren schuld, und dass ich nicht von Anfang an in der Klasse war. Aber das ist vorbei und vergessen. In meiner neuen Klasse geht es mir total gut.“

Ich höre Marcel schlucken. Meine Worte scheinen ihm nahe zu gehen.

„Gut, dann machen wir es so. Hauptsache ich sehe dich morgen wieder. Da habe ich den ganzen Tag etwas, worauf ich mich freuen kann“, sagt er mit seiner dunklen, weichen Stimme, die ich so sehr vermisst habe.

„Ich werde mich auch den ganzen Tag auf dich freuen. Das kannst du mir glauben“, versichere ich ihm.

Kurz darauf verabschieden wir uns. Um halb sechs wird mein Wecker meine Nacht beenden. Marcel kann wenigstens ausschlafen.

Doch erneut ist an Schlaf nicht zu denken. Marcel fehlt mir und ich muss mir eingestehen, dass ich schon wieder so weit bin, meine Zeit mit den Mädels zu kürzen, um jede vertretbare Minute mit ihm verbringen zu können. Und das geht gar nicht. Zumindest seine Spätschichtwoche sollte ich nutzen. Wer weiß schon, wie ich nächste Woche drauf bin, wenn er nachmittags Zeit hat. Ich sehe mich schon brav mit ihm alle Nachmittage verbringen und die Mädels versetzen.

Irgendwann schlafe ich dann doch wohl ein. Zumindest weckt mich etwas, was nicht wie mein Wecker klingt. Irritiert schlage ich die Augen auf und lausche in die Dunkelheit meines Zimmers hinein.

Das war mein Handy, das eine SMS meldete.

„Bestimmt von Marcel“, denke ich und suche es in meinem Bett. Es liegt halb unter meinem Kissen. Einen Knopf drückend, springt das Licht des Displays an und ich sehe den Namen des Absenders. Tim!

Was will der denn mitten in der Nacht? Mich weiter beschimpfen?

Ich öffne die SMS mit einem unguten Gefühl und lese: „Es tut mir leid. Du hast mich bloß wieder so böse erwischt. Ich werde die nächsten vier Monate die Tournee mit dem Orchester hinter mich bringen und hoffe, du siehst dann alles anders. Du hast dann drei Optionen … entweder mit mir zusammen bei dir oder mit mir in Wolfsburg oder … mit mir auf einer einsamen Insel. *grins* Vergiss mich nicht! Dein Tim.“

Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Das ist wieder der alte Tim, mit seinem unerschütterlichen Charme. Ich muss mir eingestehen, dass seine besitzergreifenden Forderungen und seine unbeirrbare Zuneigung mich berühren. Aber ich glaube nicht, dass ich sie je wieder erwidern werde. Ich bin jetzt wieder mit Marcel zusammen und das mit Tim ist für immer vorbei. Außerdem wird er jetzt vier Monate durch Deutschland touren. Vielleicht trifft er dabei auf ein Mädel, das sein Herz berührt. Ich gönne es ihm von Herzen. Er soll mich vergessen und mir mein Leben mit Marcel lassen. Er ist alles, was ich will.

Nun wieder einzuschlafen fällt unglaublich schwer und als mein Wecker anspringt, bin ich mir sicher, gar nicht geschlafen zu haben.

An meiner Bushaltestelle in Osnabrück wartet Ellen auf mich, was mich unglaublich freut. „Nah, das ist ja ein Empfang!“, rufe ich ihr schon zu, als ich die Stufen des Busses hinunterspringe.

„Guten Morgen! Du siehst immer noch ziemlich mitgenommen aus. Ist das noch von Samstag?“

Ich schüttele den Kopf. „Ne, ich habe nur schlecht geschlafen. Du weißt doch, meine beiden Männer …“ Ich grinse sie an und erzähle ihr von der SMS von Tim, die mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte.

„Tja, dann muss ich dir leider deinen Tag noch ein wenig mehr versauen. Erik war an meinem Handy. Ich habe ihn erwischt, wie er es gerade weglegte. Wenn du Pech hast, hat er jetzt auch noch deine Nummer“, sagt sie und ich merke, wie unangenehm ihr das ist.

„Das ist nicht schlimm. Der war Samstag eigentlich ganz nett und die Kekse habe ich schließlich nicht von ihm bekommen. Das waren andere! Eigentlich hat er den ganzen Abend auf mich aufgepasst.“

„Jou!“, meint Ellen. „Bestimmt! Du redest doch wohl kaum von meinem Bruder.“

„Doch, so übel ist der gar nicht.“ Mir geht es viel zu gut, nachdem ich Marcel wiederhabe und Tim mir nicht mehr böse ist, dass ich selbst Erik nicht mehr schlimm finden kann. Alles ist toll, schön und ich bin eigentlich glücklich.

Während wir nebeneinander hergehen, sieht Ellen mich seltsam an. „Hey, glaub mir, du irrst dich. Der steht voll auf Psychospielchen und mag es gar nicht, wenn er seinen Willen nicht bekommt und man ihm sagt, wo es langgeht.“ Sie zieht den Ärmel der Bluse hoch und ich sehe die blauen Flecken rund um ihren Unterarm.

„Oh Mann! Was ist denn mit dir passiert?“, frage ich entsetzt und sofort schießt mir, wer das nur gewesen sein kann.

„Und der andere Arm sieht auch nicht besser aus. Das ist von nachts, als er mir den Schlüssel abgenommen hat … und von gestern, als ich ihn beschimpfte, dass er dich in Ruhe lassen soll. Da ist er auch ausgeflippt und hat mich mal eben durch den Raum gefegt. Mein Bein sieht deshalb auch etwas ramponiert aus. An eine kurze Hose ist diese Woche nicht zu denken.“ Sie grinst mich an, aber ihre Augen schimmern feucht. Offensichtlich ist ihr mehr zum Heulen.

Ich bleibe stehen und sehe sie entsetzt an. Leise brumme ich: „Was, das hat Erik gemacht? Wegen mir? Oh mein Gott, Ellen! Das tut mir leid! Ich werde das selbst mit ihm klären. Bitte misch dich da nicht mehr ein. Ich will nicht, dass dir etwas passiert!“ Dass sie wegen mir so gelitten hat ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.

„Nichts da! Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Er ist mein Problem“, raunt Ellen und geht weiter.

Ich bin sprachlos. Was für eine kranke Welt. Aber ich werde trotzdem mit Erik reden. Vielleicht kann ich ihn mit gutem Willen und guten Worten zur Vernunft bringen. Zumindest, damit er Ellen in Ruhe lässt. So etwas kann er doch mit seiner Schwester nicht machen.

An der Schule sehen die anderen uns schon entgegen. Daher lassen wir das Thema fallen und verschieben es auf den Nachmittag.

Am Nachmittag sitzen Sabine, Ellen, Andrea und ich im Burger King, jede vor einem riesigen Baguette oder Salat, und sinnieren über unsere neue Schule nach.

Sabine murrt: „Das wird noch ziemlich schwierig. Und ich habe gedacht, wir können dort einen lauen Lenz schieben. Aber wenn wir da fertig sind, sind wir Ärzte, Köche, Elektriker, Gärtner, Schneider und sonst noch was.“ Dabei wirft sie ihre langen, dunklen Haare zurück und beißt erneut in ihr Baguette. Ihre dunklen Augen heften sich in unsere Gesichter.

Die anderen nicken. Auch ich muss zugeben, dass ich mir das Ganze weniger inhaltsvoll vorgestellt habe. Das werden die härtesten zwei Jahre meines Lebens. Zumindest schulisch gesehen.

„Vielleicht mache ich nur das erste Jahr“, raunt Andrea und ihre braunen Kulleraugen wandern von einem zum anderen. Wie immer sind ihre Wangen in dem runden Gesicht gerötet und sie streicht nervös durch ihr kurzes, blondes Haar, als müsse sie durch eine Mähne kämmen. Sie isst diesmal wieder nur einen Salat, in dem verzweifelten Versuch, etwas abzunehmen.

„Kommt, jetzt lasst euch nicht schon am Anfang entmutigen. Wir werden einfach alle sehen, dass jeder von uns da durchkommt. Zusammen schaffen wir das“, schalte ich mich ein und meine Stimme strotzt nur so vor Selbstbewusstsein, was mich selbst am meisten überrascht. Aber hier, und in dieser Gruppe, bin ich nicht nur cool, sondern auch weise. Das zeigen mir zumindest die Gesichter, die sich alle dankbar für die aufmunternden Worte auf mich richten. „Also wird hier jetzt keiner mehr Trübsal blasen“, füge ich noch hinzu.

Ellen grinst mich zufrieden und ein wenig stolz an. Ich glaube, sie freut sich darüber, dass wir besonders gute Freunde sind und ich zwinkere ihr zu.

Da das Wetter so unglaublich schön ist, beschließen wir in einem kleinen Park die Sonnenstrahlen zu genießen und zusammen die Verdauungsorgane und die dazugehörigen Enzyme zu lernen. Erstaunlicherweise erweise ich mich sogar als Lehrer als durchaus brauchbar und Wörter wie Pepsin, Trypsin, Ptyalin und Lipase stellen sich nicht mehr als unüberbrückbare Hindernisse auf dem Weg zu unserem Großhirn dar.

Auf dem trockenen, gelben Rasen liegend, lachen und scherzen wir über die erstaunlichen Gänge, die unser Essen durch unseren Körper zurücklegt und müssen alle feststellen, dass unser Interesse geweckt ist.

„Puh, also wenn ich mein Essen ewig in meinem Körper behalte, werde ich dick und rund bleiben“, jammert Andrea. „Aber, wenn ich doch nicht aufs Klo kann!“

Sabine lacht. „Tja, das werden wir dann morgen mal als Gesprächsrunde in unserer Biostunde anbringen. Was machen wir mit Andrea, die nicht auf die Toilette gehen kann.“

„Nein, bloß nicht!“, ruft Andrea bestürzt aus und wird rot.

Wir halten uns den Bauch vor Lachen, und völlig albern und verspielt wie Grundschüler reißen wir weiter dumme Witze.

Mein Handy klingelt und ich hole es aus der Tasche. Es zeigt mir eine Nummer ohne Namen an. Also ist das niemand, den ich kenne.

„Ja!“, kichere ich immer noch völlig albern in das Handy.

„Carolin?“, höre ich eine tiefe Stimme fragen.

„Ja“, hauche ich und mir bleibt mein Kichern im Hals stecken.

Verdammt, das ist Erik!

Ich werfe Ellen einen schnellen Blick zu und stehe auf, um mich ein Stück von der Gruppe zu entfernen. Wer weiß, was jetzt kommt? Ich für meinen Teil bin schrecklich wütend auf ihn, weil er Ellen so zugerichtet hat.

„Ich bin es, Erik!“

„Ja. Was willst du?“ Ich klinge auch dementsprechend.

„Nur hören, ob du den Samstagabend gut überstanden hast. Wenn ich gewusst hätte, dass du dir die Kekse reinziehst, hätte ich besser auf dich achtgegeben. Ellen ist deswegen ziemlich sauer auf mich.“

Einen Moment bin ich sprachlos. Dann raune ich ungehalten: „Du hast genug auf mich achtgegeben und du wusstest sehr wohl, dass ich die Kekse esse, wenn mir keiner sagt, was da drinnen ist. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir sogar noch den Teller zugeschoben. Aber egal. Ich kann selbst auf mich aufpassen“, brumme ich.

„Und warum bist du dann abgehauen?“, fragt er herausfordernd.

„Das war nicht ganz freiwillig, aber letztendlich wohl besser“, antworte ich und sehe zu den Mädels, die immer noch kichernd und herumalbernd sich in der Sonne aalen.

Erik brummt missmutig: „Warum besser? Dir wäre doch bei uns nichts passiert. Aber so weiß ich ja nicht, wo du in der Nacht noch gelandet bist.“

Komisch, hatte Ellen ihm nicht gesagt, dass mein Ex-Marcel mich abgeholt hat und der nun nicht mehr mein Ex ist?

Ich will nicht weiter mit Erik reden. Es geht ihn auch nichts an, wo ich abgeblieben bin. Aber es gibt etwas, was ich ihm zum Nachdenken mitgeben will. Unbedingt!

„Erik, wenn du das nächste Mal ein Problem mit mir hast, kläre das gefälligst mit mir und nicht mit deiner Schwester. Sie hat mir die blauen Flecken gezeigt, die du ihr zugefügt hast. Ich hasse solche Leute!“, fauche ich aufgebracht. „Ist das klar?“

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und vor meinem inneren Auge baut sich Eriks Gestalt in seiner vollen Größe auf. Vielleicht hätte ich meine Worte bedachter wählen sollen.

Einige Zeit ist es still am anderen Ende, was mich noch mehr beunruhigt. Dann verrät ein Räuspern, dass überhaupt noch jemand am anderen Ende der Leitung ist. „Okay, wann und wo?“, höre ich Erik wütend zischen.

Mir fällt die Kinnlade runter. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich versuche meine aufsteigende Unruhe zu ignorieren. Was soll ich jetzt tun? Ich werfe Ellen erneut einen schnellen Blick zu.

Am anderen Ende höre ich ein leises Lachen. „Ah, Schiss?“

Verdammt.

„Bestimmt nicht! Wir werden sehen, wann wir uns über den Weg laufen. Und ich habe keine Zeit mehr, die anderen warten. Tschau!“

„Okay! Dann bis ganz bald … zur Problembesprechung“, knurrt Erik übellaunig.

Oh weh. Wo habe ich mich da wieder hineinbugsiert? Ich lege schnell auf.

Als ich zu den Mädels zurückgehe, sieht Ellen mich fragend an.

Ich winke nur ab. Ich kann ihr nicht sagen, dass ihr Bruder so etwas wie eine Aussprache mit mir haben will … worüber auch immer. Wahrscheinlich ist er sauer, weil ich weiß, dass er Ellen so zugerichtet hat. Mir wird mulmig. Könnte er mir auch etwas antun? Oder ist das eins seiner Psychospiele, die Ellen erwähnte?

„Meine Güte, es ist schon nach fünf. Mein Bus fährt in zwanzig Minuten.“ Andrea springt auf. „Ich muss los. Muss noch jemand zum Bahnhof?“

Sabine steht auch auf, während Ellen an ihr Telefon geht, das zu klingeln begonnen hat. Sie winkt den beiden zu und wirkt irritiert, als sie sich meldet.

„Wo gehen wir denn am besten von hier aus lang?“, fragt Andrea mich und ich schüttele unwissend den Kopf. Ausgerechnet mich hier in Osnabrück nach dem Weg zu fragen ist wirklich unklug.

„Moment!“, raunt Ellen ins Telefon und wendet sich an Andrea. „Geht hier den Weg lang, dann kommt ihr direkt an der Hauptstraße beim Haseplatz raus. Dort haltet ihr euch rechts, bis zur Ampel. Dort geht ihr geradeaus drüber und folgt der Straße auf der anderen Seite, bis ihr links den Bahnhof seht. Ganz einfach.“

Gut das Ellen sich hier bestens auskennt.

Die wendet sich wieder ihrem Gespräch zu und wirkt beunruhigt. Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu und schüttelt verständnislos den Kopf.

Wir winken Sabine und Andrea noch mal zu, die eilig aufbrechen und ich lege mich ins Gras, die Sonne genießend. Während Ellen telefoniert, gebe ich mich der Müdigkeit hin, die mich überfällt. Ich bin nach den letzten zwei Nächten und dem Ganzen, was passiert ist, müde und wie erschlagen, und das Gespräch mit Erik hat mich nicht gerade aufgebaut. Was will der eigentlich? Bloß weil ich mit seiner Schwester befreundet bin, muss ich mich nicht auch noch mit ihm auseinandersetzen. Oder soll das ein normaler Zustand werden? Ellen ist schließlich auch irgendwie mit seinem Daniel liiert. Glaubt er, weil er die beiden ständig tyrannisiert, kann er das auch mit mir machen?

Ich höre Ellen ziemlich fassungslos immer nur „Ja“ und „Nein“ ins Handy murmeln und dämmere vor mich hin. Dabei schweifen meine Gedanken zu Marcel ab. Die Vorfreude auf unseren gemeinsamen Abend und die Nacht in seinen Armen jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Völlig durchgeknallt, sage ich dir“, höre ich Ellen neben mir raunen. „Weißt du, was gerade passiert ist?“ Sie wartet erst gar nicht auf eine Erwiderung von mir. „Mein Bruder hat sich bei mir entschuldigt. Das hat er in seinem ganzen Leben noch nie gemacht. Das ist bestimmt erneut so ein Psychoscheiß mit Hintergedanken. Sonst kann ich mir das nicht denken“, murrt sie aufgebracht.

Ich tue so, als wäre ich eingeschlafen. Erik hat sich also bei ihr entschuldigt. Das ist auch das mindeste, was er tun konnte.

Ich lasse meine Gedanken wieder zu Marcel wandern, was ein weitaus erfreulicheres Thema ist und sinke weiter in eine angenehme Traumwelt.

Die Sonne brennt in mein Gesicht, als Ellen mich am Arm wachrüttelt.

„Carolin, wir sollten hier schnellstmöglich verschwinden.“

Ich finde kaum aus dem Tiefschlaf heraus, der mich immer noch mit aller Macht festhalten will. Es ist so schön warm und ich höre Vögel zwitschern, Kinder spielen, Autos röhren. Das ist das Großstadtleben, das sich in unsere kleine grüne Oase nur als Geräuschkulisse traut.

„Hey, wach auf!“ Ellen klingt beunruhigt. Was ist denn plötzlich los?

Als ich mich langsam aufsetze, um sie anschauen zu können, ohne dass das gleißende Sonnenlicht mir die Augen versengt, starrt sie immer noch nachdenklich auf ihr Handy.

„Was ist passiert?“, frage ich verwirrt und etwas untröstlich, dass sie mich geweckt hat. Ich hatte von Marcel geträumt …

„Ich weiß nicht genau. Daniel hat mir eine SMS geschrieben, dass wir von hier verschwinden sollen.“

„Hä? Woher weiß er denn, wo wir sind?“, frage ich.

Ellen hält mir ihr Handy unter die Nase und ich lese: „Verschwindet von da, wo ihr gerade seid.“

„Hm, verstehe ich nicht. Und die ist wirklich von Daniel und an dich gerichtet? Da steht nicht viel“, bemerke ich etwas genervt. Die haben schon einen komischen Umgang miteinander.

Ellen steht auf. „Das hat er schnell geschrieben, damit das keiner mitbekommt. Es ist eine Warnung. Aber ich weiß nicht, weshalb.“ Ellen klingt besorgt. „Wir sollten aber besser machen, was er sagt.“

Ich sehe das etwas anders. Aber da ich als Mauerblümchen keine Ahnung von der lauernden Großstadtwildnis habe, stehe ich auch auf. Vielleicht ist Ellen aus irgendeinem Grund in Gefahr und ich will nicht diejenige sein, weswegen sie wieder Stress hat.

Wir greifen nach unseren Sachen und gehen den Weg weiter, der uns in die Innenstadt führt.

„Ich rufe ihn später an, wenn ich das Gefühl habe, ihn ohne Probleme fragen zu können, was los ist.“ Sie wirkt unsicher und sieht sich ein paar Mal um.

Auch ich ertappe mich dabei, mir die Leute, die uns entgegenkommen, genauer anzuschauen.

Mann, das ist schon alles aufregend!

Erst als wir in das Getümmel der Fußgängerzone eintauchen, wird Ellen ruhiger.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist schon nach sechs. Ich muss tatsächlich einige Zeit geschlafen haben.

„Was machen wir jetzt?“, fragt Ellen, nun besser gelaunt und wieder beruhigter.

„Ich weiß nicht. Hast du meinen Schlüssel zufällig in der Tasche? Sonst müssten wir den holen.“ Bei dem Gedanken wird mir mulmig. Ich will auf gar keinen Fall Erik begegnen.

„Nö, wo ist der denn?“ Ellen schaut mich verwirrt an.

„Eigentlich in meiner Jacke, die ich am Samstag bei dir gelassen habe. Du hast mir mein Handy in die Hand gedrückt und meine Geldtasche hatte ich in meiner Hosentasche. Aber der Schlüssel …?“

„Brauchst du den denn heute noch? Sonst bringe ich ihn dir morgen mit zur Schule.“ Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ihr die Option, den Schlüssel morgen mitzubringen, mehr zusagt. So überlege ich kurz.

„Nö, ich brauche den nicht. Ich bleibe heute Nacht bei Marcel. Aber morgen muss ich den dann schon haben.“ Mir fällt mit Schrecken ein, dass ich meiner Mutter noch Bescheid geben muss, dass ich heute Nacht bei Marcel schlafe. Ich habe das lange genug aufgeschoben.

Ellen scheint erleichtert. „Kein Problem. Ich schaue heute Abend noch danach und bringe ihn dir morgen mit.“

Wir kommen an einen Brunnen, an dem wir uns hinsetzen, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Ich nehme mein Handy und rufe meine Mutter an.

Sie ist überhaupt nicht begeistert, dass ich bei Marcel bleiben will. Sie macht mich sogar richtig wütend, als sie mich energisch nach Hause beordern will.

„Ich denke, ich komme morgen wieder nach Hause, wenn ihr mir keinen Stress macht. Ansonsten überlege ich mir das noch. Tschüss!“, zische ich aufgebracht.

Wenn meine Eltern glauben, dass ich mir mein neues Leben mit Marcel verbieten lasse, haben sie sich geschnitten. Ich kann auch ganz wegbleiben, wenn sie es darauf anlegen, mir mein Leben zu versauen.

Ich lege auf und sehe Ellen an. „Das passt denen gar nicht, dass ich heute bei Marcel schlafe. Aber sie müssen damit leben“, erkläre ich ihr meinen wütenden Ausbruch, als ein Schatten auf uns fällt.

Zwei Jugendliche treten an uns heran. „Habt ihr was?“, raunt uns einer der beiden zu.

„Verpiss dich“, brummt Ellen und sie verschwinden schnell.

Ich sehe ihnen hinterher und dann Ellen an. „Was war das denn? Was sollen wir haben?“

Ellen sieht mich kopfschüttelnd an. „Wo kommst du nur her? Von einem anderen Planeten? Sie wollten Stoff.“

Ich brauche einige Zeit, bis ich begreife. „Ach so.“

„Hör mal!“, raunt Ellen neben mir leise. „Wenn dich jemand anspricht, ob du was haben willst, dann sagst du immer Nein. Und auch, wenn jemand dich fragt, ob du etwas hast. Und lass dich niemals mit denen auf ein Gespräch ein. Es können auch verdeckte Ermittler sein. Dass du mit mir zusammen bist, kann für dich zum Nachteil werden. Erik und ich sind schon bekannt. Dass ich damals mit Alex zusammen war, hat mich ziemlich tief reingerissen. Und Erik sowieso. Den haben sie schon ein paar Mal hochgenommen. Er war auch schon in Untersuchungshaft und sechs Monate in Jugendhaft. Das allerdings, weil er jemanden übel zugerichtet hat. Und jetzt ist er auf Bewährung.“

Ich starre sie völlig sprachlos an und denke nur: Gut, dass Marcel das nicht weiß.

„Okay, immer nein sagen“, flüstere ich leise. „Wird gemacht.“

Mann, ist das aufregend!

Ellen drückt ihre Zigarette aus und steht auf. „Komm, ich habe Hunger. Wie wär’s mit einem Burger bei McDonald?“

Ich nicke, noch immer etwas Platt von ihrer kurzen Schulung im Benehmensfragen bei Dealern und Junkies und der Ausführung von Eriks Vorstrafenregister. Wenn ich auch noch Probleme mit der Polizei bekomme, wird Marcel mich für immer einsperren. Mal ganz davon abgesehen, dass meine Eltern ausflippen werden.

„Gerne. Ich habe auch Hunger.“

So schlendern wir ganz gemütlich durch die Fußgängerzone zu McDonald, holen uns einen Burger und eine Cola und setzen uns auf zwei freie Plätze an einem Tisch voller Chinesen, die aufgeregt in ihrer quickenden Sprache durcheinanderreden und dabei ihr Essen fotografieren.

Um diese Zeit ist es Glückssache, wenn man noch einen Platz in dem Laden findet und so tragen wir es mit Fassung.

Um halb zehn bringt Ellen mich zum Bahnhof und wartet mit mir auf meinen Zug, der kurz vor zehn abfährt.

Ich winke ihr zum Abschied aus dem Abteilfenster zu und kann es kaum erwarten, endlich loszufahren. Spätestens in einer halben Stunde werde ich bei Marcel sein. Endlich!

In Bramsche steige ich am Bahnhof aus. Ich versuche mich zu orientieren. Eigentlich muss ich nicht weit. Aber es ist Dunkel und die Straßenbeleuchtung irritiert mich. Ich kann nur hoffen, dass ich den richtigen Weg nehme.

Mein Handy klingelt. Ich sehe auf dem Display, dass es Marcel ist.

„Hi, Schatz! Ich bin unterwegs“, sage ich ohne Umschweife.

„Gut, das wollte ich nur hören. Ich kann dich auch abholen. Wo bist du denn?“

„Keine Ahnung. Aber ich denke, ich bin gleich bei dir. Das müsste die richtige Straße sein.“ Ich bin mir fast sicher, dass ich das Haus schon sehe.

„Soll ich mich an die Straße stellen?“, fragt Marcel.

„Nicht nötig! Ich habe es schon gefunden.“ Eine kleine Gartenpforte öffnend, betrete ich den verwilderten Garten. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich hier etwas Ordnung schaffen. Die Grundlage dazu lerne ich schließlich jetzt in meiner Schule.

Die Tür fliegt auf und Marcel steht im Lichtkegel der Flurlampe, das Handy in der Hand und mich angrinsend.

Ich beende das Gespräch und stopfe mein Handy in meine Schultasche, die über den Nachmittag an Gewicht zugelegt haben muss. Sie fühlt sich tonnenschwer an. Oder kommt das, weil ich so müde bin?

„Hey, Süße! Endlich!“, raunt er mit seiner tiefen, sanften Stimme und zieht mich in den Flur.

Ich lasse die Tasche fallen und mich in Marcels Arme sinken.

Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich, was gleich ein Buschfeuer in mir entfacht und ich lasse meine Hände unter sein T-Shirt gleiten. Meine Müdigkeit scheint sich im Nullkommanix aufzulösen.

Marcel gibt der Tür einen Tritt und sie knallt hinter uns zu. Kurz lassen wir uns los und sehen uns an. In seinen Augen glüht die gleiche Begierde, wie ich sie in meinem Körper spüre. Ich ziehe an seinem T-Shirt und er lässt es sich über seine Arme ziehen, mir meines in der gleichen Weise ausziehend. Wir küssen uns erneut und in einer unausgesprochenen Einigkeit gehen wir, aneinandergedrängt und an unseren Lippen klebend, in sein provisorisches Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin verliere ich meine Schuhe und Marcel seine Hose. Meine folgt vor dem Eisenbett, auf dem die Matratze liegt. Ich registriere kurz, dass wir nicht mehr auf der Erde schlafen. Aber nur ganz kurz. Marcels Hände auf meinem Körper, sein Körper an meinem und seine Zunge mit meiner spielend, lässt mich alles andere vergessen. Ich will ihn jetzt sofort! Und er will mich … auch sofort.

Als wir eng umschlungen in seinem Bett liegen, bin ich glücklich. Ich möchte nirgendswo anders sein und auch mit niemand anderem. Das ist meine Welt.

Irgendwo klingelt ein Handy, und ich sehe Marcel fragend an. Er schüttelt nur den Kopf. „Das muss deins sein.“

Ich springe aus dem Bett und laufe nackt durch die Wohnung zu meiner Tasche, greife mein Handy, das sich wie wild in meiner Hand gebärdet und flitze wieder zum Bett zurück, wo Marcel mir schon die Decke hochhält und mich in seine Arme zieht.

„Ja, Ellen!“ Ich bin etwas beunruhigt, weil Ellen mich so spät noch anruft. Ist etwas passiert?

„Hallo Carolin! Sag mal, warum hast du mir nicht gesagt, dass Erik dich heute Nachmittag angerufen hat?“ Sie klingt wütend.

„Ich wollte dich nicht beunruhigen“, sage ich und sehe Marcel an. Langsam setze ich mich auf und er entlässt mich nur widerwillig aus seiner Umarmung. „Warum?“

„Ich habe eben mit Daniel gesprochen. Erik wollte zu unserem Platz kommen. Deshalb hat er geschrieben, wir sollen verschwinden.“

Okay! Ich verstehe aber nicht ganz, wieso er uns warnte. Was hatte Erik seiner Meinung nach vor?

Ellen fährt fort: „Daniel sagte, dass Erik dich angerufen hat und du ihn wegen mir zusammengefaltet hast. Du hast zu ihm gesagt, dass er alles gefälligst mit dir selbst klären soll und das wollte er auf der Stelle tun. Wir hatten Glück, dass Daniel gerade bei ihm war und uns schreiben konnte.“

Ich bin sprachlos und beunruhigt. Hatte ich Erik zu sehr in Rage gebracht und er wollte sich an mir für meine große Klappe rächen? Oh Mann. Ein halbes Jahr Jugendknast für das Verprügeln von armen Mitmenschen hat er schon hinter sich. Und dass Erik kein „nettes“ Gespräch führen wollte wird klar, weil Daniel es für nötig hielt, uns zu warnen.

Aber vor Ellen und vor allem Marcel, der das Gespräch von meiner Seite her mitverfolgen kann, spiele ich die Coole.

„Mach dir keine Sorgen. Ich werde schon mit dem fertig.“

Ellen schreit ins Telefon: „Was? Bist du verrückt? Du sollst dem ganz fernbleiben! Ich weiß nie, was der gerade im Schilde führt. Der hat sich bestimmt eine neue teuflische Psychoscheiße überlegt. Ich wusste doch gleich, dass da etwas nicht stimmt, als er sich bei mir entschuldigt hat.“

Mir kommt etwas anderes in den Sinn. Es ist mehr ein seltsames Gefühl, dass sich in mir hocharbeitet. „Vielleicht meinte er das aber auch ernst und hat gar nicht vor irgendwelchen Stress zu machen. Mach dir mal keine Sorgen. Und um mich schon mal gar nicht. Ich habe schon andere Sachen überlebt.“

Ich grinse Marcel unsicher an, dessen Gesichtsausdruck sehr ernst wird.

Ellen scheint das Ganze auf sich wirken zu lassen. „Mir ist da nicht wohl bei. Schauen wir mal. Aber dann hatte ich recht, dass er sich deine Nummer aus meinem Handy geholt hat.“

„Ja, hattest du. Ist nicht schlimm!“, versuche ich sie zu beruhigen. „Lass uns morgen in der Schule weiterreden, okay? Ich muss jetzt ein wenig schlafen.“

Ellen murmelt: „Okay, dann bis morgen. Gute Nacht.“

„Bis morgen, Ellen.“ Ich lege auf und sehe in Marcels zusammengekniffenen Augen.

„Das war Ellen“, sage ich unnötigerweise.

„Hast du irgendwelche Probleme?“, fragt er lauernd.

Ich lache. „Blödsinn. Ellen hat Probleme. Ich nicht!“

Um weiteren Diskussionen zu entgehen, schiebe ich mich dicht an ihn heran und küsse ihn. Seine Arme legen sich wie Schraubstöcke um mich und ich schmiege seufzend meinen Kopf an seine Brust. „Ich bin todmüde. Die letzte Nacht ohne dich war nicht gerade der Hit. Heute schlafe ich bestimmt besser.“

„Und länger! Es reicht, wenn wir um halb sieben aufstehen, frühstücken und ich dich dann zur Schule bringe.“

„Hört sich das himmlisch an“, säusele ich noch und lasse meine Augen zufallen.

Marcel gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf schön, mein Engel.“

Zu gerne. Keinen anderen Gedanken mehr zulassend als den, dass Marcel neben mir liegt und mich mit seiner vertrauten Wärme und seinem Geruch einlullt, falle ich schnell in den Schlaf.

Am nächsten Morgen von Marcel geweckt zu werden, lässt meinen Tag sofort gut starten.

„Hm, kann ich das für immer haben?“, frage ich und strecke mich.

Marcel zieht mich in seinen Arm. „Oh ja! Das steht auch ganz oben auf meiner Wunschliste“, raunt er und versenkt sein Gesicht in meinen Haaren. „Aber es nützt nichts. Wir müssen jetzt aufstehen. Ich habe dir schon eine kleine Verlängerung gewährt. Komm, es ist gleich zwanzig vor sieben.“

„Oh Mann, ist das doof. Darf ich nicht ein bisschen schwänzen?“

„Nix da! Das fangen wir erst gar nicht an.“

Schmollend quäle ich mich aus dem Bett, gehe unter die Dusche und setze mich an den fertig gedeckten Frühstückstisch.

„Möchtest du Kaffee oder Tee?“, fragt Marcel.

„Bitte nur ein Glas Wasser.“

Er setzt sich zu mir und wir essen Toast mit Marmelade oder Nutella. Marcel wirkt etwas nervös und ich sehe mehrmals fragend in sein Gesicht. Aber er sagt nichts.

Als ich fertig gefrühstückt habe und aufspringe, um noch einmal auf die Toilette zu gehen, hält er mich auf. „Moment! Bitte, Carolin! Warte!“

Ich sehe ihn verunsichert an.

Er zieht mich direkt vor seinen Stuhl und sieht mir um Verzeihung heischend in die Augen. „Bitte, sei jetzt nicht wütend oder so. Aber es lässt mir keine Ruhe und ich möchte, dass wir Gewissheit haben.“

Ich sehe ihn groß an. Was meint er?

Marcel hält mir etwas hin, was ich nicht gleich erkenne. Aber dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es ist ein Schwangerschaftstest.

„Soll ich den jetzt machen?“, frage ich ungläubig.

Er nickt nur.

Ich nehme ihn und gehe ins Badezimmer.

Manometer. Marcel kann einen schon am frühen Morgen schocken. Bin ich bereit für die Wahrheit?

Auch wenn ich glaube, nicht schwanger zu sein, packt mich nun doch die Unsicherheit.

Etwas zittrig lese ich, wie ich ihn benutzen muss.

Gut … draufpinkeln und abwarten. Das müsste zu schaffen sein.

Mein Herz wummt wie eine kaputte Auspuffanlage. Ich lege den Streifen auf die Kiste, während mein Magen vor Aufregung zu rebellieren beginnt.

Schnell bringe ich das Ganze zu Marcel. Soll der doch davorsitzen und warten. Das halten meine Nerven nicht aus.

Der schaut mich nur irritiert an.

„Bitte schau du? Mir ist schon ganz übel. Ich föhne mir in der Zwischenzeit die Haare.“

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzt Marcel vor der Kiste und starrt immer wieder von der Beschreibung auf den Streifen. Als ich zu ihm gehe, steht er auf und nimmt mich in den Arm. „Ich denke, wir können unsere Familienplanung neu beginnen“, sagt er und ich bin mir nicht sicher, ob er sich freut oder enttäuscht ist. „Aber wir lassen ihn noch etwas liegen, okay?“

Ich nicke und atme auf. Mein Leben ist gerettet. „Oh Mann, bin ich froh. Ich hatte schon Panik!“

„Ich auch. Aber hauptsächlich, weil du in letzter Zeit nicht gerade zimperlich mit dir und deinem Körper umgegangen bist“, erwidert er.

Ich löse mich etwas aus seinem Griff und sehe ihn an. „Wir werden irgendwann Kinder haben. Einen ganzen Stall voll“, versichere ich ihm. „Aber nicht jetzt. Jetzt fährst du mich erst mal zur Schule, sonst komme ich zu spät.“ Ich grinse ihn frech an.

Marcel nickt und lässt mich los. Seine grauen Augen leuchten. „Wird gemacht, Frau Blum“, sagt er und grinst.

Ich suche meine Schuhe und sehe ihn nicht an. Das alles erweckt schon wieder schlimme Erinnerungen in mir, die ich lieber verdränge.

Marcel hält mich fest, als ich endlich mit meinen Schuhen an den Füßen an ihm vorbei zur Tür gehen will. Er legt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und sieht mir nachdenklich in die Augen. „Alles klar?“

„Ja, sicher!“, versichere ich ihm. Aber die Erinnerung an unsere Verlobung, wie seine Eltern reagierten und was das dann alles ausgelöst hat, legt sich schwer auf mein Gemüt.

„Gut! Dann komm!“

Wir gehen über den kleinen Weg zur Garage und ich steige vorsichtig in sein Auto ein, um seine Tür zu schonen. Im Auto lächele ich ihn an. Ich will mit aller Macht die Schrecken aus der Vergangenheit verdrängen.

Er setzt aus der Garage in den trüben morgendlichen Frühdunst eines Sommertages und lässt die Garagentür mit einem Druck auf die Fernbedienung sich wieder verschließen. Wir fahren zügig durch die kleine Stadt zur Schnellstraße.

„Dann sehen wir uns heute nicht mehr“, stelle ich betrübt fest. „Heute Abend muss ich mich bei meinen Eltern blicken lassen. Aber wenn du willst, komme ich morgen Abend zu dir.“

Marcel wirft den Kopf herum. „Oh Mann! Morgen erst? Wenn es anders nicht geht!“

„Nein, wird es wohl nicht“, raune ich leise und weiß schon, dass es erneut keine gute Nacht wird.

„Okay, aber wir telefonieren heute Abend, wenn ich zu Hause bin.“

„Auf alle Fälle.“ Ich küsse meinen Zeigefinger und streiche über seine Wange.

Er zwinkert mir zu, als wir über die Schnellstraße die Anhöhe hinabfahren, die uns direkt nach Osnabrück hineinbringt.

Ich sehe auf die Uhr und weiß, dass ich mich beeilen muss.

An der zweiten Ampel biegt Marcel in die Nebenstraße ein und fährt rings um das Schulgebäude herum, zu der kleinen Nebenstraße, an der er mich beim ersten Schultag abgefangen hatte.

Die meisten Schüler sind schon in die Schule gegangen und auch von meinen Mädels sehe ich nichts.

„Ich muss mich beeilen!“, sage ich und laufe zu seiner Tür, während Marcel sein Fenster herunterkurbelt. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn, mir alle Zeit der Welt lassend. Diesen Moment muss ich einfach auskosten. Wir werden uns erst am nächsten Tag wiedersehen können.

„Hey, nun ist aber Schluss“, höre ich jemanden hinter mir wettern. Es ist Susanne, die mir auf den Rücken schlägt und uns angrinst, wobei sich ihre dicken Wangen aufblähen wie bei einem Frosch.

„Tschüs Schatz! Bis heute Abend am Telefon.“

„Ja, leider“, raunt Marcel. „Aber morgen habe ich bestimmt wieder etwas in der Wohnung fertig. Lass dich überraschen.“

„Nestbau, nennt man so etwas“, sage ich lachend, angesichts der Schocktherapie mit dem Schwangerschaftstest.

„Joop.“ Marcel grinst schelmisch.

„Kommst du jetzt endlich?“, brummt Susanne und zieht an meinem Arm. „Die anderen sind schon weg.“

Ich winke Marcel noch einmal zu und folge ihr schnell. Gott sei Dank haben wir in der ersten Stunde nicht unsere Klassenlehrerin.

Als ich mich noch einmal umdrehe, fährt Marcel gerade weg.

Ganz untypisch für mich, möchte ich schon mit dem ersten Bus nach der Schule nach Hause fahren. Aber auch die anderen wollen an diesem Tag nicht bleiben und Ellen wartet mit mir an der Bushaltestelle.

„Soso! Da hat es dich wieder ganz schön erwischt“, sagt sie und grinst schief, als ich ihr von Marcel und mir erzähle.

„Das stimmt! Wir können einfach nicht ohne einander. Dass haben uns die zwei Wochen gezeigt. Marcel hat mir sogar das mit Tim verziehen. Das ist schon der Hammer. Ich denke, wir werden nun wirklich für immer zusammenbleiben.“

Ich hatte Ellen schon in der ersten Pause von meinem Schwangerschaftstest erzählt und sie war entsetzt gewesen.

„Mann, wenn du jetzt auch noch schwanger gewesen wärst, dann hätte Erik auch noch eine Schwangere mit Drogen versorgt. Nicht auszudenken!“

Sie hatte mich einige Zeit nachdenklich angesehen, bevor sie sagte: „Der ist komisch. Er ist nett. Was hast du mit dem gemacht?“

„Nichts!“, hatte ich ihr nur geantwortet.

Nun fragt sie, mich mit ihren braunen Augen musternd: „Und wann seht ihr euch wieder … du und dein Marcel?“

Ich erkläre ihr, dass er in dieser Woche Spätschicht hat und mein Vater ziemlich gegen unsere neu auferstandene Beziehung ist und daher Stress macht. „Deswegen fahre ich heute mal brav nach Hause. Aber morgen bleibe ich wieder bei ihm, … und das Wochenende werde ich auch mit ihm verbringen. Wir haben so viel nachzuholen.“

Ellen nickt. „Dann muss ich das Wochenende ohne dich auskommen?“

Sie klingt etwas traurig und ich lege meinen Arm um ihre Schulter. „Ich fürchte schon. Das wird das erste Mal sein, dass wir völlig ungestört zusammen sein können. Ich freue mich da schon total drauf. Aber für das Wochenende danach ist noch alles offen“, versuche ich sie zu vertrösten.

„Das passt schon. Dann werden Daniel und ich mal wieder einen Kinoabend machen, … wenn Erik ihn lässt.“

Ich sehe sie verwirrt an. „Wieso sollte er nicht?“

„Daniel ist Eriks bester Freund. Die beiden sind immer zusammen oder zumindest immer, wenn Daniel nicht mit mir zusammen ist“, erklärt sie.

„Oh, ich verstehe. Ich finde, ihr passt gut zusammen.“

„Ja, das finde ich auch. Aber Erik wollte das erst nicht. Der hat am Anfang einen ganz schönen Aufstand gemacht. Aber mittlerweile …“ Sie grinst.

„Was macht dein Bruder eigentlich?“, frage ich neugierig.

„Ach der!“, knurrt sie herablassend. „Erst hat er einige Semester Psychologie studiert und ist dann in die Wirtschaftslehre umgestiegen. Das wollte mein Vater so, weil er mal in dessen Fußstapfen treten soll.“

„Will er das denn?“ Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Erik wirkt nicht wie ein Geschäftsmann.

„Nicht wirklich. Aber Papa dreht ihm sonst den Geldhahn zu.“

Ich nicke verstehend.

Als mein Bus kommt, verabschieden wir uns und ich steige ein. Mich in einen freien Sitz werfend, freue ich mich tatsächlich drauf, erneut in mein behütetes Zuhause zu fahren, wo mein Zimmer auf mich wartet und die ruhige Abgeschiedenheit der ländlichen Welt. Ich vermisse manchmal das viele Grün der Felder und Wälder und die besondere Luft. Außerdem möchte ich mich etwas von allem erholen. Ich möchte einen ruhigen Nachmittag verbringen, in Ruhe meine Hausaufgaben machen und am Abend meine Eltern beruhigen, damit sie mich auch weiterhin mein Leben allein meistern lassen.

Am Abend warte ich darauf, dass Marcel mit seiner Arbeit fertig ist und mich endlich anrufen kann. Nach einem längeren Gespräch mit meinen Eltern, in dem Papa erst noch meinte herumtoben zu müssen, brauche ich Marcels Stimme und Zuwendung.

Das Gespräch mit meinen Eltern war anders verlaufen als von mir gewünscht. Letztendlich hatte ich ihnen mitgeteilt, dass sie sich aussuchen können - entweder ich breche die Schule ab und verschwinde ganz nach Osnabrück und lebe da von Luft und Liebe oder ich mache brav die Schule weiter und verbringe meine Zeit mit Marcel, was heißt, ich komme auch ab und an bei ihnen vorbei. Etwas anderes gibt es für mich nicht mehr und meine Eltern hatten entsetzt eingelenkt. Wohl auch, weil sie mittags bei Julian gewesen waren, der erneut völlig fertig und weinend meinte, er hält das nicht länger in dieser Klinik aus.

„Hoffentlich bekommt er nur eine Bewährungsstrafe und muss nicht ins Gefängnis. Daran zerbricht der arme Junge. Das dürfen sie einfach nicht tun!“, hatte meine Mutter gejammert.

Zum ersten Mal, vielleicht weil ich mit Marcel glücklich bin und Ellen und Erik zusammen erlebe, möchte ich ihm auch eine Chance geben. Ich will wieder meinen alten Bruder zurückhaben. Dass Tim für ihn in unerreichbarer Entfernung ist, lässt mich hoffen, dass wir nach seiner Verhandlung in sechs Wochen einen Versuch starten können. Zumindest Tim wäre vor ihm sicher.

Ich hatte meiner Mutter daraufhin gesagt, dass ich das nächste Mal mit zu ihm fahre.

Das hatte viele Wogen unseres vorherigen Gespräches geglättet und ich hatte ihnen außerdem versprochen, dass ich ihnen immer schreibe oder sie anrufe, wenn ich bei Marcel bleibe.

„Bitte auch, wenn du bei Ellen bist“, hatte meine Mutter weinerlich gebeten.

„Natürlich!“, hatte ich geantwortet. Aber ich bin mir sicher, dass das so schnell nicht wieder vorkommen wird. Zu einem wegen Erik und zum anderen, weil Marcel das bestimmt nicht mehr zulässt und ich das somit auch nicht möchte.

Als endlich mein Handy klingelt, gehe ich sofort ran. Schon den grünen Hörerknopf drückend, fällt mir ein, dass es noch vor zehn ist und eigentlich noch etwas zu früh für Marcels Anruf. Aber mein Kopf und meine Zunge sind in diesem Moment nicht kompatibel und ich rufe ein freudiges: „Hallo Schatz!“, in mein Handy, weil die Sehnsucht zu Marcel mich überwältigt. Aber ich bin nicht mal übermäßig überrascht, als ich nicht Marcels Stimme höre, weil meinem Kopf das schon klar war.

„Was für eine Begrüßung! Da könnte ich mich dran gewöhnen“, brummt eine dunkle Stimme ins Telefon.

Verdammt!

„Ach Erik, du bist das“, blaffe ich übertrieben enttäuscht. Was will der denn schon wieder?

„Ja, Schatz. Ich bin´s“, brummt er verstimmt. „Wer ist Schatz?“, fragt er hinterher.

Mann, ist der Typ neugierig. Unglaublich!

„Mein Freund“, drücke ich ihm rein.

„Du hast keinen, hast du am Samstag gesagt.“

„Das war Samstag. Sonntag war das dann nicht mehr so“, säusele ich süßlich. „Dank dir und deiner Drogenaktion. Mein Exfreund meinte daraufhin, dass es besser ist, nicht mehr mein Exfreund zu sein, damit ich bei euch nicht unter die Räder komme.“

Einige Zeit ist es still in der Leitung.

„Erik, bist du noch dran? Sonst lege ich jetzt auf, wenn du nichts weiter willst, damit mein Schatz mich auch erreichen kann.“

Ich bin böse! Tim hat recht. Und es fühlt sich hier und heute und in meinem Zuhause, weit weg von allem, gut an. Aus irgendeinem Grund drängt mich etwas dazu, Erik herauszufordern.

„Nein, ich will noch was. Wir beide haben noch etwas offen“, knurrt der in seiner unfreundlichen Art.

Mir wird mulmig. Seine Stimme und seine Worte schaffen es ganz schnell mich wieder runterzuholen. „Ich wüsste nicht was“, sage ich und versuche meine plötzlich aufkeimende Unsicherheit nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen.

„So, willst du jetzt kneifen? Du hast gesagt, ich soll das mit dir, statt mit Ellen, klären.“

Hm, naja, am Telefon kann er mir erzählen, was er will.

„Stimmt, dann spreche dich aus. Was müssen wir klären?“

„Du stehst also zu deinem Wort, dass ich, wenn ich ein Problem mit dir habe, das mit dir, statt mit Ellen, besprechen soll?“

Ich muss an Ellens blaue Flecken denken und ihr trauriges Gesicht, als sie mir erzählte, wie sie an die gekommen war.

„Ja, klar! Aber bitte schnell. Ich habe nicht ewig Zeit“, brumme ich.

Es erklingt ein leises, überhebliches Lachen, und ich fühle mich in der Falle, trotz der gefühlten 1000 KM zwischen uns.

„Gut zu wissen. Wir sehen uns dann. Und bring etwas Zeit mit.“

Ich bin verwirrt. „Was?“

„So etwas bespricht man doch nicht am Telefon. Das macht man Auge in Auge. Und schauen wir mal, wann. Am besten dann, wenn du am wenigstens damit rechnest.“ Das klingt in meinen Ohren wie eine Drohung. Was habe ich dem eigentlich getan?

„Also bis dann, mein Schatz!“ Er lacht dieses gehässige, dunkle Lachen und legt auf.

Psychoscheiß! Ellen hat recht.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, obwohl Erik gar nicht mehr am Handy ist. Seine Worte treffen mich wie Hagelkörner in einem Sommergewitter. Ich lege das Handy weg, weil meine Hand leicht zittert und komme mir idiotisch vor. Was kann er mir schon tun? Nichts!

Ich habe mich noch nicht ganz von dem Anruf erholt, als es erneut klingelt. Diesmal schaue ich erst auf das Display und es ist wirklich Marcel. Glücklich nehme ich ab.

„Hi Süße, du fehlst mir“, raunt er und ich kann das nur erwidern. Dann erzähle ich ihm alles über meine Auseinandersetzung mit meinen Eltern, und dass ich eingeräumt habe, mit ihnen das nächste Mal Julian zu besuchen. „Darauf haben sie dann grünes Licht gegeben und ich darf öfters bei dir schlafen“, sage ich und kann es kaum abwarten, endlich wieder in seinen Armen zu versinken.

Marcel freut es, dass wir einige Nächte mehr einplanen können. Aber er brummt auch wütend, dass ich auf keinen Fall mit zu Julian fahren werde.

„Schatz, ich will sehen, ob das stimmt, dass er sich so verändert hat. Bitte sei nicht sauer“, versuche ich ihn zu besänftigen.

Es dauert einige Zeit, bis er ein „Okay, du musst das selbst wissen“, ins Telefon brummt. Aber ich höre an seiner Stimme, dass er es hasst, wenn ich eigene Entscheidungen gegen seinen Willen treffe.

Tja, egal was ich ab jetzt entscheide, ich muss es von nun an bei ihm durchboxen. Hatte ich meine Eltern soweit, sich nicht mehr überall einzumischen, so habe ich nun Marcel, der mein Leben bestimmt. Aber im Moment ist mir das egal. Ich bin viel zu glücklich, ihn wiederzuhaben. Dafür bin ich sogar bereit, meine ganze Freiheit aufzugeben, die ich mir erkämpft habe. Nichts ist mehr wichtiger als er und ich.

Als wir am Freitag aus dem Schulgebäude in den hellen Sonnenschein treten, freue ich mich wie ein kleines Kind auf mein bevorstehendes Wochenende. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, es wird das schönste meines Lebens.

Aber da Marcel erst nach 22 Uhr zu Hause sein wird, habe ich noch den ganzen Nachmittag Zeit für meine Mädels und einen Gang durch die Stadt. Nach einer ziemlich lernintensiven Woche sind wir alle überdreht und froh, dem Schulalltag zwei Tage entfliehen zu können. Die Mädels haben beschlossen, am Samstag geschlossen die Stadt unsicher zu machen und ich werde nicht dabei sein können.

Das ist ein Wehmutstropfen, der mir mein Wochenende mit Marcel etwas verleidet. Aber ich habe mir halt ein schlechtes Wochenende ausgesucht, an dem einiges in der Stadt los ist.

Aber an diesem Freitag möchte ich zumindest die letzten Stunden meine Freiheit genießen, wie ich Ellen und Sabine mit einem Augenzwinkern mitteile.

Sie nehmen den Spruch lachend auf und wissen nicht, wie ernst er werden kann. Sie kennen Marcel nicht … und wie häuslich ich werde, wenn ich mit ihm zusammen bin.

Diesmal gesellen sich zu Ellen und mir auch Andrea, Sabine, Michaela, Ursula und Susanne. Michaela will sich später noch mit ihrem Bruder in der Stadt treffen und Ursula traut sich das erste Mal mit uns mit, angezogen von unseren Geschichten, die wir in der Schule von unseren bisherigen gemeinsamen Unternehmungen preisgaben.

Mit dem nächsten Bus fahren wir in die Stadt und steigen am Hasetor Wall aus. Von dort aus gehen wir wieder in den kleinen Park, aus dem Ellen und ich am Montag geflüchtet waren, weil uns Daniels SMS dazu aufgefordert hatte. Heute gibt es kaum eine freie Stelle und wir ziehen weiter in die Innenstadt. Bei McDonald essen wir Burger, Salat oder worauf der einzelne Appetit hat und beschließen hinterher die Sonne im Botanischen Garten zu genießen. Später wollen wir die Innenstadt unsicher machen, bevor ich am Abend wieder mit dem Zug um zehn nach Bramsche fahre.

Ich hatte Marcel gestern meinen Hausschlüssel gegeben, damit er heute Vormittag vor der Arbeit bei mir zu Hause vorbeifahren und einige Sachen von mir in sein Auto laden konnte. Ich werde in nächster Zeit einiges an Kleidung und Schulsachen bei ihm brauchen.

Wow, dass sieht schon ganz nach zusammenziehen aus und fühlt sich auch so an. Endlich!“, hatte er mir in einer SMS am Mittag geschrieben, nachdem er die Sachen aus meinem Zimmer geholt hatte.

Ich schrieb ihm nur zwei Wörter zurück: „Ja, endlich.“

Er hatte mir voller Stolz am Mittwochabend seinen Kleiderschrank präsentiert - eigenhändig zusammengebaut. Und eine Seite ist für mich.

Ich bin aufgedreht und etwas nervös, als stände ich vor einem Urlaubsantritt in die Karibik. Die Mädels merken das auch und lassen sich von mir und meiner guten Laune mitreißen. Nur Ellen weiß wirklich, warum ich so überdreht bin und kann darüber nur nachsichtig lächeln.

So liegen wir in der Sonne und unterhalten uns über Gott und die Welt. Aus irgendeinem Grund finden die Stadtmädels es interessant, mich aus meinem Leben berichten zu hören, dass nach ihrer Meinung so ganz ab von jeglicher Zivilisation stattgefunden hat. Die Geschichten über unsere Scheunenfeste und Jugendtreffen verblüffen sie. Nur Andrea und Michaela sind solche Partys nicht ganz fremd.

So erzähle ich an diesem Nachmittag meinen Zuhörern von meiner ersten Scheunenfete und meiner Begegnung mit Timothie, und von Tim und unserem ersten „netten“ Treffen und der unglaublichen Anziehungskraft, die uns zueinander hinzog.

Die neugierige Sabine fragt mich, warum er allein von Wolfsburg nach Alfhausen zog und alle sind auf den Fortgang meiner Geschichte gespannt.

„Naja, er wollte mich halt unbedingt treffen“, sage ich nur überheblich grinsend, um es als Scherz zu kaschieren. Natürlich nimmt das auch keiner für bare Münze und die Wahrheit würden sie sowieso nicht glauben.

Langsam in Fahrt kommend, erzähle ich ihnen auch von Julian, der mit Tim gar nicht einverstanden war und mir Marcel vorsetzte. Dann berichte ich ihnen von dem Tag, an dem ich mich mit Tim in der Hütte traf und später von Marcel zu ihm nach Hause mitgenommen wurde, wo ich dann die Nacht verbrachte.

Ich habe die ungeteilte Aufmerksam meiner Mitschülerinnen und bin mir nicht ganz sicher, ob nicht sogar einige der um uns liegenden gebannt meine Geschichte verfolgen. Dass ich mich so gut zu einer Geschichtenerzählerin eigne war mir bisher nicht klar gewesen. Auch Ellen hängt fasziniert an meinen Lippen, obwohl sie schon das eine oder andere von mir weiß.

„Mein Bruder holte mich am nächsten Tag von Marcel ab“, führe ich meine Erzählung fort. „Er war schrecklich wütend … auf mich, Marcel und auf Tim. Und dann klickte er aus, fuhr Tim über den Haufen und verletzte mich mit einem Messer am Hals“, bringe ich meine Geschichte wage weiter auf den Weg.

Voller Entsetzen werden die ersten ungläubigen Ausrufe laut und ich zeige ihnen meine Narbe, die sich immer noch rot auf meinem Hals abzeichnet.

„Marcel hatte sich mit der Polizei auf die Suche nach mir gemacht und kam gerade rechtzeitig. Sie schnappten sich meinen Bruder und man brachte mich und Tim in ein Krankenhaus, in dem Marcel tagelang an meinem Bett blieb, bis meine Eltern aus dem Urlaub zurückkehrten. Mein Bruder sitzt seitdem in Untersuchungshaft.“

Alles schmilzt angesichts Marcels Tat dahin und ich kann nur lächelnd hinzufügen, dass ich ab dieser Zeit in ihn verliebt bin.

Es gibt keine in der kleinen Gruppe, die das nicht verstehen kann, außer Susanne, die nur schnippisch lacht.

„Aber Tim wollte nicht so schnell aufgeben“, fahre ich mit meiner Erzählung fort, als erzähle ich aus einem Roman. Und so erfahren sie von der nächsten Scheunenparty und dem Lehrling aus Marcels Arbeit, der mir den Hof machte, dem Übergriff von Tim auf der Tanzfläche und dem Lied auf seinem MP3 Player.

Wieder schmilzt alles dahin. Diesmal zu Tims Gunsten.

„Ich stand völlig neben mir, von Tim und dem Lied gefangen, und das merkte Marcel, als ich aus der Dunkelheit zu ihm ging. Er setzte mich in ein Taxi und wir fuhren nach Hause. Auch da war ich noch nicht zu einer vernünftigen Reaktion fähig und er machte sich schwere Vorwürfe, dass er nicht besser auf mich aufgepasst hatte. Er ging davon aus, dass mir einer an die Wäsche gegangen war. Dass ich ihm aber nichts erzählen wollte, machte ihn ziemlich wütend …“

Meine Geschichte lasse ich mit Marcels Gespräch mit einem Bekannten fortfahren, der ihm steckte, dass ich mich auf der Tanzfläche nur schwer eines sehr anhänglichen jungen Mannes erwehren konnte und dieser Typ mir dann nach draußen gefolgt war.

„Da die Beschreibung auf den Lehrling aus seinem Betrieb passte, obwohl das Tim gewesen war, prügelte sich Marcel mit ihm und brach ihm die Nase. Daraufhin verlor Marcel fast seinen Job, weil man natürlich keine Arbeitskollegen verhauen darf“, beende ich diese Episode.

„Oh Mann!“, raunt Andrea kopfschüttelnd. „Und das alles wegen Tim.“

Ich beginne die nächste Geschichte, die auf der Jugendfete weitergeht, an der Tim erneut das Lied spielte, als Musikwunsch für eine Carolin und dass Marcel darüber so verwirrt war.

Wieder schmelzen meine Zuhörerinnen seufzend dahin.

„Marcel machte sich voll die Sorgen, was das mit dem Lied bedeuten könnte und ob es nicht doch für mich war und ich das nur nicht zugeben wollte. Ich hatte ganz schön zu kämpfen, ihm das auszureden. Und dann nahm er mich am nächsten Tag das erste Mal mit zu seinen Eltern zum Kaffeetrinken.“

Ich lasse die Fahrt zu Marcels Eltern folgen, seine Übergabe des Vorverlobungsringes und der Aussage von Marcel vor seinen Eltern, dass er und ich verlobt sind, und er mich heiraten wird … statt Katja.

„Statt wem?“, kommt es fast gleichzeitig aus den Mündern.

Ich erzähle ihnen, dass seine Eltern Marcel mit der Tochter einer Freundin zusammen sehen wollen und dass diese Tochter Marcel auch unbedingt haben will. Und damit habe ich den Grundstein für die nächsten Begebenheiten und der nächsten Scheunenfete gelegt.

Völlig gebannt hören sie sich meine Ausführung von Katjas Auftritt an und wie ich alles an diesem Abend erlebt hatte.

„Tim tauchte plötzlich auf und wollte mich sofort wegbringen. Aber ich wollte wissen, wo Marcel mit dieser Katja abgeblieben war. Tim konnte mich nicht aufhalten und dann sah ich sie … Marcel und Katja zusammen hinter dem Zelt.“

„Ach du Scheiße!“, entfährt es der sonst so sittsam sich ausdrückenden Michaela, während ihre großen, blauen Augen auf mich gerichtet sind und sie ihr langes, blondes Haar zurückwirft. Und auch alle anderen sind außer sich.

„Tim packte mich und brachte mich weg … zu sich nach Hause.“

„Herrje! Und dann? Das war doch seine Chance!“, stößt Andrea mit roten Wangen hervor.

„Joop!“ Ich erzähle ihnen von den vielen SMSen von Marcel und seinen Anrufen, und dass Tim mein Handy davon säuberte. Ich berichte ihnen von dem tränennassen Kissen in meinem Bett, und dass Marcel die Nacht letztendlich dort verbracht hatte, statt bei Katja und mir einen Brief geschrieben hatte, der in meinem Zimmer auf mich wartete. Dass ich das alles entdeckte, als ich mir meine Sachen holen wollte, ließ ich folgen … und unsere darauffolgende Verfolgungsjagt, als Marcel mich und Tim einholen wollte, um mich zu einem Versöhnungsgespräch zu bewegen. Die Geschichte mit den Bildern, die herumgingen und in der Katja allen mitteilte, dass sie mit Marcel zusammen ist, nimmt meinen Zuhörerinnen den Atem. Erboste Ausrufe werden laut.

Ich fahre fort, selbst von den Gefühlen wieder niedergedrückt: „Das wusste ich aber alles nicht, weil Tim darauf achtete, dass mich ja nichts erreicht. Und dann, nur durch Zufall und über eine Freundin, bekam ich die Bilder doch zu sehen und schickte Marcel eine böse SMS, dass ich bedauere, je mit ihm etwas angefangen zu haben. Naja, und Tim war nach zwei Tagen völlig fertig, weil er mit meiner Nähe nicht klarkam, ohne mich anrühren zu dürfen und ich beschloss, mit ihm zu schlafen. Ich weiß nicht genau wieso, vielleicht um besser mit dem Verlust von Marcel fertig zu werden.“ Wieder kann ich ihnen nichts von dem Fluch erzählen, der Tim zugesetzt hatte. „Das war aber irgendwie nicht so wie bei Marcel und so versuchten wir es noch ein paar Mal. Aber er konnte Marcel nicht das Wasser reichen.“ Ich grinse alle frech an. Hier bin ich die Coole und kann auch so tun, als wäre alles nicht so schlimm gewesen.

Marcels Widerruf, dass er nicht mit Katja zusammen ist und auch nie sein wird und dass er nur mich liebt, lässt wieder der einen oder anderen einen Seufzer über die Lippen rinnen wie flüssige Erdbeersoße.

„Und dann wisst ihr ja, dass Marcel mich hier an der Schule abgepasst hat. Er konnte mir glaubhaft versichern, dass Katja alles inszeniert hatte, um uns auseinanderzubringen und ich wurde schwach. Aber Tim war sauer, als er hörte, dass wir uns ausgesprochen hatten und noch wütender, dass ich mein Wochenende mit Ellen im Nachtleben Osnabrücks verbrachte, statt wie abgesprochen mit ihm zusammen. Er rief mich den ganzen Abend an und bombardierte mich mit SMSen. Als er mich endlich erreichte, wollte er mich sofort abholen. Voll stalkermäßig. Und dann traf ich mich am nächsten Tag mit Marcel zum Eis essen. Daraufhin drehte Tim durch.“

Ich sehe an den Gesichtern der Mädels, dass es nach deren Meinung nicht noch schlimmer kommen kann. Aber als ich dann von dem Nachmittag berichte, an dem Tim und meine bis dahin beste Freundin sich in der Eisdiele zu uns gesellten und er mich so böse Angriff und sogar unter dem Tisch drangsalierte, wurden sie eines Besseren belehrt.

„Marcel war an diesem Nachmittag sowieso schon völlig durcheinander, weil ihm meine Mutter versehentlich Tims MP3 Player mit seinem Liebeslied in die Hand gedrückt hatte, in der Annahme, es sei seiner. Ihr könnt euch denken, was in ihm vorging, als er das Lied hörte, dass auf der Jugendparty für eine Carolin gespielt wurde. Außerdem wusste er, dass ich das Gerät in der Nacht der ersten Scheunenfete in der Tasche hatte, als ich so neben mir stand. Mir war klar, dass ich ihm eine Erklärung schuldig war … und dann Tim noch dazu, der mich fast schon erpresste. Ich sage euch! Ich beschloss, dort an dem Tisch dieser Eisdiele, Marcel alles über mich und Tim zu erzählen.“

Und so lasse ich die Geschichte mit Marcel und meiner Aussprache mit ihm am See folgen, in der er von mir und Tim erfuhr, und dass Marcel mich daraufhin einfach stehenließ. Und mit trauriger Stimme, die meine Gefühle von diesem Tag wiederspiegeln, erzähle ich von Tim, der mich auf meinem Nachhauseweg aufgriff und dem ich sagte, dass es zwischen uns ein für alle Male aus ist.

„Ich beschloss an diesem Sonntagnachmittag, völlig erschüttert von allem, nie wieder etwas mit einem Kerl anzufangen“, sage ich in einem unumstößlichen Ton und sehe von einer zur anderen.

„Poor! Das kann ich nur zu gut verstehen“, raunt Susanne, während alle anderen mich nur groß anstarren.

Meine Geschichte soll natürlich mit einem Happy End enden und ich fahre fort: „Und dann war ich letztes Wochenende mit Ellen in Osnabrück unterwegs und obwohl sie immer aufpasst wie ein Luchs, hat mir jemand etwas ins Glas getan und ich war völlig stoned.“

Ich zwinkere Ellen zu, die hellhörig diese Version meiner Geschichte verfolgt, ein leichtes Schmunzeln in den Mundwinkeln. Ich kann schließlich nicht sagen, dass es ihr Bruder bei ihr zu Hause war, während sie irgendwelche Junkies retten wollte.

„Ellen rief Marcel an, damit er mich abholt. Ich konnte so weder zu ihr noch zu mir nach Hause. Und der ist tatsächlich gekommen. Er hat mich in seine neue Wohnung mitgenommen und dort schlimm zusammengefaltet und mir vorgehalten, dass ich ohne ihn im Nullkommanichts unter die Räder komme. Das musste ich natürlich einsehen … und so sind wir halt wieder zusammengekommen“, beende ich meine Geschichte ziemlich lapidar.

Einige Zeit ist es still um mich herum. Selbst die Vögel auf den Bäumen scheinen sich erst mal fangen zu müssen. Auch die Gruppen um uns herum erwachen nur langsam wieder zum Leben. Oder meine ich das nur? Auf jeden Fall sind meine Zuhörerinnen ziemlich mitgenommen.

„Manometer! Das ist unglaublich, was bei euch auf dem Land so alles abgeht. Ich glaube, ich ziehe um“, sagt Sabine, die sich am schnellsten wieder einkriegt, lachend.

Ellen steht auf. „Kommt, Mädels. Ich denke, wir genehmigen uns in der nächsten Kneipe einen Drink. Das war Stoff für einen Film. Das muss man erst mal verkraften!“

Sie zwinkert mir zu und weiß, dass ich vieles, was die Mädels noch mehr aus der Bahn geworfen hätte, weggelassen habe. Aber selbst die Softvariante hatte selbst mich in meinen Tiefen erneut erschüttert. Ich merke, ich bin da noch lange nicht drüber weg.

Ich halte Ellen meine Hand hin und sie zieht mich hoch. Die anderen folgen uns und wir schlendern wieder Richtung Altstadt. Vielleicht bekommenen wir einen Platz im „Kleinen Lord“, der kleinsten Kneipe der Welt? Mit uns ist die schon voll.

Aber wir kehren dann doch schon in einer anderen Kneipe ein, weil wir alle durstig sind und nicht weiterlaufen wollen. Dort spielt schöne Musik und sie haben einen kleinen Gastgarten, in dem wir es uns bequem machen. Außerdem ist das eine Kneipe, die Ellen kennt.

Ich bestelle mir ein großes Alster und die anderen sich Cola, Orangensaft mit Wodka oder ein Bier. Da ich noch später auf Marcel treffe, verkneife ich mir den Orangensaft mit Wodka lieber.

„Mann, willste jetzt wirklich brav werden?“, fragt mich Ellen aufgebracht und zieht ihr Handy aus der Tasche, das einen Anruf ankündigt.

Ich schmunzele nur und wende mich an Andrea, die auf der anderen Seite neben mir sitzt und mich am Arm zu sich zieht. „Und seid ihr jetzt wieder richtig zusammen, du und Marcel?“, fragt sie. Scheinbar lässt sie die Geschichte nicht mehr los.

„Joop! Ich fahre heute Abend zu ihm und wir werden unser erstes gemeinsames Wochenende in einer eigenen Wohnung verbringen.“

„Wow! Das wird bestimmt heiß!“ Sie grinst mich an.

Ich grinse zurück. „Bestimmt! Deshalb kann ich dieses Wochenende auch nicht mit euch mitgehen. Wir wollen einfach wieder unsere Zweisamkeit genießen.“

„Das verstehe ich“, raunt sie träumerisch. „Das wird bestimmt toll … nach all dem Stress.“

Ich nicke, werde aber auf Ellen aufmerksam, die ins Telefon brummt: „Das ist eigentlich schlecht. Ich bin noch mit den Mädels unterwegs. Wir sind jetzt erst mal in unserer Kneipe … am Bocksturm.“

Ich sehe sie fragend an und sie sagt zu mir, nur die Lippen bewegend: „DANIEL!“

„Okay, wenn du meinst! Wir treffen uns dann an dem Taxistand am Wall. Ich komme da hin. Aber erst später.“

Sie hört erneut zu und antwortet genervt: „Ich möchte Carolin hier nicht allein lassen. Sie kennt sich hier kaum aus und ich weiß nicht, was die anderen vorhaben.“

Ich sehe Ellen irritiert an. Dass sie schon wegmuss gefällt mir gar nicht. Nach einiger Zeit sagt sie: „Ja, gut. Ich komme ja. In 10 Minuten, okay?“ Sie wirkt beunruhigt.

„Was ist los?“, frage ich, als sie auflegt.

„Keine Ahnung. Daniel hat irgendetwas Wichtiges. Was, sagt er nicht. Aber ich muss sehen, was los ist. Ich kann also nicht länger bleiben. Meinst du, du kommst klar?“

„Sicher!“, beteuere ich. „Überhaupt kein Ding. Die anderen müssen doch bestimmt auch zum Bahnhof. Ich gehe einfach mit denen mit. Ich komme schon klar und wir telen einfach später noch, wenn du willst.“

Ellen trinkt aus und steht auf. Sie will an der Theke bezahlen und dann zu dem Taxistand aufbrechen … wo auch immer der ist.

Ich stehe auch auf und drücke sie kurz. „Dann wünsche ich dir einen schönen Abend“, raune ich und zwinkere ihr zu. Schließlich verbringt sie ihn mit ihrem Daniel.

„Dir auch“, brummt Ellen, durch den Anruf beunruhigt.

Sie geht, den anderen auch noch einen schönen Abend wünschend und ich sehe ihr hinterher. Was Daniel wohl für einen Stress hat, dass er Ellen sofort abholen muss? Hoffentlich nicht wieder ein Drogenproblem ihren alten Freundinnen?

Die Kellnerin kommt und ich bestelle mir doch noch einen Wodka-Orangensaft. Ohne Ellen bin ich hier in der Stadt nur halb so locker und mir fehlt der Halt. Damit das nicht auffällt hilft mir hoffentlich der Alkohol.

Die anderen fühlen sich auch ohne Ellen wohl und beginnen eigene Geschichten aus ihren bisher missratenen Liebesleben zum Besten zu geben. Auch Michaela ist eine gute Erzählerin und hat auch schon einiges mit dem anderen Geschlecht erlebt. Aber das hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Sie hat eine super Figur, ist groß und mit ihren langen, blonden Haaren und den blauen Augen wirkt sie wie einem Modemagazin entsprungen. Dass ihr die Männer zu Füßen liegen ist klar. Auch wenn ihre überhebliche Art bestimmt den einen oder anderen abschreckt.

Eine halbe Stunde, nachdem Ellen sich auf den Weg zu Daniel machte, werde ich unruhig. Irgendetwas macht mich nervös, ohne dass ich weiß was es ist.

Andrea bestellt sich das dritte Bier und ich mir noch ein kleines Alster bei der netten Bedienung, die alles ordentlich in ein Gerät eintippt. Ich sehe ihr immer noch seltsam beunruhigt hinterher, als sie den Gastgarten verlässt. Als sie durch die Tür in die Kneipe tritt, erstarre ich.

Völlig ruhig und relaxt steht Ellens Bruder Erik im Türrahmen, ein Bier in der Hand, und prostet mir zu.

Scheiße! Wie von allen Arterien und Venen abgekappt sinkt mein Herz in den freien Fall. Ich schlucke schwer und spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht.

Sabine erzählt gerade, wie sie und ihr Freund Guido sich gefunden haben und richtet das Wort an mich. „Also bei uns gibt es solche Partys nicht, wo sich alle Jugendlichen treffen können und jeder jeden kennt. Aber wir haben uns im Ostbunker kennengelernt. Das ist ein Jugendtreff hier in der Stadt.“

Ich nicke ihr zu. Aber meine Gedanken sind bei Erik, dessen Blick ich direkt auf mir spüre.

Was soll ich jetzt nur tun? Ellen ist nicht da und sonst auch keiner, der mich beschützen kann. Von den Mädels weiß bestimmt keiner, wer das überhaupt ist. Außer Susanne vielleicht … hoffe ich.

Ich würde sie gerne fragen, aber zwischen mir und ihr ist Ellens Platz frei.

Ich versuche mich zu beruhigen. Bisher macht Erik keinerlei Anstalten, mich ansprechen zu wollen. Am liebsten würde ich schauen, was er macht. Aber ich traue mich nicht. Ich habe sein Zuprosten einfach ignoriert und bin mir nicht sicher, wie er das aufnimmt.

Als Sabine ihre Geschichte beendet hat und Andrea mit roten Wangen völlig hin und hergerissen seufzt: „Oh Mann! Ich will auch mal so etwas erleben“, sehe ich doch zur Tür.

Erik ist nicht mehr da.

Ich atme auf. Vielleicht ist er wieder gegangen? Aber tief in meinem Inneren glaube ich das nicht.

Wir bekommen unsere Getränke und ich sehe mich verstohlen um. Aber ich sehe erneut nichts von ihm und werde langsam ruhiger. Dennoch trinke ich mein Alster ziemlich hektisch und viel zu schnell aus. Das zeigt mir, dass mir immer noch nach Mut antrinken ist. Der bloße Anblick von Ellens Bruder hatte mich mehr erschreckt, als ich zugeben möchte.

„Das ist ja schon so spät!“, höre ich Ursula eine viertel Stunde später ausrufen. „Ich muss los! Tut mir leid, Mädels. Will jemand mit? Ich muss zum Busbahnhof in der Johannesstraße.“

„Gut! Ich kann auch mitgehen“, sagt Andrea, aber wenig begeistert.

„Ich muss auch los. Aber ich treffe mich gleich mit meinem Bruder“, meint Michaela, mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

Ich sehe Susanne und Sabine an. „Und was machen wir?“, frage ich verunsichert.

„Wir gehen auch“, sagt Susanne. „Ich habe Hunger. Hat jemand Lust mit mir zum Burger King oder Kochlöffel zu gehen?“

Sabine winkt ab. „Ich esse gleich noch bei Guido.“

Die Kellnerin kommt und wir zahlen alle. Ich nutze die Unruhe am Tisch und sehe mich erneut verstohlen um. Aber von Erik fehlt jede Spur. Dennoch befürchte ich, er könnte noch irgendwo auf mich lauern.

Auch als wir alle aufstehen, lasse ich vorsichtig den Blick durch den Gastgarten schweifen. Mich in der Mitte meiner Mädels haltend, hoffe ich, dass wir hier gut rauskommen und noch ein Stück zusammenbleiben. Ich weiß gar nicht, wo die jetzt alle hinmüssen. Noch nicht einmal, wohin ich eigentlich muss. Aber das verdränge ich erst mal. Ich muss hier nur heile rauskommen.

Der getrunkene Alkohol wirkt und um mich herum zwitschert es überdreht, wie in einem Spatzenhaufen. Wenn Erik nicht aufgetaucht wäre, könnte ich es sogar genießen, dass alle so gut drauf sind.

Tatsächlich verlassen wir ohne Probleme die Kneipe und mir fällt ein, dass ich besser noch zur Toilette hätte gehen soll. Aber mich bringen keine zehn Pferde dazu zurückzugehen.

Etwas irritiert wird mir klar, dass wir, ohne behelligt zu werden, durch die Altstadt gehen, den Domvorplatz überqueren und beim Theater in die Fußgängerzone einbiegen. An Schaufenstern, an denen die Mädels stehen bleiben, um sich die Auslage anzuschauen, sehe ich mir im Fenster die gespiegelten Gesichter der Leute hinter uns an und bin beruhigt. Erik ist nicht da.

Die Fußgängerzone ist endlos lang und als wir beim Burger King ankommen, bleiben nur noch Susanne und ich übrig. Ich wage ihr eine Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit auf der Seele brennt. „Sag mal, warst du schon mal bei Ellen zu Hause?“

Susanne schüttelt den Kopf und hält mir die Tür auf.

„Kennst du ihren Bruder?“

Susanne lacht seltsam und ich atme auf. Also kennt sie ihn wohl, was mir eine gewisse Sicherheit gibt. Erik wird mich nicht ansprechen, wenn er Gefahr läuft, dass jemand das sofort Ellen steckt. Das hoffe ich zumindest.

„Setz dich. Ich hole uns etwas. Ich lade dich ein“, sagt Susanne. „Was möchtest du?“

„Oh, das ist aber nett. Danke! Egal! Was du nimmst.“ Ich schenke ihr ein Lächeln. Susanne ist selten so gut gelaunt und freundlich. „Ich gehe eben für kleine Mädchen.“

Als ich von der Toilette wiederkomme, nimmt sie das Tablett mit dem Essen von dem Tresen und kommt an unseren Tisch. Statt mir gegenüber, setzt sie sich neben mich und ich bedanke mich noch einmal für das Essen.

Unser Gespräch erneut aufnehmend, das ich schon fast vergessen habe, sagt sie: „Ich kenne den Bruder von Ellen nicht. Mich interessieren Männer nicht.“

Hatte sie deshalb so seltsam gelacht, als ich sie nach Erik fragte?

Ich sehe sie von der Seite her irritiert an. Mir ist nicht schlüssig, was sie damit meint, Frage aber nicht weiter nach. Mich beschäftigt viel mehr, dass ich bei ihr nicht in Sicherheit bin.

Wir essen und ich lasse den Blick immer wieder zur Tür und der großen Scheibe gleiten. Aber Erik taucht nicht auf und ich bin mir mittlerweile sicher, dass er nicht hinter mir her ist. Außerdem bin ich kaum interessant genug, um ihn mich durch die halbe Stadt verfolgen zu lassen. Er hat bestimmt besseres zu tun und seine Sprüche am Telefon sind nur seine dummen Psychospiele, die er gerne spielt. Und Ellen hatte mir erklärt, dass er ein riesen Problem mit dem weiblichen Geschlecht hat. Eigentlich hasst er Frauen und interessiert sich nur für sie, wenn er sie zum Druckablassen flachlegen kann. So hat sie sich zumindest ausgedrückt … und dass Erik wirklich böse wird, wenn sie hinterher auf mehr aus sind und ihn nicht in Ruhe lassen.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Mensch so sein kann.

Es ist noch nicht spät genug, um direkt zum Bahnhof zu gehen, als wir den Burger King verlassen und ich weiß nicht, was ich mit meiner Zeit noch anfangen soll. Dass Susanne mir das Essen ausgegeben hat, war wirklich nett. Aber sie ist etwas seltsam drauf. Sie hat mir alle möglichen Geschichten erzählt, die mich nicht interessieren, mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, mal etwas mit Mädels anzufangen, was ich nur verneinen konnte, da ich schließlich fest vergeben bin und gefragt, ob wir mal zusammen ins Kino gehen wollen. Außerdem hat sie irgendwo in einem Randbereich der Stadt eine Wohnung, die sie mir zeigen will und ich könnte auch jederzeit bei ihr penne, wenn ich mal nicht nach Hause will.

„Was wollen wir jetzt machen?“, fragt sie nun und kommt mir dabei so nahe, dass mein Arm ihre übergroße, ziemlich tiefhängende Oberweite berührt.

Ich weiche etwas vor ihr zurück und raune: „Ich denke, ich gehe schon zum Bahnhof und fahre mit dem nächsten Zug nach Bramsche.“

Es ist vielleicht besser, wenn ich in Bramsche noch ein wenig herumlaufe oder bei Marcel im Garten auf ihn warte. Es ist ein lauer Sommerabend und dort erscheint es mir sicherer, als hier in der Stadt zu bleiben. Dass Erik in der Kneipe aufgetaucht war, hat mich ziemlich erschreckt und ohne Ellen fühle ich mich hier einfach nicht wohl.

„Schade! Ich dachte, wir können noch ein bisschen zu mir fahren“, sagt Susanne und grinst mich an.

„Ach, ich denke, es reicht für heute. Ich kenne mich hier auch nicht so gut aus, um nachher auch pünktlich wieder zurückfinde“, versuche ich ihr zu erklären, ohne ihr irgendwie das Gefühl einer Abfuhr geben zu wollen. Aber sie möchte nicht allein nach Hause gehen, dass sehe ich ihr an ihrem enttäuschten Gesicht an.

„Aber ich dachte, du fährst erst mit dem Zug um zehn? Das sind noch fast anderthalb Stunden. Zu mir fährt alle 10 Minuten ein Bus. Wir sind ganz schnell da. Und die Bushaltestelle ist fast direkt vor meiner Tür“, versucht sie mich zu überreden und ihre blauen Augen mustern mich funkelnd, keine Widerrede duldend.

Susanne hat etwas an sich, das mir nicht nur etwas unsympathisch ist, sondern mich auch verunsichert. Ich will auf gar keinen Fall mit zu ihr fahren.

Wieder tritt sie nah an mich heran und erneut spüre ich ihre Masse an meinem Arm.

„Tut mir leid, aber ich habe wirklich für heute genug. Mir reicht es zum Bahnhof zu gehen und fertig“, brumme ich.

„Okay, dann bringe ich dich da hin“, schwenkt sie plötzlich um und stampft los. Ich folge ihr, etwas irritiert über ihren Sinneswandel und vergesse sogar Ausschau nach Erik zu halten.

Wir gehen durch die Unterführung, die ich schon kenne und durch die ich schon oft ging, wenn ich zum Bahnhof wollte. Somit muss ich auf dem richtigen Weg sein.

Auf der anderen Seite kommen wir wieder beim Busbahnhof am Neumarkt heraus und Susanne nimmt meinen Arm und zieht mich mit. Sie redet und redet, als müsse sie mir noch schnell alles erzählen, was sie als für mich Wissenswert erachtet. Wir gehen durch die Straße, an der die Busse stehen und auf ihre Abfahrt warten.

„Oh, schau! Da ist sogar mein Bus! Komm, den kriegen wir noch“, ruft sie plötzlich und reißt mich mit sich mit.

Vor der Bustür, die geschlossen ist, bleibt sie stehen und drückt einen Knopf, der die Tür öffnet. „Komm, schnell“, sagt sie fröhlich, als hätten wir eben beschlossen, zu ihr zu fahren, greift nach meinem Arm und zieht mich in den Bus hinein.

Ich stolpere die Stufe hoch und versuche mich loszureißen. „Ich will aber zum Bahnhof und nicht noch woanders hin“, rufe ich panisch aus. Die Angst packt mich, dass sich die Tür hinter mir schließt und der Bus mich mitnimmt.

In dem Moment werde ich auch schon aus dem Bus auf den Gehsteig gezogen.

„Du haust mir nicht ab“, höre ich Erik hinter mir wütend zischen.

Die Bustür schließt sich und Susanne sieht mich irritiert an.

Ich bin nicht weniger irritiert als sie und sehe aufgebracht in Eriks braune Augen, die mir unfreundlich entgegenstarren.

„Aua, du tust mir weh!“, fauche ich, weil ich nicht fassen kann, was mir gerade geschieht. Dass Susanne mich in ihren Bus gezogen hatte, macht mich schon wütend. Aber dass Erik plötzlich auftauchte und mich wieder rauszog, weil er glaubt, ich will vor ihm davonlaufen, das nimmt mir fast die Luft vor Wut. Kann hier jeder mit mir machen, was er will? Und wo kam der jetzt so plötzlich überhaupt her?

Der Bus fährt los und Susanne sieht mich mit säuerlicher Miene an, winkt dann aber, sich wohl nicht sicher, wer von den Jungen aus meiner Geschichte mich aus dem Bus zerrte. Marcel hatte sie schließlich schon einmal gesehen. Vielleicht denkt sie, dass ist jetzt Tim?

Ich reiße mich von Eriks festem Griff los und schmeiße ihm meine Tasche vor die Füße, um meine aufsteigende Angst zu kontrollieren. Dabei zische ich aufgebracht: „Sag mal, was soll das?“

Ich versuche nicht in meinen Kopf dringen zu lassen, warum Erik mich abfing. Er will mich bestimmt wegen meiner großen Klappe langmachen und lässt offensichtlich nichts auf sich sitzen. Ellen hatte mich mehr als einmal vor ihm gewarnt.

Aber Eriks eben noch wütender Blick wirkt plötzlich eher verdrossen. „Du wolltest doch nicht mit der mitfahren, oder?“, fragt er.

Ich schüttele den Kopf. Um meine Unsicherheit zu überspielen, starre ich ihn aus zusammengekniffenen Augen an, damit er glaubt, ich bin wirklich wütend. Aber antworten kann ich ihm nicht. Meine Stimme ist bestimmt nicht mehr als ein Piepsen.

„Das denke ich mir. Die ist stocklesbisch! Was meinst du, was die mit dir vorhatte?“, raunt er und lässt seinen Arm sinken, den er immer noch hinter meinem Rücken in Angriffsstellung hielt.

Also, das über einen Jungen zu hören, das ist für mich völlig okay. Aber dass ein weibliches Wesen einem anderen an die Wäsche gehen würde, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dass ich ihm das nicht glaube, sieht Erik wohl an meinem Blick. Ich sehe ungläubig dem Bus hinterher, als könnte ich von dort die Antwort erhalten.

„Das ist unglaublich! Wie kann man nur so naiv sein?“, brummt er, nun selbst wieder völlig selbstsicher. „Weißt du eigentlich irgendwas?“, schnauzt er.

Nun werde ich wirklich wütend. „Ja, dass ich jetzt zum Bahnhof gehe und nach Hause fahre“, fauche ich und im nächsten Augenblick wird mir klar, wie blöd wir uns hier aufführen. Wir stehen uns wie zwei Kampfhähne gegenüber. Ich, klein und zierlich … er, groß und behäbig. Und doch beide mit funkelnden Augen und zusammengeballten Fäusten, als wollen wir uns einen Kampf liefern.

Plötzlich verliert er seine überhebliche Haltung. „Ich bringe dich da hin. Man kann dich nicht mal hier alleine laufen lassen“, brummt Erik und hebt meine Tasche auf. Er sieht mich seltsam an und schüttelt den Kopf.

Nun bin ich verwirrt. Er will mich zum Bahnhof bringen? Wieso?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm wirklich trauen kann. Mir schwirren die Worte von Ellen im Kopf herum und was sie alles über ihn gesagt hatte. Da war nichts Gutes bei. Aber er hat meine Tasche und sieht mich aus seinen braunen Augen eher resigniert an. Ich kann seinen Blick nicht deuten und mir schon gar nicht vorstellen, was in ihm vorgeht.

Meine Wut verraucht allmählich. Schließlich ist das Ellens Bruder und ich möchte keinen Krieg mit ihm führen. Dafür ist mir Ellens Freundschaft und Wohlergehen zu wichtig.

„Okay“, raune ich. „Wenn du willst!“

„Ich würde das nicht sagen, wenn ich es nicht wollte“, murrt er und mustert mich durchdringend. Dann wirft er einen argwöhnischen Blick auf die Leute um uns herum.

Ich will ihm meine Tasche abnehmen, aber er lässt das nicht zu. Das irritiert mich noch mehr.

„Die ist doch viel zu schwer für so eine halbe Portion“, brummt er als Erklärung und sieht mich nicht an. Dafür geht er langsam an den Haltestellen vorbei den Bürgersteig entlang. Ich muss ihm wohl oder übel folgen.

„Danke!“, raune ich leise und meine Verwirrung nimmt kein Ende. „Eigentlich bringt Ellen mich immer zum Bahnhof“, sage ich, um einfach etwas zu sagen. „Aber die musste weg.“

Wir überqueren die nur für Busse zulässige Straße und biegen bei einer Kirche in einen engen Durchgang ein. Erik sieht mich seltsam an und ich bin mir plötzlich sicher, er weiß das schon. Hatte er das Ganze inszeniert?

„Ich erzähle dir nichts Neues, oder?“, wage ich meinen Unmut über meine neue Erkenntnis ihm an den Kopf zu werfen. Irgendetwas an ihm scheint mich immer zu provozieren. Vielleicht, weil ich ständig das Gefühl habe, er fuscht in meinem Leben herum. „Und komischerweise bist du dann plötzlich aufgekreuzt. Was für ein Zufall.“

Es dauert einige Zeit, bis er antwortet. Vielleicht überlegt er, was er sagen soll. Welche Ausrede er benutzen soll.

„Nein, das war ein wohl überlegter Plan. Nicht leicht umzusetzen, wenn man nicht weiß, wo ihr steckt und man den Dickkopf meiner Schwester überlisten muss“, meint er dann aber zu meiner Überraschung völlig ruhig.

Mir fällt die Kinnlade runter. Mit so viel Ehrlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Psychoscheiß?

Ich bin sprachlos und Erik lächelt überheblich. Dabei streicht er schnell eine Locke aus seinem Gesicht.

Wir gehen weiter nebeneinander her. Dabei sehe ich mich schnell um und bin mir sicher, dass er mit mir auch den richtigen Weg nimmt. Ich erkenne die Straße, die zum Bahnhof führt, wieder. Das beruhigt mich ungemein und ich sehe den jungen Mann neben mir mit anderen Augen an. Zumindest ist er nicht nur entwaffnend ehrlich, sondern hält auch sein Versprechen. Alles nichts, was ich erwartet hatte.

Sein Blick trifft meinen. Seine Locken liegen heute ungebändigt um seinen Kopf und eine fällt ihm erneut ins Gesicht. Er sieht gut aus, so braungebrannt und heute mal mit etwas freundlichem Gesichtsausdruck.

Ich sehe schnell vor mir auf den Gehweg.

„Musst du sofort fahren oder kann ich dich noch auf etwas einladen?“, fragt er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, als wisse er nicht, ob er das wirklich tun will.

Als wir um die nächste Ecke biegen, sehe ich vor mir den Bahnhof an der nächsten Kreuzung auftauchen.

„Ich muss nicht unbedingt den nächsten Zug nehmen. Erst den um zehn“, antworte ich zurückhaltend, weil ich mir auch nicht sicher bin, ob ich das wirklich sagen soll. Ich bin etwas überrascht über uns.

„Gut!“, sagt Erik und wirkt auch überrascht. Mit einem verhaltenen Lächeln in den Mundwinkeln nimmt er meinen Arm und zieht mich auf die andere Straßenseite, ohne auf den Verkehr zu achten. „Ich kenne ein nettes Cafe hier am Bahnhof.“

Tatsächlich gehen wir in ein Cafe, direkt mit Blick auf das große Bahnhofsgebäude, was mich beruhigt. So kann eigentlich nichts passieren. Ich kann mich zumindest nicht verlaufen und den Zug verpassen.

Wir setzen uns an einen kleinen Tisch am Fenster. Zu meiner Überraschung stellt Erik meine Tasche ab und rückt mir den Stuhl zurecht, bevor ich mich setze.

„Danke!“, sage ich etwas verlegen.

„Bitte!“, sagt er und setzt sich mir gegenüber. „Was darf ich dir bestellen? Die bieten hier auch Essen an? Oder was du möchtest“, sagt er und sieht mich mit einem Blick an, der fast schon nett wirkt.

Ich bin wieder etwas verwirrt und schüttele den Kopf. „Bitte nichts zu essen. Ein Cappuccino wäre gut!“

Erik bestellt bei einer superschlanken, dunkelhaarigen Kellnerin zwei Cappuccino und grinst mich plötzlich an. „Wenn Ellen uns sehen würde, dann wäre ich bestimmt ein toter Bruder.“ Er lacht leise und mir wird klar, dass er auch freundlich wirken kann.

„Ach Quatsch! Sie fand es total nett von dir, dass du dich bei ihr entschuldigt hast“, sage ich und sehe an seinem überraschten Blick, dass er sich das nicht denken kann.

„Doch wirklich! Sie fand das echt nett von dir. Aber bitte mach das auch nicht wieder“, bitte ich ihn und schenke ihm ein Lächeln.

Erik sieht mich verwirrt an und sein Blick wird hart. Dieser schnelle Stimmungswechsel verunsichert mich.

„Was soll ich nicht mehr machen?“, braust er auf.

Oh Mann! Warum kann ich meine Klappe eigentlich nicht halten?

Die Kellnerin bringt unsere Cappuccinos und lächelt uns freundlich an.

„Danke!“, sage ich und lächele zurück. Warum bin ich eigentlich immer die, die nett zu Kellnerinnen ist, statt meine Tischgenossen. Ich muss an Marcel denken, der an dem schrecklichen Sonntag auch nicht nett zu der Bedienung in der Eisdiele gewesen war. Was werde ich froh sein, wenn er mich heute Abend in seine Arme schließt und ich all dem hier entkommen bin.

„Ellen verletzen, wenn dir etwas nicht passt. Und schon gar nicht wegen mir“, sage ich leise und sehe Erik nicht an.

Der reißt mit einem mürrischen Gesichtsausdruck seine Zuckertüte auf und der Zucker verteilt sich über den ganzen Tisch.

Ich reiche ihm meine und er sieht mich aufgebracht an.

„Naja! Auf dem Tisch nützt er dir nichts“, erkläre ich leise.

Wird er jetzt richtig wütend? Ich wage kaum, ihm ins Gesicht zu sehen. Als ich es doch mache, bin ich überrascht. Diesmal kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen, obwohl seine Augen noch ernst bleiben.

„Danke! Du machst mich echt fertig. Noch nie hat jemand so etwas zu mir gesagt. Nicht mal Ellen! Und die traut sich schon viel zu viel.“

Oweh! Also traue ich mich auch zu viel?

Ich versuche von dem Thema abzulenken. Doch ich brauche einige Momente, um ein anderes zu finden.

„Am Samstag … wie hieß das Lied auf deiner Party noch mal?“, versuche ich seine Aufmerksamkeit auf etwas Unverfängliches zu lenken, aus dem Wunsch heraus, den Abend ungeschoren zu überleben.

Er weiß sofort, was ich meine und antwortet: „Blueneck mit Lilitu.“ Sein Blick verliert alle Härte und das Braun seiner Augen verdunkelt sich um eine winzige Nuance. Um seinen Mund tritt ein weicher Zug. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der im Nullkommanix so auf ein Lied und ein Video abfährt. So viele Drogen kann ich gar nicht einwerfen, dass mir das mal passiert“, raunt er, sich bei dem letzten Satz über den Tisch beugend, damit nur ich ihn höre.

„Hm, Blueneck. Okay. Kann ich mir merken. Und wegen der Drogen …, das war echt nicht fair. Du hättest mich wenigstens aufklären können“, flüstere ich, mich auch vorbeugend.

„Aufklären? Über was?“, fragt er süffisant und grinst.

„Das ich da gerade Plätzchen mit Hasch esse“, flüstere ich wieder, mich kurz vergewissernd, dass uns keiner zuhört.

„Konnte ich ahnen, dass du dich da sofort draufstürzt?“, fragt er übertrieben betroffen.

Ich sehe ihn über den Tisch hinweg mit einem besserwisserischen Schmunzeln an, dass ihm klar zeigen soll, dass ich Bescheid über seine angebliche Unwissenheit weiß.

Er grinst. „Okay, ich habe das in Kauf genommen … vielleicht habe ich das auch gehofft … und auch ein wenig herausgefordert.“

Ich sehe ihn groß an. „Also eins muss ich dir ja lassen, du kannst entwaffnend ehrlich sein.“ Ich muss lachen und meine Nervosität ebbt etwas ab.

Er wird sofort ernst. „Eigentlich nicht meine Masche. Schon gar nicht bei Frauen.“

Es wird Zeit, erneut das Thema zu wechseln. Schnell überlege ich, worüber wir sonst sprechen können, was ihn nicht aufbrausen lässt.

„Ich habe gehört, du hast Psychologie studiert? Interessiert dich, wie der Mensch so tickt oder warum?“

„Das und anderes“, sagt er zurückhaltend und versucht das Thema von sich aus nun zu wechseln. Scheinbar möchte er darüber nicht reden. Doch das, was er nun anspricht, macht mich nervös. „Wie läuft es mit deinem Ex und nun nicht mehr Ex? Oder ist er wieder der Ex?“

Das ist eigentlich nichts, worüber ich mit ihm reden will. Aber mir bleibt nichts anderes übrig. „Nicht mehr Ex. Wir sind wieder fest zusammen“, sage ich und beobachte vorsichtig seine Reaktion. Mehr möchte ich ihm nicht erzählen, doch sein Blick sagt mir, dass ihm das nicht reicht.

Ich trinke meinen Cappuccino aus und schaue auf die Uhr. Wann kann ich endlich diesem Verhör entgehen?

Mit dem Gespräch über mein Liebesleben fühle ich mich, so Auge in Auge, überfordert und kann sein Interesse nicht einordnen.

„Was ist an dem besonderes, dass du so auf den abfährst?“, fragt Erik und setzt sich zurück. Er wirkt lauernd wie ein Tiger, der testen will, wie schnell seine Beute ist.

Es entsetzt mich, dass er mich so direkt über meiner Beziehung ausfragt und ich habe das Gefühl, er will Marcel angreifen. „Ich glaube nicht, dass ich über Marcel reden möchte“, raune ich, dass „mit dir“ mir verkneifend und setze mich auch zurück, wieder einen Blick auf meine Uhr werfend. Die Zeit scheint still zu stehen. Ich schüttele kurz das Handgelenk, aber die Zeiger laufen auch nicht schneller weiter.

„Hm, dann kann er dir nicht viel bedeuten, wenn du nicht mal über ihn reden willst.“

Psychoscheiß, den ich auf mir und Marcel nicht sitzenlassen will.

Ich hole tief Atem und raune: „Ich liebe ihn. Er ist liebevoll, ehrlich, gutmütig, beliebt, treu, total hübsch und er hat mir das Leben gerettet. Reicht dir das?“, frage ich schnippisch und hoffe, ihm damit den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Ohne auf meine Antwort großartig einzugehen, sagt er überheblich: „Okay, das ist schon viel. Aber das Wichtigste fehlt!“ Erik setzt sich wieder dicht an den Tisch und sieht mir durchdringend in die Augen. „Wie ist er im Bett?“

Das geht zu weit. Ich ziehe entsetzt die Luft ein. Das geht ihn gar nichts an. Aber an seinem zufriedenen Blick sehe ich, dass er das macht, um mich zu verunsichern. Ich atme erneut tief ein, nehme meinen ganzen Mut zusammen und setze mich auch dicht an den Tisch, um ihm zu antworten. „Absolut liebevoll, zärtlich und der Hammer.“

Meine Worte scheinen Erik zu treffen. Er setzt sich abrupt zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Dass ich ihm das so unverblümt reindrücke, damit hatte er wohl nicht gerechnet.

„Fertig mit deinem Verhör?“, frage ich und fühle mich gut. Ihn so sprachlos zu sehen freut mich. Doch sein Gesichtsausdruck wirkt plötzlich verschlossen und resigniert. Irgendwas stimmt mit ihm nicht.

„Magst du noch einen Cappuccino?“, murmelt er.

„Nein Danke! Ich muss zum Zug“, sage ich und greife nach meiner Tasche.

„Ich bringe dich! Warte! Ich zahle nur schnell!“

Ich schenke ihm ein Lächeln. „Das brauchst du nicht. Von hier aus finde ich den Weg auch allein.“ Ich zeige zum Bahnhof, der sich vor uns erhebt und stehe auf. „Danke für den Cappuccino und dass du mir den Weg gezeigt hast.“

Der Blick, der mich trifft, hat alle Härte verloren. Er nickt nur und sieht mich unschlüssig an, während ich an ihm vorbei zum Ausgang gehe. Als ich an seinem Fenster vorbeikomme, winke ich ihm kurz zu, bevor ich zum Bahnhofsgebäude gehe. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken und denke mir, dass das Gespräch doch gar nicht so schlecht gelaufen ist. Und ich dachte, er würde mich vierteilen wollen … zumindest nach den zwei Telefonaten mit ihm. Alles nur reiner Psychoscheiß.

Als ich durch die Tür in den Bahnhof gehe, ist er plötzlich wieder neben mir und zieht mir die Tasche aus dem Arm. „Ich denke, ich bringe dich besser zum Zug, dann quatscht dich keiner an.“ Er wirft einen Killerblick um uns herum und fixiert jeden, der im entferntesten Angreiferpotenzial entwickeln könnte.

Ich erwidere nichts, sondern lächele nur verhalten. Wenn ich das Ellen erzähle, fällt sie um.

Ich steuere direkt auf meinen Bahnsteig zu und er folgt mir. Aber scheinbar hat er meine Gedanken erraten, denn als wir uns am Bahngleis in eine Nische stellen, um dem Wind etwas zu entgehen, sagt er mit einem zurückhaltenden Lächeln: „Sag meiner Schwester bitte nichts von heute. Sonst ist mein schlechter Ruf ruiniert.“

Ich weiß nicht, ob ich ihm diesen Gefallen tun will. Schließlich hat er heute gezeigt, dass er gar nicht so schlimm ist, wie alle glauben.

„Das kann ich dir nicht versprechen. Schließlich hat sie eine verdammt schlechte Meinung von dir und die kann ich eigentlich so nicht stehen lassen“, sage ich deshalb.

Sein Blick wird ernst. Aber er nickt nur und einen Moment blitzt etwas in seinen Augen auf, dass ich nicht ergründen kann.

„Wohin bringt dein Zug dich überhaupt?“, fragt Erik nach einiger Zeit des Schweigens.

„Jetzt? Nach Bramsche.“

„Und sonst?“

„Bersenbrück.“

„Hm, kenne ich nicht. Ist das weit weg?“

„Was ist weit? Keine Ahnung! 40 Kilometer oder so!“

„Und du wohnst in …?“

„Ankum.“

„Und du fährst jetzt nach Bramsche, weil …?“

Ich sehe ihn an und weiß nicht, ob ich ihm das sagen will. Er war bisher nett.

Doch er sieht mich abwartend an und ich muss etwas sagen. „Weil dort mein Freund wohnt.“

Er nickt nur und sieht das Bahngleis entlang, auf dem ein Zug langsam einfährt.

„Ich denke, das ist meiner.“ Ich schaue auf die Uhr. „Joop!“

Der Zug hält neben uns und die Tür geht auf. Ich drehe mich zu Erik um und schenke ihm ein Lächeln, während ich ihm meine Tasche abnehme, die er immer noch festhält. „Danke fürs bringen.“

Er nickt nur und lächelt verhalten. „Ist eigentlich nicht meine Art.“

Ich drehe mich um und steige schnell in den Zug ein. Mir einen Platz suchend, sehe ich zum Bahnsteig. Aber Erik ist schon weg.


Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

Подняться наверх